Glimmer – Tod einer Nymphe - Heather G. Harris - E-Book

Glimmer – Tod einer Nymphe E-Book

Heather G. Harris

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Beschreibung

Mit farbig gestaltetem Buchschnitt – nur in der gedruckten Ausgabe

Kaum hat Privatdetektivin Jessica Sharp, genannt Jinx, die Neuigkeit verkraftet, dass eine magische Parallelwelt existiert – ganz zu schweigen davon, dass ihre sanftmütige Dogge Gato in Wahrheit ein Höllenhund mit schwarzen Stacheln auf dem Rücken ist –, muss sie auch schon in einem neuen Fall ermitteln: Eine Baumnymphe wurde auf offener Straße ausgeraubt und ermordet. Schnell findet Jinx heraus, dass das Opfer in Geschäfte mit einem hochkriminellen, magischen Drogenhändlerring verwickelt war. Und ausgerechnet jetzt verschwindet Inspektor Stone spurlos. Stattdessen tritt der charismatische Drachenkönig Emory in Jinx' Leben, um ihr bei ihren Ermittlungen zu helfen. Doch Emory ist nicht nur verboten gut aussehend, sondern auch brandgefährlich – und er stürzt Jinx in ein Gefühlschaos, wie sie es noch nie erlebt hat ...

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Seitenzahl: 328

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DASBUCH

Kaum hat Privatdetektivin Jessica Sharp, genannt Jinx, die Neuigkeit verkraftet, dass eine magische Parallelwelt existiert und ihre sanftmütige Dogge Gato in Wahrheit ein Höllenhund mit schwarzen Stacheln auf dem Rücken ist, da muss sie auch schon in einem neuen Fall ermitteln: Eine Baumnymphe wurde auf offener Straße ausgeraubt und ermordet. Schnell findet Jinx heraus, dass das Opfer Kontakt zu einem Verbrecherkartell hatte, das eine neue magische Droge auf den Markt gebracht hat. Eine Droge, die bereits zahlreiche übernatürliche Wesen getötet hat. Und ausgerechnet jetzt ist Inspektor Stone, Jinx’ Kontaktmann bei der Polizei spurlos verschwunden. Stattdessen tritt der charismatische Drachenkönig Emory in ihr Leben, um Jinx bei den Ermittlungen zu helfen. Doch Emory ist nicht nur verboten gut aussehend, sondern auch brandgefährlich – und er stürzt Jinx in ein Gefühlschaos, wie sie es noch nie erlebt hat ...

DIEAUTORIN

Heather G. Harris wuchs in der Nähe von Windsor in der unmittelbaren Nachbarschaft der königlichen Familie auf. Sie studierte in Liverpool, wo sie ihre Leidenschaft für Fallschirmspringen und Schreiben entdeckte. Wenn sie sich nicht gerade neue Geschichten ausdenkt, verbringt Heather G. Harris Zeit mit ihrer Familie und ihrer Dänischen Dogge Oscar. Mit der Glimmer-Reihe rund um die magisch begabte Privatdetektivin Jinx gelang ihr der Durchbruch als Autorin.

HEATHER G. HARRIS

ROMAN

Aus dem Englischen übersetzt

von Antonia Zauner

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

GLIMMEROFHOPE

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 03/2024

Redaktion: Michelle Stöger

Copyright © 2021 by Heather G. Harris

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München,

unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-30627-4V001

www.heyne.de

Für meinen Mann, meinen besten Freund. Ich wünsche dir nur das Beste für unsere gemeinsame Zukunft!

1

ESWARDERHEISSESTESEX, den ich je gesehen hatte. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn von den beiden eng umschlungenen Liebenden stieg buchstäblich Dampf auf. Scheinbar ist das normal, wenn ein Wasser- und ein Feuerelementar es miteinander treiben. Ich schoss ein paar Bilder von der geheimen Affäre, wobei die atmosphärischen Dampfschwaden es nahezu unmöglich machten, eine gute Aufnahme zu bekommen.

Sie würden Mr.Bridges einen ordentlichen Schock verpassen. Zwar ahnte er, dass seine Frau eine Affäre hatte, aber nicht mit wem. Aber vielleicht wusste er ja von den bisexuellen Neigungen seiner Gattin und wäre erleichtert, dass es wenigstens nicht sein bester Kumpel und Hauptverdächtiger Greg war.

Ich prüfte das Beweismaterial noch einmal daraufhin, ob es trotz der Nebelschwaden eindeutig war, dann kletterte ich vom Baum und verließ Leanne Symes’ Garten. Miss Symes und Mrs.Bridges waren scheinbar intimer befreundet, als ich angenommen hatte. Trotzdem hielt ich mich widerrechtlich auf diesem Grundstück auf, deshalb wollte ich nicht allzu lange verweilen.

Ich befand mich in Cressington, einem Vorort von Liverpool: viel Grün, eine Menge schicker Häuser und, wie sich zeigte, auch eine gute Anzahl Affären. Dies war seit meinem Umzug nach Liverpool schon mein zweiter geheimer Überwachungsauftrag für einen gehörnten Ehemann.

Liverpool ist so etwas wie die Hauptstadt des Anders. Nur acht Wochen zuvor hatte ich herausgefunden, dass es zwei weitere Welten gibt. Neben dem Norm, in dem wir alle leben, ist da noch das Anders, in dem es vor magischen Kreaturen nur so wimmelt, und das Irgendwann, das es einem erlaubt, mit der Zeit zu spielen wie mit einem Zauberwürfel.

Ich hatte das Haus, in dem ich aufgewachsen war, zum Verkauf ausgeschrieben und innerhalb von zwei Tagen bereits Interessenten. Es handelte sich um eine beliebte Gegend, deshalb konnte ich die Immobilie schlussendlich zu einem bemerkenswert hohen Preis verkaufen. Danach ging alles blitzschnell, und schon fünf Wochen später zog ich ohne einen Blick zurück nach Liverpool.

Ich mietete mir ein Haus auf der Wirral-Halbinsel westlich von Liverpool, und Lord Volderiss überließ mir vorübergehend Büroräumlichkeiten als Dank dafür, dass ich das Leben seines Sohns Nate gerettet hatte. Den Begriff »Leben« verwende ich hier im weitesten Sinne. Nate Volderiss ist ein untoter Vampyr, deshalb kann er, genau genommen, nicht am »Leben« sein.

Ich war noch nicht lange im Anders, deshalb stolperte ich immer noch ein wenig darin herum. Ich hatte diesen Auftrag nur an Land gezogen, weil Lord Volderiss mich einem seiner Sicherheitsleute empfohlen hatte, der wiederum den Tipp an seinen besten Freund weitergab. Die Geschäfte liefen ein wenig schleppend, aber das war nach dem Ortswechsel zu erwarten. Ich befand mich immer noch in der Anfangsphase.

Nach meinem Umzug nach Liverpool hatte ich meine Agentur umbenannt in Sharp Investigations – Privatermittlung mal Anders. Um unmissverständlich klarzumachen, dass ich mit dem Anders vertraut war, hatte ich die i-Punkte sogar durch kleine Dreiecke ersetzt, die das universelle Symbol für das Anders sind. Trotz all dieser Bemühungen hatte mir die Kundschaft nicht gerade die Tür eingerannt.

Ich erhielt allerdings nach wie vor vereinzelte Aufträge aus dem Norm, und dafür war ich dankbar. Das Aufspüren von Schuldnern war im Moment mein Brotverdienst, und das war okay, aber auch etwas langweilig, schließlich war ich nicht in die Hauptstadt des Anders gezogen, um weiter Normarbeit zu machen.

Jetzt, da ich vom Anders wusste, entdeckte ich überall unauffällige Dreiecke. Ich konnte kaum glauben, dass sie mir früher nie aufgefallen waren. Ich bin Privatermittlerin, verdammt noch mal, ich sollte ein Auge für so etwas haben! Und doch war mir die Existenz eines kompletten anderen Reiches völlig entgangen. Das erfüllte mich mit Demut.

Ich schob die Gedanken beiseite und öffnete die Tür meines treuen Ford Focus. Gato, meine Deutsche Dogge beziehungsweise mein Höllenhund, hatte sich quer über die Rückbank ausgestreckt. »Hey, Kleiner«, begrüßte ich ihn. »Musst du mal?«

Er klopfte zweimal mit dem Schwanz, was so viel bedeutete wie Ja, und stemmte sich hoch. Ich ließ ihn raus, damit er sein Geschäft erledigen konnte. Er brauchte nicht lang und leckte mir begeistert über das Gesicht, ehe er wieder in den Wagen sprang.

Ich tätschelte ihn und wischte mir den Sabber von der Wange. »Danke«, murmelte ich ein wenig sarkastisch. Ich war mir nicht sicher, ob er den Sarkasmus verstand, denn ich hatte keine Ahnung, wie schlau Höllenhunde waren, was ich jedoch wusste, war, dass Gato klüger war als jeder normale Hund und sogar eine Menschentoilette benutzen konnte, wenn ihm danach war. Er war außerdem in der Lage, mich in jedes der drei Reiche zu versetzen, sollte es notwendig sein. Er brachte mich jeden Abend ins Norm, damit ich meine magischen Batterien aufladen und mich für einen weiteren Tag im Anders vorbereiten konnte. Er war niedlich, liebenswert und sehr nützlich.

Ich setzte mich ins Auto und tippte einen kurzen Bericht an Mr.Bridges, einschließlich Fotos und Rechnung. Manche Klienten bevorzugen es, persönlich Bericht erstattet zu bekommen, aber er hatte um schriftlichen Kontakt gebeten. Ich konnte es nachvollziehen – es war eine private Angelegenheit, und er musste keine gute Miene zum bösen Spiel machen, wenn ich ihm mitteilte, dass seine Frau ihn betrog. Ich vervollständigte den Bericht, kontrollierte ihn noch einmal auf Rechtschreibfehler und drückte auf Senden.

Automatisch warf ich einen Blick auf meine Anrufliste. Stone hatte sich immer noch nicht gemeldet, seit acht langen, lausigen Wochen nicht. Scheiß auf ihn. Ich brauchte ihn nicht. Ich versuchte so zu tun, als wäre der schmerzhafte Stich in meiner Brust einfach nur Verärgerung, aber das kaufte ich mir nicht einmal selbst ab.

Ich zwang mich, Stone aus meinen Gedanken zu verbannen, rief Google Maps auf und machte mich auf den Heimweg. Ich fand mich immer noch nicht gut genug in Liverpool zurecht, um auf das Navi zu verzichten. Zwar kannte ich die Innenstadt wie meine Westentasche, aber während meiner Teenagerjahre hier war ich hauptsächlich Bus gefahren. Selbst ein Auto durch die Straßen zu steuern, war neu für mich. Google teilte mir mit, dass ich fünfundvierzig Minuten für den Heimweg brauchen würde, also wäre ich vermutlich in vierzig dort. Ich bin eine gute Fahrerin, aber Geschwindigkeit ist meine große Schwäche.

Ich bahnte mir gerade einen Weg durch das Stadtzentrum, als mein Handy klingelte. Ein Blick auf das Display verriet mir, dass der Anruf aus meinem Büro kam. Lord Volderiss’ Rezeption war mittels einer Rotation von Angestellten vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche besetzt. Das war einer der Vorzüge, die mich dazu bewogen hatten, sein Angebot anzunehmen. Gratisbüro, Gratis-24-Stunden-Sekretariat und Gratis-Security. Besser ging es nicht.

Ich schaute auf die Uhr. Es war beinahe neun Uhr abends, aber ich hatte nichts vor. »Jinx«, meldete ich mich über Bluetooth, damit ich fahren und gleichzeitig telefonieren konnte.

»Miss Sharp«, begrüßte Volderiss’ Sekretärin mich frostig, »eine Mrs.Evergreen ist hier und möchte Sie sehen.«

Ich brauchte einen Moment, bis ich den Namen einordnen konnte. Die einzige Person namens Evergreen, die ich kannte, war eine Dryade, eine junge Mutter, die während meiner Einführung ins Anders in Rosies Café gewesen war.

»Dryade?«, fragte ich.

»In der Tat.«

»Ich bin in fünf Minuten da. Bieten Sie ihr etwas zu trinken an und sagen Sie ihr, dass ich gleich komme.« Ich legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Einige von Volderiss’ Sekretärinnen mögen mich, Verona gehörte definitiv nicht dazu. Es hatte keinen Sinn, meine Zeit mit jemandem zu verschwenden, der mir klar und deutlich zu verstehen gab, dass er mich als unter seiner Würde betrachtete. Ich war nur ein kümmerlicher Mensch und sie die perfekte Vampyrin. Wenn Vampyre verwandelt wurden, verschwanden gleichzeitig all ihre Makel. Sie waren eine atemberaubend attraktive Spezies.

Ich hatte Verona noch nicht verraten, dass ich kein normaler Mensch war, in erster Linie, weil ich gar nicht so genau wusste, was ich wirklich war. Irgendetwas anderes. Mein Haupttalent in beiden Reichen war die Fähigkeit, zu erkennen, ob jemand die Wahrheit sagte oder log. Wahrheitsfinderinnen waren selbst im Anders rar, deshalb hielt ich es weitgehend geheim. Man hat mir auch gesagt, ich sei eine Magierin, und ich konnte das AL einsetzen, eine uns eigene Form von Magie. Ganz ohne lateinische Sprüche oder Zauberstäbe, nur »Absicht« und »Loslassen« – AL. Die ersten Male, die ich es benutzte, war ich danach ziemlich geschafft, aber mittlerweile musste ich mich nicht mehr sehr dabei anstrengen. Meine Grenzen waren bislang meine Ungeübtheit und mein Mangel an Vorstellungskraft. Es fiel mir leicht, AL zu nutzen, aber ich verwendete es nicht instinktiv. Es war nicht das erste Mittel, zu dem ich bei einem Problem griff, aber das würde hoffentlich mit der Zeit und mehr Erfahrung noch kommen.

Ich parkte in der Tiefgarage bei meinem Büro und eilte mit Gato an den Fersen hinauf. Joyce Evergreen saß im Empfangsraum und sah völlig erschöpft aus. Ihre blauen Augen strahlten nicht mehr, und ich entdeckte dunkle Ringe darunter, ihr blondes Haar war schlaff und fettig, und ihre dunkelgrüne Haut einige Schattierungen blasser, als sie hätte sein sollen. Sie umklammerte einen dünnen hellbraunen Ordner, hatte den Blick gesenkt und starrte mit glasigen Augen ins Leere. Joyce war allein, auf mehr als eine Weise.

Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, waren eine Dreijährige und ein Baby bei ihr gewesen. Ich war sofort alarmiert und hoffte, dass es den Kindern gut ging. Als ich eintrat, blickte sie auf, und ich erkannte so etwas wie Erleichterung in ihrem Blick. Ich war noch ein wenig alarmierter. Ich bin Privatermittlerin, keine Wundertäterin. Was auch immer los war, sie hatte hohe Erwartungen an mich, und die Lage war schlimm.

»Joyce«, sagte ich behutsam, »komm mit.«

Ich führte sie in mein kleines Büro mit Vorzimmer, in dem normalerweise meine Assistentin Hester sitzt und den Schriftverkehr erledigt. Hester und ich hatten uns vor einigen Monaten kennengelernt – sie war das verschwundene Mädchen, deren Fall mich ins Anders katapultiert hatte. Wir waren durch die Hölle gegangen, und es fühlte sich fast so an, als wären wir trotz des Altersunterschieds Freundinnen. Und das hieß eine Menge, denn seit dem Mord an meinen Eltern war ich eine ziemliche Einzelgängerin. Nun war der Schreibtisch verlassen; Hes war schon vor Stunden nach Hause gegangen.

Ich führte Joyce in mein Heiligtum und schaltete dabei das Licht an. Mein Büro war kahl und praktisch eingerichtet. In einer Ecke stand eine Topfpflanze, die nach Plastik aussah. Sie spendete etwas Grün, doch darüber hinaus war da nicht viel. Ich hatte einen wunderschönen Mahagonischreibtisch, den Lord Volderiss mir überlassen hatte, und einen ähnlich imposanten, dazu passenden Sessel. Meine beiden Besucherstühle waren schlichte Holzvariationen, die Klienten ermunterten, nicht länger zu bleiben, als unbedingt nötig.

Gato lief dreimal im Kreis, ehe er sich klaglos in sein Körbchen legte. Sein Blick war niedergeschlagen und ernst. Er wusste, dass etwas Schlimmes passiert und jetzt nicht die Zeit für Schwanzwedeln und Küsse war. Er war ein guter Junge. Ich würde ihm nachher ein Leckerli geben.

Ich wandte mich an Joyce und fragte mich flüchtig, ob meine Plastikpflanze die Dryade vielleicht irgendwie beleidigte. Ich bedeutete ihr, sich zu setzen, und sie sank wortlos auf einen Stuhl. Sie hatte kein Getränk bei sich, und ich fragte mich, ob Verona so kleinlich war, dass sie ihr nichts angeboten hatte. »Kann ich dir etwas bringen?«, fragte ich.

Joyce schüttelte den Kopf. Bei unserem letzten Treffen war sie eine glückliche, aufgeweckte junge Mutter mit einem ausgeprägten Sinn für Humor gewesen. Heute sah ich davon nichts.

Ich setzte mich hinter den Schreibtisch und griff nach Notizblock und Stift. Oft zeichnete ich die Unterhaltungen mit Klienten auf, sofern sie nichts einzuwenden hatten, aber handschriftliche Notizen hatten immer noch ihren Nutzen. Auf diese Weise musste ich den Klienten nicht in die Augen sehen, wenn es peinlich wurde.

»Stört es dich, wenn ich unsere Unterhaltung aufzeichne?«, fragte ich.

Sie schüttelte noch einmal den Kopf, und ich fragte mich, ob wir wirklich eine Unterhaltung führen würden. Ich holte mein Handy heraus und aktivierte die Aufnahme-App. »Joyce? Wenn du so weit bist, erzähl mir, wie ich dir helfen kann.«

Sie biss sich auf die Lippe, ohne den Blick vom Boden zu lösen. »Ich weiß nicht, ob du mir helfen kannst – ich weiß nicht, ob irgendjemand mir helfen kann. Nichts wird je wieder so, wie es war.« Sie schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Ich konnte beinahe hören, wie sie sich innerlich befahl, sich zusammenzureißen. Als sie die Augen wieder öffnete, begegnete sie meinem Blick. »Reggie ist tot. Mein Mann ist tot. Er wurde ermordet.«

Mich durchfuhr ein Stich Mitleid, das Echo des alten Schmerzes in meinem Herzen. Mit achtzehn hatte ich beide Elternteile verloren, mit Trauer und Verlust kannte ich mich aus. Himmel, sie waren praktisch meine engsten Freunde. Man sagt, die Zeit würde alle Wunden heilen, aber glaubt mir, das ist Bullshit. Zeit machte nichts besser, nichts konnte das. Verlust war ewig, er wurde einfach nur zu einem Teil von einem.

»Das tut mir leid«, sagte ich leise.

Sie nickte. »Allen tut es leid. Alle senken mitleidig den Kopf und sagen mir, wie leid es ihnen tut.«

Ich wusste genau, was sie meinte. Ich hasste diese Kopfbewegung auch, all die leeren Floskeln. »Kannst du mir erzählen, was passiert ist?«

Ihr Blick brannte jetzt. »Sie behaupten, er sei auf dem Heimweg erstochen worden. Raubüberfall. Aber Reggie geht nie zu Fuß nach Hause, er fährt immer mit dem Auto, und unser Wagen stand in der Auffahrt. Ich weiß, dass er an diesem Tag damit zur Arbeit gefahren ist, deshalb ergibt es keinen Sinn. Nichts ergibt Sinn.«

Ich ließ ihr einen Moment Zeit, für den Fall, dass sie mir noch mehr erzählen wollte. Als sie nicht weitersprach, begann ich ihr so feinfühlig wie möglich Fragen zu stellen. »Wann ist er gestorben?«

»Vor einer Woche. Am zweiten Dezember. Gegen sechs Uhr abends, sagen sie. Es war dunkel. Er würde niemals im Dunkeln zu Fuß nach Hause gehen. Er ist in einer rauen Umgebung aufgewachsen und konnte sich zur Wehr setzen, aber er war nicht dumm und er ging keine Risiken ein.«

Ich nickte und wartete darauf, dass sie fortfuhr.

»Seine Leiche …« Sie begann zu schluchzen und wischte sich dann wütend die Tränen aus den Augen. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte es dann noch einmal. »Seine Leiche war kaum zu identifizieren, als hätte jemand im Wahn wieder und wieder auf ihn eingestochen.« Ihr versagte die Stimme, und sie presste die Lippen aufeinander, als wollte sie verzweifelt verhindern zusammenzubrechen. »Die Polizei ermittelt natürlich, und die Verbindung auch. Einer der Crossover-Cops kümmert sich darum.«

Ein Crossover war jemand, der in beiden Reichen den gleichen Job hatte. In diesem Fall war die Person sowohl bei der Normpolizei als auch in der Verbindung, dem Polizei-Äquivalent des Anders.

»Ein gewisser Detective Marley«, fügte sie hinzu.

Ich blinzelte. »Steve Marley?«

Sie wirkte erleichtert. »Du kennst ihn?«

»Wir sind zusammen zur Schule gegangen und hatten auch schon beruflich miteinander zu tun.« Ich mochte Steve, er war früher eine Weile mit einer Freundin von mir zusammen gewesen. Wir verstanden uns gut und hatten hier und da zusammengearbeitet. Ich vertraute seinen Instinkten – er war ein guter Cop.

»Er erscheint mir kompetent, aber er hat viel zu tun, und ich habe das Gefühl, dass er sich nicht allzu sehr anstrengt, die Sache aufzuklären. Er verhält sich etwas seltsam. Als würde er denken, dass Reggie selbst schuld an seinem Tod ist. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich auch zu empfindlich. Ich weiß nur, dass die Polizei glaubt, dass es sich um einen Raubüberfall mit Todesfolge handelt, und nicht von dieser Theorie abweichen will. Aber Reggie würde niemals im Dunkeln zu Fuß nach Hause gehen. Nie. Ich habe keine Ahnung, warum er dort war, wo man ihn gefunden hat.«

»Und du möchtest, dass ich herausfinde, was passiert ist?«

Sie nickte und schaute mir fest in die Augen. »Ja, Jinx. Ich will, dass du herausfindest, wer meinen Mann ermordet hat. Und dann werde ich auf die ein oder andere Weise für Gerechtigkeit sorgen.«

Ich wusste, wie die »andere« Seite der Gerechtigkeit aussah. Als es darum ging, zu töten oder getötet zu werden, hatte ich getötet. Es verfolgte mich immer noch bis in meine Träume.

»Gerechtigkeit«, bestätigte ich, weil ich wusste, dass ich die gleiche Entscheidung noch einmal treffen würde, sollte sich mir die Gelegenheit bieten, die Welt vom Mörder meiner Eltern zu befreien.

2

JOYCEREICHTEMIRDENBRAUNENAktenordner, den sie bis jetzt umklammert hatte. Als ich ihn aufschlug, wandte sie den Blick ab, und ich ahnte, dass Schlimmes auf mich wartete.

Es handelte sich um einen knappen Polizeibericht mit Fotos vom Tatort. Ich habe einen guten Magen, aber ich wappnete mich innerlich, ehe ich die Bilder auf dem Tisch ausbreitete. Als ich sie ansah, lief mir ein Schauer über den Rücken. Reggie Evergreen hatte sich im Anders aufgehalten, als man ihn angegriffen und ermordet hatte. Die Stichwunden waren tief, gnadenlos und wild. Da war eine Menge Blut, nicht nur als Lache unter Reggie, sondern überall in Spritzern verteilt. Es war wie der Tatort des Mordes an meinen Eltern. Exakt genauso. Ich hatte eine Gänsehaut.

Ich betrachtete die Bilder aufmerksam. Die Schnittwunden in Reggies Haut waren scharf und präzise, nicht ausgefranst oder unterschiedlich groß. Sie stammten nicht von einer gezackten Klinge und waren exakt wie die an meinen Eltern. Sowohl Mum als auch Dad hatten Schnittwunden an den gleichen Stellen aufgewiesen – das war einer der Gründe, warum ich so lange mit der Polizei debattiert hatte, als diese es als einen eskalierten Einbruchsversuch deklarieren wollte. Welcher Dieb tötete zwei Personen auf exakt die gleiche Weise?

Ich nahm einen flachen Atemzug und zwang mich, ruhig zu bleiben. Das hier war die erste frische Spur nach all den Jahren. Sobald ich die Gelegenheit hatte, musste ich die Bilder noch einmal mit denen vom Tatort meiner Eltern vergleichen, aber rein aus der Erinnerung … ja, das war die gleiche Handschrift. Mein Bauchgefühl brüllte mich förmlich an, und ich hatte gelernt, es nicht zu ignorieren.

Ich schob die Unterlagen wieder säuberlich zusammen und steckte sie zurück in den Ordner. Den Polizeibericht würde ich lesen, sobald Joyce weg war. »Darf ich den hierbehalten, oder soll ich lieber Kopien machen?«

Sie winkte ab. »Behalt ihn. Wenn ich mir vorstelle, dass Wren die Bilder versehentlich finden könnte, wird mir ganz übel.«

»Wie bist du da rangekommen?«, fragte ich und wies auf den Ordner.

Sie zögerte und zuckte dann die Achseln. »Ronan Fallows. Er ist ein Pfeifer.«

Verdammt noch mal. »Was ist ein Pfeifer?«, fragte ich zögerlich, weil es mir peinlich war, einmal mehr mein Unwissen zur Schau zu stellen. Meine Einführung ins Anders lag jetzt acht Wochen zurück, und ich wusste immer noch so wenig.

»Es bedeutet, dass er eine besondere Verbindung zu Tieren hat«, erklärte sie. »Ronan behauptet, sogar mit ihnen sprechen zu können. Ich denke, er will mich auf den Arm nehmen, aber bei Ronan weiß man nie. Wie dem auch sei, ich habe ihn angerufen und ihn gebeten, mir die Akte zu besorgen. Er hat überall die Finger im Spiel, vor allem dort, wo er sich besser raushalten sollte. Ich habe ein ziemliches Theater gemacht, und er hat es mir versprochen, vermutlich damit ich den Mund halte. Die Beschaffung war kein Problem für ihn, doch zunächst wollte er sie mir gar nicht geben, und als ich die Fotos sah, wusste ich, warum. Diese Bilder sind alles, was ich sehe, wenn ich die Augen zumache.«

Erneut füllten ihre Augen sich mit Tränen, und ich reichte ihr hastig ein Taschentuch.

Das konnte ich gut nachempfinden. »Hör dir eine geführte Meditation an, bevor du schlafen gehst«, riet ich ihr. »Das hilft mir immer.«

Joyce wischte sich wütend die Tränen von den Wangen. »Ich habe es satt zu weinen, satt zu träumen. Meditation – okay, ich versuche es.« Sie putzte sich die Nase und atmete einmal tief durch. »Ich kann mich noch erinnern, dass du Stone bei deiner Einführung erzählt hast, dass deine Eltern ermordet wurden und du keine Ahnung hast, wer der Täter war. Du weißt also, was ich durchmache.«

Ich nickte, entschied mich jedoch dagegen, ihr von den Parallelen zwischen den Fällen zu erzählen. Ich wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen, dass mehr hinter der Sache steckte als der Angriff, über den man sie informiert hatte.

»Du musst sehr jung gewesen sein, als du deine Eltern verloren hast«, fuhr Joyce fort. »Ich halte die Ungewissheit nicht aus. Bitte – finde heraus, was passiert ist, für mich und meine Kinder.«

»Ich gebe mein Bestes«, erklärte ich ihr. Schon früh in meiner Laufbahn hatte ich gelernt, nicht mehr zu versprechen, als ich halten konnte. Ich ermittelte nur selten in Mordfällen und konnte ihr auch nicht garantieren, dass ich diesen Fall lösen würde, doch ich würde mich nach Kräften bemühen.

»Unterstützt Stone dich immer noch?«, fragte sie hoffnungsvoll. Ich überlegte, ob das der wahre Grund war, warum sie sich auf den weiten Weg zu mir gemacht hatte. Hoffte sie, Stone und mich im Doppelpack zu bekommen?

Ich schüttelte den Kopf. »Stone wurde vor einigen Wochen zu einem großen Fall gerufen, und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.« Es war die Wahrheit – zumindest zum Teil. Ich bemühte mich sehr, nicht zu viel darüber nachzudenken.

Joyce drehte den Ehering an ihrem Finger. »Tut mir leid, ich habe dich gar nicht nach deinem Honorar gefragt. Reggie hat gut verdient, und wir haben eine Menge zur Seite gelegt. Solange es mich nicht mehr als 50.000 Pfund kostet, der Sache auf den Grund zu gehen, sind wir im grünen Bereich. Ich dachte mir nur, wenn jemand die Wahrheit herausfinden kann, dann ist es eine Wahrheitsfinderin.«

Ich nannte ihr mein niedrigstes Stundenhonorar. Wenn dieser Fall etwas mit dem Tod meiner Eltern zu tun hatte, dann hätte ich ihn mit Freuden auch umsonst übernommen. Wenn es eine echte Verbindung gab, würde ich ihr einen Rabatt gewähren.

Ich öffnete die oberste Schublade und zog meinen Standardvertrag heraus, trug das Honorar ein und vermerkte, dass ich ihr in 5000-Pfund-Abständen Bericht über die Kosten erstatten würde. Ich fragte sie, ob sie bereit und in der Lage sei, mir einen Vorschuss zu geben, und sie stellte mir sofort einen Scheck aus.

Ich wurde noch einige weitere Fragen los, während sie den Rest ausfüllte. Reggie war Buchhalter bei einer Firma in Gerrards Cross gewesen. Er arbeitete im Zentrum, und sie wohnten in der Vorstadt. Ich war ziemlich gut mit Gerrards Cross vertraut, in der Gegend nennt man es auch GX, und es ist nicht weit von Beaconsfield, wo ich geboren und aufgewachsen war. Ganz in der Nähe war auch Rosie’s, das Café, in dem ich Joyce kennengelernt hatte.

Ich machte Kopien von Joyce’ Ausweispapieren und reichte ihr den Vertrag. Sie las ihn kaum durch, bevor sie ihn unterschrieb. Ich versprach ihr, gleich am nächsten Morgen anzufangen. Drei Wochen nachdem ich die Home Counties verlassen hatte, sah es so aus, als würde ich zurückkehren.

Ich stellte sicher, dass Joyce einen Ort hatte, wo sie hinkonnte. Zum Glück befand sich das Travelodge, in dem sie übernachtete, gleich um die Ecke, weshalb Gato und ich sie noch sicher hinausbegleiteten. Ich bot ihr an, sie am nächsten Tag mit nach Hause zu nehmen, doch sie hatte bereits eine Fahrkarte für die Bahn gekauft. Sie meinte, dass sie keine gute Gesellschaft wäre, und ich akzeptierte die Ausrede. Sie brauchte etwas Zeit für sich, und das konnte ich verstehen.

Gato und ich gingen hinunter in die Parkgarage, um nach Hause zu fahren. Es war 22:00 Uhr – die Abendstunden waren ohne mich hereingebrochen und in die Nacht übergegangen. Eine halbe Stunde später kamen wir zu Hause, in einem Städtchen namens Bromborough, an. Es gab ein nettes Waldstück, wo ich Gato Gassi führen konnte, und ein Industriegebiet fünf Fahrminuten entfernt, wo man alles von Schuhgeschäften bis Kinos finden konnte. Im Ort befanden sich ein Café, eine Reinigung, ein Bestatter und ein Lieferservice. Der Tod und chinesisches Essen: Die neue Umgebung passte zu mir.

Als wir in der Einfahrt parkten, stand Hesters Wagen bereits dort. Gato und ich entschieden uns für eine schnelle Runde um den Block, um vor dem Schlafengehen noch etwas Bewegung zu bekommen. Danach würde ich nach ihr sehen.

Um diese Zeit war es still in den von Bäumen gesäumten Straßen. Es kam mir wie eine nette Gegend vor, und in den ersten drei Wochen hatte ich keine gegenteiligen Erfahrungen gemacht. Wenn alles gut ging und die Geschäfte wieder liefen, wollte ich hier ein Haus kaufen. Im Vergleich zu den Home Counties waren die Immobilien in dieser Gegend sehr günstig, und mit dem Geld meines Hausverkaufs konnte ich mir ein Einfamilienhaus mit vier Schlafzimmern in einer netten Gegend leisten und hatte noch etwas übrig, um mir ein Büro zu mieten, das nicht einem Vampyrlord gehörte.

Als Gato und ich zurückkamen, öffnete ich die Haustür und rief: »Hallo? Hes, bist du noch wach?«

»Ich bin im Wohnzimmer«, rief sie zurück. »Ich habe dir Tee gemacht.«

Ich schlüpfte aus meiner Jacke, hängte sie an den Pfosten des Treppengeländers und ging hinein, um sie zu begrüßen. Der Fernseher lief, und Hes hatte sich in eine Decke gekuschelt. Sie umklammerte eine Tasse Tee und sah etwas blass um die Nase aus. Sie hatte einen schlechten Tag.

Ich setzte mich in den Lehnstuhl und schnappte mir eine Decke. Es war nicht kalt im Haus, aber eingewickelt zu sein, fühlte sich immer so heimelig und tröstlich an. Gato leckte mir kurz über die Hand und verließ uns dann für eine Patrouille durchs Haus, bei der er nach Mäusen und Vampyren Ausschau hielt.

Ich sah Hes an, griff nach meiner Tasse Tee und wärmte mir die Hände daran. »Danke für den Tee. Hast du meinen Wagen gehört?«

»Ja.« Sie schwieg kurz. »Ich war bei mir zu Hause schon im Bett, aber dann habe ich ein seltsames Geräusch gehört und bin durchgedreht, also bin ich hergefahren.«

»Kein Problem. Den Schlüssel habe ich dir gegeben, damit du kommen und jederzeit hier schlafen kannst, das weißt du.«

Sie lächelte dankbar. »Danke.« Sie hatte mausbraunes Haar und den Teint einer klassischen englischen Schönheit. Sie war hübsch, trug aber nur selten Make-up oder gewagte Kleidung, obwohl sie in ihren ersten Wochen an der Uni eine kurze Neuerfindungsphase durchlaufen hatte, während der sie sich geschminkt, auffällige Kleidung getragen und ihren Namen von Hester zu Hes geändert hatte. Außerdem hatte sie sich ein wenig in einen Vampyr verliebt, war von meiner damaligen Nachbarin entführt und gewaltsam in eine Andere verwandelt worden, indem man ihr einen magischen Dolch ins Herz stieß. Also … ja, das mit der Neuerfindung war gelaufen, nur der neue Name blieb. Sie war ohne ihr Einverständnis neu geschaffen worden und hatte genug damit zu tun herauszufinden, wer und was sie jetzt war. Ich würde gerne sagen, dass ich ihr half, aber ich hatte auch keine Ahnung, was zu tun war.

»Hast du was von ihm gehört?«, fragte Hes plötzlich.

Ich blinzelte und versuchte herauszufinden, welchen »ihn« sie meinte. Es gab zwei Kandidaten: Stone und Nate. Ich war noch nicht bereit, an Ersteren zu denken, also nahm ich einfach an, dass sie Letzteren meinte.

»Nate? Nein, tut mir leid. Ich habe schon eine Weile nichts mehr von ihm gehört.« Nate ist der Vampyr, den sie ein bisschen liebt. Sie hatten eine stürmische Romanze, ehe sie herausfand, dass er kein Mensch war. Es ist nicht leicht zu akzeptieren, dass deine große Liebe untot ist, und noch schwieriger, ihm zu verzeihen, wenn er dein Blut getrunken hat. Zweimal. Und dann fand sie noch heraus, dass sie die aktuelle in einer langen Reihe von Frauen war, die er zur Tarnung datete. Da fiel es schwer zu glauben, dass all die großen Liebeserklärungen ehrlich gemeint und kein Trick waren.

Auch zwischen mir und Nate waren die Dinge kompliziert. Ich hatte ihm das Leben gerettet – und es ihm gleichzeitig genommen. Ich war zu seiner, in Ermangelung eines besseren Worts, Herrin geworden, als ich meine magischen Kräfte, das AL, nutzte, um ihn in einem besonders schwachen Moment zu kontrollieren. Dabei war zwischen uns eine Verbindung entstanden, die uns beide verstörte.

Schon bald darauf brach Nate nach Amerika auf, in der Hoffnung, dass Tausende Kilometer zwischen uns die Verbindung brechen oder wenigstens Schwächen würden. Ich weiß nicht genau, wo er sich aufhält, aber da ist immer ein Kitzeln in meinem Kopf. Wenn ich mich darauf konzentriere, weiß ich, was er fühlt und was er gerade tut. Eine, gelinde gesagt, unangenehm intime Erfahrung für uns beide.

Ich habe niemandem sonst von der Verbindung erzählt. Lediglich Lord Volderiss, Nates Vater, weiß davon, deshalb hat er mir auch das Büro im Exchange Flags angeboten. Es besteht die geringe Chance, dass jemand, der mich verletzt oder tötet, dabei automatisch auch Nate umbringt. Das ist eine besorgniserregende Möglichkeit, über die ich lieber nicht zu viel nachdenke. Und wäre es andersherum genauso? Wenn jemand einen Pflock in Nates Herz stieße, würde dann auch mein Herz aufhören zu schlagen?

»Er hat mir ein paar Nachrichten geschrieben«, meinte Hes und starrte trübsinnig in ihren Tee. »Ich habe ihm nicht geantwortet.«

»Willst du denn?«

»Ich weiß es nicht.« Sie schwieg. »Ja. Vermutlich schon. Ich vermisse ihn. Wir hatten so eine gute Zeit, die beste meines Lebens, und jetzt sitze ich hier und hänge in einem anderen Reich fest. Das ist etwas überwältigend.«

Sie tat mir leid. In ein anderes Reich zu stolpern, hatte mich auch schockiert. Ich war schon mein ganzes Leben lang eine Wahrheitsfinderin, also hatte ich bereits gewusst, dass etwas mit mir nicht stimmte. Das Anders zu entdecken, war beinahe eine Erleichterung gewesen, weil ich plötzlich nicht mehr allein war. Ich war kein Freak, sondern etwas Anderes. Ich hatte sogar eine ziemlich coole Bezeichnung.

»Wenn du ihn vermisst, antworte ihm«, drängte ich sie.

Sie seufzte. »Aber er hat mich angelogen.«

»Das ist etwas, das du entweder hinter dir lassen kannst oder nicht. Wenn du es kannst, dann mach es. Wenn nicht, dann lass ihn ziehen.«

»Das ist leichter gesagt als getan.« Sie zog einen Schmollmund, der ihr Alter verriet, die gesamten achtzehn Jahre.

Ich pustete auf meinen Tee und sagte nichts. Ich hätte gut daran getan, meinen eigenen Ratschlag zu befolgen.

Wir plauderten und tranken unseren Tee. Ich erzählte ihr von den heißen Elementaren, erwähnte jedoch den Evergreen-Fall nicht. Sie brauchte gerade nicht noch mehr düsteres Zeug vor dem Schlafengehen, das sich zu den Albträumen gesellen würde, die sie immer noch plagten.

Um Mitternacht gingen wir ins Bett, und Gato brachte uns beide zurück ins Norm, damit wir uns aufladen konnten. Ich nickte ihm zu, und gehorsam folgte er Hes ins Gästezimmer. Sie brauchte seine Gesellschaft heute Nacht mehr als ich. Ich schlüpfte unter die kalten Laken und vermisste sein tröstliches Gewicht auf meiner Hüfte. Manchmal ist es blöd, Freunde zu haben.

Ich erwachte früh und stellte fest, dass Gato sich irgendwann in der Nacht zu mir gesellt hatte. »Hey, Junge. Ist Hes okay?« Er klopfte zweimal mit dem Schwanz auf das Bett, was ich als Ja wertete. »Cool.«

Ich schlüpfte schnell in meine Laufklamotten und legte Gato ein blinkendes Halsband um. Es war immer noch dunkel, und wenn Gato ohne Vorwarnung auf jemanden zuraste, jagte das selbst den härtesten Männern einen Schrecken ein.

Hes’ Wagen stand nicht mehr in der Einfahrt, also vermutete sich, dass sie eine frühe Vorlesung hatte. Gato und ich begannen zu laufen. Als wir den Wald erreichten, küssten gerade die ersten Sonnenstrahlen den Himmel. Im Moment befand ich mich im Norm und genoss das grüne Gras und den blauen Himmel. Später würde ich ins Anders wechseln und vermutlich die nächste Zeit auch dort bleiben, während ich nach Reggies Mörder suchte. Aber gerade schwelgte ich im Norm-Sonnenaufgang, den ich schon die ganzen fünfundzwanzig Jahre meines bisherigen Lebens liebte.

Manchmal fällt mir das Laufen schwer, doch heute war ich flink und mühelos unterwegs. Ich fühlte mich wach und voller Energie, als ich hinterher unter die Dusche ging. Vor dem Kleiderschrank entschied ich mich für einen legeren, aber doch professionellen Look: schwarze Jeans mit Shirt und Blazer. Bequem fürs Autofahren, aber schick genug, falls ich Leute befragen musste. Ich fasste mein Haar zu einem lässigen Knoten zusammen, legte etwas Make-up und Mascara auf, und dann war ich fertig.

Schnell schnappte ich mir noch eine Scheibe Toast und eine Banane. Gato sah mich vorwurfsvoll an, aber es kümmerte mich nicht. Es war nicht das gesündeste Frühstück, aber es war nötig. Er folgte mir nicht, als ich nach Reggies Akte griff und hinauf in das dritte Schlafzimmer ging.

Es war meine Abstellkammer, in der immer noch ein paar Umzugskartons standen. Es dauerte nicht lange, bis ich gefunden hatte, wonach ich suchte: die Mörder-Box. Ich stellte mir diesen Namen immer in Großbuchstaben vor. Ich hatte sie nicht lange nach dem Tod meiner Eltern angelegt, aber damals war alles noch so frisch und schmerzhaft gewesen, dass ich sie sofort zur Seite geschoben hatte. Ein Jahr später entstaubte ich sie und sah mir den Inhalt noch einmal an. Ich unterzog alles einer genauen Prüfung, befragte die Polizei noch einmal, und dann packte ich sie wieder weg. Dieses Muster wiederholte sich Jahr für Jahr. Es ließ mich nicht los. Ich konnte die Morde nicht hinter mir lassen, bis sie geklärt waren.

Ich öffnete den Karton und zog die vertrauten Seiten des Polizeiberichts heraus. Ich war versucht, eine Crime Wall anzulegen und die Bilder der Leichen meiner Eltern neben die von Reggie zu hängen, aber so etwas hatte ich schon einmal versucht, und es hatte mich zu sehr mitgenommen. Besser war es, sie noch einmal mit frischem Blick anzusehen und dann wieder wegzuräumen. Zum einen wollte ich nicht, dass Hes reinkam und einen Herzinfarkt erlitt, zum anderen musste ich dringend vermeiden, noch einmal in ein verzweifeltes, depressives Loch zu fallen, aus dem meine Freundin Lucy mich dann wieder rausholen musste.

Selbst nach sieben Jahren tat es immer noch weh, meine Eltern so auf den Fotos vom Tatort zu sehen. Der Tod raubt uns etwas. Wer einmal eine Leiche gesehen hat, vergisst es nie wieder. Ich brauchte Jahre, bis ich mir meine Eltern wieder als lebendige Menschen vorstellen konnte und nicht als die toten Körper, die ich eine Woche nach meinem achtzehnten Geburtstag vorgefunden hatte. Man würde meinen, nach so vielen Jahren müsste es mir leichter fallen, doch wer immer den Spruch erfunden hat, dass die Zeit alle Wunden heilt, war ein Lügner.

Ich öffnete Reggies Akte und legte die Bilder seines Tatorts neben die meiner Eltern. Die Gemeinsamkeiten waren nicht zu übersehen. Die Wunden an den Leichen waren nicht identisch, sahen sich jedoch verdammt ähnlich. Aufregung durchflutete mich. Es war eine Spur. Ich war mir nahezu sicher, dass Reggies Mörder auch der meiner Eltern sein musste. Und dieses Mal würde ich ihn schnappen.

3

SCHNELLBRACHTEICHMEINGEPÄCKzum Wagen, und dann machten Gato und ich uns auf den Weg. Ich hatte bereits Lucy geschrieben und sie gefragt, ob ich ein paar Nächte bei ihr in Chalfont St. Giles bleiben könnte. Die Antwort war ein »Definitiv!« gewesen, und ich musste lächeln. Es würde sich seltsam anfühlen, zurück in den Home Counties zu sein und nicht im Haus meiner Kindheit zu wohnen, aber ich freute mich ehrlich darauf, ein paar Tage bei meiner besten Freundin zu übernachten. Zum Glück war es mitten unter der Woche, also würde sie mich hoffentlich nicht drängen, mit ihr auszugehen und Leute kennenzulernen.

Ich machte das Radio an und sang mir die Kehle aus dem Leib. Wir legten eine kurze Pinkelpause ein, aber abgesehen davon fuhren wir ohne Unterbrechung. Es war gerade mal Mittag, als wir in Gerrards Cross ankamen, parkten und Gato mich ins Anders schickte. Der Himmel färbte sich lila und das Gras türkis. Ich gewöhnte mich langsam daran, aber es dauerte immer noch ein paar Minuten, bis meine Augen – oder mein Gehirn – die Veränderungen akzeptierten. Warum hatte der Himmel im Anders eigentlich eine andere Farbe? Ich schüttelte die Frage gleich wieder ab und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt.

Ich nahm an, dass viele der Buchhalter um zwölf Uhr Mittag machten, also beschloss ich, mich zunächst etwas umzusehen. In einem Café versorgte ich mich mit einem getoasteten Sandwich, während Gato draußen geduldig auf mich wartete. Als ich mit Fleischbällchen-Panino und Cappuccino vollgestopft war, kaufte ich ihm noch ein Würstchen im Schlafrock. Nachdem er es dankbar hinuntergeschlungen hatte, liefen wir vom Bürogebäude bis zu der Stelle an der Packhorse Road, wo man Reggies Leiche gefunden hatte. Während ich die Straße entlangging, fielen mir ein paar Dinge auf. Zum einen war sie ziemlich geschäftig, und Reggie war angeblich gegen 18:00 Uhr ermordet worden. Das war mitten im Berufsverkehr, aber laut Polizeibericht gab es bislang keine Augenzeugen. Gerrards Cross ist ein wohlhabendes, gesittetes Städtchen, also nicht die Art Gegend, wo man wegschaute und sich schnell aus dem Staub machte. Wenn er wirklich um diese Tageszeit an dieser Stelle ermordet worden war, dann musste jemand es gesehen haben.

Und die andere Sache, die mir auffiel, war der Ort. Die Straße führte durch die Gerrards Cross Commons, eine große Grünfläche mit einem Wäldchen, und es gab einen deutlich kürzeren Weg, der querfeldein führte. Viele Leute würden diesen Pfad im Dunkeln meiden, doch Reggie war eine Dryade gewesen, und ich konnte mir vorstellen, dass er sich zwischen den Bäumen wohler fühlte als auf einer belebten Straße. Schließlich konnte er einfach mit einem Baum verschmelzen, sollte ihm etwas oder jemand Unheimliches über den Weg laufen.