Glimmer – Die Verschollene - Heather G. Harris - E-Book
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Glimmer – Die Verschollene E-Book

Heather G. Harris

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Beschreibung

Jinx ist Mitte zwanzig und Privatdetektivin. Ihre geradezu unheimliche Gabe zu spüren, wenn jemand lügt, ist dabei durchaus hilfreich. Doch trotz ihrer übernatürlichen Fähigkeiten ist es ihr bis heute nicht gelungen, den Tod ihrer Eltern aufzuklären, was ihr ziemlich zu schaffen macht. Trost findet sie bei ihrer Dogge Gato, der sie stets beschützt. Als Jinx dem attraktiven Inspektor Stone helfen soll, eine vermisste Studentin zu finden, erfährt sie, dass es neben der realen noch eine Alternativwelt gibt – eine ebenso gefährliche wie aufregende Welt voller Gestaltwandler, Vampire und Zauberer. Eine Welt, in der auch sie zu Hause ist. Doch was hat diese Welt mit ihrem neuen Fall zu tun? Findet sie hier die Antworten auf all die ungeklärten Fragen zum Tod ihrer Eltern? Und muss Inspektor Stone eigentlich so unfassbar sexy sein?

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Seitenzahl: 374

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DASBUCH

Jessica Sharp, genannt Jinx, ist Mitte zwanzig und hat gerade ihre eigene Detektei gegründet. Ihre geradezu unheimliche Gabe zu spüren, wenn jemand lügt, ist für eine aufstrebende junge Privatermittlerin durchaus hilfreich. Eines Tages wird Jinx von der wohlhabenden Lady Sorell beauftragt, deren Enkeltochter Hester zu finden. Diese ist zum Studium nach Liverpool gezogen und kurz darauf spurlos verschwunden. Jinx‘ Freude über den neuen Auftrag wird getrübt, als sie erfährt, dass sie mit einem gewissen Inspector Stone zusammenarbeiten soll. Stone ist arrogant, gut aussehend und hat die unfehlbare Gabe, Jinx in den Wahnsinn zu treiben. Doch damit nicht genug: Er erklärt Jinx, dass es neben der realen Welt noch das Anders gibt – ein ebenso gefährliches wie magisches Reich voller Gestaltwandler, Vampire und Zauberer. Doch was hat diese Welt mit dem Verschwinden von Hester zu tun? Muss der nervige Inspektor Stone so unfassbar sexy sein? Und hat sich ihre geliebte Dogge Gato wirklich gerade vor ihren Augen in einen Höllenhund verwandelt?

DIEAUTORIN

Heather G. Harris wuchs in der Nähe von Windsor in der unmittelbaren Nachbarschaft der königlichen Familie auf. Sie studierte in Liverpool, wo sie ihre Leidenschaft für Fallschirmspringen und Schreiben entdeckte. Wenn sie sich nicht gerade neue Geschichten ausdenkt, verbringt Heather G. Harris Zeit mit ihrer Familie und ihrer Dänischen Dogge Oscar. Mit der Glimmer-Reihe rund um die magische begabte Privatdetektivin Jinx gelang ihr der Durchbruch als Autorin.

HEATHER G. HARRIS

ROMAN

Aus dem Englischen übersetzt

von Antonia Zauner

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

GLIMMEROFTHEOTHER

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 11/2023

Redaktion: Michelle Stöger

Copyright © 2021 by Heather G. Harris

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München,

unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN: 978-3-641-30626-7V002

www.heyne.de

Für meine Mum, für immer und ewig.

Du fehlst mir.

1

ICHHOCKTEGEFÄHRLICHWACKLIGINeiner Birke in Mr. Michael MacKenzies Garten. Es war ein wenig kühl hier draußen, und ich zog meine Tarnjacke enger um meinen Körper und bemühte mich dabei, meine Bewegungen auf ein Minimum zu reduzieren. Man hatte mich für eine diskrete Überwachungsmission angeheuert, und aus einem Baum zu fallen war da ein bisschen suboptimal.

Ich hatte eine gute Stunde ausgeharrt, als sich im Wintergarten plötzlich etwas regte. Der frisch geduschte Mr.MacKenzie trug etwas Unförmiges in den verglasten Raum. Es war ein menschengroßes Fuchsplüschtier, komplett mit Plüschbrüsten und riesigen wimperngesäumten Augen. Die Stofffüchsin hatte den Mund weit aufgerissen, als wäre sie überrascht.

Ich verzog das Gesicht. Sie ahnte ja gar nicht, was ihr blühte. Mr.MacKenzie zog sich das Handtuch, an dessen Vorderseite sich bereits ein Zelt gebildet hatte, von den Hüften und legte sich neben Miss Foxy. Nicht lange, und es wurde heiß und schmutzig. Ich hatte definitiv genug gesehen.

Ich nahm ein kurzes Video auf und schoss mehrere Fotos mit dem Handy. Fetischfälle sind oft heikler als fremdgehende Ehepartner. Mr.MacKenzie betrog seine Frau nicht wirklich, er hatte einfach nur eine Vorliebe, die er lieber für sich behielt. Natürlich würde ich das gleich zunichtemachen.

Fetische sind eine Grauzone. Die frisch angetraute Mrs.MacKenzie hatte vermutet, dass ihr Mann eine Affäre hatte, aber technisch gesehen war das nicht der Fall. Vielleicht hatte sie ja kein Problem damit, dass ihr Mann es mit einer Fuchsattrappe trieb, aber es war auch gut möglich, dass es zu viel für sie war. Wie dem auch sei, im Grunde hatte Mr.MacKenzie nichts falsch gemacht. Wobei man sich vermutlich besser versichert, dass die Zukünftige mit den eigenen Vorlieben vertraut ist oder sie sogar teilt, bevor man vor den Traualtar stürmt. Aber um ehrlich zu sein, bin ich auf dem Feld keine Expertin. Keine meiner Beziehungen hielt länger als ein langes Wochenende.

Vorsichtig kletterte ich vom Baum. Mr.MacKenzie war zu eifrig mit Miss Foxy zugange, um mich zu bemerken. Ich stieg über den Zaun, lief die Gasse hinunter und stieg in meinen schwarzen Ford Focus. Die gibt es wie Sand am Meer, und er fällt definitiv nicht auf, was ihn zum perfekten Gefährt für eine Privatdetektivin macht. Und mein Hund passt auch rein, obwohl er die ganze Rückbank einnimmt. Das ist okay, ich habe nicht oft Mitfahrer.

Ich rief Mrs.MacKenzie an und verabredete mich mit ihr in fünfzehn Minuten in einem Starbucks in der Nähe. Ich schätzte, dass ich fünf Minuten dorthin brauchen würde und mir daher vor ihrem Eintreffen noch einen Latte bestellen konnte.

Ich parkte vor dem Laden, sprang aus dem Wagen und bestellte meinen Kaffee. Als Sarah MacKenzie mit einer Freundin den Coffeeshop betrat, saß ich bereits in einem gemütlichen Sessel. Sie war siebenundzwanzig, blond, schön und verfügte über üppige Kurven. Selbst an einem schlechten Tag spielte sie noch in einer völlig anderen Liga als Mr.MacKenzie. Er war ein mausgrauer Sechsundvierzigjähriger und auch ziemlich üppig, jedoch nicht auf die gute Art. Er war überdies ziemlich wohlhabend. Ich hatte keine Ahnung, wie es um ihre Gefühle stand, aber sie hatte sich die Augen ausgeheult, als sie mir erklärte, warum sie glaubte, dass »Mick« sie betrog. Die Zynikerin in mir fragte sich, wie viel Mr.MacKenzies Geld mit ihren Tränen zu tun hatte.

Ihre Freundin war brünett, schlank und sportlich, und sie hatte eine Härte in den Augen, die mir verriet, dass mit ihr nicht zu spaßen war. Mrs.MacKenzie hatte einen netten, aber etwas geistlosen Eindruck auf mich gemacht, und ich fragte mich, wie es zu dieser Freundschaft gekommen war. Ich bin einfach etwas zu neugierig.

Ich stand auf, um sie zu begrüßen. »Jinx!«, heulte Mrs.MacKenzie. »Sagen Sie es mir … seien Sie einfach direkt.« Sie ließ sich in einen Sessel mir gegenüber fallen. Vielleicht war ich unfair, aber ich dachte, dass sie etwas dick auftrug. Manche Menschen haben einen Hang zum Drama.

Während meiner sieben Jahre als Privatermittlerin hatte ich gelernt, dass Bilder wirklich mehr wert sind als tausend Worte. Ich suchte nach einem Bild mit einer guten Perspektive und stellte sicher, dass nur Mrs.MacKenzie auf das Display meines Handys blicken konnte.

Sie sprang auf und stieß ein dramatisches Kreischen aus. »Oh mein Gott, oh mein Gott! Was zur Hölle treibt er da mit diesem … Ding?« Sie sank in ihren Sessel zurück. »Ich falle in Ohnmacht. Ich muss mich übergeben. Ich weiß nicht, was …«

Ihre Freundin schob ihr den Kopf zwischen die Beine. »Drück gegen meine Hand und atme«, wies sie sie an. Mrs.MacKenzie gehorchte.

Ich wartete stumm, während sie zu begreifen versuchte, was sie da eben gesehen hatte. Sie wedelte die Hand ihrer Freundin beiseite. »Ich bin okay, Lisa. Ich bin okay.« Gelogen, meldete sich mein innerer Detektor. Sie war nicht okay, und ich konnte es ihr nicht verdenken.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin einfach … ach du meine Güte!«

»Sie stehen unter Schock«, half ich aus.

»Ach ja? Darauf wäre ich nicht gekommen, Sherlock«, fauchte Lisa.

Offensichtlich stand ich bei ihr nicht gerade hoch im Kurs. Es war nicht das erste Mal, dass Klienten ihre negativen Gefühle auf mich projizierten.

»Zeigen Sie ihr das Bild«, sagte Mrs.MacKenzie. »Sie ist meine Cousine. Jemand muss es wissen.« Wahrheit.

Jetzt ergab ihr Verhältnis etwas mehr Sinn – sie waren keine Freundinnen, sie waren verwandt. Ich zeigte Lisa das Bild. Sie blinzelte mehrere Male, ehe sie erblasste und sich hinsetzte. »Okay«, sagte sie. »Na dann.«

»Er fickt einen Fuchs«, stellte Mrs.MacKenzie ausdruckslos fest.

»Eine Plüschfüchsin«, erklärte ich. »Sie ist nicht echt.«

»Ich mochte Mick eigentlich immer«, meinte Lisa. Lüge. »Aber das ist ein wenig … ausgefallen. Und du hattest wirklich keine Ahnung?«, fragte sie zweifelnd. Sie versuchte, diplomatisch zu sein und sich nicht anmerken zu lassen, dass sie Mr.MacKenzie nicht mochte.

Mrs.MacKenzie schüttelte den Kopf, ihre Augen waren glasig und weit aufgerissen. Sie starrte auf ihre Hände und kratzte an ihrem abblätternden Nagellack. »Nein. Er hat nicht mal ein Plüschtier aus seiner Kindheit. Ich hatte ja keine Ahnung, dass er … mit … dem da … Himmel!« Wahrheit.

Es war Zeit, mich zu verabschieden. »Ich lasse Sie jetzt in Ruhe über alles sprechen.« Ich erhob mich. »Ich schicke Ihnen eine Mail mit dem Beweismaterial und meiner Rechnung, wie abgesprochen.«

Mrs.MacKenzie blickte auf. »Danke, Jinx. Es ist nicht, was ich erwartet hatte, aber ich musste es wissen. Ich liebe ihn.« Wahrheit. Interessant, sie liebte ihn wirklich. So kann man sich irren.

»Kein Problem. Ich hoffe, die Dinge regeln sich.« Ich nickte Lisa höflich zu und machte mich auf den Weg nach draußen. Ein neuer Tag, ein neues Honorar.

Es war vier Uhr nachmittags. Es stand noch das Auffinden eines Schuldners auf dem Plan, aber ich fühlte mich ausgelaugt, also machte ich Feierabend und fuhr nach Hause. Mein Zuhause ist eine Doppelhaushälfte mit drei Schlafzimmern in einer guten Straße in einer noch besseren Gegend. Ich war in Buckinghamshire geboren und aufgewachsen und hatte das Haus mit achtzehn Jahren von meinen Eltern geerbt. Seitdem hatte ich nur sehr wenig daran machen lassen.

Ich betreibe meine Agentur, Sharp Investigations, von zu Hause aus. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, mir ein Büro zu mieten, aber mein Betrieb ist zu klein dafür. Ich leiste gute Arbeit, aber ich schalte keine Werbung und bin immer gut versorgt mit Aufträgen. Ich habe eine schlichte Webseite und ein Postfach. Verhalte dich unauffällig – das hatten meine Eltern mir immer eingeschärft, und ich versuchte, mich daran zu halten.

Ich parkte vor dem Haus und ging hinüber zu meiner Nachbarin. Mrs.Harding passt auf meinen Hund auf, wenn ich arbeite und ihn nicht mitnehmen kann. Gato ist eine begeisterungsfähige drei Jahre alte Deutsche Dogge. Ich habe ihn erst seit eineinhalb Jahren. Er hat glattes, glänzendes schwarzes Fell und einen auffälligen weißen Blitz im Gesicht. Er ist eine schlichte Kreatur, die nichts mehr liebt, als auf dem Sofa zu kuscheln. Er ist umgänglich und freundlich, hasst es jedoch, durch den Regen zu laufen. Das Wichtigste an ihm ist jedoch, dass er mich bedingungslos liebt; er ist eines von zwei Wesen, die es noch auf dieser Erde gibt, die das tun – obwohl ich glaube, dass Mrs.Harding mich auch ganz gut leiden kann.

Sie öffnete die Tür, wie immer perfekt gekleidet und mit passend zum Outfit lackierten Nägeln. Heute war es ein blumiger Koralleton. Sie hatte sorgfältig Make-up auf ihr faltiges Gesicht aufgetragen und sah jünger aus, als sie war.

Gato drängte sich an ihr vorbei. »Vorsicht!«, warnte ich, als er in seinem Eifer beinahe die Zweiundsechzigjährige umwarf. Ich begrüßte ihn, indem ich ihn begeistert kraulte, und er leckte mir übers Gesicht.

Einen Moment lang flackerte das Gras unter ihm türkis. Ich blinzelte, und es kehrte zu seinem normalen Farbton zurück. Vielleicht war ich doch erschöpfter, als ich dachte.

»Hey, mein Junge«, begrüßte ich ihn. »Hattest du einen schönen Tag bei Mrs.Harding?« Er wedelte begeistert mit dem Schwanz. Mrs.Harding lebt schon solange ich denken kann nebenan. Ihr Ehemann Sam starb vor einigen Jahren, und ihre Tochter Jane kommt hin und wieder zu Besuch. Jane ist etwa zehn Jahre älter als ich. Sie hat nie geheiratet und keine Kinder und scheint auch kein diesbezügliches Interesse zu hegen. Sie ist Notfallärztin, und ihr Job ist ihr Leben. Aber auch hier brauche ich nicht reden. Mein Job ist auch mein Leben – ich bin nur bedeutend weniger erfolgreich.

»Wir hatten einen wundervollen Tag. Er hat mir keinen Ärger gemacht«, versicherte Mrs.Harding mir. Lüge.

Ich hob die Augenbraue und seufzte. »Was hat er dieses Mal angestellt?«

Mrs.Harding ließ das Lächeln zu, das sie hatte verbergen wollen. »Er hat den Postboten ein wenig gejagt. Ich habe dem Mann gesagt, er soll nicht rennen, dann wäre es kein so lustiges Spiel, aber er wollte nicht hören. Als Gato ihn erwischt hat, leckte er ihn ab und kam sofort wieder zurück. Es ist also wirklich niemand zu Schaden gekommen.«

Ich rollte mit den Augen. »Die Royal Mail wird mir wieder einen saftigen Brief schreiben«, empörte ich mich an Gato gewandt, der mich mit großen Augen ansah, als könnte er kein Wässerchen trüben.

»Danke, Mrs.H, ich weiß es zu schätzen.« Ich reichte ihr eine Papiertüte. Die heutige Bezahlung für das Aufpassen auf Gato waren zwei Mangos. Sie weigert sich, Geld anzunehmen, weil sie es, wie sie sagt, gern tut und die Gesellschaft genießt. Sie behauptet, zu alt für einen eigenen Hund zu sein, passt aber nur zu gerne auf meinen auf. Und ich gebe ihr gerne spezielle Dankeschön-Geschenke. Um ehrlich zu sein, sind die Mangos etwas lahm. Morgen würde ich mich mehr anstrengen müssen.

Ich winkte ihr zum Abschied und schloss die Haustür auf. Als ich drinnen war, sicherte ich die Tür mit zwei Riegeln, einer Kette und einem Sicherheitsschloss. Das Haus hatte sich seit dem Tod meiner Eltern nicht wirklich verändert, mit Ausnahme der zusätzlichen Security, und ja, ich weiß, dass ich die Wohnräume umgestalten sollte und so mancher Therapeut aus meinem Widerstreben schließen würde, dass ich Probleme hatte. Nach der Ermordung meiner Eltern beließ ich es bei einem Neuanstrich des Wohnzimmers, um die Blutspuren zu verdecken, und irgendwann gestaltete ich auch das große Schlafzimmer um, aber nur nachdem meine beste Freundin Lucy mir ewig damit in den Ohren gelegen hatte. Es sollte noch ein Jahr dauern, bis ich das Schlafzimmer dann wirklich benutzte.

Trotz seinem Spielchen mit dem Postboten war Gato so unruhig, dass ich die Tarnjacke gegen eine aus Leder tauschte, mir ein paar Kotbeutel schnappte und mit ihm rausging. Wir machten einen kurzen Spaziergang durch den Park, wo Gato buchstäblich an jede Blume pinkelte, die er finden konnte.

Ich verspannte mich ein wenig, als ein kleiner weißer Westie auf uns zugerannt kam und spielerisch kläffte. Als die Hündin bis auf drei Meter Abstand herangekommen war, blieb sie stehen wie festgefroren. Ein dumpfes Grollen drang aus ihrer Kehle, und sie begann langsam zurückzuweichen. Etwas weiter entfernt machte sie eine Kehrtwende und rannte davon.

»Ist okay«, sagte ich entschlossen zu Gato. »Wir brauchen keine anderen Hunde. Ich mag dich, und das reicht. Du bist mein bester Junge.« Ich tätschelte ihn, und ihm hing die Zunge aus dem Maul. Ihm macht es nichts aus, dass er ein Ausgestoßener unter den anderen Hunden ist, aber mir macht es etwas aus. Es fühlt sich an, als ob die anderen Hunde mein Baby auf dem Spielplatz mobben, aber ich kann nichts dagegen tun. Selbst die besten Leckerli können keinen anderen Hund zu Gato locken.

Wir ließen den Westie-Vorfall hinter uns und liefen weiter. Ein Bereich des Parks war von der Polizei abgesperrt, und die Spurensicherung war vor Ort. Ich kam näher und rief Gato zu mir. Ich erkannte einen der Polizisten als Detective Steve Marley, der an der Highschool mal mit einer meiner Freundinnen zusammen gewesen war; die jugendliche Beziehung war nur von kurzer Dauer gewesen, also waren wir keine besonders engen Freunde. Unsere Wege hatten sich lediglich während der letzten paar Jahre hin und wieder gekreuzt, weil ich als Zeugin bei mehreren Gerichtsverhandlungen aussagen musste.

Ich nickte ihm kurz zu und lächelte leicht, und er kam herüber. Er ist groß und schlank mit vorzeitig ergrauendem Haar und einem offenen Gesicht. Ich möchte wetten, er geht gern Laufen. »Jinx«, grüßte er mich mit einem freundlichen Lächeln.

»Hey, Steve, was ist passiert?«

Er runzelte die Stirn. »Messerstecherei.« Lüge. Warum würde Steve über die Art des Verbrechens lügen? Die Nachrichten würden sowieso bald darüber berichten. Komisch.

Ich pfiff. »Verdammt, es geht echt bergab mit dieser Gegend. Tote?« Ich achtete auf einen beiläufigen Tonfall, aber mein Herz raste. Egal, wie minimal die Spur auch sein mochte, ich hoffte immer darauf, dass ein erneuter Angriff mir Hinweise auf den Tod meiner Eltern geben würde.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, nur ein paar Schnitte in Arm und Hals.« Wahrheit. »Das Opfer sagte aus, dass er ein paar Kredithaien noch Geld schuldete. Ich schätze mal, einer davon hatte keine Lust mehr zu warten.«

Auch das klang, als wäre es wahr, aber ich verstand nicht, warum das Opfer Schnitte und keine Stichwunden hatte. Wo lag der Unterschied? Es wurde immer seltsamer. »Hast du eine Ahnung, welcher Kredithai es sein könnte?«, fragte ich.

»Zu früh, um Genaueres zu sagen.« Lüge. Okay, diese Lüge konnte ich wiederum verstehen. Es war eine laufende Ermittlung, deshalb durfte Steve keine Details zu den Tatverdächtigen preisgeben. Außerdem lügen die Leute ständig. Manchen macht es einfach Spaß. Es bedeutete vermutlich nichts, aber ich merkte es mir trotzdem.

Ich verabschiedete mich von Steve und machte mich ein wenig angespannt auf den Heimweg. Messerstechereien, selbst wenn es keine richtigen waren, machten mich unruhig. Das Bild der zerfetzten Körper meiner Eltern blitzte vor meinem inneren Auge auf. Man konnte das, was ihnen passiert war, kaum eine Messerstecherei nennen – es war ein brutales und grausames Zerreißen ihres Fleisches gewesen, bis hin zu dem Punkt, dass es schwierig gewesen war, sie überhaupt zu identifizieren. Es mussten Röntgenbilder zu ihrem Gebiss hinzugezogen werden. Und doch hatte man ihre Morde als eskalierten Einbruchsversuch vertuscht. Wer’s glaubt.

Ich schob den Gedanken zur Seite. Nicht jetzt. Später. Später würde ich von ihnen und dem Gestank des Blutes träumen.

Auch Gato schien unruhig zu sein. Sonst raste er immer voraus und kam dann zurück, aber heute lief er dicht neben mir und schaute sich um. Er blieb an meiner Seite, bis wir beinahe zu Hause waren, dann drehte er sich abrupt und mit gesträubtem Nackenfell um und knurrte tief und drohend.

Ich konnte nicht entdecken, was ihn so aus der Ruhe gebracht hatte, und mir stellten sich die Härchen im Nacken auf. »Komm«, lockte ich ihn zutiefst beunruhigt. »Wir sind fast daheim.«

Gato folgte mir, knurrte jedoch die ganze Zeit über. Er machte mir Angst. Sein Blick war auf etwas fixiert, das ich nicht sehen konnte, aber es war nicht gänzlich ausgeschlossen, dass dort draußen etwas – jemand – war, den man nicht sehen konnte.

Ich holte mein kleines Messer aus der Tasche und klappte die Klinge aus. »Was auch immer du bist«, sagte ich ruhig, »du kannst gleich wieder abhauen. Wir sind kein leichtes Ziel.«

Gato bellte zweimal, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. Ich sah, wie er den Kopf bewegte, als würde er etwas hinterherblicken, das sich entfernte. Er hörte auf zu knurren. Ich schluckte hart, ich war erschüttert, tat aber so, als wäre ich es nicht.

Mrs.Harding öffnete die Tür. »Alles okay, Jinx?«, fragte sie besorgt.

Ich zwang mir ein Lächeln aufs Gesicht. »Alles gut, Mrs.H, Gato war gerade nur etwas beunruhigt.«

»Wirklich?« Sie sah sich um. »Das sieht ihm gar nicht ähnlich.«

Ich schüttelte den Kopf.

Mrs.H sah sich noch einmal um. »Hier ist nichts, Gato«, versicherte sie ihm. Er trottete zu ihr und winselte leise. Sie streichelte über seinen Kopf. »Alles gut. Braver Junge.« Sie tätschelte ihn und schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Nun, das beunruhigt mich auch ein wenig. Ich werde heute Nacht meine Haustür abschließen.«

Ich rollte mit den Augen. »Sie sollten die Tür immer abschließen, Mrs.H!«, rief ich.

Sie lachte. »Da hast du natürlich recht. Gute Nacht, Jinx. Schlaf gut.«

»Sie auch, Mrs.H.«

Als ich ins Haus kam, schaltete ich sämtliche Lichter an, ehe ich in die Küche ging und mich um das Abendessen kümmerte. Ich machte mir auch einen Kaffee – Koffein oder nicht, ich wusste, dass ich an diesem Abend sowieso lange nicht würde einschlafen können. Alle Meditationen der Welt konnten die Albträume nicht vertreiben, die mich heute Nacht heimsuchen würden.

2

ICHSCHWITZTE, KEUCHTEUNDHATTEmich in meinen Laken verheddert, als ich mich plötzlich stocksteif aufrichtete. Mein Handy klingelte. Mit verschlafenen Augen schaute ich auf die Uhr: 6:37. Wer war bitte auf die Idee gekommen, dass 6:37 Uhr eine akzeptable Zeit für einen Anruf ist? Wer auch immer es war, ich war ihm dankbar, dass er mich aus diesem speziellen Albtraum gerissen hatte.

Mein Herz donnerte immer noch, und ich überlegte, ob ich überhaupt rangehen sollte, aber am Ende siegte doch die Neugier. Das tut sie immer. »Guten Morgen, Sharp Investigations«, sagte ich mit meinem sanften Telefontonfall.

»Guten Morgen«, hörte ich eine gebieterische Stimme. »Sie wurden mir als diskret empfohlen. Ich möchte, dass Sie jemanden für mich finden. Ist das in Ihrem Repertoire?«

»Ja, Ma’am«, versicherte ich ihr.

»Gut«, meinte sie knapp. »Ich bin Lady Elizabeth Sorrell. Die Adresse ist Foxwood Manor. Kennen Sie das?«

»Ja, Ma’am«, antwortete ich. Es war meines Wissens das letzte Herrenhaus in der Nähe, das noch nicht dem National Trust zur Denkmalpflege übergeben wurde. Da es sich immer noch im Privatbesitz befand, wurde es häufiger für Hochzeiten und Firmenveranstaltungen gebucht.

»Acht Uhr. Seien Sie pünktlich.« Sie legte ohne Verabschiedung auf.

Ich hatte bis mindestens zwei Uhr nicht schlafen können und fühlte mich immer noch müde und wie durch den Fleischwolf gedreht. Ich dachte ernsthaft darüber nach, mich noch einmal dreißig Minuten aufs Ohr zu legen, aber meine schweißnassen Laken überzeugten mich, es sein zu lassen. Außerdem war ich jetzt schon wach.

Ich schleppte mich unter die Dusche, um die letzten Spinnweben in meinem Kopf loszuwerden, ehe ich mir die auf dem Boden liegenden Jeans vom Tag zuvor schnappte und in ein frisches T-Shirt schlüpfte. Für diese Kundin war eindeutig formelle Kleidung angesagt, aber ich konnte schlecht im Kostüm den Hund Gassi führen.

Nach einer kurzen und ereignislosen Runde mit Gato machte ich mir eine Scheibe Toast zum Frühstück. Mrs.H würde ihn hier abholen, wenn sie so weit war, also bestand keine Notwendigkeit, sie in aller Frühe zu überfallen.

Ich schlüpfte in ein unscheinbares graues Kostüm und eine weiße Bluse. Den Blazer ließ ich offen, zugeknöpft sah er schlimmer aus, weil meine Brüste das Material zu sprengen drohten. Ich legte ein simples Make-up auf und frisierte mein Haar zu einem lockeren Knoten. Dann sah ich mich noch einmal im Spiegel an: Ich sah so fein aus, wie ich konnte. Zufrieden mit meinem Spiegelbild, fütterte ich Gato, küsste ihn auf den Kopf und stieg in meinen Ford.

Es waren nur zwanzig Minuten Fahrtzeit bis Foxwood Manor, aber ich brach eine halbe Stunde vorher auf, nur für den Fall. Ich war gestern nicht in der Gegend gewesen, also war ich nicht sicher, ob es vielleicht Straßenbauarbeiten gab, die mich zu einem Umweg zwingen würden – und ich glaubte nicht, dass Lady Sorrell zu den Menschen gehörte, die Unpünktlichkeit verziehen.

Ich war um 7:50 Uhr dort und wartete noch einmal fünf Minuten im Wagen. Lady Sorrell würde es auch nicht mögen, wenn ich zu früh auftauchte. Pünktlichkeit ist eine Kunst. Um fünf vor klopfte ich an die uralte Holztür. Es verging kaum ein Moment, bis sie von einem Herrn in einem feinen Anzug geöffnet wurde. Er hatte grau meliertes Haar, und seine gealterte Haut verriet, dass er etwa in seinen Fünfzigern sein musste. Lady Sorrell schien einen waschechten Butler zu haben. Wer hätte gedacht, dass das noch üblich ist?

»Jessica Sharp, nehme ich an«, sagte er würdevoll. Ich fragte mich, ob man dieses stereotype Verhalten in einer Butler-Schule lernen konnte.

»Jinx«, korrigierte ich ihn. Er blinzelte. Ich schätzte, er war es nicht gewohnt, berichtigt zu werden.

Er trat einen Schritt zurück, bat mich herein und schloss die schwere Tür hinter uns. Das Licht der schwachen Oktobersonne drang nur spärlich in den holzvertäfelten Flur. Er neigte den Kopf, um mir zu verstehen zu geben, dass ich ihm folgen solle.

Ich sah mich währenddessen um. An den Wänden fehlten Bilder, und es waren kaum Ziergegenstände zu sehen. Steckten die Sorrells in finanziellen Schwierigkeiten? Ich nahm mir vor, eine Anzahlung zu verlangen und gleich im Vorhinein eine Summe für den Vorschuss und zusätzliche Ausgaben zu vereinbaren. Ich hoffe, dass mich diese Einstellung eher zur smarten Geschäftsfrau als zu einem kaltherzigen Biest macht. Obwohl es im Grunde egal ist.

Der Butler blieb vor einer Mahagonitür stehen, klopfte und öffnete sie. »Eine Miss … Jinx ist für Sie hier, Ma’am.« Es schwang etwas Abscheu in der Art mit, wie er meinen Namen aussprach.

»Danke, Jackson. Das wäre dann alles.« Ich fragte mich, ob Jackson sein Vor- oder Familienname war. So oder so hatte er wegen irgendwas einen Stock im Arsch.

Ich trat ein. Hier fehlten weder Gemälde noch Ziergegenstände – dies musste das Empfangszimmer sein. Es war lächerlich riesig; ich war mir ziemlich sicher, dass der Grundriss meines gesamten Hauses hineingepasst hätte. Drei aufeinander abgestimmte Sofas waren um einen großen Kamin gruppiert, dahinter stand ein Tisch mit vier Stühlen und einer Vase mit frischen Blumen. Es gab sechs große Fenster, alle in derselben Wand. Der Raum war in einem beruhigenden Salbeigrün gestrichen, aber alle Teppiche hatten chaotische Blumenmuster. Zum Glück wurde das Zimmer durch Lampen erhellt, was half, die düstere Atmosphäre des Flurs zu vertreiben.

Elizabeth Sorrell thronte in einem pfirsichfarbenen Kostüm und einer weißen Bluse auf einem der Sofas. Sie hatte die Beine züchtig an den Knöcheln überkreuzt. Ihr Gesicht war alterslos, und ich hätte viel Geld darauf verwettet, dass sie etwas hatte machen lassen, aber ihr Hals verriet ihr Alter. Ich schätzte sie auf Mitte siebzig. Sie machte keine Anstalten, aufzustehen und mich zu begrüßen.

Ich durchquerte den Raum. »Lady Sorrell«, begrüßte ich sie und achtete darauf, mich nicht zu setzen, bevor sie es mir anbot. Meine Mutter hatte mir Manieren beigebracht, und ich vermutete, dass Lady Sorrell darauf viel Wert legte.

Anerkennung flackerte über ihre strengen Züge – so kurz, dass man es leicht verpassen konnte. »Setzen Sie sich, Miss Sharp«, bat sie mich.

Ich setzte mich. Ich wartete. Das hier war ihre Show. Sie bot mir keine Erfrischung an. Ich war als Dienstleisterin hier und dementsprechend Personal.

»Meine Enkelin Hester ist verschwunden«, erklärte sie. »Ein braves Mädchen, aber sie ist erst achtzehn. Vor Kurzem begann sie an der Liverpool University ihr Psychologiestudium.« Sie spuckte mir das letzte Wort förmlich entgegen, woraus ich schloss, dass das nicht ihrer Vorstellung von einem respektablen Abschluss entsprach. Meine Mutter war Psychologin, und sie hat ihr gesamtes Erwachsenenleben mit dem Versuch verbracht, Menschen zu helfen. Für mich war das respektabel.

»Sie rebellierte damit gegen die Wünsche der Familie. Zum Glück ist die Liverpool University eine der besseren Universitäten, trotzdem … Sie lebt in einem Studentenwohnheim.« Lady Sorrell konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. »Hester ist seit fünf Wochen dort und hat täglich angerufen, bis vor zwei Tagen. Sie war nicht bei ihren Vorlesungen und hat nichts in den sozialen Medien gepostet. Wir haben sie bei der Polizei als vermisst gemeldet, aber es ist eindeutig, dass sie glauben, sie hätte sich willentlich unter dem Einfluss von Alkohol eine Auszeit genommen. Uns wurde gesagt, es gebe Hinweise darauf, dass sie Drogen konsumiere.«

Interessanterweise schien sie ein Psychologiestudium abschreckender zu finden als die Vorstellung, dass ihre Enkelin Drogen nehmen könnte. »Die Ermittlungen der Polizei waren unbefriedigend. Mir wurde gesagt, dass sie nicht einmal versucht haben, Zutritt zu ihrem Zimmer zu erlangen.« Ihre Missbilligung war schwer zu übersehen. Irgendwer irgendwo würde einen Beschwerdebrief bekommen.

»Sie wurden mir von einem Freund der Familie empfohlen, Lord Samuel. Er hat mir versichert, Sie seien diskret. Was auch immer Hester treibt, wir wollen nicht, dass die Öffentlichkeit davon erfährt und das ihre Chancen auf eine gute Heirat zunichtemacht. Obwohl es Arrangements für eine mögliche Verlobung mit Lord Samuels Sohn gibt, ist noch nichts sicher. Und auch wenn Wilfred ein guter Freund ist, würde er keine Partnerin für seinen Sohn wollen, der ein Skandal anhängt.« Sie presste die Lippen zusammen.

Himmel, diese Leute lebten echt in der Steinzeit. Wenigstens beantwortete das die Frage, wie sie auf meine Wenigkeit gekommen war. Ich hatte mehrere diskrete Wiederbeschaffungsaufträge für Lord Wilfred Samuel angenommen. Er hatte zwar mächtig Geld, aber auch die Angewohnheit, beim Pokern Familienerbstücke zu verspielen.

Ich nickte verstehend. »Haben Sie Details zu Hesters Unterbringung in Liverpool und möglichen neuen Freunden?«

Lady Sorrell nickte. »Wir haben ein komplettes Dossier für Sie. Details zu ihren Freunden hier, den Freunden, die sie in Liverpool erwähnt hat, ihr Wohnheimzimmer und ihren Stundenplan.« Sie war beeindruckt von sich selbst.

»Ausgezeichnet, vielen Dank. Da ich nach Liverpool werde reisen müssen, sollten wir über einen Vorschuss und Spesen sprechen.«

Lady Sorrell winkte ab. »Wir haben Ihnen 10.000 Pfund überwiesen. Lord Samuel hat mir Ihr Stundenhonorar genannt. Bitte melden Sie sich, sollten Sie mehr brauchen, und ich sorge dafür.«

Ich war Lord Wilfred Samuel sehr früh in meiner Karriere begegnet, als ich jung war und dringend Geld brauchte. Er hatte einen Titel, also nannte ich ihm einen lächerlich hohen Betrag, den er ohne mit der Wimper zu zucken akzeptierte. Die Familienerbstücke waren extrem wertvoll. Trotz seiner Spielsucht verfügte er immer noch über ein Vermögen.

Ich blieb ruhig, obwohl ich innerlich einen Freudentanz aufführte. »Darf ich Hesters Schlafzimmer sehen?«

Lady Sorrell verzog das Gesicht und nickte widerstrebend. »Also gut. Jackson wird es Ihnen zeigen. Ich nehme an, das war dann alles?«

Ich war noch nicht bereit, entlassen zu werden. »Wäre es möglich, mit Hesters Eltern zu sprechen?«, fragte ich.

»Ihr Vater ist nicht im Land, und ihre Mutter ist unpässlich«, erklärte Lady Sorrell scharf. Ihre Stimme wurde wieder etwas sanfter: »Meine Schwiegertochter verkraftet die Situation nicht gut. Sie ist außer sich vor Sorge. Sie hat Schlaftabletten eingenommen.« Alles wahr.

Mir kam die Reaktion der Familie etwas übertrieben vor, aber ich schätzte, dass Hester sehr behütet aufgewachsen war. Und jetzt war sie ausgerechnet nach Liverpool gezogen. Ich liebe Liverpool, aber die Stadt hat ihre scharfen Kanten, an denen sich ein naives junges Mädchen leicht schneiden kann.

Was ein Glück ich doch hatte! Es sah aus, als läge ein kleiner Ausflug vor mir. Hoffentlich würde ich Hester über irgendeinem Bartresen hängend auffinden.

Als ich mich erhob, läutete Lady Sorrell eine Glocke, und Jackson öffnete die Tür. »Geben Sie Miss Sharp das Dossier und zeigen Sie ihr Hesters Zimmer, ehe Sie sie hinausbegleiten.«

»Selbstverständlich, Mylady.« Er sah mich an. »Wenn Sie mir folgen würden, Ma’am.«

Ich schätzte, Ma’am war ihm lieber als Jinx. Ich folgte ihm eine Treppe hinauf zu einer Zimmerflucht, und er wartete an der Tür, während ich begann, mich zwischen Hesters Habseligkeiten umzusehen. Seine Nasenflügel blähten sich vor Empörung, aber er sagte nichts. Ich hielt mich nicht mit Small Talk auf. Ich würde gleich noch mit ihm über Hester sprechen.

Hesters Räumlichkeiten waren opulent mit einer Blumentapete, die mir in den Augen wehtat. Das Bett stand auf vier mächtigen Pfosten samt goldenem Himmel und Überdecken. Für meinen Geschmack war es etwas zu Disney, aber jeder, wie er mochte. An das Schlafzimmer grenzte ein Ankleidebereich und dahinter ein Bad von der Größe meines Wohnzimmers. Darin befand sich eine frei stehende Badewanne mit Löwentatzen. In einer Ecke entdeckte ich eine moderne Doppeldusche, in der anderen eine Toilette und ein Waschbecken. Es gab einen Wäscheschrank mit Handtüchern und ein Schränkchen mit all dem typischen Mädchenkram. Keine Drogen oder Medikamente, nicht einmal Paracetamol. Ich hob sogar den Deckel der Klospülung, aber auch darin war nichts versteckt.

Hesters Ankleidezimmer war mit Einbauschränken und deckenhohen Spiegeln gesäumt. Sie besaß genug Schuhe, um eine ganze Armee damit zu versorgen. Obwohl sie einen verdammt guten Geschmack hatte, was ihre Treter anging, war der Rest ihrer Garderobe ziemlich züchtig: knielange Kleider, Jeans und Oberteile. Nichts Gewagtes. Ich machte mir die Mühe, ihre Taschen zu durchsuchen, aber es befand sich rein gar nichts darin, nicht einmal ein Kassenbon. Ich überprüfte auch die Schränke gründlich – keine doppelten Böden.

Keine Drogen, keine Sextoys, kein Spaß. Ich ging weiter ins Schlafzimmer und schaute unters Bett. Nichts. Dann durchsuchte ich die Kommoden. Kein Tagebuch, keine Erinnerungsfotos. Das einzig ansatzweise Interessante war das Bild eines attraktiven jungen Mannes um die achtzehn. Er grinste selbstzufrieden in die Kamera und hatte den Arm um Hester gelegt. Er sah gut aus und wusste es.

»Wer ist das?«, fragte ich Jackson.

»Lord Samuels Sohn«, meinte er widerstrebend. »Archibald Samuel – Archie. Er ist ein Freund von Miss Hester.« Jetzt da er es sagte, sah ich die Ähnlichkeit.

Ich machte mit dem Handy ein Foto von dem Bild und legte es dorthin zurück, wo ich es gefunden hatte. Ich vermutete, dass Hester ein braves Mädchen gewesen war, bevor sie an die Uni ging. Die braven Mädchen drehten an der Uni immer so richtig auf; all die Freiheiten nach so einem engen Leben waren überwältigend. Brave Mädchen kannten ihre Grenzen nicht, weil sie zu Hause nie trinken durften. Sie wurden bei ihrem ersten Rausch ganz aufgeregt, und ab da ging es nur noch bergab.

»Hat Hester jemals Wein mit Freunden oder Familie getrunken?«

Jackson dachte nach. »Selten«, gab er zu. »Aber sie trank hin und wieder ein Glas zum Essen.«

»Hat sie geraucht?«

»Himmel, nein!«

»Hatte sie Hobbys?«

»Lesen«, sagte er langsam.

»In diesem Zimmer gibt es keine Bücher.«

»Natürlich nicht«, meinte er entsetzt. »Die sind in der Bibliothek.«

Ich seufzte. Dann sah ich mir die Bibliothek besser auch an. Ich schaute mich ein letztes Mal im Zimmer um. Es war nichts sonst hier, das mir etwas hätte verraten können. »Bringen Sie mich in die Bibliothek«, wies ich ihn an.

Er plusterte sich auf. »Das entspricht nicht meinen Anweisungen.«

Ich musterte ihn. »Na gut, dann stören wir eben Lady Sorrell noch einmal, um uns die Erlaubnis zu holen, dass ich den Raum sehen darf, in dem Hester den Großteil ihrer Zeit verbracht hat.«

Er verzog das Gesicht. »Folgen Sie mir.« Er führte mich wieder nach unten und durch einen Flur. Wie der Rest des Herrenhauses war auch die Bibliothek dunkel und roch leicht modrig. Hier gab es mehr Bücher, als ich je in einer privaten Sammlung gesehen hatte. Einige sahen alt aus, aber es gab auch moderne Bände. »Wo hat sich Miss Hester für gewöhnlich aufgehalten?«, wollte ich wissen.

Jackson führte mich in den hinteren Bereich der Bibliothek, wo einige gemütliche Sessel an einem Kamin standen. Im Regal daneben standen lauter zeitgenössische Romane: Urban Fantasy, Science Fiction und Bücher über paranormale Dinge. Nun, wenigstens wusste ich jetzt ein wenig besser, wie sie tickte. Sie mochte Liebesgeschichten unter Vampiren, Werwölfen und Ghoulen.

»Wie würden Sie Miss Hester beschreiben?«

Jackson presste die Lippen zusammen.

»Ich werde niemandem sagen, was Sie mir erzählen«, versicherte ich ihm. »Ich möchte sie nur finden. Und dafür brauche ich Infos. Je mehr ich weiß, desto einfacher wird es für mich, wie sie zu denken und mir zu erschließen, wo sie am ehesten hingehen würde.«

Er spannte den Kiefer an, nickte jedoch. »Sie ist ein braves Mädchen, hat sich nie weit von der Bibliothek entfernt. Sie hat nicht viele Freunde. Sie ist … in Master Archie verliebt. Archie ist beliebt und nimmt sich oft Zeit für sie, aber ich glaube, dass er sie eher als kleine Ablenkung sieht. Er ist kein netter Mensch. Ich war froh, als sie an die Uni ging und nicht mehr in seinem Einflussbereich war. Er nimmt Drogen, und ich weiß, dass er ihr auch schon welche angeboten hat, aber sie hat das abgelehnt. Es gab Andeutungen zwischen seinen Eltern und Miss Hesters Familie, dass sie eines Tages heiraten könnten, aber im Moment gibt es noch keine formelle Vereinbarung. Deshalb glaube ich nicht, dass es wahrscheinlich ist, dass sie an der Universität Drogen nimmt – das passt einfach nicht zu ihr. Wenn überhaupt, dann hätte sie sie mit Archie genommen. Miss Hester respektiert ihre Eltern und die Grenzen, die sie ihr setzen. Meines Wissens nach hatte sie nie eine romantische Beziehung.« Jacksons Tonfall wurde wärmer, während er sprach, es war unverkennbar, dass ihm das Mädchen sehr am Herzen lag.

»Eine beste Freundin?«, fragte ich.

»Sybil Arlow. Sie lebt in Arlington Grove. Sie waren zusammen im Internat.«

Ich nickte. Noch eines dieser vornehmen Trust-Fund-Kids. Alles, was Jackson sagte, klang nach der Wahrheit – zumindest was er dafür hielt.

»Ich bin mir sicher, man wird sie heil und lebendig wiederfinden«, sagte er zuversichtlich. Lüge.

Die Frage war nur, ob Jackson glaubte, dass sie nicht mehr am Leben war, weil er etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatte, oder war er nur ein Zyniker? Mein Bauchgefühl tippte auf Letzteres, und ich habe schon vor langer Zeit gelernt, meinen Instinkten zu vertrauen. Sie trügen mich nie.

3

WENNESUMVERMISSTEPERSONENgeht, ist Zeit alles, vor allem, wenn die Vermutung im Raum steht, dass es sich um eine Straftat handeln könnte. Ich hatte Lord Wilfred Samuel bereits geschrieben und um ein Gespräch mit seinem Sohn bezüglich Hesters Verschwinden gebeten. Die Antwort kam augenblicklich, er würde seinen Sohn aufwecken und ich könne kommen, wann immer ich wolle. Er meinte auch, dass er eine Überraschung für mich habe, und das bereitete mir etwas Sorgen. Wilfred ist … exzentrisch. Es war schwer zu sagen, was bei ihm als Überraschung galt – und ob ich es mögen würde.

Jackson reichte mir das Dossier, das Lady Sorrell zusammengestellt hatte, und schob mich zur Haustür hinaus. Ich stieg in meinen Wagen, startete den Motor, drehte die Heizung hoch und beschloss, noch kurz sitzen zu bleiben und durch die Unterlagen zu blättern, ehe ich meine nächsten Schritte plante.

Da war ein spärlicher Abschnitt mit der Überschrift Freunde vor Ort. Darunter waren nur Sybil und Archie mit Adressen und Telefonnummern aufgelistet. Wenn das alle Freunde waren, die sie hier hatte, dann war Hester vermutlich ein einsames Mädchen gewesen. Die Liste ihrer Freunde an der Universität war deutlich länger, allerdings befanden sich keine Jungs darunter.

Ihr Stundenplan war nicht sehr fordernd – an den meisten Tagen hatte sie morgens Vorlesungen, aber höchstens für zwei oder vier Stunden. Freitags hatte sie ein Gruppentutorium. Vielleicht war Psychologie eines dieser Fächer, für die man viel in seiner Freizeit lesen musste, etwas, das Hester sicher lag.

Auf der letzten Seite fand ich Hesters Adresse in dem neuen Gebäude im Greenbank Village. Ich hatte meine beste Freundin Lucy oft an der Liverpool University besucht. Sie wohnte in Lady Mountford Hall im Carnatic Student Village, und wir hatten uns auf einen Abschiedsdrink getroffen, als Letzteres geschlossen wurde. Greenbank Village war das neue, schicke Studentenwohnheim. Hester hatte ein erstklassiges Zimmer mit Bad und Küche. Lucy hatte ihre Küche mit dreizehn anderen Leuten teilen müssen. Reichtum veränderte die Dinge – Lucy hatte allerdings vielleicht mehr Spaß und Freundschaften als Hester. Hester konnte sich im Prinzip komplett isolieren, wenn sie wollte, und nach dem, was ich bislang über sie erfahren hatte, kam mir das recht wahrscheinlich vor.

Ich beschloss, Sybil Arlow noch aus dem Auto anzurufen, während ich auf dem Weg zu Lord Samuels Wohnsitz war. Ich gab Wilfreds Adresse in mein Navigationsgerät ein. Ich war oft genug dort gewesen, dass ich nicht abgelenkt sein würde, während ich mit Sybil sprach. Ich wählte die Nummer und verband den Anruf mit dem Bluetooth des Wagens.

Trotz der frühen Uhrzeit ging sie beim zweiten Klingeln ran. Sie hatte in den letzten zwei Wochen nichts von Hester gehört und einfach angenommen, dass ihre Freundin sich amüsierte. Es war nicht zu überhören, dass Sybil ein wenig neidisch war; ihre Eltern erlaubten ihr nicht, eine Uni zu besuchen, und schickten sie auf ein Institut für höhere Töchter.

Sybil erzählte mir, dass Hester gerne Horrorfilme schaute und Makabres mochte. Sie bestätigte zudem, dass ihre Freundin in Archie verschossen war und hoffte, ihn eines Tages zu heiraten. Aber sie wusste auch, dass es bis dahin noch eine Weile hin war, und hatte sich auf die Freiheit der Uni gefreut. Hester hatte Sybil gesagt, sie wolle ganz neu anfangen, sich neu erfinden. Sybil hatte vermutet, dass Hester genau das getan und sich deshalb nicht mehr bei ihrer Freundin gemeldet hatte.

Hester war zügellos geworden, erzählte Sybil mir, und in jedem Wort schwang Neid mit. Sie hatte sich einer Fallschirmspringer- und einer Bergsteiger-Gruppe angeschlossen. Ihre Eltern würden durchdrehen, wenn sie das wüssten. Hester besuchte Bars und hörte Rockmusik. Sie hatte sogar erwähnt, sich ein Tattoo stechen lassen zu wollen. Es gab einen Typen, der ihr ganz gut gefiel. Sie hatte Sybil den Namen nicht gesagt, sondern nannte ihn ihren »Mister Mystery«. Sibyl wusste nichts von Drogen, zweifelte aber daran, dass Hester – neues Leben hin oder her – welche nehmen würde.

Die Unterhaltung half mir weiter, aber ich war froh, dass ich keine Zeit mit einem persönlichen Treffen verschwendet hatte. Sie war so sehr in ihrem eigenen Elend versunken, dass es nicht schien, als machte sie sich groß Sorgen um Hesters Verbleib. Sie sah keinen Grund zur Panik. Vielleicht hatte sie recht damit – doch etwas sagte mir, dass sie sich irrte.

Aber es schien, als hätte ich unrecht gehabt, als ich annahm, Hester würde sich an der Uni zurückziehen, und sie amüsierte sich tatsächlich prächtig. Wurde aber auch Zeit.

Ich fuhr vor Lord Samuels Anwesen vor. Es handelte sich um ein Gebäude im edwardianischen Stil, das sich in einem ausgezeichneten Zustand befand und über gepflegte grüne Gärten verfügte, deren Pflege eine ganze Stange Geld kosten musste. In der Auffahrt parkte ein nagelneuer schwarzer Range Rover, und ich stellte meinen Wagen daneben ab. Ich prüfte, ob ich abgeschlossen hatte – man kann nie zu vorsichtig sein –, und lief die Treppe zur Haustür hinauf.

Lord Samuels Haushälterin, Mrs.Dawes, öffnete die Tür. Sie war klein und rundlich und hielt immer einen Keks und ein Lächeln bereit. Sie hatte die Geduld eines Engels und ich die vage Vermutung, dass sie insgeheim Gefühle für Lord Samuel hegte. Er schätzte sie sehr, aber ich bezweifelte, dass er je auch nur eine Sekunde lang auf diese Weise an sie gedacht hatte. »Bist du hier, um mal wieder ein Problem für Lord Samuel zu lösen, Jinx?«, scherzte sie mit einem wissenden Lächeln.

»Dieses Mal hat jemand anderes das Problem«, versicherte ich ihr.

Sie führte mich ins Empfangszimmer. Dieses hier war luftig und hell und damit ein echter Gegensatz zum Zuhause der Sorrells. Die Wände zierte ein blasses Gelb, und diverse nicht zueinanderpassende Sofas standen sich gegenüber.

Es befanden sich drei Männer im Raum: der eine war Wilfred Samuel, der zweite Archibald Samuel, und den dritten kannte ich nicht. Er war älter als ich, vielleicht Ende zwanzig, mit hellbraunem Haar, warmen braunen Augen und einem kantigen Kinn. Seine Haut war gebräunt, als wäre er frisch aus dem Urlaub zurück. Er hatte die muskulöse Statur eines Wrestlers, was nicht recht zu dem dunkelgrauen Anzug zu passen schien, obwohl der natürlich maßgeschneidert war. An den schwarzen Manschetten saßen silberne Dreiecke. Er war klassisch schön – und ich vermutete, dass er das auch wusste. Er musterte mich ebenso interessiert, ließ sich jedoch nicht anmerken, was er dachte.

Archibald lümmelte in Jogginghosen und einem Poloshirt auf dem Sofa. Er hatte einen Arm über den Augen und sah aus, als wäre er müde, verkatert oder beides. Wie sein Vater hatte er sandblondes Haar, blaue Augen und milchweiße Haut.

Lord Samuel erhob sich und kam zu mir, um mich zu begrüßen. »Jinx!«, sagte er warm. »Ich freue mich so, dich zu sehen.« Wahrheit. Er warf mir zwei Luftküsschen zu.

»Wilf«, sagte ich. Nach fünf Erbstücken hatte er beschlossen, dass wir ab jetzt Freunde waren und ich ihn Wilf nennen sollte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich unsere Beziehung als Freundschaft bezeichnen würde, und es fühlt sich immer noch komisch an, jemanden zu kennen, der Wilfred heißt.

Wilf ist einundfünfzig, gut gebaut und stark. Er trainiert regelmäßig, färbt seine grauen Haare blond, und er benutzt Feuchtigkeitscreme. Theoretisch ist er verheiratet, aber seine Frau zog nach Frankreich, als Archie dreizehn war. Seit unserem Kennenlernen hatte Wilf eine Reihe von Geliebten. Er hat mir auch mal angeboten, eine davon zu werden, aber zum Glück nahm er es mir nicht übel, als ich ablehnte.

Ich hatte Archie noch nie getroffen. Wenn ich ehrlich bin, war der erste Eindruck auch nicht besonders.

»Archie!«, rief Wilf in einem strengen Tonfall, den ich zum ersten Mal hörte. »Steh auf und begrüß Jinx.«

Archie stieß ein lautes Stöhnen aus und erhob sich. Als er mir die Hand hinstreckte, zeigte er alle Anzeichen der typischen Abneigung eines Teenagers. Sein Händedruck war schlaff und wenig beeindruckend, und als ich seine Hand losließ, roch er daran. Wilf stieß ihm den Ellbogen in die Seite, und Archie hörte auf zu schnüffeln und wurde leicht rot.

Der dritte Mann war bereits auf den Beinen. Er reichte mir seine Hand. »Zachary Stone«, sagte er in einem warmen Bariton.

»Jinx«, antwortete ich. Als wir uns die Hände schüttelten, hätte ich schwören können, bei der Berührung einen elektrischen Funken durch mich fließen zu spüren. Ich vermutete, er spürte es auch, denn er hob kurz und unwillkürlich die Augenbrauen. Er umfasste meine Hand fest; das war nichts Schlaffes an seinem Händedruck.

»Stone ist der andere Ermittler«, erklärte Wilf.

Nun war ich an der Reihe, die Augenbrauen zu heben. »Der andere Ermittler?«

Wilf verzog das Gesicht. »Elizabeth hat zwei von euch engagiert.« Mein Detektor meldete sich. Lüge. Wenn Elizabeth Sorrell Stone also nicht engagiert hatte, wer dann? Wilf? Aber warum log er dann? »Sie dachte, wenigstens einer von euch würde in der Lage sein, Hester zu finden.«