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Nach einem Skiunfall, langer Reha und dramatischer Trennung von seiner Frau hat der Wiener Chefinspektor Martin Glück genug: Befristet beurlaubt setzt er sich ins Auto und fährt zur Entspannung an den Wörthersee. Mit der Ruhe ist es allerdings vorbei, als eine Wasserleiche durch die Vorsaisonidylle treibt. Der ortsansässigen Kontrollinspektorin Lily Prokopp wächst die Sache schnell über den Kopf, und Glück ist bei der Berufsehre gepackt. Bei seinen Ermittlungen bekommt er es mit einer ganz besonderen Klientel zu tun, denn an 'Österreichs teuerster Badewanne' wetteifern die Millionäre um die letzten Seegrundstücke – mittendrin die zwielichtige 'rote Romana', die ihre Gäste mit grauenhaften Kochorgien quält. Doch was hatte die tote Monika Linde mit einem Edelpuff und Erpressungen, mit Immobilienfehden und Kunsthandel zu tun? Der Chefinspektor sucht mit allen Mitteln nach Antworten aus der Vergangenheit und hat am Ende das entscheidende Quäntchen Glück, nicht nur den Mordfall, sondern auch das Geheimnis um seinen verschwundenen Vater zu lösen. Ein spannender, schwarzhumoriger Kriminalroman und ein tiefer Blick in die österreichische Seele. Wiener Schmäh trifft auf Kärntner Charme – eine besonders skurrile Mischung.
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Seitenzahl: 308
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Christine Grän – Hannelore Mezei
Glück am Wörthersee
Kriminalroman
ars vivendi
Die Handlung dieses Buches ist frei erfunden. Etwaige Übereinstimmungen mit lebenden Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Juni 2016)
© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg
Motivauswahl: ars vivendi
Coverfoto: © plainpicture / Stephen Carroll
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
ISBN 978-3-86913-701-8
Inhalt
Kapitel 1: Von der Hölle in die Freiheit
Kapitel 2: Glück im Unglück
Kapitel 3: Die Folter der Mittwochabendessen
Kapitel 4: Leiche mit Tattoo
Kapitel 5: Unfall oder Mord?
Kapitel 6: Glück im Paradies
Kapitel 7: Folge der Spur des Geldes
Kapitel 8: Die Dagobert-Duck-Theorie
Kapitel 9: Kunstsammler, Handküsser und Bodybuilder
Kapitel 10: Männer im Paradies
Kapitel 11: Tamaras Geschichte
Kapitel 12: Betriebsausflug ins Bordell
Kapitel 13: Was weiß Alex?
Kapitel 14: Eine letzte Chance
Kapitel 15: Wutanfälle sind nicht gratis
Kapitel 16: Martins Frauen
Kapitel 17: Party am See
Kapitel 18: Die Goldader
Kapitel 19: Die Last mit der Lust
Kapitel 20: Und wieder ist Mittwoch …
Kapitel 21: Das kleine g und die Folgen
Kapitel 22: Herschel und kein Ende
Kapitel 23: Wie der Zufall so will
Kapitel 24: Die seltsame Entführung
Kapitel 25: Wahrheit oder Lüge?
Kapitel 26: Zurück am See
Die Autorinnen
Kapitel 1: Von der Hölle in die Freiheit
Der Mord fühlt sich gut an. Gerechtfertigt. Und für einen Augenblick denkt er den Gedanken vieler Täter: Sie hat es verdient. Die Vorstellung ist zum Fürchten! Wäre er unter extremen Umständen tatsächlich bereit, jemanden zu töten? Vielleicht … mit dem Gedanken wird man ja wohl noch spielen dürfen. Unter diesen extremen Umständen.
Das Objekt seiner Mordphantasien bearbeitet gerade die sogenannten Triggerpunkte seiner Achillessehne. Punkte, deren Berührung etwas Gutes bewirken soll, die aber nur höllisch wehtun.
Der trostlose Blick aus dem Fenster ins verregnete Waldviertel, während Frau Inge ihn malträtiert, ist mehr, als Martin Glück meint ertragen zu können. Hinzu kommt die unerfreuliche Erscheinung dieser Frau, die eher einem Stück Bündnerfleisch gleicht als einem weiblichen Wesen. Vegane Yogapilatesfitnessfigur im weißen Trainingsanzug. Er hasst Trainingsanzüge, er hasst Rehabilitationszentren, er hasst knöcherne Frauen, und er hasst Regen.
»Es regnet«, erinnert ihn die Masseurin, »jetzt schon seit drei Wochen.« Als wüsste er das nicht, verdammt noch mal! »Na ja, des is eh gut für die Haut. Außerdem erholt man sich nur bei Regen wirklich, huahuahua«, kommt schon die nächste Herausforderung für Martins blank gelegte Nerven. Muss die immer wiehern statt lachen? Die Frau tut ihm sogar in den Ohren weh.
»Ja, ich weiß«, bringt er zähneknirschend hervor. Warum hat er bloß das Sackerl mit seinen kleinen Wutstoppern im Zimmer gelassen?!
Drei Wochen Regen, drei Wochen gesunde Kost, die nach nichts schmeckt, drei Wochen fader Kräutertee, drei Wochen Trainingsanzüge in allen Variationen, drei Wochen Madame Bündnerfleisch. Es reicht!
»Auuuuuuuuu!!!!!! Aufhören!« Diese Frau verkörpert einfach alles, was er an der Reha verabscheut.
Wenn die Kollegen im Kommissariat wüssten! Beneidet haben sie ihn, als er nach seinem Skiunfall zur Kur musste. Von Erholung, ruhigem Lenz und Kurschatten war da die Rede gewesen. Ein Märchen, das ein Sadist erfunden hat.
»Tut halt a bissl weh. Aber ein Indianer kennt kan Schmerz«, drängt sie sich mit dem nächsten blöden Spruch in seine Gedanken.
»Ich bin kein Indianer.«
»Dafür werden S’ bald wieder fit genug sein, um den Verbrechern nachzulaufen! Aber andererseits: Die san eh immer schneller als die Polizei, huahuahua.«
Nun kann er sich nicht mehr zurückhalten. »Warum hören Sie nicht endlich auf, Sie Trampel, Sie …«
Er springt auf – na ja, jedenfalls versucht er es – und humpelt mit einem lautstarken »Jetzt reicht’s mir« aus dem Raum. Im Rücken spürt er Frau Inges verständnislosen Blick und glaubt, ihr furchtbares Lachen zu vernehmen, als er knapp vor seiner Zimmertür gegen den Teewagen prallt und sich Pfefferminz-, Hagebutten- und Fencheltee über den Fußboden ergießen.
***
Gleichmäßig langsam rattert Martin Glück kurze Zeit später mit dem Regionalzug nach Wien. Die Monotonie findet er beruhigend und seinen Entschluss, einfach abzuhauen, mit jedem Kilometer besser. Leider hat es am Bahnhof keinen Kiosk gegeben, sodass er sich den Nachschub an Gummibären nicht besorgen konnte. Aber jetzt, auf dem Weg von der Hölle in die Freiheit, ist er ja ganz gelassen, und wodurch soll sich das schon ändern? Warum ist er vorhin nur so ausgerastet? Er hatte sich doch in den letzten Monaten super im Griff. Seit er durch Zufall entdeckt hat, wie sehr ihn ein, zwei Gummibären beruhigen, kann er sich richtig gut beherrschen. Und nun begleiten ihn die kleinen Süßen eben auf Schritt und Tritt. Wenn er sie nicht gerade vergisst …
Außerdem sind seine »seelischen Flatulenzen«, wie Larissa seine Wutausbrüche nennt, nie ernsthaft böse gemeint. Nur eben die spontane Reaktion auf etwas, das ihm gewaltig gegen den Strich geht. Gut, die Reha war eine einzige Tortur, aber die Masseurin konnte ja schließlich nichts dafür. Außer dass sie ihn häufiger nervte als alle anderen Rekonvaleszenten, Therapeuten, Schwestern, Ärzte.
Er muss lachen, so erleichtert ist er, wieder in Freiheit zu sein. Die junge Frau, die ihm gegenübersitzt, blickt von ihrer Zeitschrift auf und lacht einfach mit. Dann holt sie aus ihrer überdimensionalen Handtasche einen Schokoriegel und lässt winzigste Bissen mit verzücktem Lächeln im Mund zergehen. Sie gefällt ihm: eine Frau mit Humor und Genussfähigkeit, fesch, Anfang zwanzig, schlank, trotzdem eine weibliche Figur. Ein bisschen erinnert sie ihn an seine Larissa der Anfänge.
Er freut sich schon darauf, seiner Frau alles zu erzählen, sie wird seinen starken Abgang sicher witzig finden. Sie haben immer viel miteinander gelacht. Jedenfalls früher. Wie er diese Augenblicke des gemeinsamen Gelächters vermisst! Schon seit langer Zeit.
Soll er sie nicht doch anrufen? Nein, er wird sie überraschen, gute Stimmung verbreiten und endlich die Aussprache führen, die sie schon vor Jahren wollte.
»Hallo, ich bin’s noch mal. Tamara. Wo steckst du denn? Ruf doch bitte zurück!« Sein Gegenüber versucht zum dritten Mal vergeblich, jemanden telefonisch zu erreichen. Ihren Freund wahrscheinlich. Tja, Männer …
Zu dieser Spezies gehört Martin allerdings auch. Sicher ist er nicht unschuldig an der Ehekrise, die nun schon ziemlich lange anhält. Zuerst seine Reaktion auf ihre Schwangerschaft und dann die Geschichte mit der Polizeireporterin. Außerdem ist er seit seinem Skiunfall extrem unleidlich geworden. Er weiß es ja selbst. Aber für einen Bewegungsmenschen wie ihn ist diese Situation echt herb: kein Sport, nicht einmal g’scheit gehen konnte er eine Weile – und dann ständig diese Schmerzen. Das Ärgste war der Liegegips, in dem er wochenlang gefangen war. Bewegung ist ein Fundament seines Lebens, so wie es für Larissa ihre Arbeit ist.
»Was musst du auch über eisige Pisten rasen?«, macht man ihm seit dem Unfall von allen Seiten Vorwürfe. Er suhlt sich dabei immer ein bisserl in diesem Bild des draufgängerischen Sportlers, das die anderen von ihm haben. Doch von Verwegenheit konnte bei diesem Unfall keine Rede sein. Denn bis zu den eisigen Pisten war er gar nicht vorgedrungen. Schauplatz war der Idiotenhügel, und der Unfall war an Peinlichkeit kaum zu übertreffen.
Auf dem Weg zur Gondel, die ihn in die herrliche und herausfordernde Bergwelt des Nassfelds bringen sollte, machte er vor einem kleinen Anfängerhang kurz halt, um einen älteren Mann bei Schneepflugversuchen zu beobachten. Und dann, aus heiterem Himmel, der Stich im Knie. Er verlor kurz die Kontrolle, die Skier rutschten seitlich weg – und schon saß er mit gerissener Achillessehne im Schnee. Bis heute ist es ihm ein Rätsel, wie das passieren konnte. Unter den neugierigen Blicken der Skianfänger musste er von der Bergrettung geborgen werden. Larissa, Zeugin der kompromittierenden Situation, fand das erst auch noch komisch. Aber ihr Lachen klang nicht lustig, sondern hatte einen bösen Beigeschmack. Sie war wirklich besonders gut darin geworden, ihn durch Blicke, ironische Seufzer oder spitze Bemerkungen zum Deppen zu stempeln.
Der Schaffner reißt Martin aus seinen Gedanken. »Die Fahrkarten, bittschön.«
»Hier drin hat es vierzig Grad. Können Sie nicht die Heizung zurückdrehen?«, sagt Martin, während er ihm das Billet zeigt.
Süffisantes Schaffner-Lächeln: »Is hin. Schon das Fenster probiert?«
»Jetzt werden S’ aber witzig. Das geht doch nicht auf!«
»Ja schon, weil wir eh eine kombinierte Klima-Heizungs-Anlage haben«, verabschiedet sich der Uniformierte mit einem bösartigen Augenzwinkern.
Jetzt nur nicht ausrasten!, redet Martin sich gut zu und bleibt ganz still sitzen. Sein Gegenüber mustert ihn mit gewisser Neugierde. Was wird sie von ihm denken? Nicht unattraktiver Mittvierziger, der was gegen Uniformierte hat …
… und gegen Rehas, wo sie ja auch alle in Kostümen rumlaufen – weiße Kittel auf der einen und Trainingsanzüge auf der anderen Seite. Und so verdammt viel Zeit zum Grübeln. Mit wem hätte er dort reden sollen? Er hatte ja mit niemandem etwas gemeinsam. Die meisten fanden es super dort, Hauptsache, nicht arbeiten und »auf Kur«. Hauptsache, Zeit zum Karteln und für die heimlichen Ausflüge zu den umliegenden Wirtshäusern. Im Sportlerdress. Der Typ, der keinen trug und auch nicht schnapsen konnte, war für die anderen der großkopferte Kieberer aus Wien. Dabei wäre er schon gern mal mitgegangen. Aber auf Krücken und unter Schmerzen? Die Telefonate mit Larissa – sie hat ihn nur einmal besucht – waren immer kurz und unverbindlich. Wie geht es dir? Wie ist das Wetter? Sei froh, dass du nicht in Wien bist. Ich ersticke in Arbeit! Ciao und mach’s gut!
Er holt seinen alten, abgegriffenen Asimov aus der Reisetasche und vertieft sich in die Welt von Hari Seldon.
»Hallo, wo bist du? Ich mach mir Sorgen. Warum hast du dich noch immer nicht gemeldet?«, wird er von der Welt der Zukunft zurück in die heiße Gegenwart der Regionalbahn geholt.
Martin mustert die junge Frau mitleidig. Offenbar hängt sie wieder an der Mobilbox ihres kontaktunwilligen Freundes. In der Liebe geht die Gleichung halt nie auf. Einer liebt zu viel, der andere zu wenig. Einer leidet, der andere tut sich leid. Doch sie ist ja noch so jung, darum könnte er sie beneiden. Sie zieht ihre Jacke aus, weil das Klima im Abteil inzwischen Südseedimensionen hat. Vielleicht lässt sich das Gangfenster öffnen? Er steht auf, schiebt die Abteiltür zur Seite und beginnt am Gangfenster zu rütteln. Keine Chance.
Martin gibt sich geschlagen und nimmt wieder seinen Platz ein. In Abteil 12 A und auf dem Planeten Terminus … Bis Stimmen aus dem Gang seine Konzentration stören. Die weibliche: »All unsere Bekannten gehen mit ihren Frauen tanzen, nur du nicht!«
Martin schaut auf, und auch sein Gegenüber legt die Zeitschrift zur Seite. Sie lächelt ihn an: »Ich kenne keinen Mann, der gerne tanzt. Warum akzeptiert sie das nicht?«
»Ich tanze gerne«, sagt Martin. »Dann bin ich wohl ein Ausnahmemann.«
Ihr Blick ist spöttisch: »Na, das denken ja alle. Aber sportlich schaun Sie schon aus.«
»Tja, im Moment wohl weniger.« Martin sieht anklagend auf seinen verletzten Fuß: »Beim Skifahren die Achillessehne gerissen. Sie wissen schon, vereiste Piste, zu schnell gefahren …«
»Uii, Achillessehne, das ist was Langwieriges. Hatte mein Papa auch einmal. Das ist schlimmer als ein Beinbruch. Waren Sie im Waldviertel auf Reha?«
»Ja, drei lange Wochen. Aber jetzt geht’s zurück nach Wien. Immerhin kann ich schon humpeln, und Autofahren darf ich auch bald. Was haben denn Sie im Waldviertel gemacht?«
»Meine Eltern besucht. Ich studier in Graz und komm eh nur selten heim. Da ist es dann egal, ob’s regnet.«
»… die haben gemeinsam einen Tanzkurs gemacht«, meldet sich die Frauenstimme erneut, und danach hört man nur noch einen langen männlichen Seufzer.
Martin schaut wieder auf sein Buch, kann sich aber nicht mehr konzentrieren. Zu viel Ehekrisenmüll. Als sie am Anfang noch kompromissbereit war, konnte er Larissa tatsächlich einmal zu Tanzstunden überreden. Es ging so was von schief. Martin Glück war nie besonders von sich eingenommen. Denkt er. Nur beim Tanzen, da war er seit seiner Jugend überzeugt, wirklich gut zu sein. Er vermochte jede noch so unbedarfte Partnerin elegant übers Parkett führen, sodass beide eine Superfigur machten. Doch bei seiner Frau versagte sein bewährter Führungsstil. Sie bewegten sich auf der Tanzfläche, als kämen sie von zwei unterschiedlichen Planeten. Also überraschte er sie eines Geburtstags mit einem Gutschein für einen gemeinsamen Tanzkurs. Ihre Freude über das Geschenk hielt sich zwar in Grenzen, aber sie machte dann doch mit.
Während sich in der ersten Stunde alle Kursteilnehmer wie schüchterne Taferlklassler fühlten, war Martin die Selbstsicherheit in Person. Doch nicht lange. Zunächst einmal war ihm der Tanzlehrer unsympathisch, ein steifer, humorloser und obendrein besserwisserischer Typ. Dann musste er irritiert feststellen, dass man hier einen anderen Tanzstil als den seinen pflegte. Da gab es Schritte, die er nicht kannte und auch für überflüssig hielt. Larissa befolgte brav die Anweisungen des Lehrers, während er es ja besser wusste. Na ja, jedenfalls konnte von Harmonie keine Rede sein. Schließlich hörte sie damit auf, die goldene Regel »Der Mann führt« zu beachten, und begann selbst das Ruder zu übernehmen. Noch dazu hatten ihre Stöckel bereits seine neuen Tanzschuhe ruiniert. Da wurde er etwas lauter.
Nachdem man ihnen nahegelegt hatte, den Saal zu verlassen, standen sie eine Zeit lang verloren im Foyer und keiften einander an. Plötzlich kippte die Stimmung. »Voor-voor-saiiit-schluss«, äffte Martin den Tanzlehrer nach, Larissa prustete los, und am Ende zerkugelten sie sich gemeinsam vor Lachen. Sie gingen in die nächste Bar, bestellten eine Flasche Schampus und landeten schließlich zu Hause im Bett. Mit dem Tanzen wurde es nichts mehr, doch der Versöhnungssex war salsamäßig.
Im Gang ist es inzwischen still geworden. Martin schaut aus dem Fenster, und die junge Frau startet eine neuerliche Kontaktaufnahme mit der Mobilbox. Entschuldigend wendet sie sich an Martin: »Sorry, wenn ich Sie mit meinem Telefon nerve, aber meine Freundin meldet sich nicht, obwohl wir das verabredet haben. Es kommt immer nur die Ansage. Ich versteh das nicht. Ich mach mir langsam echt Sorgen.«
»Ach, sie hat sicher nur vergessen, den Akku aufzuladen. Passiert mir andauernd, und dann merke ich gar nicht, dass das Handy aus ist. Man muss nicht immer gleich das Schlimmste denken.«
»Ich weiß nicht«, murmelt sie mehr zu sich selbst. »Sie hat sich da in etwas reinmanövriert …«
Dann sieht er auf ihrem Display das Hintergrundbild und ist für einen Augenblick irritiert: ein erotisches Bild, nein, die beinahe pornografische Darstellung einer Frau auf einem Bett aus Mohnblumen. Eigenartig, warum sucht sie sich so ein Bild aus? Das passt nicht zu ihr – andererseits kennt er sie ja gar nicht. Vielleicht ist sie Künstlerin? Oder irgendwie im erotischen Gewerbe tätig? Geht ihn nix an. Bevor er wieder ins Imperium der Zukunft abtaucht, beschließt er noch, auf dem Heimweg nicht nur Champagner, sondern auch einen Strauß Klatschmohn zu besorgen – Larissas Lieblingsblumen.
Kapitel 2: Glück im Unglück
Martin genießt mit jedem Atemzug die frische Luft auf dem Bahnsteig. Das Lüfterl, das ihm entgegenweht, ist für Ende Mai zwar recht kühl, aber nach den Saunatemperaturen im Zug empfindet er es als paradiesisch.
Tamara, seine Reisebegleiterin, winkt ihm zum Abschied zu und wechselt den Bahnsteig, während Martin zum Ausgang humpelt. Erst jetzt merkt er, dass es auch in Wien nieselt. Doch Regen in der Stadt erscheint ihm weniger trostlos als auf dem Land. Außerdem freut er sich auf die Überraschung, die er Larissa bereiten wird. Beschwingt und beinah schmerzfrei geht er zum Taxi, lässt seine Reisetasche im Kofferraum verstauen und sich auf den Rücksitz fallen. »Zuerst zum Wein & Co.am Naschmarkt, dort warten Sie, dann zur Blumenhandlung Nell im ersten Bezirk und danach in den siebten Bezirk, Seidengasse 33«, gibt er dem Fahrer die Richtung vor.
»Wird gemacht, Herr Chef.« Wiener Taxler sind entweder pampig oder hundsfreundlich.
Martin lehnt sich entspannt zurück. Der Nachmittagsverkehr ist grausam, aber er hat es nicht eilig. Larissa kommt sicher nicht vor sieben von der Agentur nach Hause.
Als sie dann vom Gürtel in die Seidengasse einbiegen, hat er Herzklopfen – als wär’s das erste Rendezvous. Er freut sich sogar, das Haus zu sehen, das kalt und unpersönlich neben einem hübschen Biedermeierbau sieben Stockwerke in die Höhe ragt und in dem er nie heimisch geworden ist. Vor sechs Jahren hat Larissa mit der Erbschaft einer Tante die Dachwohnung gekauft. Sie ist ja wirklich toll, lichtdurchflutet, mit großzügigen Räumen, integrierter Küche, viel Glas und Wahnsinnsblick bis hin zum Kahlenberg; Larissa hat ein Schöner-Wohnen-Ambiente geschaffen, doch richtig wohlgefühlt hat er sich in dieser Möbelausstellung bisher nicht. Bis auf die Dachterrasse: Da Martin das Vorstadtgrün vermisst, hat er sich dort einen kleinen Garten geschaffen und sogar einen Miniterrassenteich angelegt. Sein kleines Reich, in dem Larissa mit ihrem schwarzen Daumen nichts zu schaffen hat.
Nachdem er dem Taxifahrer, der ihm Reisetasche, Blumen und das Sackerl mit dem Champagner zum Lift trug, den Fahrpreis samt saftigem Trinkgeld ausgehändigt hat, drückt Martin auf den Fahrstuhlknopf. Wartet. Und wartet. Er versucht es noch einmal. Nichts tut sich.
Erst dann sieht er auf dem Boden ein Papier, das offenbar heruntergefallen ist. »Lift am 24. Mai außer Betrieb.« Normalerweise kein Problem für ihn. Er geht ohnehin lieber zu Fuß die sieben Stockwerke hinauf, Stiegensteigen als Fitnesstraining. Aber jetzt? Mit seinem lädierten Fuß? Ist irgendwie wirklich nicht sein Tag, dieser 24. Mai. A Indianer kennt kan Schmerz, fällt ihm der blöde Spruch vom Vormittag ein, und jetzt findet er ihn beinah komisch.
***
Als er in der Wohnung ankommt, ist er verschwitzt und erledigt. Sein Fuß schmerzt. Und er fühlt sich fremd zu Hause. Wie immer ist die Wohnung makellos aufgeräumt, alles ist an seinem Platz. Larissa duldet nichts Störendes in ihrem Blickfeld. Im Kühlschrank finden sich Wein, Wasser, Obst und Joghurts sowie Diätprodukte. Er legt den Champagner ins Tiefkühlfach und geht erst einmal unter die Dusche. Das Auspacken der Reisetasche kann warten.
Kurze Zeit später fühlt er sich wie neu, der Dreitagebart ist perfekt gestutzt. In frischen Jeans und dunkelblauem Baumwollpullover ist er mit seiner Erscheinung halbwegs zufrieden. Er versucht ungeschickt, die Blumen in einer Vase zu arrangieren. Kurz denkt er dabei an das Hintergrundbild auf Tamaras Handy und überlegt, das Bett mit den Mohnblüten zu bestreuen. Doch den Gedanken verwirft er schnell wieder. In der jetzigen Phase seiner Ehe wäre das zu dick aufgetragen. Also bleibt es bei der Vase, die er gemeinsam mit zwei Champagnerschalen auf der Küchenbar platziert.
Als er den Roederer aus dem Tiefkühlfach nimmt, um zu prüfen, ob dieser schon kalt genug ist, läutet sein Handy. Der ganz ordinäre Klingelton, den seine Frau belächelt. Sie hat Mozart drauf.
»Hast du was von Larissa gehört? Sie sollte doch um sechs die Bilder holen. Der Czessy hat nur heute Zeit, ihr zu helfen. Ich kann sie nicht erreichen!« Martins Mutter kommt gleich zur Sache.
»Warum, welche Bilder?« Er hat keine Ahnung, wovon sie spricht.
»Na, seine Bilder natürlich. Ich hab heute sein Zimmer ausgeräumt. Schließlich übersiedle ich nächste Woche.«
Hat er vergessen. »Nimmst du die Bilder nicht mit?«
»Ich hab doch in der WG nur ein Zimmer, wo soll ich sie denn da unterbringen? Ich hab gedacht, dass du sie haben möchtest. Jedenfalls war das mit deiner Frau so besprochen.«
»Ich weiß nicht recht, Mama.« Der Gedanke an seinen Vater und dessen Bilder löst bei ihm immer noch widersprüchliche Gefühle aus. Sie scheint es zu spüren.
»Also, wenn du sie nicht willst, Martin, verkaufe ich sie auf eBay.«
Seit wann kennt Lotte eBay? »Ist das dein Ernst?«
»Ja, was soll ich sonst damit machen? Natürlich kriegt man für Kopien nicht so viel. Aber der Hartl – und der versteht was davon – meint, dass sie fast genial sind. Er hat mir geraten, sie ins Netz zu stellen. Oder möchtest du sie doch haben?«
Martin hört an ihrer Stimme, dass sie sein Zögern enerviert. »Er wird schon recht haben, der Hartl. Mir haben Vaters Bilder immer gut gefallen. Verzeihen kann ich ihm trotzdem nicht.«
Die letzte Bemerkung ihres Sohnes ignoriert Lotte Glück. »Falls Larissa nicht selbst kommen kann, könnte Czessy sie heute oder morgen auch noch zu euch liefern. Dann fährt er auf Urlaub nach Polen. Also kann ich nicht warten, bis du von deiner Kur zurück bist.«
Reha und Kur sind schwer zu vergleichen, doch Martin korrigiert sie nicht. »Ich bin schon wieder in Wien.«
»Wieso, ich denke, die Kur dauert vier Wochen?«
»Ohne mich. Ich hab mich heut auf Französisch verabschiedet und bin mit dem Pendlerzug heim.«
»Uii, das wird dich ganz schön kosten!«
»Was – kosten?«
»Na, die Kur. Wenn man sie abbricht, zahlt die Kasse keinen Groschen, dann muss man den ganzen Zinnober selber zahlen. Wusstest du das nicht?«
»Na geh, das gibt’s doch nicht.«
»Doch, Martin. Das hab ich mal gegoogelt, weil die Theres damals aus Hochegg abhauen wollte. Erinnerst du dich an die Theres?«
Das Schicksal von Theres interessiert Martin nicht mehr, als er hört, dass die Wohnungstür aufgesperrt wird.
»Mama, die Larissa kommt. Wir melden uns gleich noch einmal. Bussl!«
Er hat keine Zeit mehr, die Flasche wegzustellen, als Larissa das Wohnzimmer betritt. Atemlos und kichernd steht sie vor ihm. Um die Taille den Arm des zärtlich lachenden Mannes, den sie dabeihat. Er schmiegt gerade sein Gesicht in ihr Haar, als Larissa Martin sieht. Jetzt kichert sie nicht mehr, und alle drei erstarren gleichzeitig. Gefühlte Ewigkeiten verharren sie laut- und regungslos in ihren jeweiligen Positionen: die beiden nach wie vor umschlungen, Martin in der einen Hand das Telefon, in der anderen die Champagnerflasche.
Als Erster löst sich Gregor, Martins Vorgesetzter, aus der Starre. »Nein, nein, Martin! Versteh das jetzt nicht falsch. Das ist nicht, wonach es aussieht«, bedient er ein legendäres Klischee. Er lacht. »Wir wollten nur …«
Nichts ist, wonach es aussieht. Und alles. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt. Aber das ist er: ein Schuft. Ein verletzter, wütender, unkontrollierter Schuft. Ohne ein Wort zu sagen, schleudert Martin die Flasche auf den Schieferboden, macht einen unbeholfenen Satz auf seinen Chef, auf seinen Freund zu und rammt ihm die Faust mitten ins Gesicht.
Als der zu Boden geht, erwacht Larissa. Mit trotzigem Stolz wirft sie den Kopf zurück und streckt das Kinn vor, sodass ihr schlanker Hals noch länger wirkt. Von oben herab betrachtet sie ihren Mann und sagt leise: »Du bist so ein Trottel. Ich hab’s ja für dich getan.« Dann dreht sie sich auf dem Absatz um und verlässt das Zimmer.
Martin versetzt dem auf dem Fußboden liegenden Gregor noch einen eher symbolischen, sanften Tritt in die empfindlichste Körperstelle und hinkt aus der Wohnung.
***
Die Wunder-Bar ist Martin Glück in schlechter Erinnerung. Dort hat er sich die Verzweiflung über den Misserfolg einer Ermittlung mit Alkohol von der Seele gebechert und sich dann stockbetrunken von dieser Polizeireporterin trösten lassen. Dort hat Larissa ihn mit der Journalistin erwischt und den spontanen Entschluss zur Abtreibung gefasst. Und wiederum dort ertränkte er seinen Kummer über den Verlust eines ungeborenen Kindes, auf dessen angekündigte Existenz er nicht mit dem erwarteten Enthusiasmus reagiert hatte. Nichts schmerzt so sehr wie die Fehler, die man selber macht.
Jetzt sitzt er wieder in der Wunder-Bar, die eigentlich »Kummer-Bar« heißen müsste. Den vierten Whisky hat er schon intus und fühlt sich entsprechend diffus. Außerdem wird ihm langsam schlecht. Als Wein- und Biertrinker mag er im Grunde keine harten Sachen. Aber für Notsituationen ist Whisky einfach effizienter als Wein. Er versetzt einen rasch in die wattige Welt aus bodenlosem Selbstmitleid.
»Alle Achtung, find i echt leiwand, dass du dem Oasch zum Abschied noch in die Eier g’haut hast«, lallt ein ihm unbekannter Mann auf dem Nebenhocker.
Aha, der Whisky scheint zu wirken. Denn offenbar hat er bereits vergessen, dass er sich seinem Trinknachbarn anvertraut hat. Auch egal. Alles egal. Alles vergessen. Die Frau, die ihn betrügt, der Chef, den er für seinen Freund gehalten hat – alles, alles vergessen. Was sie wohl damit gemeint hat, sie hätte es für ihn getan? Ist jetzt zu anstrengend, darüber nachzudenken. Außerdem will er nie wieder über Larissa nachdenken. Nie wieder. »Noch einen«, ruft er dem Barkeeper zu. Noch ein Glas für den gehörnten Ehemann.
Der Mann hinterm Tresen, an Kummer gewöhnt, stellt ihm den Nachschub hin und findet, dass der Kieberer langsam aufhören sollte. Geschichten von untreuen Frauen gehören in der Bar zum Standardrepertoire. Die Weiber brauchen ihren Auslauf, so wie die Mannsbilder auch. Wo, bitteschön, ist da das Problem? »Geh z’Haus«, sagt er zu Martin und schiebt ihm die Rechnung hin.
Nach Hause gehen? Martin forscht in seinem umnebelten Hirn nach einem Zuhause, das diesen Namen verdient. Findet keins. Tut sich so elendig leid, beinah könnt er heulen. Als er zahlen will und in der Hosentasche nach Euroscheinen sucht, ertastet er dort drei Gummibären. Kindisch glücklich über diesen Fund streichelt er die Kleinen liebevoll, steckt zwei in den Mund und bietet seinem Nachbarn den dritten an.
Der stiert ihn verständnislos an und wendet sich dann angewidert ab.
***
Alles dreht sich. Daher macht er die Augen sofort wieder zu. Er hat erst einmal keine Ahnung, wo er sich befindet. Langsam versucht er es wieder und öffnet vorsichtig die Augen. Nach und nach erkennt er den Raum und das Bett, in dem er liegt. Das Bett ist keines, sondern ein Sofa, und der Raum ist sein Arbeitszimmer, in gleißendes Sonnenlicht getaucht, das sich unerträglich in seinen Kopf bohrt. Als er überlegt, wie er möglichst schmerzfrei ins Bad gelangen könnte, fällt ihm mit einem Schlag alles wieder ein. Jetzt ist ihm nicht nur schlecht, sondern auch zum Heulen zumute. Allerdings endet seine Erinnerung bei der Szene mit den Gummibären in der Bar. Er hat nicht die geringste Ahnung, ob er weitergetrunken hat und wie er nach Hause gekommen ist.
Unter Aufbietung all seiner Kräfte steht er auf und wankt ins Bad. In der Duschkabine lässt er eiskaltes Wasser aus dem riesigen Regenduschkopf auf sich herabbrausen. Etwas klarer im Kopf geht er ins Wohnzimmer und stolpert beinahe über Dutzende Gemälde, die hintereinander an die Wand gelehnt sind. Die Bilder seines Vaters! Ob der Mann von Mamas Bedienerin sie gestern noch gebracht hat?
Mit einem Mal tauchen Bilder der vielen Sommer in der Villa Romana am Wörthersee vor seinem inneren Auge auf. Schwimmen, Tauchen, Wasserski – am und im See hatte Martin sein Paradies gefunden. In späteren Jahren, als er in die Pubertät kam, dann auch die heimlichen Beobachtungen der schönen und aufregenden Romana, wenn sie mit wallenden roten Locken, mit leicht laszivem Lächeln und wiegenden Hüften im Bikini durch den Garten zum Wasser ging, um mit einem Jauchzen vom Steg in den See zu springen.
Nie wieder waren sie nach Vaters Verschwinden an den Wörthersee gefahren. Vielleicht wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, dorthin zu fliehen? Was soll er auch in Wien?
Als er am Esstisch vorbeigeht, entdeckt er dort eine Nachricht von Larissa. »Ruf Gregor an. Zu Hause. Er ist logischerweise im Krankenstand. Es geht um deinen Job.«
Das Wort »Krankenstand« befriedigt ihn auf gewisse Weise. Obwohl ihm klar ist, dass es sich hier um Körperverletzung handelt, tut ihm Gregor kein bisschen leid. Seinen Job als Kriminalbeamter würde er jedoch ungern verlieren. Weniger wegen des Geldes, nein, er mag seine Arbeit.
Warum wird jemand kriminell? Ist es die logische Folge unheilvoller Verkettungen, die bei Gewalt im Elternhaus beginnt und sich über Heimaufenthalte und schlechten Einfluss durch Gleichaltrige bis zur ersten Jugendstrafe fortsetzt? Oder werden manche Menschen schon mit krimineller Disposition geboren? Dieses Interesse an der menschlichen Psyche war ja auch der Grund für sein Psychologiestudium gewesen. Allerdings konnte er sich mit der extrem mathematisch betonten Seite dieses Fachs nie anfreunden. Die Hilfe eines Onkels mit guten Beziehungen zum damaligen Polizeipräsidenten kam dem Studienabbrecher Martin daher wie gerufen. Er wechselte, ohne lang nachzudenken, von der Uni zur Polizei.
Jetzt muss er sich vielleicht nach einer anderen Arbeit umsehen – möglicherweise nicht mit den besten Referenzen. Obwohl er sich zu neunzig Prozent im Recht fühlt, ist ihm der Anruf bei Gregor doch mehr als unangenehm. Vorerst braucht er jedenfalls noch einen starken Kaffee. Er verwendet gleich zwei Kapseln für einen doppelten Espresso und schaufelt jede Menge Zucker hinein. Stark, schwarz und süß, so liebt er seinen Kaffee.
Nachdem er ausgetrunken hat, geht er ins Arbeitszimmer – dieses Gespräch braucht irgendwie eine offizielle Umgebung – und wählt Gregors Privatnummer. Vorher schiebt er sich sicherheitshalber noch drei Gummibären in den Mund. Entschuldigen will er sich auf keinen Fall.
***
Eine Stunde später packt Martin Glück wieder einmal. Diesmal für Kärnten. In der Villa Romana hat er sich bereits telefonisch für den nächsten Tag angekündigt, und er freut sich richtig darauf. Auf den Wörthersee, auf Romana, die immer noch ihre Pension betreibt, und auch auf die Autofahrt. Endlich kann er wieder am Steuer seines alten VW-Käfer-Cabrios unterwegs sein, das ihn seit immerhin zwanzig Jahren durchs Leben rollt und in das er schon ein kleines Vermögen investiert hat. Dieses Auto ist mit keinem der heutigen Modelle vergleichbar.
Das Gespräch mit Gregor verlief überraschend glimpflich. Auf ein Disziplinarverfahren will sein Chef und Tennispartner verzichten, weil er die Sache selbst auch nicht an die große Glocke hängen möchte. Martin wird vorerst einmal aus »gesundheitlichen Gründen« für drei Monate beurlaubt.
»Die Trennung wird uns guttun«, meinte Larissa, als er sie am Telefon über seine Kärnten-Pläne informierte. Dann kam das Übliche: Er sei zu bequem, sich um eine Beförderung zu bemühen. Ebendiese habe sie an dem unglücklichen Abend ja mit Gregor besprechen wollen, aber Martin sei wieder einmal ohne Grund (!) ausgerastet. Außerdem sei es nie klug, überraschend nach Hause zu kommen. Jetzt solle er selber sehen, wie er in seinem Job und in seiner Ehe wieder Fuß fassen könne … wenn überhaupt …
Irgendwann hörte Martin nicht mehr zu und drückte dann ganz sanft den roten Knopf auf seinem Handy.
***
»Naa, so a Überraschung, der – Herr Glück muss i jetzt wohl sagen, oder bleiben wir bei Martin und Romana wie in alten Zeiten?«
»Natürlich bleiben wir dabei«, freut er sich über die herzliche Begrüßung.
»Ich hab dich gleich erkannt, Martin. Bist deinem Vater ja wie aus dem Gesicht geschnitten, ålle bade zwa so fesche Mannsbilda. Da könnt ja eine alte Frau wie ich noch schwach werden. Kennst du mich überhaupt noch nach der Ewigkeit? Hast dich ja lang nicht anschauen lassen bei uns am See!«
»Aber sicher, Romana! Hast dich gar nicht verändert«, lügt Martin, der einer um dreißig Jahre gealterten Version seiner Traumfrau gegenübersteht. Ihre Figur – früher ganz sein Ideal zwischen schlank und fraulich – hat sich in den drei Jahrzehnten ein bisserl in Richtung Rundungen verschoben. Das hindert sie nicht daran, ein enges Kleid mit tiefem Dekolleté zu tragen – typisch Romana, die Selbstsicherheit in Person. Die früher naturroten Haare sind inzwischen in einem zu grellen Orangerot gefärbt, und das herzförmige Gesicht ist übersät mit kleinen, feinen Falten. Geblieben sind das freche, charmante Lächeln und die abgründigen grünen Augen. Alles in allem strahlt die Romana der Jetztzeit immer noch eine gewisse Attraktivität aus.
Auch die nach wie vor schöne Villa aus den Dreißigerjahren in der typischen »Wörtherseearchitektur« mit Türmchen, gelber Fassade, teilweiser Holzverkleidung und grünen Fensterläden, umgeben von einem herrlichen Park, der bis zum See reicht, hat schon bessere Zeiten gesehen. Die vor dreißig Jahren etwa. Doch trotz des leicht heruntergekommenen Zustands hat sie ihren Charme bewahrt. Wie Romana. Und Martin ahnt, dass er sich in den kommenden drei Monaten hier sehr wohlfühlen wird.
Als er sein Zimmer betritt, führt sein erster Weg auf die kleine Terrasse. Der Blick auf den klaren, jetzt im Mai noch blauen See, in dem sich im Vorabendlicht die Karawanken spiegeln, ist sogar noch wunderbarer, als er ihn in Erinnerung hat. Er atmet tief durch und fühlt sich so frei und gut wie schon lange nicht mehr. Martin Glück ist in sein persönliches Paradies heimgekehrt.
Doch da dringen auf einmal Klänge in sein Paradies, die nichts Sphärisches haben: Volksmusik! Hat Romana in den letzten Jahrzehnten etwa eine Vorliebe für heimatverbundene Liebhaber entwickelt? Er erinnert sich, dass ihr Musikgeschmack stets dem aktuellen Mann in ihrem Leben angepasst war: von deutschen Schlagern über französische Chansons bis hin zu Verdi-Opern. Ein Polka- und Landlerfan war nie dabei gewesen.
Er beschließt, der Volksmusik zu entfliehen und in das seidige Wörtherseewasser einzutauchen.
Kapitel 3: Die Folter der Mittwochabendessen
Wenn er die Augen schließt, sieht er das Bild vor sich: das Kind im Wasser, die Mutter im Schatten des Sonnenschirms, immer wachsam, weil sie dem See nicht traut. Der Vater vor seiner Staffelei, der Wirklichkeit entrückt und ganz in seine Kunst vertieft. Auftritt Romana Petuschnigg im giftgrünen Bikini, und alle Gäste – bis auf seinen Vater – gaffen ihr nach, bis sie im Wasser untertaucht. Sorglose Sonnentage. Aber auch daran erinnert sich Martin: die Streitereien zwischen den Eltern, die in Kärnten noch heftiger waren als in Wien. Lotte, die sich darüber aufregte, dass August entweder arbeite oder male. Für Frau und Kind habe er nie Zeit, das war ihr ewiger Vorwurf, dem sein Vater nichts entgegenzusetzen hatte. Bloß ein Achselzucken.
Martin weiß noch genau, dass sein Vater am glücklichsten war, wenn er den Pinsel in der Hand hatte. Manchmal durfte er sich zu ihm setzen, aber nicht reden, nur schauen. Er fand die Bilder wunderschön und verstand nicht, warum seine Mutter sich deshalb immer wieder aufpudelte. Es war ja nicht so, dass sein Vater ausschließlich malte. Er hat ihm am Wörthersee das Schwimmen beigebracht und auch das Tischtennisspielen. Er sprach mit ihm viel über Kunst, alle anderen Themen interessierten ihn nicht.
Romana bringt Martin ein Glas Weißwein und eine Flasche Wasser auf die große Terrasse. Er öffnet die Augen und blinzelt in die letzten Sonnenstrahlen. »Ich war in der Vergangenheit unterwegs«, sagt er, und sie schenkt ihm ihr immer noch verführerisches Lächeln: »Ihr wart meine Lieblingsgäste.«
»Das hast du doch zu allen gesagt.«
»Nona, es håt immer g’stimmt.«
»Willst dich nicht zu mir setzen und ein Glas Wein mit mir trinken? Die Sonne geht gleich unter.«
»Würd ich gern, aber ich muss zurück in die Küche. Das Mittwochabendessen, und heut kommen wieder ein paar Leut von außerhalb.«
»Was für ein …?«
Romana entschwindet, bevor er den Satz vollenden kann. An der Tür ruft sie noch: »Du kommst natürlich auch. Um acht im Esszimmer, für draußen ist es noch zu kühl.«
Nicht wenn sie auf der Terrasse Heizstrahler aufstellen würde, denkt Martin. Aber wahrscheinlich muss sie sparen. Die Villa kommt schon sehr altersschwach daher, die Farbe blättert, und die Fensterrahmen müssten erneuert werden. Das Haus, so schön es ist, muss eine Geldvernichtungsmaschine sein. Doch selbst wenn sie ein Vermögen mit dem Verkauf des Grundstücks verdienen könnte – Martin ist sicher, dass Romana sich niemals von der Villa trennen würde.
Soviel er weiß, hat sie keine Kinder und keinen Mann, auch wenn ihr zahllose Affären nachgesagt wurden. Einer davon soll Hugo Flock gewesen sein, der reichste Mann am Wörthersee – und das heißt schon was bei all den Multimillionären, die hier Riesenseegrundstücke besitzen. Flock soll ihr diese Villa zwischen Velden und Pörtschach geschenkt haben, doch nix Genaues weiß man nicht, weil Romana ihre Affären sehr diskret handhabte. Bei aller Liebenswürdigkeit und dem speziellen kärntnerischen Charme war sie doch immer auch sehr geheimnisvoll, die Romana.
Seine Mutter nannte sie eine »Femme fatale« – mit Betonung auf »fatale«. Die Frauen mochten sie weniger. Romanas Mutter, die früher in der Pension kochte, ist inzwischen verstorben. Also steht Romana jetzt selbst am Herd, und Martin hofft, dass sie das Talent der Mama geerbt hat.
Der junge Mann, der die Terrasse betritt und sich ihm als Alex Bergmann vorstellt, macht einen Glück-Witz, den Martin nicht komisch findet. Der Typ redet und redet, während Martin auf den See schaut, in dem die Sonne gerade dramatisch versinkt.
»Ist schon ein Paradies hier.« Alex schlürft Bier aus der Flasche. Verspiegelte Sonnenbrille, sehr blonde, kurze Haare, durchtrainierter Körper, eine Goldkette um den Hals.
Er sieht aus wie ein Fotomodel, denkt Martin. Er hofft inständig, dass Alex nicht Romanas Liebhaber ist. Zutrauen würde er es ihr schon. »Und was machen Sie so in der Villa Romana?«
Alex Bergmann lächelt zutraulich. »Ich bin hier quasi Dauergast. In dem alten Haus geht ständig was kaputt, und das meiste kann ich reparieren. Dafür muss ich keine Miete zahlen.«
Martin beneidet Männer, die im Umgang mit Werkzeug geschickt sind. Er selbst hat zwei linke Hände, nur als Gärtner ist er eine Koryphäe, vielleicht kann er Romana da zur Hand gehen. Im Gegenzug für den Spezialpreis, den sie ihm macht für drei Monate Logis. Noch ist die Villa fast leer, doch im Juli und August sind die neun Zimmer ausgebucht. Und sie hat ihm eines ihrer schönsten gegeben, vielleicht ist er ja doch ihr Lieblingsgast und nicht dieser blonde Stenz.
»Soll ich uns noch was zu trinken holen?«, fragt Alex. »Die Mittwochabendessen sind nüchtern nur schwer auszuhalten. Aber sagen Sie bloß nix zu Romana. Sie hält sich nämlich für eine große Künstlerin am Herd.«
So schlimm wird’s ja wohl nicht werden, denkt Martin. »Und sie kocht jeden Abend?«