Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind! - E. Noni Höfner - E-Book

Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind! E-Book

E. Noni Höfner

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Beschreibung

Die meisten Menschen haben keine, eine falsche oder eine starre Vorstellung davon, wer sie sind und was sie können. Diese verzerrte Selbstwahrnehmung führt dazu, dass sie unter ihren Möglichkeiten bleiben und ihre Potentiale nicht ausschöpfen. Sie stellen sich selbst ein Bein, fühlen sich als Opfer anderer Menschen, ihrer Gene, der Umstände oder des Schicksals. Selten machen sie sich selbst für ihr Missgeschick verantwortlich. Rationale Einsichten alleine bewirken hier nichts – konstruktive Veränderungen kommen nur zustande, wenn Gefühle verändert werden. Der im Buch beschriebene Provokative Stil® wendet sich direkt an die Gefühlswelt und kitzelt die Selbstverantwortung des Klienten heraus. Durch geschickte Nutzung des emotionalen Widerstandes nimmt der Berater die Gefühls- und Denkblockaden des Klienten aufs Korn und verzerrt sie auf humorvolle Art und Weise, bis der Klient über sich selbst und seine Stolpersteine lachen kann. Das eröffnet neue Möglichkeiten für konstruktivere Gefühle und Verhaltensweisen, der Klient bekommt das Ruder für sein Leben wieder selbst in die Hand und erlebt nachhaltige Befriedigung durch ungewohnte Erfolgserlebnisse, was zu weiteren positiven Veränderungen führt. Ein "Engelskreis" kommt in Gang. Im Buch werden die Grundlagen, Voraussetzungen und der Einsatz des Provokativen Stils leicht lesbar und vergnüglich beschrieben. Zahlreiche kommentierte Fallbeispiele geben einen anschaulichen Einblick in diese ungewöhnliche Kommunikationsform, die zu schnellen und anhaltenden Veränderungen führt.

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»Du wirst morgen sein,was du heute denkst.«

Buddha

»Der Mensch kann nicht zu neuen Ufern aufbrechen,wenn er nicht den Mut aufbringt, die alten zu verlassen.«

André Gide

»Ein Mensch wird schon als Kind erzogenUnd, dementsprechend, angelogen.Er hört die wunderlichsten Dinge,Wie, dass der Storch die Kinder bringe,Das Christkind Gaben schenk zur Feier,Der Osterhase lege Eier.Nun, er durchschaut nach ein paar Jährchen,Dass all das nur ein Ammenmärchen.Doch andre, weniger fromme LügenGlaubt bis zum Tod er mit Vergnügen.«

Eugen Roth

E. Noni Höfner

Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind!

Grundlagen und Fallbeispiele des Provokativen Stils

Sechste Auflage, 2023

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Umschlagmotiv: Lisa Höfner

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Sechste Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0128-4 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8015-9 (ePUB)

© 2011, 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Hinweis: Der Begriff Der Provokative Stil (ProSt)®

ist urheberrechtlich bzw. markenrechtlich beim

Deutschen Marken- und Patentamt unter Register-Nr. 30016813 geschützt.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Prolog

Was soll dieses Buch?

Der Provokative Stil

Die Fallbeispiele

Die Begegnung mit Frank Farrellys Provokativer Therapie

1 Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind!

Die Wachstumsbremsen oder: Wer bin ich?

Die Wachstumsbremse Fixierung

Die Super-Oma

Mutter Theresa lebt!

Die Wachstumsbremse Faulheit

Die Wachstumsbremse Feigheit

Das Erkennen von Wachstumsbremsen

2 Denken, Fühlen und Verhalten

Veränderung durch Einsicht

Der schüchterne Stefan

Das Verhaltenstraining

3 Die Grabenkriege der beratenden Zunft

Psychotherapie, Coaching und Mediation

Die Überzeugungen der Klienten

Die Selbstdefinition der Berater

Klienten sind zerbrechlich und bedürfen der Schonung

Der gemeinsame Nenner aller Beratungsformen

4 Ein kurzer Abriss des Provokativen Stils

Die wertschätzende Grundhaltung des Anwenders (LKW)

Die Ressourcenorientierung im Provokativen Stil

Wie provoziert man die »richtigen« Emotionen?

Der Widerstand gegen Veränderungen

Das Ziel der provokativen Interventionen: Lösung und Ziel findet der Klient

5 Vorannahmen in der Beratung

Das Gehirn und die Psyche

Das Gehirn und die Psychotherapie

Das Modell von der Psyche bestimmt Dauer und Inhalt der Beratung

Das Graben in der Vergangenheit

Der provokative Ansatz: Selbstverantwortung statt Opferhaltung

Die provokative Intervention als Depotpille

Die Verwirrung der Klienten

Die Verwirrung der Berater

6 Der freie Wille ist ein Gefühl

Uns fehlen die Worte

Die emotionale Logik

Das Absurde im menschlichen Denken, Fühlen und Verhalten

Wahrnehmung und Gedächtnis sind emotional geladen

Der Verstand spielt bei Entscheidungen die zweite Geige

Das Bauchgefühl und die Hirnforschung

»Weiß« der Klient, was gut für ihn ist?

Die Logik eines passionierten Rauchers

Überzeugungen führen zu Symptomen

Die emotionale Ladung von Überzeugungen

Überzeugungen versetzen Berge

Überzeugungen verhindern Angst

7 Die Angst und das Lachen

Angst ist ein starkes Gefühl

Zu wenig und zu viel Angst

Der Leidensdruck als Veränderungsmotivation

Die Wiederbelebung von Traumata

Die Bedeutung des Lachens beim Provokativen Stil

Lachen ist nicht gleich Lachen

Das Ziel: Lachen über sich selbst

8 Einige Werkzeuge des Provokativen Stils

Die Anwendung provokativer Werkzeuge

Offensichtliches aussprechen

Implikationen erkennen: Die nonverbalen Signale

Die Signale des eigenen Körpers

Die Herstellung des guten Drahts durch Treffer und Überraschungen

Mit Aussagen statt Fragen zur Diagnose

Der Advocatus Diaboli und die Begeisterung für die Symptome

Der sekundäre Krankheitsgewinn

Innere Bilder und der systemische Aspekt des Provokativen Stils

Zukunftsszenarios

Persiflage und Stereotype

Es gibt keine Lösung

Idiotische Lösungen

Inkongruente Äußerungen und Pingpong

9 Die Persönlichkeit des provokativen Beraters

Die Beziehung zwischen Berater und Klient

Die eingebaute Supervision

Der Nutzen für den Berater

Stay happy when you fail

Sei durchschnittlich und sage Naheliegendes

10 Die Kombination des Provokativen Stils mit anderen Verfahren

Die Erweiterung der Möglichkeiten

Die Kombination des Provokativen Stils mit EMDR und EFT

11 Der Provokative Stil im Do-it-yourself-Verfahren

12 Fallbeispiele

Fall 1: Ich bin zu alt für einen Computer

Fall 2: Meine Chefin ist ein Ekel

Fall 3: Eine Paarberatung: Mein Mann dominiert mich

Fall 4: Mein pubertierender Sohn ist unflätig

Fall 5: Ich bin ein Kopfmensch

Fall 6: Ich habe Angst vor meiner Mutter

Fall 7: Ich verletze mich selbst

Fall 8: Ich bin perfekter als alle anderen

Fall 9: Ich habe zu wenig Rückgrat

Fall 10: Ich bin selbstständig und verdiene mein eigenes Geld!

Fall 11: Die Katzen oder der Freund?

Literatur

Über die Autorin

Prolog

Was soll dieses Buch?

Wir lieben es, wenn die Protagonisten von Filmen, Theaterstücken oder Romanen ins Chaos stürzen und schreckliche Situationen zu bestehen haben, die wir selbst im richtigen Leben auf gar keinen Fall erleben wollen und mit aller Macht zu verhindern versuchen. Wir bemühen uns daher – meistens erfolgreich –, unser Leben so sicher und stabil wie möglich zu gestalten und keine riskanten Dinge auszuprobieren. Wir haben es meist lieber etwas zu langweilig als zu aufregend. Die Stabilität unserer Persönlichkeit liegt uns besonders am Herzen.

Wir werden von unserer Umwelt von klein auf trainiert, uns konsistent zu verhalten. Bereits als Kind hören wir häufig »Das hätte ich nicht von Dir erwartet!« oder »Dass du deinem Lehrer so frech widersprochen hast, passt doch gar nicht zu Dir!« und ähnliche Ermahnungen, die uns daran erinnern sollen, wie wir eigentlich zu sein hätten. Auch als Erwachsene versuchen die meisten Menschen, für andere vorhersagbar und schlüssig zu erscheinen – nicht an einem Tag laut und witzig zu sein und sich am nächsten Tag als schweigend und introvertiert zu präsentieren. Ein Mensch, der unberechenbar ist, erschreckt und verunsichert die anderen und gilt schnell als durchgeknallt. Weil wir unserer Kreativität bei der eigenen Neuerfindung ständig Fesseln anlegen, müssen wir bei dem Versuch, Neues auszuprobieren, über viele Schatten springen. Das macht Änderungen sehr zäh und kompliziert.

Da wir die Stabilität so lieben, wenn es um andere Menschen und vor allem aber um unsere eigene Person geht, geraten bestimmte Charakterzüge bei der Selbstwahrnehmung in den Vordergrund und definieren das Selbstbild. Dadurch glauben wir, nur in der einen Art und Weise reagieren zu können. Aber kein Mensch hat den einen, für alle Zeiten festgelegten Charakter, sondern jede Persönlichkeit besteht aus vielen Facetten, von denen mal die eine und mal die andere dominant wird oder zumindest potenziell in den Vordergrund rückt, wenn das selbst verpasste Korsett nicht zu eng ist. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass aus einem Einsiedlerkrebs die Stimmungskanone auf einer Party wird, ist sogar das prinzipiell möglich. Mancher Mensch ändert sich und damit sein Leben durch einen Schicksalsschlag wie einen Herzinfarkt, mancher durch ein freudiges Ereignis wie z. B. eine neue Liebe, die ganz überraschende Seiten in ihm zum Klingen bringt. Fatal ist nur die starre Festlegung auf eine Richtung, die einem keine Wahl mehr lässt. Dann glaubt man wirklich unverrückbar, wer man ist, verweigert jede Veränderung und fährt lieber mit 180 Sachen ungebremst in den Abgrund, als irgendetwas Neues zuzulassen.

Es ist das gute Recht jedes Menschen, sich nicht mehr ändern zu wollen. Wenn Sie also rundum zufrieden sind und nichts in Ihrem Leben verändern möchten, wenn Sie auch als Psycho-Fachmann glauben, genug brauchbare Methoden zur Verfügung zu haben, um jeden Problemfall befriedigend zu lösen, dann schenken Sie dieses Buch jemandem, der sich Ihrer Meinung nach unbedingt ändern sollte – zum Beispiel Ihrer Schwiegermutter. Wenn Sie jedoch Lust haben, sich neugierig einer ungewöhnlichen Beratungsform zuzuwenden und auch sich selbst infrage zu stellen, steht Ihnen eine vergnügliche Lektüre bevor, die Ihnen manche Last von der Schulter nehmen und eine ganz neue Lebensqualität erschließen kann. Allerdings dürfen Sie dann nicht mehr uneingeschränkt glauben, wer Sie sind.

Der Provokative Stil

Seit den 1960er Jahren sprießen neue Therapien aus dem Boden wie Schneeglöckchen an den ersten warmen Frühlingstagen. Die meisten kommen aus den USA und werden von der wissenschaftlichen Psychoszene in Europa zunächst fast immer als amerikanischer Blödsinn abgetan. Angeblich gibt es derzeit allein in der westlichen Welt ungefähr 4000 Psychotherapieformen, die natürlich allesamt von sich behaupten, die einzig richtige und effiziente zu sein. Viele verschwinden so schnell, wie sie auftauchen, wieder in der Versenkung, ohne nachhaltige Spuren zu hinterlassen. Einige wenige haben sich so stabil etabliert, dass man ihre Botschaften wie von Gott gesandt und in Stein gemeißelt empfindet. Dadurch erscheint ein Infragestellen dieser angeblich unbezweifelbaren Wahrheiten geradezu als Gotteslästerung. In jüngerer Zeit sind nun Therapien aufgetaucht, die nachweisbar unglaublich schnell und dauerhaft wirken, aber die Fachwelt in Aufruhr versetzen, weil sich ihre Wirkung nur schwer mit den gängigen Modellen erklären lässt. Dazu gehört auch die Provokative Therapie und der daraus entwickelte Provokative Stil®, der Grundlage dieses Buches ist.1

Es ist – auch in der Fachwelt – keineswegs geklärt, warum manche Menschen sich das Leben selbst zur Hölle machen, wieso sie seelisch krank werden bzw. psychosomatische Symptome entwickeln und andere dagegen nicht. Manche Leute glauben, sie seien an der Entstehung solcher Stolpersteine in ihrem Leben völlig unbeteiligt, diese würden Gott oder das Schicksal für uns bereithalten, um uns zu quälen oder – die positivere Variante – um uns zu prüfen. Oder sie sind überzeugt, dass diese Widrigkeiten Überbleibsel aus einem früheren Leben sind und uns jetzt als Strafe für vergangene Missetaten heimsuchen. Oder sie fallen einfach sinnlos vom Himmel und treffen uns ganz zufällig, weil wir gerade an der falschen Stelle herumstehen. Selten sind wir in der Lage, unseren Eigenanteil an der Entstehung von Symptomen richtig einzuschätzen. Da haben wir einen großen blinden Fleck.

Es geht beim Provokativen Stil um das Durchbrechen der eigenen Fixierungen auf bestimmte Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen, die wir als zu unserer Persönlichkeit gehörend empfinden, die uns aber störend im Wege stehen und bei denen wir auch schon erfolglos probiert haben, etwas Neues zu etablieren. Grundsätzlich gehen wir beim provokativen Ansatz davon aus, dass wir uns die Stolpersteine größtenteils selbst vor die Füße rollen. Wenn man sie aktiv herbeigerollt hat, muss man sie auch aktiv wegrollen können. Um wahrzunehmen, wo es einen Hebel zur Beseitigung von Stolpersteinen gibt, wo es also Ansatzpunkte für Veränderungen geben könnte, müssen wir uns neben uns stellen und uns selbst relativieren. Dabei ist unser Intellekt äußerst hinderlich. Er liefert uns tausend Gründe dafür, alles lieber so zu lassen, wie es ist. Es gilt, diesen Zensor, der uns ständig im Wege steht, beiseitezuräumen. Die Entscheidung zu einem Symptom ist nach meinem Verständnis ein aktiver Vorgang, der emotional geladen ist. Sie ergibt emotionalen Sinn, ist aber selten bewusst. Diese Entscheidung bringt nicht nur Nachteile in Form der Symptomatik, sondern auch Vorteile, denn sie schützt das eigene Selbst- und Weltbild und verhindert damit Angst.2

Eine Provokation zielt direkt und ohne Umwege in das limbische System, dem Sitz der Gefühle.3 Jeder weiß, was eine Provokation ist. Im Allgemeinen wird darunter etwas Negatives verstanden: Ich trete jemandem ans Schienbein, ich bohre beim Frühstück in der Nase und schmiere den Popel auf die Tischdecke oder ich entblöße mich unschicklich. Eine solche Alltagsprovokation ist darauf aus, andere zu ärgern, die einem möglicherweise gar nichts getan haben, und reißt den Provozierten üblicherweise zu unbedachten Handlungen hin. Dies ist durchaus bezweckt und für den Provozierer äußerst befriedigend. Dann gibt es noch die getarnte Provokation, die man dann einsetzt, wenn einen jemand geärgert hat: Klaus antwortet Helga nicht mehr, weil sie ihn zuvor einen Versager genannt hat, und provoziert sie somit dazu, einen Teller nach ihm zu werfen. Provokative Therapie und Provokativer Stil, wie ich sie verstehe, gehören nicht zu diesen Arten von Provokation.

Beim Provokativen Stil provoziert man den anderen mit warmem, offenem Herzen und ohne Groll – nicht mit dem Ziel, ihn zu ärgern, sondern seine Stolpersteine, die ihm das Leben unnötig schwer machen, zu entkräften. Provozieren wird hier nicht als »aufreizen« verstanden, sondern sinngemäß eher als »hervorlocken«, »ans Licht bringen«, »verdeutlichen«.4

Wenn man den Provokativen Stil als pure Technik begreift, sind Missverständnisse vorprogrammiert. Er ist keine bloße Technik, sondern eine komplexe Vorgehensweise, die vom Anwender eine bestimmte Grundhaltung erfordert und mit der man oft auf verschlungenen Wegen sehr schnell zum Ziel kommt. An der Oberfläche springt einem als Erstes die »unverschämte«5 Kommunikation ins Auge, weil sie speziell im therapeutischen Umfeld so ungewöhnlich ist. Die zugrunde liegenden Werthaltungen, die vor allem nonverbal vermittelt werden, sind jedoch weitaus wichtiger als die ausgefeiltesten, mechanisch einstudierten Sätze. Der provokative Ansatz verlangt vor allem eine bestimmte Geisteshaltung und Lebensphilosophie.

Da beim Einsatz des Provokativen Stils das dahinterstehende Menschenbild, die Auffassung von Therapie und Beratung sowie die Grundhaltung und Werte des Anwenders wichtiger sind als die nackte Technik, nehmen meine Ausführungen zu diesem Thema relativ viel Raum ein. Sie sind eine wichtige Grundlage der konkreten provokativen Vorgehensweisen, die sich nicht nur in der Beratung durch Fachleute, sondern auch bei guten Freunden und sogar im Selbstversuch einsetzen lassen.6

Wenn man den Geist hinter der Methode spürt, ihn verstanden hat und ihm zustimmt, kann man den Provokativen Stil sehr gut zur eigenen Persönlichkeit passend einsetzen, ohne bestimmte Techniken buchstabengetreu auszuführen oder praktizierende Provokateure wie Farrelly oder mich 1:1 zu kopieren. Das Kopieren von Verhaltensweisen ist zwar eine der ältesten Formen des Lernens überhaupt – bereits Schimpansen praktizieren es –, und es hilft auch oft beim Ausprobieren einer neuen Methode. Richtig wohl wird sich der Anwender7 aber erst fühlen, wenn er das neue Verfahren auf sich und seinen Charakter zugeschnitten hat. Erst dann wird er es auch auf Dauer einsetzen und nicht nach einigen Versuchen abbrechen.

Meine Ausführungen sind keine wissenschaftlich untermauerte Abhandlung über die Provokative Therapie. Ich werde keine Beweisführung mit abgesicherten Doppelblindstudien und einer meterlangen Literaturliste antreten, um den Leser zu überzeugen, dass ich den Stein der Weisen gefunden habe. Ich werde im Folgenden vielmehr meine Sicht der Dinge darstellen, wie sie mir nach über 25 Jahren Anwendung und Lehre des Provokativen Stils und seiner Erweiterungen plausibel erscheint. Ich bin auch nicht primär daran interessiert herauszufinden, ob Herr R. deshalb so süchtig Zigaretten konsumiert, weil er als Säugling nicht ausreichend gestillt wurde. Der Schwerpunkt liegt nicht auf der Analyse der Vergangenheit, sondern beschäftigt sich mit Möglichkeiten der Gegenwart und der Zukunft, wie man mit Situationen umgehen kann, in denen man feststeckt und sich einen Anstoß erhofft.

Auch wenn es hier um meine persönlichen Überzeugungen geht, die – wie alle Überzeugungen – sehr emotional geladen sind (in meinem Fall von hingebungsvoller Begeisterung getragen), ist dieses Buch kein missionarisches Werk. Niemand ist verpflichtet, meinen Behauptungen Glauben zu schenken. Kluge Einwände sind mir willkommen, denn ich habe von intelligenten Fragen und Protesten in der Vergangenheit sehr profitiert, sie haben meine Einschätzung und Anwendung des Provokativen Stils differenzierter und fundierter gemacht. Ich behaupte auch nicht, dass ich am Ende meiner Erkenntnisse angekommen bin. Fertige Erkenntnisse kann man ablegen, sie werden langweilig, und wenn ich so weit wäre, würde ich mir vermutlich ein neues Betätigungsfeld suchen.

Ich habe die Provokative Therapie 1985 kennengelernt. Wahrscheinlich hätte ich gar nicht so enthusiastisch darauf reagiert, wenn ich dieser Art der Kommunikation nicht bereits mein ganzes Leben lang im Privaten ausgesetzt gewesen wäre. Meine Eltern hatten beide viel, wenn auch sehr unterschiedlichen Humor, und sie lehrten mich den liebevoll persiflierenden Umgang mit menschlichen Schwächen, vor allem den eigenen. Auch der Mann, mit dem ich seit über 40 Jahren zusammen bin, versteht es meisterhaft, sich und mich äußerst treffsicher und liebevoll auf die Schippe zu nehmen. Unser privater Umgangston lässt gelegentlich Menschen, die uns nur oberflächlich kennen, befürchten, wir stünden kurz vor der Scheidung, denn mein Mann kann sich öffentlich sehr überzeugend als armer, von mir unterdrückter Befehlsempfänger und geknechteter Haussklave seiner dominanten Gattin darstellen. Dabei hat unsere Art der Kommunikation großen Anteil daran, dass wir immer noch – und zwar sehr lebhaft – verheiratet sind. Auch unsere Kinder sind mit provokativer Muttermilch aufgewachsen. Manchmal wünsche ich mir, man bekäme in unserer Familie eine geradlinigere Antwort auf eine simple Frage. Wenn ich zum Beispiel meinem Mann die typisch weibliche Frage stelle, ob mein Hintern in der neuen engen Jeanshose zu dick aussieht, kann ich sicher sein, dass er mir grinsend antwortet, nicht nur in der neuen engen Jeanshose, und deshalb solle ich mit einem Hintern diesen Ausmaßes das Haus besser nicht verlassen. Ich spare mir solche Fragen daher lieber.

Die Fallbeispiele

Ein wichtiger Bestandteil dieses Buches sind die Fallbeispiele, die ich fast ungekürzt und nicht nur als kurze Zitate abgedruckt habe. Ich bin immer wieder darum gebeten worden, eine Sammlung solcher Fallberichte herauszugeben, da sie die Grundlagenerörterungen sehr gut veranschaulichen.

Die Beispiele stammen überwiegend aus meinen Fortbildungsseminaren für Fachleute. Es sind wörtliche Transkripte meiner sogenannten »Live-Arbeiten«, bei denen ich mit den Teilnehmern anhand ihrer eigenen aktuellen Probleme provokative Interventionen genau so demonstriere, wie ich sie in meiner Privatpraxis durchführen würde. Schließlich sind auch Psycho-Berater normale Menschen mit normalen Problemen. Das überrascht nur Beratungslaien, die die Fachleute entweder für völlig durchgeknallt oder aber für problemfreie Übermenschen halten. Ich habe diese Beispiele ausgewählt, weil sie kurz und prägnant sind. Die Sitzungen dauerten etwa eine Viertelstunde. An einigen Stellen habe ich zur Klarstellung Kommentare eingefügt. Die Protokolle wurden nicht geschönt, aber so anonymisiert, dass die Klienten nicht mehr erkennbar sind.

Da es in unseren Fortbildungen üblich ist, dass wir uns zumindest während der Seminartage alle duzen, habe ich es auch in den Transkripten bei dieser vertrauten Anredeform belassen, damit die Gespräche in der Niederschrift so authentisch wie möglich klingen.

Ich habe bewusst Alltagsprobleme ausgewählt, die jeder nachvollziehen kann, und nicht schwerere psychische Störungen, wobei der Übergang zu diesen fließend ist.8 Es ist eine Sammlung von typischen alltäglichen Stolpersteinen, mit denen sich jeder von uns entweder bereits herumgeschlagen hat, aktuell herumschlägt oder irgendwann herumschlagen könnte. Vermutlich werden Sie beim Lesen mancher Protokolle den Eindruck haben, dass Sie es sind, die protokolliert wurden, weil Ihnen die Probleme so vertraut vorkommen.

Die Fallbeispiele sind wie ein Puzzle, bei dem die einzelnen Puzzlesteine unterschiedliche Aspekte der provokativen Vorgehensweise beleuchten. Sie können sie deshalb ohne Verständnisverlust auch kreuz und quer lesen, wenn Sie bereits Vorkenntnisse haben und es Ihnen vor allem darauf ankommt, praktische Beispiele zu bekommen. Sie werden feststellen, dass in den protokollierten Gesprächen viel gelacht wird, wobei das tatsächliche Geschehen in wörtlichen Transkripten mit dem Vermerk »Klient lacht« nur unzulänglich wiedergegeben werden kann, denn der eine Klient schmunzelt die ganze Zeit still vor sich hin, während der andere Tränen lacht und fast vom Stuhl fällt.

Da sich die nonverbalen Aspekte nur ansatzweise wiedergeben lassen, führt das isolierte Lesen der Protokolle sehr leicht zu falschen Schlüssen, vor allem für den Neuling auf provokativem Terrain. Deshalb ist es nützlich, meine Grundsatzüberlegungen zum Provokativen Stil zuerst zu lesen.

Für manchen Leser mag meine zuweilen drastische Ausdrucksweise gewöhnungsbedürftig sein. Wenn man aber in das System des Klienten einsteigen möchte, baut eine gesäuberte, akademische Sprache eine Barriere zu seiner Gefühlswelt auf und zwingt den Klienten förmlich in den rationalen Modus. Menschen denken nicht: »Dieser Mensch ist mir aber wenig angenehm!«, sondern sie denken: »Dieser Mensch ist ein Arschloch!« Also spreche ich aus, was die Klienten vermutlich denken, und erreiche ihre Gefühle damit viel unmittelbarer, als wenn ich mich ausdrücken würde wie auf einer Teegesellschaft der englischen Königin.

Die Gespräche zeigen, wie ich von Satz zu Satz genau auf das eingehe, was der Klient sagt und tut. Eine vorher festgelegte Strategie hat bei der provokativen Vorgehensweise keine Chance. Therapeut und Klient reagieren sehr spontan, damit ist das Überraschungsmoment größer, und der Berater ist voll empfänglich für alle Signale des Klienten. Diese fast anarchischen, spontanen Beraterreaktionen sind auf den ersten Blick der größte Kontrast zu anderen beratenden Methoden. Ich gebe zu, dass ich selbst manchmal überrascht bin, was da aus meinem Mund kommt.

Die Begegnung mit Frank Farrellys Provokativer Therapie

Der 14. Juni 1985 war ein warmer, freundlicher Frühsommertag in München, und ich war auf dem Weg zu einem Workshop über eine angeblich neue und ungewöhnliche Therapieform, die ein Amerikaner namens Frank Farrelly in den letzten 20 Jahren entwickelt hatte und seit kurzer Zeit auch in Deutschland vorstellte. Ich war auf Empfehlung eines Kollegen9 gekommen, obwohl andere mich gewarnt hatten, die Provokative Therapie sei wieder so ein neumodischer amerikanischer Quatsch, wie er seit den Siebzigerjahren Deutschland überschwemmte. Eigentlich hatte ich zu dem Zeitpunkt so viele psychotherapeutische Aus- und Weiterbildungen hinter mir, dass mein Bedarf an »Psycho« schon mehr als gesättigt war. Da kam es auf einen Quatsch mehr oder weniger auch nicht an, dachte ich mir. Ich war fast 40 und sehnte mich nach etwas Handfesterem und Fröhlicherem als der Psychotherapie, wie ich sie in und nach dem Studium die vergangenen 20 Jahre kennengelernt und praktiziert hatte. Meine Kinder waren aus dem Gröbsten heraus, ich konnte meine Zeit wieder mehr für mich beanspruchen, ohne allzu sehr von aufgeschlagenen Knien, Masern und Windpocken behindert zu werden. Es stellte sich die Frage, was ich mit meinem künftigen Berufsleben anfangen wollte. Ich hatte keine Ahnung, was ich wollte, ich wusste nur eindeutig, was ich nicht wollte: Ich hatte auf keinen Fall im Visier, mir für den Rest meines Lebens in einer Privatpraxis das langwierige und aufreibende Heulen und Zähneklappern meiner Klienten anzuhören.

Ich war also fest entschlossen, einer Psychotherapie den Rücken zu kehren, die in meinen Augen nur die Stühle auf dem Deck der Titanic neu arrangierte, statt ihren Untergang zu verhindern. Der Farrelly-Workshop war gewissermaßen mein letzter Versuch, und falls sich diese neue, aber außergewöhnliche und angeblich auch sehr lustige Therapieform als oberflächlicher Schwachsinn erweisen sollte, dann würde ich mich anderen Aufgaben zuwenden.

Als ich in der Nähe der Kollegenpraxis, in der Farrellys Workshop stattfinden sollte, aus dem Auto stieg, sah ich einen relativ kleinen, ziemlich rundlichen, grauhaarigen Herrn, der versuchte, Klappstühle aus einem Kombi zu zerren. Ich bot an, ihm zu helfen, und er lächelte mich freundlich an. »Oh, thank you«, sagte er, »I love it when attractive young ladies carry stuff for me!« Dieser freundliche, harmlose ältere Herr konnte doch nicht Frank Farrelly sein?! Ich hatte nach allem, was ich von ihm gehört hatte, die Vorstellung, dass er mindestens zwei Meter groß sein und eine Arnold-Schwarzenegger-Figur haben müsste. Der Mann war von Kennern als »Säbelzahntiger« beschrieben worden. Später erfuhr ich, dass er selbstironisch zu dieser Etikettierung bemerkte: Jetzt, jenseits der 50, sei er nur noch ein alter Tiger, dem die Säbelzähne ausgefallen seien.

Im Laufe der drei Workshop-Tage machte ich Bekanntschaft mit diesen angeblich nicht mehr vorhandenen Säbelzähnen. Ich saß wie hypnotisiert in der ersten Reihe und stellte verwirrt fest, dass Farrelly bei seinen Therapiedemonstrationen so ziemlich alle therapeutischen Verhaltensregeln fröhlich verletzte, die mir in den letzten 20 Jahren als in Stein gemeißelte Ge- und Verbote vermittelt worden waren. Er sagte den Klienten Dinge ins Gesicht, die ich bisher höchstens hinter vorgehaltener Hand und im Vertrauen einem Kollegen erzählt hätte. Er legte ihnen seine großen Hände auf den Arm oder strich ihnen über den Kopf. So etwas war doch absolut verboten!

Da setzte sich zum Beispiel ein Ehepaar zu ihm nach vorne, das ein ernsthaftes Partnerschaftsproblem hatte und mit dem Gedanken an eine Scheidung spielte. Farrelly beschrieb ihr Zusammenleben als das von Herr und Hund – oder besser winselndem Hündchen –, wobei die Ehefrau der Herr und der Ehemann das Hündchen war, das hechelnd nach einem Hundekuchen bettelte. Dabei imitierte er einen auf den Hinterbeinen stehenden Köter, dem der Sabber aus den Lefzen tropfte, und jeder wusste, was er mit Hundekuchen meinte. Er schlug dem Ehemann vor, noch unterwürfiger zu werden, und der Ehefrau, sie solle noch wirkungsvoller nach dem Hündchen treten und noch straffer an der Hundeleine zerren, um ihr Hündchen endlich vollständig zu unterwerfen. Und das Erstaunlichste war, dass die beiden Farrelly nicht an die Gurgel sprangen, sondern aus vollem Halse lachten und bei der Nachbesprechung in ungewohnter Eintracht versicherten, sie hätten sich noch nie so verstanden gefühlt!

Alle Klienten, die sich zu Farrelly auf den »heißen Stuhl« begaben, stimmten in diesem Punkt überein. Statt einzuschnappen, fühlten sie sich verstanden und wohler in ihrer Haut, sie wirkten sichtbar entspannter und gleichzeitig energiegeladener. Ich traute meinen Augen und Ohren nicht. »Sie beleidigen die Klienten, sagen ihnen Unverschämtheiten, und die Klienten lachen und fühlen sich verstanden! Da muss doch mehr dahinterstecken – There must be something more!«, sagte ich fassungslos. »Yes, there is something more!«, grinste Farrelly und schrieb mir diesen Satz als Widmung in sein Buch.

Bei meiner ersten Begegnung mit Farrelly hatte mein »Bauch« sofort begriffen, dass ich auf die lang gesuchte Goldader gestoßen war, aber mein Kopf war verwirrt. Ich suchte nach rationalen Erklärungen für das, was Farrelly da so offensichtlich in Gang setzte, damit ich es kopieren könnte. Farrelly erklärte seine Vorgehensweise in Bildern, Beispielen und Assoziationen, aber meine akademische Ausbildung schrie förmlich nach einem kognitiven Modell, das mir erlaubte, provokativ zu arbeiten, auch wenn mir mal nichts einfiele. Denn es sah so aus, als ob dieser wild gewordene Amerikaner mühelos und sehr unsystematisch kreative Einfälle aus dem Ärmel schüttelte, die ich mir nicht entfernt in diesem Ausmaß zutraute. Diesen Wunsch nach klarer, kognitiver Struktur erlebe ich bis heute bei den Teilnehmern meiner Fortbildungsseminare, und ich bemühe mich, sie ihnen einerseits zu vermitteln, sie ihnen auf der anderen Seite aber auch auszutreiben. Denn ich werde nicht müde zu betonen, dass jeder Berater im Therapieprozess die Modelle zwar begreifen, sie dann aber wieder vergessen und auf seinen »Bauch« vertrauen sollte. Strategiemodelle führen ein Eigenleben im mentalen Speicher. Sie fesseln die Aufmerksamkeit des Beraters besonders stark und lenken vom Klienten ab.

Das alles war mir bei diesem ersten Workshop nicht bewusst, aber ich hing an der Angel und wusste: Wenn das Therapie war, wollte ich es auch lernen, obwohl ich nichts verstand und mich überrollt fühlte, wie von einem Lastwagen überfahren. Farrelly muss es bei der ersten Anwendung seiner neuen Therapie ähnlich gegangen sein. Wenn er gefragt wird, wie er die Provokative Therapie entdeckt hat, antwortet er, dass er sie nicht allmählich entwickelte, sondern dass sie schlagartig da war. Er arbeitete Anfang der 1960er Jahre mit chronisch Schizophrenen, Manisch-Depressiven, Mördern, Kinderschändern und ähnlich schwer gestörten Patienten in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung10 im Rahmen eines Projekts, das von Carl Rogers, dem schon damals weltbekannten Erfinder der Gesprächstherapie11, geleitet wurde. Die Provokative Therapie wurde geboren, als Farrelly bereits 90 Stunden lang streng gesprächstherapeutisch mit einem schizophrenen Patienten aus der geschlossenen Abteilung gearbeitet hatte. Er bemühte sich, den Patienten seelisch aufzubauen, ihm endlos geduldig zuzuhören und ihm Mut zuzusprechen. Denn er wollte ihn überzeugen, dass er keineswegs so wertlos sei, wie er selber glaubte. Jede Stunde versicherte er dem Patienten aufs Neue, wie fähig er sei. Der Patient reagierte entweder gar nicht oder widersprach dieser positiven Fremdeinschätzung unbeirrt und monoton.12

In der 91. Stunde platzte Farrelly der Kragen, und er begann aus einer Eingebung heraus, der negativen Selbsteinschätzung des Patienten begeistert beizupflichten. Jawohl, der Patient sei wertlos, unnütz und hässlich, ein kompletter Versager, zu nichts mehr fähig, eine Zukunftsperspektive sei nicht erkennbar usw. Spontan begann dieser zusammengesunkene, lethargische Patient, sich körperlich aufzurichten und sich selbst zu verteidigen: Sooo schrecklich sei das gar nicht mit ihm, er könne sehr wohl dies und jenes, und er zählte seine Fähigkeiten mit einer Energie auf, die er vorher nie gezeigt hatte. Farrelly berichtet, dass ihm selbst vor Überraschung die Kinnlade heruntergefallen sei. Bereits in der Geburtsstunde der Provokativen Therapie traf ihn die Erkenntnis fast wie ein Schock: Klienten sind keineswegs so schonungsbedürftig, schwach und zerbrechlich, wie man im Allgemeinen annimmt, und sie verfügen über weitaus mehr Ressourcen, als man ihnen üblicherweise zutraut.

In der Folgezeit experimentierte Farrelly mit seiner neuen Methode, die damals noch keinen Namen hatte und später als Provokative Therapie weltweit bekannt werden sollte. Seine Klienten, die Patienten im psychiatrischen Krankenhaus, hatten sehr negative Prognosen. Sie wurden häufig lebenslang in geschlossene Abteilungen weggesperrt, da sie für lebensunfähig, gefährlich oder gar beides gehalten wurden – gefährlich für sich und andere. Die Fachleute gingen davon aus, dass diese Menschen keinesfalls in der Lage seien, vernünftige, selbstständige Entscheidungen zu fällen und ein eigenständiges Leben außerhalb der Mauern der Psychiatrie zu führen. Sie sahen die Patienten als bedauernswerte Opfer, die an ihrer Misere nicht selbst schuld und die ihren Symptomen hilflos ausgeliefert sind und extrem geschont werden müssen. Die Therapeuten müssten daher die Verantwortung für diese Patienten übernehmen und für sie alle notwendigen Entscheidungen treffen. Diese Geisteshaltung ist in der helfenden Zunft auch heute noch weit verbreitet. Farrelly erkannte jedoch, dass selbst diese als hoffnungslos eingestuften Patienten viel mehr Durchblick haben, als ihnen von den Therapeuten zugestanden wird, und dass sie durchaus unterscheiden können, wann sie ihre Symptome einsetzen und wann nicht.13 Außerdem wurde ihm klar, dass sie über völlig unterschätzte brachliegende produktive Energien verfügen, die offenbar schnell und nachhaltig mobilisiert werden konnten, wenn man sie in der richtigen Weise weckte.

Die Frage, die nicht nur Frank Farrelly, sondern alle Menschen beschäftigt, die sich oder andere ändern wollen, lautet: Wie weckt man diese schlummernden produktiven Energien?

1 Frank Farrellys Buch Provocative Therapy ist der Klassiker zum Thema.

2 Ausführlich werden diese Überlegungen dargestellt in Kapitel 6 und 7.

3 Das ist natürlich grob vereinfachend, denn die Fachwelt ist sich keineswegs einig, wo die Gefühle sitzen, wenn sie überhaupt irgendwo dauerhaft lokalisierbar sind.

4 Von lat. provocare: »etwas heraufbeschören, hervorrufen«

5 Un-verschämt: ohne falsche und hinderliche Scham

6 Siehe Kapitel 11.

7 Ich erkläre hiermit ausdrücklich, dass im folgenden Text mein Verzicht auf die im Deutschen so umständliche Doppelnennung mit und ohne die Endung -in, wenn von männlichen und weiblichen Beratern, Therapeuten, Klienten usw. die Rede ist, nichts mit einer Herabwürdigung des weiblichen Geschlechts zu tun hat, dem ich selbst schon sehr lange und gerne angehöre, sondern ausschließlich auf meine Bequemlichkeit zurückzuführen ist.

8 Das heißt nicht, dass die provokativen Interventionen nur bei leichteren Alltagsproblemen Anwendung finden können. Frank Farrelly hat die Provokative Therapie mit Patienten der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik entwickelt.

9 Mein Dank gilt Bernhard Trenkle von der M.E.G. (Milton Erickson Gesellschaft), bei der ich eine Ausbildung zur Hypnotherapeutin absolviert hatte.

10 Farrelly arbeitete 17 Jahre am Mendota State Hospital in Madison/Wisconsin, USA.

11 Clientcentered Therapy

12 Dieser Fall ist sehr anschaulich beschrieben in Farellys Buch Provocative Therapy.

13 Zwei Artikel von Frank Farrelly zu seiner Arbeit in der Psychiatrie finden Sie auf der Website www.provokativ.com auf Deutsch: »Die Waffen des Wahnsinns« und »Der Kodex der Chronizität«.

1 Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind!

Die Wachstumsbremsen oder: Wer bin ich?

Frank Farrelly zitiert in seinen Workshops gerne die Erkenntnis von Carl Rogers, dass die grundlegenden Fragen für jeden Menschen die nach seiner Identität sind. Jeder Mensch, der nicht vollständig abgestumpft ist, stellt sich folgende vier Fragen:

Wer bin ich?

Was bin ich?

Was sind meine Werte?

Was werde ich mit meinem Leben anfangen?

Diese Fragen nach der eigenen Identität sind nicht nur schwer zu beantworten, sondern die Antworten verändern sich auch noch im Lauf eines Lebens immer wieder. Manche Fragen wachsen, manche treten in den Hintergrund, manche Antworten werden brüchig. Und während wir mit der Beantwortung ringen, schlagen wir uns mit unseren Ängsten und unserem Sicherheitsstreben herum und versuchen, irgendwo Boden unter die Füße zu bekommen, während sich unsere Lebensgrundlage gelegentlich wie Treibsand anfühlt. Deshalb geben wir uns gerne damit zufrieden, wenn wir glauben, dass sich die eine oder andere Frage abhaken lässt, und haben wenig Neigung, sie uns stets neu zu stellen. Unterstützt werden wir bei dieser Vermeidungshaltung von unseren Wachstumsbremsen.

Die Wachstumsbremsen, die unsere Persönlichkeitsentwicklung verlangsamen oder ganz zum Stillstand bringen, sind hartnäckige Begleiter, und wahrscheinlich wird keiner von uns sie bis zu seinem seligen Ende vollständig los. Es erfordert einige Anstrengung, sie in Zaum zu halten, denn wenn man sie ungehindert walten lässt, bremsen sie immer kräftiger und wir drehen uns zunehmend im Kreis unserer emotionalen, möglichst risikolosen Überzeugungen. Mit erstarkenden Wachstumsbremsen wächst auch die Angst vor Neuem, sodass ein fabelhafter Kreislauf der Vermeidung in Gang gesetzt wird. Die Lebensbereiche, in denen ein Mensch seine Weiterentwicklung durch seine Wachstumsbremsen selbst blockiert, werden von ihm gemieden und bekommen einen immer bedrohlicheren Charakter, je länger die Vermeidung anhält.

Wachstumsbremsen sind emotionale Strategien, Angst zu vermeiden, denn sie warnen uns heftig vor jedem möglichen Risiko. Jede neue und unbekannte Situation ist garniert mit diesen lästigen Emotionen, die uns zuflüstern: »Lass es lieber! Es ist zu riskant, zu anstrengend oder passt doch gar nicht zu dir!« Zur Rechtfertigung liefert man sich und anderen dann pseudorationale Begründungen: »Ich würde das ja gerne machen, aber …« Um die Wachstumsbremsen zu schwächen, sind wir daher aufgerufen, uns bei neuen Herausforderungen zu fragen, ob wir der warnenden inneren Stimme Gehör schenken wollen oder ob wir ihr zurufen: »Halt die Klappe!«

Die drei Angstvermeidungsstrategien, die mir am wichtigsten erscheinen, sind die Feigheit, die Faulheit und die Fixierung. Feigheit und Faulheit hat bereits der Philosoph Immanuel Kant als Hindernisse zur geistigen Unabhängigkeit und persönlichen Weiterentwicklung erwähnt. Ursprünglich14 habe ich die dritte Wachstumsbremse »Eitelkeit« genannt, aber inzwischen ist mir klar geworden, dass es viele Fixierungen gibt, bei denen dieser Begriff in die Irre führt, da sie mit Eitelkeit, wie wir sie im Allgemeinen verstehen, nichts zu tun haben.

Die Wachstumsbremse Fixierung

Jeder Mensch braucht ein gewisses Maß an persönlicher Stabilität, die sich darin ausdrückt, dass er Dinge denkt, fühlt und tut, die sich nicht permanent ändern und die er als zu ihm passend empfindet. So etwas nennt man Authentizität. Dennoch ist es erforderlich, offen zu bleiben für die Entwicklung und Erprobung neuer Aspekte und Möglichkeiten, die in der eigenen Persönlichkeit schlummern und die man unter Umständen bisher nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte. So etwas nennt man Persönlichkeitsentwicklung oder Reifung. Am Beginn eines jeden Problems steht ein fester Glaube, eine starre Überzeugung, eine fixe Idee bezüglich der eigenen Identität, die für Variationen keinen Spielraum mehr lässt.

Bei der Fixierung auf bestimmte Merkmale der eigenen Person ist die Verankerung dieses Glaubens so stabil, dass ich nicht mehr merke, wie eng das Korsett ist, das ich mir damit verpasse, und wie viele absurde Anteile es hat. Klienten neigen dazu, sich nur noch als ihr Problem auf zwei Beinen zu sehen: Ich bin eine Depression, ich bin eine Panikattacke usw. Klienten, die auf bestimmte Aspekte ihrer Persönlichkeit fixiert sind, glauben felsenfest, dass diese Aspekte untrennbar und zentral zu ihrer Identität gehören. Deshalb wollen sie diese unter keinen Umständen infrage gestellt wissen. Darauf sind sie nicht unbedingt besonders stolz, wie das bei der Eitelkeit der Fall wäre, aber jedes Aufweichen dieser grundlegenden Wesensidentität löst nicht nur Unsicherheit, sondern massive Angst aus, weil sie dann nicht mehr wissen, wer sie sind.

Nicht nur krankhafte Fixierungen, die jedem Außenstehenden und manchmal sogar dem Klienten selbst auffallen, legen uns eine Zwangsjacke an, sondern alle Vorstellungen von uns selbst, die wir nicht infrage gestellt wissen wollen und die wir für total normal halten, begrenzen unsere Möglichkeiten. Praktisch alle Menschen – auch solche, die sich nicht im Traum als Klienten bezeichnen würden – sind fixiert auf bestimmte Glaubenssätze bezüglich ihrer eigenen Persönlichkeit. Wenn Sie häufig sagen: »Ich bin jemand, der …«, dann sollten sie da mal genauer hinschauen, denn wahrscheinlich legen Sie sich damit auf bestimmte Merkmale so fest, dass Sie sich vieler Variationsmöglichkeiten berauben und Ihre Weiterentwicklung hemmen. Wenn Sie jetzt denken »So ein Unsinn, bei mir ist das nicht so dahergesagt, sondern wirklich definitiv so und so!«, dann sollten erst recht die Alarmglocken schrillen.

Die Super-Oma

Ich habe erst kürzlich persönlich Bekanntschaft mit der Wachstumsbremse Fixierung gemacht. Ich bekam nach einem Skiurlaub mit der ganzen Familie – Kindern, Schwiegerkindern, Enkeln – eine hartnäckige Augenentzündung. Meine Augen waren fast komplett zugeschwollen, sie tränten und brannten, die umgebende Haut war gerötet, ich sah aus, als hätte ich mit Wladimir Klitschko geboxt. Mehrere Ärzte dokterten an mir herum und sagten so wunderbar suggestive Sachen wie: »Da kann man nicht viel machen. Das ist wahrscheinlich allergisch. Ich habe Patienten, bei denen das ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr gedauert hat! Bei manchen ging es gar nicht mehr weg!« Na super! Es wurde trotz verschiedener Salben täglich schlimmer, und ich ging nur noch mit Sonnenbrille aus dem Haus. In meiner Verzweiflung suchte ich nach zwei Wochen einen guten Freund auf, der mit Hypnose arbeitet. Bevor er mich in Trance versetzte, redeten wir über meinen Urlaub, und ich erzählte launige Anekdoten über die lieben Kleinen. Dann sagte er einen Satz, der sich anfühlte wie ein Schlag in die Magengrube. Er sagte nur grinsend: »Was willst Du eigentlich nicht sehen?«

Ich schaute ihn entgeistert an und mir dämmerte sehr schnell, was er meinte: Ich hatte im Urlaub jeden Nachmittag meinen jüngsten Enkel, einen temperamentvollen Knaben von einem halben Jahr, gehütet, damit auch seine Eltern Ski laufen konnten. Ich laufe auch sehr gerne Ski und hetzte Tag für Tag nach zwei Stunden zurück ins Chalet und übernahm das Baby. Dieser kleine Anarchist trieb mich zum Wahnsinn. Er schlief tagsüber kaum noch, konnte noch nicht frei sitzen und langweilte sich schnell. Ich trug ihn zum Fenster, ich sang ihm vor, wiegte ihn, ich zeigte ihm Legosteine, Staubwedel, bunte Bauklötze, ich gab ihm sein Fläschchen oder einen Schnuller, und alles fesselte ihn für gefühlte 30 Sekunden. Dann bekam er einen Anfall, bäumte sich auf meinem Arm mit durchgedrücktem Rücken und schrie wie am Spieß mit hochrotem Kopf, bis mir wieder etwas Neues einfiel. Ich hatte Mordgelüste! Das Problem dabei war, dass ich mir meine Genervtheit und Erschöpfung nicht eingestehen konnte, weil sie im krassen Widerspruch zu meinem Selbstbild stand, das mir befahl: Es ist toll, dass sie dich so brauchen! Du liebst deine Enkel bedingungslos und bist bereit und willig, dich jederzeit als fröhliche, aufopferungsvolle und liebevolle Großmutter bis zur Selbstaufgabe für sie einzusetzen – genau wie es deine Mutter bei deinen Kindern getan hat. Seufz!

Wenn ich nicht so ein deutliches, »augenfälliges« Symptom entwickelt hätte, wären mir wahrscheinlich schöne rationale Argumente eingefallen, warum ein weiterer Skiurlaub mit der ganzen Bande wenig Sinn macht (keine Zeit, Kinder noch zu klein, alles ist zu aufwendig, zu teuer usw.). Solche rationalen Begründungen dienen stets zur Stabilisierung des eigenen Blickwinkels. Sie machen Gefühle erträglich und verhindern Angst. Und meine Aggressivität dem Kleinen gegenüber machte mir Angst. Deshalb hatte ich meinen heftigen Zorn auf meinen doch so süßen Enkel in ein Hinterstübchen meines Hirns verbannt.

Manchmal, wenn die Erkenntnis bereits dicht unter der Oberfläche wartet, reicht als Provokation schon ein wohl platzierter Satz. Bei meinem Augenproblem lauerte meine Erkenntnis schon sprungbereit in meinem Hinterkopf, deshalb musste mein Freund nicht massiver werden. Er erkannte aus meinen köstlichen Anekdoten das Problem, und sein Satz war Provokation im Schnelldurchlauf. Er hätte auch – um mir mein mich überforderndes und überzogenes Großmutter-Idealbild bewusst zu machen und meinen Widerstand dagegen zu wecken – ausführlicher werden und mir mitteilen können, dass man Enkel immer lieben müsse, negative Gefühle dürfe es nicht geben, sie seien nicht gestattet. Und ich sei mit meinem Engagement die Großmutter des Jahres, eine bessere gebe es nirgends, man müsse mich nach meinem Ableben unbedingt ausstopfen und als mahnendes Vorbild für andere Großmütter auf dem Marktplatz aufstellen.

In seiner Kurzvariante, die dem Spuk postwendend ein Ende bereitete, war all das enthalten. Nachdem ich mir eingestanden hatte, dass mich dieser Enkel in den Irrsinn treiben konnte und ich das Recht hatte, ihn deswegen unausstehlich zu finden, war meine Augenentzündung nach wenigen Tagen spurlos verschwunden und mein Gesicht schwoll schneller ab als Eiscreme im Hochsommer.

Mutter Theresa lebt!

Eine Fixierung auf einen bestimmten Aspekt der eigenen Identität kann noch viel weiter führen als zu entzündeten Augen. Sie kann das ganze Leben bestimmen. Im günstigen Fall ist das sehr vorteilhaft und befähigt den Menschen, der an sich glaubt, zu Höchstleistungen.15 Häufig hat die Fixierung aber negative Nebenwirkungen und wird auf diese Weise zum Stolperstein. Damit meine ich nicht nur negative Glaubenssätze wie »Ich war und bin ein Versager« oder »Das schaffe ich sowieso nicht!«. Auch sozial anerkannte Werte wie eine im Übermaß verinnerlichte Hilfsbereitschaft können ein ganzes Leben auf sehr unvorteilhafte Weise definieren.

Es gibt hemmungslose Egomanen, denen das eigene Wohlergehen heilig ist, und zwar ausschließlich das eigene. Sie gehen über Leichen und pfeifen dabei fröhlich ein Lied. Zu diesen unangenehmen Zeitgenossen gibt es als Gegenstück Menschen, denen die Hilfs- und Opferbereitschaft aus allen Poren quillt. Ich bin sicher, Sie kennen solche Menschen auch oder sind vielleicht sogar selbst in Gefahr, zu denen zu gehören, die nicht Nein sagen können. So eine selbst ernannte »Mutter Theresa« ist Cordula. Sie ist davon überzeugt, dass sie anderen helfen muss, um sich treu zu bleiben. Diese Überzeugung ist wie ein elftes Gebot, das ihr Moses persönlich direkt vom Berg Sinai herabgebracht hat. Jede verweigerte Hilfeleistung, jedes verweigerte Entgegenkommen wäre also ebenso verächtlich, wie einem Unfallopfer die Erste Hilfe zu verweigern. Sie ist immer für jedermann da, alles andere wäre nackter Egoismus, und der ist ihr verhasst. Natürlich geht ihr selbstloser Einsatz häufig völlig einseitig auf ihre Kosten, und sie bekommt keinen Dank dafür, aber das hält sie nicht davon ab, jederzeit und überall in die Bresche zu springen – auch in Situationen, in denen ein ebenso freundliches wie beherztes »Nein! Jetzt reicht’s!« angebracht wäre. Die Menschen in ihrem Umfeld knuffen sich vermutlich gegenseitig verschmitzt in die Seite, wenn es etwas Unangenehmes zu erledigen gibt: »Hihi, das ist wieder was für Cordula!«

Cordula ist jetzt über 70 Jahre alt und hat sich zeitlebens von Menschen ausnützen lassen, vor allem von solchen, die sie ihrer Meinung nach lebensnotwendig brauchten. Da wäre an erster Stelle ihre Mutter zu nennen. Cordula weigerte sich bis zum Alter von Mitte 30, aus ihrem Kinderzimmer auszuziehen, wo immer noch der Teddy auf der Bettüberdecke saß. Wenn sie auszöge, wäre ihre verwitwete Mutti ja ganz alleine auf der Welt – und Mutti verstand es prächtig, ihrem Missfallen über Abnabelungstendenzen Ausdruck zu verleihen, ohne direkt etwas zu sagen. »Zieh nur aus«, sagte sie mit leidendem Gesicht, »ich komme schon zurecht!« Erst auf massiven Druck ihrer Brüder, die ihr ein eigenes Appartement besorgten und drohten, sie würden den Kontakt zu ihr abbrechen, wenn sie es nicht bezog, verließ Cordula unter Tränen die mütterliche Wohnung, begleitet von Muttis düsteren Prophezeiungen über die feindliche Welt. Den Konflikt, in den sie sich damit stürzte (denn sie wollte es natürlich auch den Geschwistern recht machen), löste sie dadurch, dass sie nach ihrem Auszug jahrzehntelang, bis zum Tod der Mutter mit über 90, zweimal täglich zu ihr fuhr, um für sie zu kochen und einzukaufen. Natürlich musste sie deshalb jede angebotene Beförderung an ihrer Arbeitsstelle ablehnen, weil ihr eine erhöhte Arbeitsbelastung nicht mehr genug Zeit für Mutti gelassen hätte. Nebenbei bemerkt: Mutti war bei Cordulas Auszug weder krank noch behindert, sondern noch keine 60 und äußerst kraftvoll, was auch in dauerhaftem heftigem Genörgele an Cordulas Lebenswandel und den von ihr zubereiteten Mahlzeiten zum Ausdruck kam.

Auch bei den Männern, in die sich Cordula verliebte, folgte sie diesem Muster. Cordula war eine hübsche Frau und hatte genügend Verehrer. Doch diejenigen, die innerlich unabhängig waren und sie nicht unbedingt gebraucht, sie aber gerne geheiratet hätten, wies sie in jungen Jahren ab. Danach folgten einige verheiratete Exemplare, die sich aber nicht scheiden lassen konnten, weil wiederum deren Frau von ihnen komplett abhängig war – ein Argument, das Cordula deprimierte, das sie aber selbstverständlich völlig einsah. Seit vielen Jahren hat sie nun einen zwar ungebundenen Freund, der wahrscheinlich deshalb ungebunden war, weil jede Frau, die ihre fünf Sinne beisammenhat, diese männliche Baustelle abgelehnt hätte. Dieses Desaster auf zwei Beinen braucht extrem viel Unterstützung, ist also unwiderstehlich für Cordula. Meistens ist er betrunken, und deshalb hat er auch einen Job nach dem anderen verloren, sodass Cordula ihn jetzt finanziell komplett aushalten muss. Cordula beklagt sich ständig über ihn, aber eine Trennung: Niemals! Auch wenn die Rauschkugel ihr das letzte Hemd auszieht, sie im Suff verprügelt und vergewaltigt, ist ihr schlagkräftigstes Argument, bei ihm zu bleiben, immer wieder: »Er hat sonst ja niemanden. Ich muss mich doch um ihn kümmern!«

Es gibt natürlich Menschen, die Erfüllung und Glück in der selbstlosen Hingabe an andere finden, und dagegen ist nichts einzuwenden. Aber Cordula war und ist nicht glücklich, sondern litt ihr Leben lang unter depressiven Perioden und fühlte sich immer vom Schicksal vernachlässigt. Der Leidensdruck, den sie entwickelt, geht jedoch niemals so weit, dass sie ihre Vorstellung von sich selbst infrage stellen würde, sondern erschöpft sich in ausführlichem Geseufze über die Grausamkeit der Welt, die Schlechtigkeit anderer Menschen und die Ungerechtigkeit des Lebens als solchem, und gegen all diese Widrigkeiten ist man ja bekanntermaßen völlig machtlos. Die Umstände und andere Menschen sind schuld und sie ist das unschuldige Opfer. Kennen Sie auch eine Cordula?

Die Wachstumsbremse Faulheit

Die Wachstumsbremse Faulheit kann jeder täglich am eigenen inneren Schweinehund spüren. Eigentlich sollte ich Sport machen, ein Buch lesen, endlich die Steuererklärung vorbereiten usw., aber stattdessen lümmle ich mich auf der Couch und schaue mir eine schwachsinnige Soap im Fernsehen an. Ich bin einfach zu faul, etwas Anstrengendes anzugehen, vor allem wenn es so unerfreulich ist wie die Steuererklärung. Klienten geht es ähnlich. Oft wissen sie sehr gut, was sie tun müssten und was gut für sie wäre, aber die Umsetzung erfordert Energie, und die verwenden sie lieber darauf, ihre Symptomatik zu pflegen. Dies ist eine gewohnte Anstrengung mit vertrautem Ergebnis in Form des altbekannten Symptoms. Wenn die Energie hingegen in eine andere als die vertraute Richtung eingesetzt werden soll – also zur Bekämpfung oder Ausschaltung des Symptoms – kann einem niemand garantieren, dass das gewünschte Ergebnis wirklich eintritt. Es bleibt die beunruhigende Ungewissheit, ob sich der ganze Aufwand wirklich lohnt. Das letztlich hinter der Wachstumsbremse Faulheit stehende Gefühl ist daher – wie bei der Wachstumsbremse Fixierung – Beunruhigung oder, schärfer ausgedrückt, Angst.

Manchmal ist die Wachstumsbremse Faulheit nicht sofort erkennbar. Dirk war ein großer, schwerer, um nicht zu sagen ziemlich dicker Mann Anfang 40. In seiner ersten Beratungsstunde sprachen wir über seinen Perfektionismus und den Druck, den er spürte, weil er sich in unendlich vielen beruflichen und privaten Zwängen gefangen fühlte. Er arbeitete zu viel und war seit zehn Jahren mit einer älteren Frau liiert, die drei inzwischen erwachsene Kinder von einem früheren Partner hatte. Er hatte die drei mit aufgezogen, aber inzwischen gab es mit der Frau kaum noch Berührungspunkte und alle vier, die Frau und ihre Kinder, fühlten sich für ihn jetzt an wie die dicken Bleikugeln, die Gefangene an den Beinen haben, damit sie nicht weglaufen können.

Mehrere Monate später kam er zum zweiten Mal zu mir. Er hatte inzwischen sein Leben ziemlich radikal verändert: Er hatte sich von seiner Lebenspartnerin getrennt und in seinem Beruf mehrere Gänge zurückgeschaltet. Einerseits fühlte er sich jetzt befreit, aber andererseits – da er seine alten Bindungen über Bord geworfen hatte – ziemlich orientierungslos, und er wusste nicht, was er eigentlich jetzt mit sich anstellen sollte. Zu viele Entscheidungen standen an, und neben der Beunruhigung, die das auslöste, störte es seine natürliche Trägheit. Sollte er in der Kleinstadt bleiben, die er nicht mochte, in der er aber so viele Jahre lang gelebt hatte? Wenn nicht, wohin sollte er gehen? Und der Umzug, du großer Gott, welche Anstrengung! Sollte er sich nach einer neuen Partnerin umsehen? Das war ja richtig mühsam! Und wie sollte sie beschaffen sein, damit er sich bei ihr auch auf Dauer wohlfühlen könnte? Er wollte auch nicht wieder so stark unter Druck geraten und auch nicht so viel arbeiten wie früher, aber wie sein Arbeitsleben sich auf Dauer gestalten könnte, lag völlig im Nebel.

Mein Ziel war es, ihm Klarheit über seine Motive zu verschaffen. Zunächst setzte ich bei seinem Perfektionismus an und sagte: »Wenn Sie sich jetzt neu orientieren, muss es natürlich hundertprozentig passen. Sie brauchen für sich erstens genau den richtigen Ort, zweitens genau die richtige Frau, drittens genau die richtige Wohnung und viertens muss das für immer sein!« Sein Widerspruch kam wie aus der Pistole geschossen: »Nein, ich kann schon zunächst mal eine provisorische Wohnung beziehen, wenn ich nur wüsste, wo!« Er wusste vor allem, wo er nicht hin wollte und dass ihm die Fülle der vor ihm liegenden Aufgaben viel zu anstrengend war. Es gab so viele Möglichkeiten, was man tun könnte, würde, müsste aber alle anstehenden Entscheidungen waren schrecklich. Sich auf etwas festzulegen war auch schrecklich, weil es ja wieder so ein Reinfall werden konnte wie seine bisherigen Fehlentscheidungen.

Dirks Mangel an Entschlusskraft und seine ausgeprägte Trägheit waren dann lohnende Ziele, auf die ich Pfeile abschoss. Ich schlug vor, er könne einen Verein namens »Faule-Sau-Leben« gründen und sich mit Gleichgesinnten auf die faule Haut legen und sich an der Möglichkeitswelt ergötzen, ohne jemals in Gefahr zu geraten, dass er irgendetwas wirklich anpacken müsste. Dann könne man auch nichts falsch machen. Es wäre auch keine schlechte Idee, sagte ich, wenn er sich einen Butler engagieren würde, dessen Aufgabe es sei, ihm laufend Vorschläge zu machen, die er dann ablehnen könnte. Ich spielte ihm einen kleinen Dialog in verschiedenen Stimmlagen vor: »Wollen Sie jetzt umziehen, Sir?« – »Ja, vielleicht, James« – »Wie wäre es mit Braunschweig, Sir?« – »Nein, kommt nicht infrage, James!« – »Dann vielleicht Osnabrück, Sir?« – »Um Himmels willen, nein, James, wie kommen Sie denn auf so eine abartige Idee!« – »Wollen Sie vielleicht ins Ausland, Sir?« – »Hm, auch eine Idee!« – »Wie wäre es mit London, Sir?« – »Nein, keine Großstadt, James.« – »Dann vielleicht ein abgelegenes Landgut in Neuseeland, Sir?« – »Oh Gott, nein, zu einsam!« Und so weiter und so weiter. Dirk lachte schallend. Als ich ihn viele Monate später wieder traf, hatte er unzählige Entscheidungen getroffen und so abgenommen, dass man ihn nicht mehr dick nennen konnte. Zwei Jahre später erfuhr ich, dass er ein neues Projekt im Ausland leitete.

Die Wachstumsbremse Feigheit