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Olivia ist bereit für ein neues Leben. Nachdem sie privat eine schwere Zeit durchgemacht hat, kommt ihr eine Kreuzfahrt mit ihren Freundinnen gerade recht. Doch sie war nicht darauf vorbereitet, gleich beim Eröffnungsdinner auf Alexander zu treffen - Küchenchef auf dem Luxusdampfer und ihre heimliche Jugendliebe.
Je länger die Reise dauert, desto näher kommen die beiden sich, und alte Gefühle flammen wieder auf. Ganz offensichtlich empfindet auch Alex etwas für Olivia. Trotzdem haben beide Angst, sich darauf einzulassen. Doch zum Glück sind da ja noch Olivias Freundinnen, die dem Liebesglück kurzerhand auf die Sprünge helfen. Denn manchmal braucht es nur einen kleinen Schubs für das perfekte Happy End - oder?
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Seitenzahl: 277
Cover
Weitere Titel der Autorin
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Ein Jahr später
Mein kleiner Apfelhof zum Glück
Winterglück auf dem kleinen Apfelhof
Olivia ist bereit für ein neues Leben. Nachdem sie privat eine schwere Zeit durchgemacht hat, kommt ihr eine Kreuzfahrt mit ihren Freundinnen gerade recht. Doch sie war nicht darauf vorbereitet, gleich beim Eröffnungsdinner auf Alexander zu treffen – Küchenchef auf dem Luxusdampfer und ihre heimliche Jugendliebe.
Je länger die Reise dauert, desto näher kommen die beiden sich, und alte Gefühle flammen wieder auf. Ganz offensichtlich empfindet auch Alex etwas für Olivia. Trotzdem haben beide Angst, sich darauf einzulassen. Doch zum Glück sind da ja noch Olivias Freundinnen, die dem Liebesglück kurzerhand auf die Sprünge helfen. Denn manchmal braucht es nur einen kleinen Schubs für das perfekte Happy End – oder?
Sonja Flieder wurde 1974 in Stuttgart geboren. Seit sie lesen konnte, lässt sie die Faszination für Sprache und menschliche Beziehungen nicht mehr los. Deshalb wusste sie auch schon bald, dass sie Autorin werden wollte. Bereits mit siebzehn schrieb sie einige Kurzgeschichten und verfasste ihren ersten Roman. Nachdem sie durch Studium, Job und Familienplanung das Schreiben etwas aus den Augen verloren hatte, erfindet sie jetzt seit sechs Jahren fast täglich neue Geschichten. Sie lebt mit ihrem neunjährigen Sohn und drei Wellensittichen in einem alten Bauernhaus in der Nähe von Köln.
Sonja Flieder
Glück an Bord
Ein Kreuzfahrt-Liebesroman
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause
Covergestaltung: © Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © StudioBarcelona / gettyimages, © MarkSwallow / istock, © LeeYiuTung / gettyimages, © gldburger / istock, © photo-lime / istock, © Olena Liva / gettyimages, © Gabriele Maltinti / gettyimages, © winlyrung / gettyimages
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplus.de)
ISBN 978-3-7517-0453-3
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Für Aidan.
»Wo Nina nur bleibt?« Ungeduldig blickte Chiara auf ihre Armbanduhr.
»Du weißt doch, wie gern sie zu spät kommt.« Olivia zwinkerte ihr zu.
»Ja, das ist echt mal wieder typisch«, sagte Rike und seufzte.
Mit einer raschen Geste strich Chiara ihre schwarze Lockenmähne zurück, von der ihr wieder einmal unzählige Strähnen ins Gesicht gefallen waren. »Ich dachte, sie schafft es wenigstens heute mal pünktlich. Wenn sie wegen ihrer Schussligkeit die Kreuzfahrt verpasst, wird sie sich das doch nie verzeihen.«
»Ich rufe sie an.« Olivia zog ihr Smartphone aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und scrollte zu Ninas Nummer. Nach dem Wählen drückte sie auf die Lautsprecherfunktion, damit ihre Freundinnen mithören konnten.
Es tutete mehrmals. »Hallihallo«, drang es durch den Hörer.
»Hi, Nina, hier ist Olivia. Wo bist du denn?«, fragte Olivia und drehte eine Strähne ihres hellbraunen langen Haares um den Zeigefinger ihrer freien Hand.
»Ha ha, reingefallen!« Nina kicherte. »Leider bin ich gar nicht dran, sondern nur die Mailbox. Hinterlasst gerne eine Nachricht. Vielleicht rufe ich ja sogar zurück.«
Halb amüsiert, halb genervt verdrehte Olivia die Augen. »Beweg deinen Hintern schnellstens hierher«, sagte sie, nachdem der Piepton erklungen war. »Hast du verpennt, oder was ist los?«
Fünfzehn Minuten später hatte sich Nina immer noch nicht zurückgemeldet. Leise Besorgnis machte sich in Olivia breit. Chaos lautete zwar Ninas zweiter Vorname, doch sie freute sich genau wie ihre drei Freundinnen seit Wochen auf die Kreuzfahrt. Gestern Abend hatte sie in der WhatsApp-Gruppe sogar geschrieben, dass fünf Wecker sicherlich ein Verschlafen verhindern würden.
»Dass sie nicht zurückruft, sieht ihr aber gar nicht ähnlich«, sagte Rike, die sichtlich nervös wurde und von einem Bein auf andere trat.
Die drei Freundinnen standen in der Nähe des Check-in-Schalters. Ihr Gepäck hatte ein freundlicher Mitarbeiter bereits in Empfang genommen. Später würden sie es in ihren Kabinen wiederfinden. Den Check-in selbst wollten sie allerdings nicht ohne Nina machen. Ihr war zuzutrauen, dass sie stur vor dem Schalter auf die anderen wartete und somit die Reise nicht antrat.
In etwas über einer Stunde lief der Luxusliner aus dem Kieler Hafen aus. Wenn sie die Kreuzfahrt, die über das Mittelmeer bis nach Asien führte, nicht verpassen wollten, mussten sie langsam, aber sicher an Bord gehen.
Eine nicht enden wollende Menge Menschen strömte an ihnen vorbei. Wie Olivia wusste, passten über zweitausend Passagiere auf die Lady of the sea, die Mitarbeiter nicht mitgezählt. Auf Bildern im Internet hatte sie gesehen, dass der Luxusliner wie eine kleine Stadt aufgebaut war.
In immer kürzeren Abständen blickte Chiara unter gemurmelten italienischen Flüchen auf ihre Armbanduhr. »Dannato! Verdammt! Ich klingle noch mal durch«, sagte sie.
Doch auch Chiaras Anruf blieb unbeantwortet. Langsam machte sich Olivia ernsthafte Sorgen, dass ihrer Freundin etwas zugestoßen sein könnte. Nervös begann sie, an einem Fingernagel herumzuknabbern. Vielleicht hatte Nina ihr Handy ja nur versehentlich in die Toilette fallen lassen und versuchte gerade, das Gerät trocken zu föhnen. Es wäre nicht das erste Mal.
»Wir müssen langsam echt einchecken, wenn wir die Abfahrt nicht verpassen wollen.« Rike zupfte am Bund ihrer gebatikten lilafarbenen Pluderhose herum.
Auf ihre Worte erntete sie ein zustimmendes Nicken Chiaras. »Ich hätte nie gedacht, dass die Schusseltante es sogar schafft, eine Traumkreuzfahrt zu verpassen.«
Zweifelnd verzog Olivia das Gesicht. »Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Wir müssen uns vergewissern, dass es Nina gutgeht.«
»Ruf deinen Bruder an«, sagte Chiara in energischem Ton. »Er kann die undankbare Aufgabe übernehmen, ihr stundenlang hinterherzutelefonieren. Sie ist schließlich seine Freundin. Wir müssen jetzt echt an Bord.«
Sehnsüchtig schaute Rike auf den Luxusliner an der Anlegestelle, dessen riesige Ausmaße kaum zu überblicken waren. »Das können wir nicht bringen. Was, wenn Nina wirklich etwas zugestoßen ist?«
Chiara zog die Stirn kraus und winkte ab. »Das glaubst du doch selbst nicht. Sie kommt jedes Mal zu spät. Man könnte fast sagen, es ist ihr Markenzeichen. Vielleicht lernt sie ja jetzt mal, pünktlicher zu sein.«
»Ich rufe Philipp an.« Mit einer entschlossenen Geste zückte Olivia erneut ihr Smartphone. »Es könnte ja sein, dass er sogar weiß, wo sie abgeblieben ist.«
»Hoffentlich«, sagte Rike trocken.
Bevor Olivia dazu kam, seine Nummer zu wählen, klingelte ihr Handy, was sie erschrocken zusammenzucken ließ. Als sie sah, wer anrief, stieß sie einen erfreuten Laut aus und grinste breit. »Es ist Nina!«
Bereits nach den ersten Worten ihrer Freundin gefror Olivia das Lächeln im Gesicht. Sie bemerkte, dass Rike und Chiara sie besorgt musterten. Die temperamentvolle Chiara setzte an, etwas zu sagen, doch Olivia hob einen Zeigefinger. Sie hatte so schon genug Schwierigkeiten, den hervorsprudelnden Worten am anderen Ende der Leitung zu folgen. Im Verlauf des Gesprächs, der größtenteils aus einem Monolog Ninas bestand, wurde ihre Miene immer besorgter.
»Hast du starke Schmerzen?«, fragte Olivia, als sie endlich einmal zu Wort kam.
»Jetzt sag schon, was los ist!«, platzte es aus Chiara heraus.
Olivia warf ihr einen Blick zu und erkannte an den blitzenden Augen ihrer Freundin deren Wunsch, sie ordentlich zu schütteln. Jetzt erkannte sie auch, wieso: Sie hatte vergessen, den Lautsprecher einzuschalten. »Warte mal kurz«, sagte sie zu Nina. »Ich stell dich eben auf laut.«
»Die werden mich erst mal im Krankenhaus behalten.« Obwohl Ninas Stimme verzerrt durch den Lautsprecher drang, hörte Olivia deutlich, wie bedrückt sie sich anhörte.
Erschrocken riss Rike die Augen auf. »Du bist im Krankenhaus?! Was ist passiert?«
»Ich habe mir das Bein gebrochen. Genaueres soll euch Livvie erzählen«, sagte Nina, gefolgt von einem lauten Seufzer. »Fakt ist jedenfalls, dass ich nicht an der Kreuzfahrt teilnehmen kann.«
Eine heftige Diskussion entbrannte unter den Freundinnen. Da Olivia, Rike und Chiara nun wussten, dass Nina unverschuldet dem Check-in ferngeblieben war, bestanden sie darauf, die Kreuzfahrt abzusagen. Ohne ihre Freundin konnten sie doch auf keinen Fall die Reise machen, auf die sie sich alle so sehr gefreut hatten.
Aber Nina widersprach vehement. »Ihr werdet auf jeden Fall fahren«, sagte sie in einem Ton, der keine Widerrede duldete. »Es kann nicht angehen, dass ihr wegen meiner Schusseligkeit auf die Reise verzichten müsst. Ihr geht jetzt schön brav an Bord und genießt die Zeit. Aber schickt mir zwischendurch ein paar Fotos. Wir können ja auch ab und an telefonieren.«
Obwohl ihre Freundinnen versuchten, sie zu überzeugen, blieb Nina standhaft. »Unsinn, ich komme zurecht. Philipp wird sich um mich kümmern.«
Wenn das mal gutgeht, dachte Olivia. Ihr Bruder war genauso ein Chaot wie Nina. Nicht nur deswegen passten die beiden zwar hervorragend zusammen, doch Katastrophen blieben nicht aus.
Wenn sie allein an die Sache mit der Küche dachte ... Sowohl Nina als auch Philipp hatten vergessen, dass sie gerade zwei Steaks brieten, und es sich im Garten gemütlich gemacht. Erst als dichte Rauchschwaden durch das schräg geöffnete Küchenfenster drangen, war es ihnen aufgefallen.
Nachdem Olivia das Telefonat beendet hatte, wandte sich Rike mit besorgter Miene an sie. »Was ist denn jetzt genau passiert?«
Mahnend tippte Chiara auf ihre Armbanduhr. »Lasst uns erst mal einchecken. Sonst verpassen wir die Abfahrt wirklich noch. Und mein Plan zumindest sieht nicht vor, dass nur mein Gepäck eine Kreuzfahrt macht.«
Die drei Freundinnen betraten die Abfertigungshalle und reihten sich in die Schlange vor der Sicherheitskontrolle ein. Neugierig betrachtete Olivia ihre künftigen Mitreisenden. Vielleicht machte sie ja ein paar nette Bekanntschaften.
Wie es für Olivia aussah, ging eine bunte Mischung an Passagieren auf Reisen. Direkt vor ihr stand ein teuer gekleidetes Pärchen, das sich im Flüsterton unterhielt. Als die Frau sich umdrehte, erkannte Olivia an der unnatürlich perfekten Nase und den aufgespritzten Lippen, dass sie gut Freund mit ihrem Schönheitschirurgen sein musste.
Etwas weiter vorne in der Schlange sah Olivia eine vierköpfige Familie. Der mit einem bunten Hawaiihemd bekleidete Vater sprach in beruhigendem Ton auf seine Sprösslinge ein, die aufgeregt umherhüpften.
Bei dem Anblick zog sich Olivias Magen zusammen. Die seit zwei Jahren altbekannte Traurigkeit stieg in ihr auf. Sicher hätten ihr Mann Hannes und sie nun auch ein eigenes Kind gehabt.
Fest kniff sie die Augen zusammen, um sowohl die aufsteigenden Tränen als auch die Erinnerung zurückzudrängen. Sie war nicht hier, um Trübsal zu blasen. Ganz im Gegenteil hatten ihre Freundinnen sie zu dieser Reise überredet, damit sie auf andere Gedanken kam. Und auch Olivia selbst wusste, dass es endlich Zeit für einen Neustart war. Sie konnte sich schließlich nicht ewig verkriechen. Diese Reise würde es sein: der Beginn eines neuen Lebens – hoffentlich.
Nach etwa einer Viertelstunde waren sie an der Reihe. Als die Formalitäten erledigt waren, traten die Freundinnen auf den Pier. Am Fuß der breiten Gangway, die auf den riesigen Luxusliner führte, blieben sie stehen. Staunend betrachteten sie das riesige Schiff, das für die nächsten fünf Wochen ihr Zuhause sein würde.
»Dass es so riesig ist, hätte ich nicht gedacht«, flüsterte Chiara mit ehrfurchtsvoller Stimme. »Man kann ja gar nicht bis zum Ende blicken.«
Rike lachte. »Am Anfang werden wir uns sicher ständig verlaufen.«
»Hoffentlich finden wir überhaupt unsere Kabinen«, sagte Olivia und zog zweifelnd die Stirn kraus.
Ihre Sorge war unbegründet. Eine freundlich lächelnde Hostess in blau-weißer Uniform erwartete sie an Bord des Schiffes. Nach einer herzlichen Begrüßung brachte sie die Freundinnen zu ihren Kabinen, wo sie ihnen mehrere Informationsbroschüren in die Hand drückte.
»Wenn Sie möchten, können Sie in zwei Stunden an einer Einführungstour durch das Schiff teilnehmen«, sagte die Hostess und lächelte. »Es ist natürlich kein Muss. Alles hier ist so perfekt wie möglich ausgeschildert, damit Sie sich gut zurechtfinden.«
Olivia lächelte zurück. »Danke für die Information. Wir überlegen es uns.«
»Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an einen unserer Mitarbeiter, die Ihnen sehr gerne weiterhelfen.«
Die Freundinnen bedankten sich, und die Hostess eilte davon. Unschlüssig blickten sich die drei an. Keine machte Anstalten, eine der beiden nebeneinanderliegenden Doppelkabinen zu betreten.
»Wer bekommt jetzt die unfreiwillige Einzelkabine?«, fragte Rike und sprach damit aus, was alle dachten.
»Hm«, machte Olivia und tippte sich mit dem linken Zeigefinger an die Nasenspitze. »Ich würde sagen, Chiara. Sie hat die Reise schließlich von ihren Eltern geschenkt bekommen.«
»Für die zweite Doppelkabine haben wir aber alle bezahlt«, gab Chiara zu bedenken. »Es konnte ja keiner ahnen, dass Lars mich betrügen und ich die Reise nun mit euch anstatt mit ihm machen würde.« Ihre Augen funkelten wütend. »Wenn ich nur an diesen Stronzo denke, könnte ich schon wieder ...«
Rike legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie kurz an sich. »Nicht aufregen, Süße. Wir sind hier, um Spaß zu haben, vergiss das nicht.«
Um sich zu beruhigen, atmete Chiara tief durch. »Du hast recht«, sagte sie und nickte.
»Damit hätten wir aber immer noch nicht geklärt, wer die Einzelkabine bekommt.« Mit verschränkten Armen lehnte sich Olivia gegen die Wand.
Die drei einigten sich nach kurzer Diskussion darauf, dass es so bleiben würde wie geplant. Somit bezog Chiara die Einzelkabine, die sie sich eigentlich mit Nina geteilt hätte. Wenn alle ausgepackt hatten, wollten sie sich wieder treffen, um den Luxusliner zu erkunden.
Bevor sich Olivia daranmachte, ihre Habseligkeiten in ihrem Schrank zu verstauen, trat sie ans Fenster und blickte hinaus. Die Skyline des riesigen Hafens beeindruckte sie. In der Ferne sah sie zwei Containerschiffe, die gerade entladen wurden. Tief unter ihr schwappten Wellen sanft hin und her. Draußen auf dem Meer herrschte sicher ein ganz anderer Seegang. Auf hohe Wellen und den unendlichen Horizont freute sie sich ganz besonders.
»Hoffentlich werde ich nicht seekrank«, murmelte sie vor sich hin.
»Was hast du gesagt?«, fragte Rike, die mit dem Oberkörper in ihrem Schrank steckte, um irgendetwas hineinzuräumen.
»Nichts.« Olivia riss sich vom Fenster los und tat es ihrer Freundin gleich.
Nach kurzer Zeit stellten die beiden zufrieden ihre Koffer unten in ihre Schränke und ließen sich danach auf ihre Betten fallen. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen blickte sich Olivia in der Kabine um.
Der Teppich war in einem freundlichen Hellblau gehalten, der farblich zu den Bettbezügen und dem Vorhang passte. Alle Möbel bestanden aus einem dunkelbraunen, interessant gemaserten Holz.
Obwohl die Kabine recht schmal war, bot sie dennoch genug Platz für einen kleinen Tisch und zwei Stühle. Die beiden Betten standen an der jeweils gegenüberliegenden Wand. Zwei kleine Nachttischchen vervollständigten die Einrichtung.
Olivia öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als es an der Tür klopfte. Nach einem fröhlichen »Herein« von Rike betrat Chiara das Zimmer.
»Wie ich sehe, seid ihr auch fertig«, sagte sie und grinste.
Mit gewohnter Energie sprang Rike vom Bett auf. Unternehmungslustig rieb sie sich die Hände. »Kommt, lasst uns das Schiff unsicher machen.«
»Aber erst, wenn Olivia uns erzählt hat, was Nina genau passiert ist.« Mit einem inbrünstigen Seufzer ließ sich Chiara auf einen der Stühle fallen.
»Natürlich!« Kurz schlug sich Rike beide Hände vor den Mund. »Das habe ich total vergessen. Ich bin eine ganz schreckliche Freundin!«
»Ach was«, sagte Olivia und winkte ab. »Du bist einfach nur aufgeregt, das ist alles.«
»Genau.« Chiara nickte zustimmend. »Und wir wissen alle, wie du dann bist.«
»Ihr seid lieb.« Nach einem dankbaren Blick auf ihre Freundinnen nahm Rike auf dem zweiten Stuhl Platz.
»Dass sie sich ein Bein gebrochen hat, wisst ihr ja schon. Das linke, um genau zu sein.« Mitleidig verzog Olivia das Gesicht. »Sicher tut das ganz schön weh.«
Chiara sah sie fragend an. »Aber wie hat sie das denn geschafft?«
Olivia zuckte mit den Schultern. »Es ist mal wieder typisch Nina. Sie hat sich heute Morgen im Kabel ihres Föns verheddert und ist unglücklich gefallen.«
Bei ihren Worten begann Rike haltlos zu kichern. »Tut mir leid«, brachte sie hervor. »Ich weiß, dass es eigentlich nicht lustig ist. Aber das ist wirklich typisch Nina.«
Auch Chiara grinste. »So etwas kann wirklich nur Nina passieren.«
»Ja, wahrscheinlich würde sie auch selbst drüber lachen, wenn das Ganze nicht so wahnsinnig schade wäre«, sagte Olivia und blickte ihre Freundinnen an. »Immerhin fällt die Kreuzfahrt für sie buchstäblich ins Wasser. Ihr wisst, wie sehr sie sich darauf gefreut hat.«
Abrupt hörte Rike auf zu kichern. »Du hast natürlich recht.« Sie blickte reichlich zerknirscht drein. »Ich sollte mich nicht darüber lustig machen. Es tut mir natürlich leid, was ihr passiert ist.«
»Mach dir keine Gedanken«, sagte Chiara. »Ich musste ja auch grinsen.«
Olivia zwinkerte den beiden zu. »Irgendwann lachen wir sicher alle gemeinsam darüber. Spätestens dann, wenn Nina uns die ganze Geschichte wild gestikulierend und augenverdrehend erzählt.«
»Wir müssen uns unbedingt etwas überlegen, was sie ein bisschen entschädigt«, sagte Rike.
»Da fällt uns sicher etwas ein.« Mit Schwung richtete sich Olivia auf. »Jetzt lasst uns aber endlich losziehen. Nina würde bestimmt nicht wollen, dass wir hier herumsitzen und wegen ihr Trübsal blasen.«
Arm in Arm schlenderten die Freundinnen kurz darauf über das riesige Außendeck. Da sie das Auslaufen des Luxusliners keinesfalls verpassen wollten, traten sie an die Reling und stützten die Unterarme auf das Geländer. Da es bis auf eine Querstange in Ellbogenhöhe komplett verglast war, kam sich Olivia beinahe vor, als würde sie auf dem Wasser stehen.
Als die dumpf dröhnende Schiffshupe ertönte, zuckte Olivia zusammen. Sie überkam ein ungeahntes Hochgefühl. Jetzt ging es also los! Ein leichter Ruck ging durch das 200 Meter lange Schiff. Fast unmerklich setzte es sich in Bewegung. Gebannt beobachtete Olivia, wie sie langsam aus dem Hafen fuhren, während die Schiffshupe noch mehrmals dröhnte. Auf in ein neues Leben. Ein Kribbeln machte sich in Olivia breit, und sie hielt lächelnd ihr Gesicht in den Wind.
»Sollen wir an der Einführungstour teilnehmen?«, fragte Chiara und unterbrach damit das einvernehmliche Schweigen.
»Hm«, machte Rike. »Ich bin dafür, dass wir es erst mal alleine versuchen. Das Außendeck haben wir ja auch gefunden.« Sie zwinkerte ihren Freundinnen zu.
»Okay.« Olivia nickte zustimmend. »Die Beschilderung ist wirklich klasse. Vor allem die Straßenschilder gefallen mir richtig gut.«
»Und die Beschriftung in den Aufzügen«, sagte Chiara und grinste. »Für die ganz Doofen haben sie sogar kleine Bildchen daneben angebracht.«
Die drei Freundinnen wandten sich von der Reling ab, um Außendeck sieben eingehend zu erkunden. Sie schlenderten vorbei an Liegestühlen und Strandkörben, die direkt vor dem verglasten Geländer standen. Vereinzelte Mitreisende hatten es sich bereits darin gemütlich gemacht. Sicher waren sie versierte Kreuzfahrer, die nicht mehr auf Erkundungstour gehen mussten.
Olivia freute sich schon sehr darauf, es ihnen gleichzutun. Es war bestimmt ein atemberaubendes Gefühl, direkt auf das offene Meer zu blicken.
Je weiter sie aufs offene Meer hinausfuhren, desto stärker blies ihnen der frische Wind um die Ohren. Damit ihr die langen Haare nicht ständig ins Gesicht wehten, flocht Olivia sich einen Zopf.
»Hast du noch ein Haargummi für mich?«, fragte Chiara, die mit beiden Händen darum kämpfte, ihre Lockenmähne im Zaum zu halten. Selbst unter windstillen Bedingungen war es nicht leicht, sie zu bändigen.
Bedauernd schüttelte Olivia den Kopf. »Leider nicht.«
Mit triumphierender Miene wuschelte sich Rike durch ihren kurzen knallroten Haarschopf. »Das Problem habe ich nicht«, sagte sie und streckte ihren Freundinnen die Zunge heraus.
»Sei nicht so frech.« Chiara drohte ihr spielerisch mit dem Finger. »Sonst landest du schneller komplett angezogen im Pool auf dem Oberdeck, als du Piep sagen kannst.«
Alle drei lachten. Da ihr geflochtener Zopf auch ohne Haargummi einigermaßen halten würde, zog Olivia es heraus und gab es ihrer Freundin. Mit einem dankbaren Lächeln nahm sie es an. Nach ein paar erfolglosen Versuchen schaffte es Chiara, sich einen Pferdeschwanz zu binden.
Zufrieden gingen sie weiter. Sie kamen an einem Restaurant vorbei. Auf der breiten Reling standen mehrere Tische und Stühle.
»Super, man kann auch draußen essen.« Chiara klang begeistert.
»In der frischen Seeluft schmeckt es bestimmt gleich doppelt so gut.« Am liebsten hätte sich Olivia direkt hingesetzt, um es auszuprobieren.
»Solange keine Möwe kommt und dir die Mahlzeit wegschnappt«, sagte Rike in trockenem Ton.
Die Freundinnen setzten ihren Weg fort. Kurz darauf gelangten sie in einen kleinen Garten, der mit bunten Blumen bepflanzt war. Als sie um eine Biegung traten, stellten sie amüsiert fest, dass es auch einen Bereich mit Fitnessgeräten gab.
»Wie können die es wagen! Wir sind hier im Urlaub«, sagte Rike in gespielter Empörung.
Olivia zuckte mit den Schultern. »Manche brauchen das eben auch im Urlaub.«
»Mir jedenfalls würde es im Traum nicht einfallen, mich hier abzuquälen.« Beinahe angeekelt schüttelte sich Chiara, die auch im Alltag dafür bekannt war, jegliche sportliche Betätigung tunlichst zu vermeiden.
»Lasst uns mal reingehen und schauen, was es sonst noch alles gibt.« Neugierig spähte Rike durch eine offene Tür ins Innere des Schiffes.
Auf ihrem Rundgang durch die beiden Innendecks mit den öffentlichen Bereichen kam Olivia aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Bilder, die sie sich vor der Reise im Internet angesehen hatte, trogen nicht: So ein Kreuzfahrtschiff war wie eine richtige kleine Stadt auf dem Meer. Es gab neben diversen Restaurants eine Shopping Mall, ein Kino, einen Park und vieles mehr.
Das Oberdeck übertraf ebenfalls all ihre Erwartungen. Am besten gefiel ihr der riesige Wasserpark. Sie musste lachen, als Chiara unvermittelt Rike um die Hüften packte und so tat, als wollte sie sie ins Wasser werfen. Quiekend machte sich Rike los und schlug spielerisch nach ihr.
»Sollen wir uns mal langsam auf den Weg ins Restaurant machen?«, fragte Chiara nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich habe einen Bärenhunger.«
Die Antwort gab ihr Rikes Magen, der leise knurrte, was alle zum Lachen brachte. Auch Olivia fand die Idee großartig. Vor lauter Aufregung hatte sie kaum etwas gefrühstückt und das Mittagessen ausgelassen.
Dank der Hinweisschilder fanden sie problemlos ihr Restaurant für das Abendessen. Bereits im Vorfeld hatten sie sich bei der Buchung für ein A-la-carte-Restaurant entschieden.
Als die drei den hellen, freundlichen Raum betraten, empfing sie ein lächelnder Mitarbeiter. Nach einer kurzen Begrüßung führte er sie zu ihrem Tisch, wo bereits zwei weitere Frauen saßen. Amüsiert registrierte Olivia die hellgrünen, asymmetrisch geschnittenen Haare einer der beiden. Die andere trug ein Dirndl und wirkte insgesamt konservativer. Sie schien das genaue Gegenteil ihrer flippig wirkenden Begleiterin zu sein.
Ihre Tischnachbarinnen stellten sich mit leicht bayrischem Dialekt als Julia und Lucia Rosenherz vor. Die Schwestern erfüllten sich mit der Kreuzfahrt einen langjährigen Traum, wie die drei Freundinnen kurz darauf erfuhren. Die beiden machten einen offenen Eindruck, weswegen Olivia sie schon jetzt sympathisch fand.
Sie waren bereits in eine angeregte Unterhaltung vertieft, als ein mit schwarzer Hose und gestärktem weißem Hemd bekleideter Schiffssteward lächelnd auf sie zukam. »Ich begrüße Sie recht herzlich an Bord der Lady of the sea und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«
Er erhielt ein fünfstimmiges »vielen Dank« als Antwort.
»Mein Name ist Juan Gonzalez, aber Sie dürfen mich gerne Juan nennen. Für die Dauer Ihres Aufenthalts bin ich Ihr exklusiver Ansprechpartner in diesem Restaurant«, sagte der hochgewachsene Mann mit kurzen schwarzen Locken, die er offensichtlich nur mithilfe einer großen Menge Haargel gebändigt bekam. Er hatte einen breiten spanischen Akzent.
»Freut mich zu hören«, sagte Julia, die jüngere der beiden Schwestern, und zwinkerte ihm zu.
Mit schwungvollen Gesten überreichte der Südländer den fünf Frauen die Speisekarten. »Sie können unter fünf Vier-Gänge-Menüs auswählen und sich die einzelnen Gänge individuell zusammenstellen.«
»Das klingt ganz wundervoll.« Julia schenkte Juan ein strahlendes Lächeln, woraufhin sie einen strafenden Blick ihrer Schwester erntete, den sie gekonnt ignorierte.
Der Schiffssteward lachte nur. Nach einer angedeuteten Verbeugung drehte er sich um und eilte davon.
Alle am Tisch vertieften sich in ihre Speisekarten. Beim Anblick der leckeren Gerichte lief Olivia das Wasser im Mund zusammen. Schon bald hatte sie ihr Menü zusammengestellt. Besonders freute sie sich auf den Hauptgang: Garnelenspieße in Knoblauch-Dillsoße mit einem Hauch Zitrone. Dazu wurden Rosmarin-Kartoffelspalten und Grillgemüse gereicht.
Wie vorhin auf dem Oberdeck knurrte Rikes Magen; diesmal laut und vernehmlich. Ihre Wangen verfärbten sich unter den amüsierten Blicken der anderen zartrosa.
»Ich habe halt Hunger«, sagte sie und zuckte verlegen mit den Schultern.
»Habt ihr denn alle schon ausgesucht?«, fragte Olivia in der Hoffnung, mit dem Themawechsel ihrer Freundin zu Hilfe zu kommen.
Mit dankbarer Miene ergriff Rike die Gelegenheit und erzählte den anderen, was sie essen würde. Erneut waren die Tischgenossen kurz darauf in eine angeregte Unterhaltung vertieft.
Währenddessen sah Olivia sich im Restaurant um. Alle Tische waren mit blütenweißen Tischdecken und ebenso weißen Tellern eingedeckt. Das Besteck schien aus echtem Silber zu bestehen und wies ziselierte Blumenornamente auf.
Das Blumenmotiv erstreckte sich durch das ganze Restaurant. In der Mitte eines jeden der ovalen Tische stand zu Dekorationszwecken eine Blume aus Obst. Diverse Bilder an der Wand, die Blüten von vielerlei Pflanzen zeigten, steckten in silbernen Rahmen.
Als die Vorspeise kam, stürzten sich die drei Freundinnen darauf, als hätten sie tagelang nichts zu essen bekommen. Die Unterhaltung verstummte, da auch Julia und Lucia herzhaft zulangten. Sicher hatten auch sie heute vor lauter Aufregung kaum einen Bissen heruntergebracht.
»Wo kommt ihr eigentlich her?«, fragte Lucia nach dem Hauptgang.
»Aus Hamburg.« Mit zufriedener Miene rieb sich Rike den vollen Bauch.
Auch Olivia fühlte sich pappsatt. Ob sie den Nachtisch noch essen konnte? Wenn das so weiterging, würde sie jedenfalls nicht mit ihren jetzigen 55 Kilo Körpergewicht nach Hause kommen.
Was, wenn sie ehrlich zu sich war, auch alles andere als verkehrt wäre. Sie hatte in den letzten Jahren ohne Hannes viel zu viel Gewicht verloren. Ein paar Kilo mehr würden ihr garantiert nicht schaden.
»Wir haben zusammen BWL studiert.« Chiara deutete auf sich und ihre beiden Freundinnen.
»Und in einer WG gewohnt«, fügte Olivia hinzu.
»Eigentlich wären wir hier zu viert.« Bedauernd verzog Rike das Gesicht. »Aber unsere Freundin Nina hat sich heute Morgen ein Bein gebrochen.«
»Oh nein, wie schrecklich!« Mit weit aufgerissenen Augen blickte Julia sie an. »Das wäre mein absoluter Albtraum!«
»Für Nina ist es sicher auch sehr schwer«, sagte Olivia und seufzte. »Aber sie trägt es mit Fassung. Am Telefon klang es zumindest so.«
Als Juan die Nachspeise brachte, beäugte Olivia zweifelnd ihren Teller. Darauf befand sich ausgesprochen lecker aussehendes Lavendeleis auf gebratenem weißem Pfirsich mit Pinien-Honig-Sirup. So groß sah die Portion gar nicht aus, beschied sie für sich.
Bereits nach dem ersten Bissen war jeder Gedanke an ein Sättigungsgefühl vergessen. Erst, nachdem sie alles aufgegessen hatte, blickte sie auf. Sie sah in verzückte Gesichter und auf leer gegessene Teller. Scheinbar hatte es allen so gut geschmeckt wie ihr.
»War das himmlisch«, sagte Rike in schwärmerischem Ton.
»Dem kann ich nur zustimmen.« Trotz ihrer Worte blickte Chiara nun zweifelnd drein. »Ich mache mir nur Sorgen um mein Gewicht. Womöglich muss ich nach der Kreuzfahrt noch anfangen, Sport zu machen.«
»Kein Problem. Ich schleppe dich gerne mit zum Joggen.«
Chiara winkte ab. »Och, lass nur, Olivia. Weißt du, ich dachte eher an Sitzgymnastik.«
Alle lachten.
Wenig später bemerkte Olivia, dass ein Mann mit schwarzer Kochhose, weißer Kochjacke und –mütze aus einer Tür mit der Aufschrift »Küche« trat. Mit gefalteten Händen stellte er sich hin und ließ seinen Blick über die Menge schweifen.
Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Olivia sah genauer hin. Ein erschrockenes Quieken entfuhr ihr, woraufhin sie sich beide Hände auf den Mund presste.
»Alles okay?«, fragte Rike und warf ihr einen besorgten Blick zu.
Olivia nickte stumm und versuchte sich an einem Lächeln. Rikes zweifelnde Miene signalisierte ihr allerdings, dass ihr das wohl gehörig misslang. Sie musste sich regelrecht dazu zwingen, ihre Hände vom Mund zu nehmen und eine neutrale Miene aufzusetzen. Um sich nicht durch weitere auffällige Gesten zu verraten, legte sie ihre Hände in den Schoß und drückte sie so fest zusammen, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Immer wieder wanderten ihre Blicke zu dem Mann in der Kochkleidung, der inzwischen zu sprechen begonnen hatte. Seine Worte rauschten ungehört an Olivia vorbei, deren Gedanken sich überschlugen.
Es gab keinen Zweifel: Er war es. Alex Ohlsen, der ehemals beste Freund ihres Bruders Philipp. Der mit 22 Jahren nach seiner Kochausbildung das Dorf im Alten Land verlassen hatte, in dem sie zusammen aufgewachsen waren. Er wollte sein Können durch die Arbeit in vielen Ländern verfeinern und erweitern. Dadurch hatten sich die beiden Freunde aus den Augen verloren und nur noch sporadisch Kontakt.
Weitaus wichtiger war für Olivia allerdings die Tatsache, dass sie sich mit 14 Jahren unsterblich in Alex verliebt, sich aber nie getraut hatte, es ihm zu sagen, weil er immer betonte, dass sie für ihn wie eine kleine Schwester war. So ganz überwunden hatte sie das nie, wie sie sich bei seinem Anblick eingestehen musste.
In ihren Augen hatte er sich kaum verändert. Natürlich war er älter geworden. Doch sein schmales Gesicht mit dem markanten Kinn war das Gleiche geblieben. Seine grauen Augen funkelten immer noch lebhaft. Nur sein nussbraunes Haar trug er jetzt kürzer.
»Erde an Olivia!« Ungeduldig schnipste Chiara mit zwei Fingern vor dem Gesicht ihrer Freundin herum. »Würdest du mir freundlicherweise meine Frage beantworten, die ich jetzt zum vierten Mal gestellt habe?«
»Was?« Verwirrt blickte Olivia sie an.
»Ob wir mit unseren neuen Freundinnen heute Abend noch etwas unternehmen wollen, habe ich gefragt.«
»Was?«, wiederholte Olivia. Einem Teil von ihr war bewusst, dass sie wenig intelligent wirkte. Doch sie konnte nicht anders. Zu geschockt war sie von der Tatsache, dass wenige Meter von ihr entfernt ihre erste große Liebe stand, die sie seit 13 Jahren nicht gesehen hatte.
Chiara schüttelte den Kopf. »Was ist denn plötzlich mit dir los? Du bist ja total abwesend.«
Jetzt reiß dich zusammen!, dachte Olivia. Sie wollte keinesfalls, dass die anderen etwas merkten. Zuerst musste sie selbst irgendwie mit der Situation klarkommen. Sie wusste ja gerade überhaupt nicht, was mit ihr los war. In ihr überschlugen sich Gefühle, die sie seit Ewigkeiten nicht mehr gespürt hatte.
»Ja, klar«, brachte sie mit belegter Stimme heraus.
Als sie wieder zu Alex blickte, war er verschwunden. War etwa alles nur ein Traum gewesen?
*
»Kannst du mir mal verraten, was vorhin mit dir los gewesen ist?«, fragte Rike und warf Olivia einen neugierigen Blick zu.
Die beiden lagen in ihren Betten, die ausgesprochen bequem waren.
Olivia verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Was soll schon los gewesen sein?«, gab sie in betont neutralem Ton zurück, während sich ihre Gedanken überschlugen. »Ich weiß nicht mal, was du meinst«, fügte sie hinzu und zwang sich zu einem Lächeln.
Sollte sie Rike von Alex erzählen? Das hieße allerdings, dass sie ziemlich viel erklären musste. Von ihrer ersten Liebe hatte sie ihren Freundinnen nie erzählt. Und vor allem jetzt fand sie es mehr als unpassend. Klar, diese Reise sollte den Beginn eines neuen Lebens markieren. Aber ihre Freundinnen würden es sicherlich auch komisch finden, wenn sie von ihrem inneren Gefühlschaos erfuhren. Nein, sie würde alles zunächst für sich behalten. Sie war sich ja nicht einmal sicher, ob sie die Begegnung nicht nur taggeträumt hatte. Außerdem wäre es ihr wie ein Verrat an Hannes vorgekommen.
»Na, vorhin beim Essen meine ich, als du so geistesabwesend warst. So was sieht dir gar nicht ähnlich.« Rike verdrehte gespielt genervt die Augen. Mit einem leichten Stöhnen drehte sie sich auf die Seite und stützte sich auf einen Ellbogen, damit sie ihre Freundin besser ansehen konnte.
»Ach das«, sagte Olivia, um etwas Zeit zu gewinnen. Natürlich hätte sie ihren geistigen Aussetzer auf den Gedanken an Hannes schieben können, doch das wäre gleich doppelt ein Verrat an das Andenken ihres Mannes gewesen.
»Ja, das«, entgegnete Rike, die offensichtlich nicht die Absicht hatte, das Thema fallenzulassen.
»Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung.« Noch während sie es sagte, tadelte sich Olivia insgeheim für ihre Notlüge. »Ich schätze mal, es war einfach ein bisschen viel Neues.«
»Und du bist sicher, dass es nicht an Hannes lag?«, fragte Rike. Sie beugte sich halb aus dem Bett und tätschelte sanft Olivias Bein unter der Decke. »Es würde dir ähnlich sehen, Chiara und mir zu verschweigen, dass du wieder an ihn denkst.«
Heftig schüttelte Olivia den Kopf. Nein, an Hannes hatte sie ganz und gar nicht gedacht. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Gerade einmal zwei Jahre waren vergangen, und sie hatte nur Augen für ihre erste große Liebe gehabt.
»Wir haben zwar gesagt, dass wir dich auf andere Gedanken bringen werden, aber wir sind natürlich trotzdem für dich da, wenn Erinnerungen und Trauer dich überkommen.« Nach einem letzten Tätscheln legte sich Rike wieder in ihr Bett.
Dankbar lächelte Olivia ihre Freundin an. »Weiß ich doch«, sagte sie.
Rike lächelte zurück. »Das will ich auch hoffen.« Sie gähnte herzhaft. »Und jetzt lass uns mal schlafen. Es war ein anstrengender Tag.«
Wenig später vernahm Olivia ihr leises Schnarchen. Sie selbst schloss die Augen in der Hoffnung, ebenfalls schnellen Schlaf zu finden. Doch daran war nicht zu denken.
Ihre Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Zurück in ihre Jugend in der kleinen Gemeinde Steinkirchen nahe des Elbstroms. Schon als ganz kleines Kind war sie mit ihrem Bruder in den riesigen Apfelgärten herumgestromert. Immer noch empfand sie es als wahres Privileg, im größten Obstanbaugebiet Europas aufgewachsen zu sein.
Der leicht süß-säuerliche Duft von Äpfeln stieg ihr in die Nase, vermischte sich mit dem Geruch von Alex. Er hatte immer so gut gerochen und irgendwie frisch. Damals war er noch ziemlich schlaksig gewesen und nicht so durchtrainiert wie heute.
Und für jeden Unfug zu haben