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Selber leben, statt gelebt zu werden, ist gar nicht so einfach. Um sich nicht fremdbestimmen zu lassen, braucht es Selbstbewusstsein, Mut und Vernunft. Heidemarie Bennent-Vahle zeigt, wie wir mitten im rasenden, komplexen Leben innehalten und ins Denken geraten können. Das philosophische Denken, die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung und zum nachdenklichen Ausloten der eigenen Situation, eröffnet neue Perspektiven jenseits der gängigen Selbstverwirklichungs-Credos. Lebendig und flott geschrieben, schöpft dieses Buch aus der Fülle der großen Themen: Lebensziele, Partnerschaft, Sex, Erziehung, Älterwerden, Selbstdistanz, Freiheit und das Miteinander mit den anderen. »Das Denken tut dem Menschen gut, wenn er es nämlich selber tut.« Frei nach Wilhelm Busch
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Seitenzahl: 284
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Heidemarie Bennent-Vahle
Glück kommtvon Denken
Die Kunst, das eigene Lebenin die Hand zu nehmen
Titel der Originalausgabe: Glück kommt von Denken
Die Kunst, das eigene Leben in die Hand zu nehmen
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-80450-2
ISBN (Buch) 978-3-451-32535-9
Inhalt
Einleitung
1. Sport: Über bitteren Unernst und verlorenen Ernst
Von Tortenteilen und Sportzerwürfnissen
Gedanken über nicht verwandte Vetternwelten
Aufklärende Sporterklärungen
2. Von Liebe und Gerechtigkeit
Frauengespräche
Von Kafkas Socken und den Überforderungender Liebe
Über die Fallstricke der Romantik
Romantik und Ehe
Die Erfindung der Weiblichkeit
Liebeshunger und Eheturbulenzen
Was sich kaum sagen lässt
3. Sex, Sex, Sex
Absonderliche Phänomene
Wüstenlandschaft mit Feuchtgebieten
»Die hedonische Tretmühle«
Spätfolgen puritanischer Überstrenge
»Body is Boss« – eine neue Leibpraxis
4. Über Erziehung – Zöglinge, Tyrannen und Bildungsopfer
Von kleinen Streichen mit großen Folgen
Die Krise der Erziehung – ein Dauerzustand?
Das Dilemma der Freiheit.
Von kleinen Tyrannen und großen Irrtümern
Autoritätsschwund und moderne Überforderungen
Das Erzieherische
»Erst die Mächtigkeit, die umfasst, ist Führung«
Ein Hochglanzbildungsdebakel
5. Altern als Kampf gegen den Zahn der Zeit
Aus einer anderen Ära
Wissen statt Weisheit
Die Signatur des Alters
Zwei Formen von Altersradikalität
Die »Alterswende« als Moment der Selbstwerdung
6. Von erhabener Einsamkeit zu kläglicher Vereinsamung
Endlich allein
Das neue Lob der Einsamkeit
Einsamkeit und unermüdliche Jagd nach dem Ich
Der Verlust privater Zufluchtsstätten
7. Szenarien der Selbsterschaffung
Höhere Weihen
Erstes Erwachen möglich
Experte seiner selbst sein
8. Selbstrelativierungen
Lehrreiche Wanderpfade
Willensfreiheit ade?
Zellenschwärme und Neuronenspiegel
Selbstregulation und moralische Freiheit
Eine sanft machende Erschütterung
9. Ich, du, ihr, man und die übrigen anderen
Durch Vereinzelung aneinander gebunden
Intellektuelle Redlichkeit
10. Selbstwerdung
Weltentfremdung
»Du sollst der werden, der du bist!«
Selbstsein als unabschließbarer Prozess
Die Kunst, ein starkes Subjekt zu werden
Glück – »How can happiness feel so wrong? How can misery feel so sweet?«
Schluss: Worauf es ankommt
Nachwort
Literaturangaben
Für Klaus,meine Töchter Marlen, Pauline und Lilianund Mio, der mich zum Herumstreunenverpflichtet hat
Ich glaube, dass die Fehlentwicklung nicht mit »Fehlfunktionen« der Märkte zu erklären sind. Das Problem liegt sehr viel tiefer. Die vorherrschende Theorie der freien Märkte leidet unter einem konzeptuellen Fehler, nämlich unter dem Unvermögen, das Wesen des Menschlichen zu begreifen. In der herkömmlichen Wirtschaftstheorie wurde ein eindimensionales menschliches Wesen geschaffen, das die Rolle des Unternehmensführers, des sogenannten Entrepreneurs spielen soll. Wir haben die unternehmerische Tätigkeit vom übrigen Leben, das heißt vom religiösen, emotionalen, politischen und sozialen Leben getrennt. Der Unternehmer hat nur eine einzige Mission: Gewinnmaximierung. Unterstützung erhält er von anderen eindimensionalen Wesen, die ihm ihr Geld anvertrauen, um diese Mission zu erfüllen. Um es mit Oscar Wilde zu sagen: Sie kennen von allem den Preis und von nichts den Wert.
Unsere ökonomische Theorie hat eine eindimensionale Welt geschaffen, die von jenen bevölkert wird, die sich dem Spiel des Wettbewerbs verschrieben haben, einem Spiel, in dem der Erfolg ausschließlich am Gewinn gemessen wird. Und da man uns davon überzeugt hat, dass das Gewinnstreben die beste Art ist, die Menschheit glücklich zu machen, machen wir uns die Theorie mit Begeisterung zu eigen und versuchen, uns ebenfalls in derart eindimensionale menschliche Wesen zu verwandeln. Die Theorie ist also nicht der Realität nachempfunden, sondern wir zwingen die Realität, sich der Theorie anzupassen. Die Welt ist derart gefesselt vom Erfolg des Kapitalismus, dass sie nicht wagt, Zweifel an der ökonomischen Theorie zu äußern, die diesem System zugrunde liegt. Doch die Wirklichkeit unterscheidet sich erheblich von der Theorie. Die Menschen sind keine eindimensionalen Wesen, sondern weisen eine faszinierende Vielfalt von Dimensionen auf. Ihre Emotionen, Überzeugungen, Prioritäten und Verhaltensmuster sind am ehesten den Millionen Farbtönen vergleichbar, die aus den drei Primärfarben gemischt werden können.
Muhammad Yunus
Friedensnobelpreisträger des Jahres 2006
aus: Muhammad Yunus: Die Armut besiegen
© Carl Hanser Verlag, München 2008
Philosophie ist, worauf man beinahe von selbst gekommen ist.
(Hans Blumenberg)
Wenn das Licht aus dem Raum getragen worden ist und meine Frau nichts mehr sagt – sie ist nämlich schon mit meiner Gewohnheit vertraut –, dann durchforste ich meinen gesamten Tag und gehe meine Taten und Worte noch einmal durch. Ich verhehle mir nichts und übergehe auch nichts. Warum sollte ich auch vor irgendeinem meiner Fehler Angst haben? Ich kann doch sagen: »Sieh zu, dass Du das nicht mehr tust. Dieses Mal verzeihe ich Dir noch.«
(Seneca)
Die meisten Leute ahnen nicht, wie viel besser es ihnen gehen würde, wenn sie hin und wieder einmal sehr gründlich nachdenken würden. In dieser Angelegenheit ist ganz und gar auf eine Diagnose der Philosophin Hannah Arendt zu setzen, die das Denken zur wesentlichen Voraussetzung einer voll entfalteten Vitalität macht. Ohne Denken treiben wir wie narkotisiert durchs Leben und erleiden schlimmstenfalls eine Art seelisch-geistigen Erstickungstod.
Schenkt man einer Reihe von renommierten Beobachtern der gegenwärtigen westlichen Gesellschaften Glauben, so befindet sich eine nicht unerhebliche Zahl von Zeitgenossen in einem Zustand gesteigerter Erschöpfung. Viele fühlen sich überfordert von dem hohen Anspruch, ein erfolgreiches, kreatives und selbstverwirklichtes Leben zu führen, und sacken, ohne es recht zu bemerken, ermattet in sich zusammen, noch bevor das Lebensschiff so recht in Fahrt kommt. Während die einen sich schon früh wie gelähmt, niedergedrückt und verlangsamt fühlen, gleiten andere auf dem Strom sich anbietender Möglichkeiten scheinbar geschmeidig dahin, sind erfolgreich, zielorientiert, sorglos und brechen doch irgendwann in der Mitte des Lebens entzwei – nicht selten ausgelöst durch Trennung, berufliche Bruchlandungen oder Krankheit.
Dass hier das philosophische Nachdenken und nicht allein die therapeutisch angeleitete Selbstreflexion hilfreich sein kann, ist die Kernthese dieses Buches. Ich möchte sogar so wagemutig sein zu sagen, dass in vielen Fällen das Philosophieren nachhaltiger wirkt als jede selbstbezogene Nabelschau, insofern es einen weiteren Bogen spannt und uns dazu verhilft, über den Tellerrand unseres kleinen, schmächtigen Ichs hinauszublicken. Worin aber unterscheidet sich ein philosophisch angeleitetes Leben von einem nichtphilosophischen? Warum ist es heute mehr denn je so anstrengend, ein »philosophisches Leben« zu führen? Und warum sollte man überhaupt ein solches führen, wenn Mühen in Aussicht gestellt werden?
Soll das Denken vitalisierend wirken, so muss wohl mehr damit gemeint sein als die vertraute Hintergrundmusik flüchtiger Gedanken und routinierter Überlegungen, die unser alltägliches Leben permanent begleiten. Auch wenn es erst das Endziel dieses Buches ist, von der Besonderheit und unverzichtbaren Bedeutung des Philosophierens zu überzeugen, so lassen sich jetzt schon zwei Merkmale dieser Denkform absehen. Erstens: Da sie auf ein grundsätzlicheres Nachdenken zielt, ist sie beschwerlich, und man kann sie nicht dauerhaft durchhalten. Es wird also darauf ankommen, den richtigen Moment abzupassen, oder, wenn dieser versäumt wurde, wenigstens jenen zweiten oder dritten Moment zu ergreifen, an dem es noch gelingen kann, den Schaden zu begrenzen. Zweitens: Damit die Verlebendigung des Denkens wirkt, muss man selbst der Urheber seiner Gedanken sein. Frei nach Wilhelm Busch könnte man in humoriger Tonlage formulieren: »Das Denken tut dem Menschen gut, wenn er es nämlich selber tut.«
Was es heißt, etwas selbst zu tun, eigenursprünglich – und nicht außengelenkt, fremdbestimmt oder aus zweiter Hand – zu denken, das soll das zentrale Thema in den letzten Kapiteln dieses Buches sein. Es geht dabei um nicht mehr und nicht weniger als unser Lebensglück. Obwohl es viele hochintelligente, kluge und gebildete Menschen gibt, ist anzunehmen, dass das Denken als praktische Lebenskunst, als Lebensklugheit oder, wie andere sagen, als Lebenskönnerschaft heute nicht besonders hoch im Kurs steht, manchmal nicht einmal bei denen, die es berufsmäßig betreiben, also bei den Philosophen, Geisteswissenschaftlern und Fachexperten. Um dies zu erklären, kann ich auf ein Wort Hannah Arendts verweisen, das uns noch einmal etwas genauer mitteilt, was es mit einem Denken dieser Art auf sich hat: »Das Denken im nichtkognitiven, nichtspezialisierten Sinne als ein natürliches Bedürfnis des menschlichen Lebens (…) ist kein Vorrecht der wenigen, sondern eine stets bereitliegende Fähigkeit jedes Menschen; entsprechend ist die Denkunfähigkeit nicht ein Mangel an Hirn bei den vielen, sondern eine stets bereitliegende Möglichkeit bei jedem – auch bei Wissenschaftlern, Gelehrten und anderen geistigen Spezialisten. Bei jedem kann es dazu kommen, daß er jenem Verkehr mit sich selbst ausweicht, dessen Möglichkeit und Wichtigkeit Sokrates als erster entdeckt hat. (…) Ein Leben ohne Denken ist durchaus möglich; es entwickelt dann sein eigenes Wesen nicht – es ist nicht nur sinnlos, es ist gar nicht recht lebendig. Menschen, die nicht denken, sind wie Schlafwandler.«
In diesem Buch sollen also keine wirkungsvollen Selbsttechniken, Selbstbehauptungsübungen, Finessen und Tricks der Alltagsbewältigung vermittelt werden. Es geht vielmehr darum, im Blick auf wichtige Lebensthemen wie z. B. Liebe, Erziehung oder Alter in den Raum des Nachdenkens einzuladen und dabei verschiedene Grundprobleme der modernen Gesellschaft einzukreisen. Durch ideengeschichtliche Rückblicke werden einige historische Wurzeln unserer zunehmenden Weltentfremdung freigelegt, um damit ein Abrücken vom Zeitgeist anzuregen und erfahrbar zu machen, wie im Fingerzeig auf das Mangelhafte und Unvollkommene ein Eindruck des Richtigen als vorsichtiges Gegenbild aufscheint. Es gilt zu verstehen, dass dieses Richtige sich schwerlich in klare und nicht revidierbare Begriffe fassen lässt, sondern eher einer Intuition des Herzens gleicht, für die wir von Generation zu Generation unabschließbar Sprache und Ausdruck suchen müssen.
Ins Denken zu kommen, meint aber immer auch – im deutlichen Gegensatz zu vielen zeitgeistüblichen Ablenkungsmanövern – eine radikale Konfrontation mit der Begrenztheit unserer Existenz. Diese soll uns nicht »runtermachen«, kleinkriegen oder deprimieren, sondern genau umgekehrt: Sie soll uns mit dem Leben ein wenig mehr versöhnen und uns ermöglichen, gewissermaßen als ganz besonders gute Kenner unserer selbst auf neue, selbstbewusste Weise in die Gemeinschaft mit anderen einzutreten.
Mag es auch gelingen, den Menschen wissenschaftlich präzise zu vermessen und mit psychologischer Kunstfertigkeit einigermaßen verkehrstüchtig zu erhalten, so bedarf es der Philosophie auf vielerlei Weise: 1. um zu verstehen, wer wir sind und wie wir handeln müssen, wenn wir wissen, wie wir »funktionieren«; 2. um zu fragen, wie das Wissen über unsere Funktionsapparate auf ebendieses Funktionieren zurückwirkt; 3. um da weiterzufragen, an den Rändern, Leerstellen und Einzellagen unserer Existenz, wo es keine naturwissenschaftlichen Antworten mehr gibt, und um zu zeigen, dass das nicht sinnlos ist; 4. um uns zu wundern, warum die Menschheit alles in allem im Zuge des wissenschaftlich-technischen Voranschreitens so miserabel und – wie es scheint – in vielen Dingen sogar immer schlechter dasteht, und 5. um uns zu fragen, warum es oft vorkommt, dass eine Einzelperson, die auf vielfältige Weise von Beratern, Experten, Therapeuten angeleitet und umhegt ist, sich dennoch nicht freudvoll in der Wirklichkeit verankern kann.
Dieses Buch ist also nicht für Philosophen von Profession geschrieben, sondern es versucht, wie ich hoffe, einigermaßen allgemeinverständlich, die alltagsbezogene Bedeutung philosophischer Reflexionen vorzuführen. Schon von jeher haben Philosophen erkannt, wie maßgeblich vor allem ein gelingendes menschliches Miteinander für unser Lebensglück ist. Schon Aristoteles bestimmte den Menschen als ein von Natur aus Gemeinschaften bildendes Wesen. Diese soziale Ausrichtung unserer Spezies wird inzwischen von Hirnspezialisten durch die Erforschung des Glücks bestätigt: Beinahe nichts bringt unsere Nervenzellen im sogenannten Lustzentrum so zum Sprühen und Glühen wie die Erfahrung vorbehaltloser Zwischenmenschlichkeit. Im sozialen Kontakt und beim Erlernen neuer Dinge kommen unsere Glücksgehirnströme so richtig in Schwung, während z. B. die elektrisierende Wirkung des Konsums nur von sehr kurzer und flüchtiger Dauer ist.
Man fragt sich sogleich, ob die Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft, die uns zu Konkurrenzverhalten, materieller Gier, Leistungsstress sowie raffinierten Rollenstrategien und Selbstinszenierung veranlassen, diesem Glückserleben sehr zuträglich sind. Die Versprechungen und Erwartungen sind hier jedenfalls groß, denn nur so erklärt sich die Karriereversessenheit vieler jungen Menschen. Auch über das Glück ist also nachzudenken. Die Naturwissenschaft sagt uns hier, was der Fall ist, die Philosophie erkundet, was wir damit anfangen können. Sie bringt die Naturwissenschaft oft auch auf die Fragen, anhand derer man weiterforschen könnte. Zum Beispiel könnte man weiterfragen: Macht uns jede Form von Gemeinschaft gleichermaßen glücklich oder gibt es da Unterschiede? Oder noch genauer: Zeigen die Gehirnfeuerwerke Unterschiede, wenn man einbezieht, wer mit welchem Anspruch in welche Gemeinschaftsform eintritt, um sein Glück zu suchen?
Die nun folgenden Ausführungen versuchen auch den gebietsfremden, philosophisch unvertrauten Leser auf behutsame Weise mit einer Reihe philosophischer Gedanken in Berührung zu bringen. Es kann aber nicht darum gehen, einen in allen Passagen problemlos konsumierbaren Text anzubieten. Die Irritation, das Steckenbleiben und Verhakeln in einigen Gedanken sind unvermeidlich und gewollt, denn nur so wird der belebende Ansporn des Philosophierens erfahrbar. Da allzu leichte Kost unvereinbar mit einem tieferen Nachdenken und Erkennen wäre, kann es mir also nicht darum gehen, alle Schwierigkeiten aufzuheben oder alle Unebenheiten glattzustreichen. Vielmehr ist mein Anliegen, so zu schreiben, dass der grundsätzlich Aufgeschlossene sich motiviert findet, den Parcours nicht kurzerhand zu verlassen, wenn sich Untiefen, Engpässe oder Klippen vor ihm auftun. Ich hoffe auf einen Leser, dem die breiten, bequemen Wegstrecken zum Aufwärmen und zur Erholung dienen und der, wenn es komplizierter und unwegsamer wird, dennoch voller Entdeckerlaune seine Reise fortsetzt. Manche Teilstücke gilt es vielleicht auch zweifach zu durchlaufen, um das Gelände über einen Ausblick in beide Richtungen genauer zu erfassen. So wünsche ich Ihnen, die Sie nun bereits bis hierher gelesen haben, eine denk-anregende Zeit, weit über die Lektüre dieses Buches hinaus.
Sport gehört zum Reich der Freiheit, Arbeit zum Reich der Notwendigkeit. Sport gehört (…) zum Lebensvollzug, Arbeit (…) zum Herstellen. Sport ist zweckfreie Bewegung, Arbeit zweckgebundene. Durch die Leistungsorientierung des Sports und durch Sport als Beruf ist diese schöne polare Ordnung allerdings einigermaßen durcheinandergeraten.
(Gernot Böhme)
Es war ein nostalgischer Nachmittag in einem jener bergischen Fachwerkhäuser, das in der Obhut meiner Tante Clara bis ins 3. Jahrtausend seinen Vorkriegscharme bewahren konnte. Sowohl das verwinkelte, halsbrecherische Treppenhaus als auch Flur und Wohnküche, in der wir nun zusammengepfercht saßen, hatten dem Sanierungseifer mehrerer Jahrzehnte standgehalten. Es gab Schwarzwälder Kirsch, Buttercreme und Frankfurter Kranz – Tante Clara feierte ihren 88. Geburtstag, am 8. 8. im Jahr 2008, und das war ihr Grund genug, Nichten und Neffen mit Anhang aller Art noch einmal in die dämmrige Wohnstube zu laden, die so viele Familienfeiern und Sahnetorten erlebt hatte.
Da saß ich also, vor mir meine Vettern Franz und Thomas mit ihren Frauen Ulrike und Anke, daneben und ohne Begleitung Georg, am anderen Ende der opulenten Kaffeetafel dann noch Kusine Helga mit ihren beiden Söhnen und Ehemann Ralf. Es ging in die zweite Kuchenrunde, in der Clara noch keinen Widerstand duldete, auch wenn unsere Mägen bereits zu murren vorgaben. Thomas, Finanzberater auf großem Fuß, blickte ungläubig auf den kräftigen Brocken Frankfurter Kranz, der, ummäntelt von selbstgemachtem Haselnusskrokant, auf seinen Teller sackte. Athletisch und durchtrainiert wie er da saß, war er solchen Herausforderungen vermutlich kaum noch gewachsen. Ich sah ihn allenfalls nach seltenen Shoppingtouren mit seiner Liebsten im hippen Café Liège einkehren, den exquisiteren und leichteren Genüssen einer Pâtisserie aus Passionata, Champagnermousse oder Impératrice hingegeben, umgeben von Gleichgesinnten, die seit Langem schon mit der Welt des Traditionsgebäcks abgeschlossen hatten.
Franz ging es ebenso, auch wenn sein kleines Bäuchlein verriet, dass es für ihn durchaus schwache Momente gab, in denen er vor den Lifestyle-Herausforderungen seines Umfeldes kapitulierte. Nicht so seine neuste Lebensabschnittsbegleiterin Ulrike, die mit betonter Langsamkeit und mürrisch einige Krümelchen von ihrem Teller pickte und immer dann, wenn Clara wegsah, wesentlich umfangreichere Sahneklumpen auf Franzens Teller hinüberschmuggelte. Er war nicht erbaut, ergab sich aber dem Rollenspiel, das ein Tantenschnapszahlgeburtstag einem Mittvierziger abverlangte.
Kurzum: Wir machten alle gute Miene zum bösen Spiel, das darin bestand, für Clara einen Familienzusammenhalt zu demonstrieren, der, wenn überhaupt, vielleicht einmal vor 30, 40 Jahren bestanden hatte, als wir Kinder waren und nach gemeinsamen Auswegen suchten, um der Langeweile solcher Familientreffen zu entrinnen. Nun, da die meisten unserer Eltern krank, verstorben oder bewegungsunfähig waren, verkörperten wir selbst die Familie und mussten uns, vermutlich verzweifelter als unsere Vorgänger, auf die Suche nach Gesprächsthemen machen, die uns nicht allzu sehr entzweiten und die auch Clara zuzumuten waren.
Da ich Clara in ihrer altertümlichen Sanftheit liebte, seit jeher schon, ertrug ich tapfer die Mühsal, mit Vettern und Kusine eine Gesprächsebene zu finden, die uns einen zwanglosen Austausch ermöglichte. Ich wandte mich zunächst an Georg, der mir früher der Liebste war und den ich während der vergangenen Jahre in seiner sauerländischen Klause wenigstens hin und wieder am Ende einer Wanderung besucht hatte. Da er Bundesligafan war, fragte ich ihn ganz hoffnungsvoll und ahnungslos nach dem Stand der Dinge bei Borussia Dortmund. Damit war ich letztlich verantwortlich für die nun folgende Unterhaltung voller Angriffslust und Zornesmut. Auch wenn die Uneinigkeit der armen Clara sicher nicht entgangen sein wird und deshalb bedauerlich ist, tat ich doch auf diese Weise nochmals einen tiefen, erhellenden Blick in die Herzen meiner Vettern, einen Blick, der, wie Sie noch sehen werden, einiges Nachdenken zur Folge hatte.
Mir ist entfallen, wie sich eins ans andere fügte, doch binnen weniger Minuten hatten Franz und Thomas auf der einen und Georg auf der anderen Seite sich bereits unwiderruflich und unbelehrbar in ihren Positionen verschanzt und monologisierten vor sich hin, wo es sicher sinnvoller gewesen wäre, einander zuzuhören. Es ging dann gar nicht mehr wirklich um Sport, sondern um einen sehr grundsätzlichen Schlagabtausch zweier Lebenskonzepte. Helga versuchte erfolglos zu schlichten, die Kinder nutzten den Aufruhr und entwischten nach draußen, und ich flüchtete mich hilflos auf das innere Hochplateau einer fernen, unbeteiligten Beobachterin. Daran, dass meine Erinnerung sehr bruchstückhaft ist, zeigt sich allerdings, dass ich der hitzigen Atmosphäre auf diese Weise nicht vollständig ausweichen konnte. So entpuppte sich das harmlos gedachte Thema Sport als wahrhafte Zeitbombe, an der sich die aufgestauten Ressentiments meiner Vettern entluden. Ich will versuchen, mich daran zu erinnern, worum es eigentlich ging.
Auf meine harmlose Frage antwortete Georg zunächst mit einem müden Achselzucken, offensichtlich wenig erpicht darauf, sich näher zu äußern. Das Bild aus Schlappheit und mangelnder körperlicher Fitness, das er (Georg ist recht beleibt) dabei abgab, brachte nun aber Thomas in Wallung. Er fragte, ob Georg der ausbleibende Erfolg der Borussia auf den Magen geschlagen sei oder ob er sich zur Abwechslung mal weg von seiner Zuschauerexistenz zu eigenen sportlichen Aktivitäten aufraffen wolle. Georg antwortete, dass die Erfolglosigkeit seiner Lieblingsmannschaft ihn weniger störe als die zunehmende Verwüstung des Sportes durch Geldmache, Körperkult und einen inzwischen nahezu mörderischen Kampfgeist. Es gehe dabei vielen Sportlern weniger ums Gewinnen als darum, um jeden Preis eine Niederlage zu vermeiden. Was er gegen das Geldverdienen habe, fragte daraufhin Franz, er neide wohl den Sportlern ihre hochdotierten Engagements.
Diese Worte nun und der darin enthaltene unterschwellige Angriff auf Georgs bescheidene Außenseiterexistenz in der ländlichen Einöde lockten diesen endgültig aus der Reserve und er setzte zu einer längeren Rede an, die etwa folgenden Wortlaut hatte: »Heute fehlt es den Spielern an Ernsthaftigkeit, ihre sagenhaften Gehälter zerstören jeden wahren Mannschaftsgeist. Die Spieler oder überhaupt viele Sportler sind doch in Wahrheit sportlich unmotiviert bzw., wenn der Erfolg sich einstellt, bald nur noch in zweiter Linie am Sport selbst interessiert. Das große Geld verdirbt ihre Moral, fast alle lassen sich zu Marionetten einer hemmungslosen Vermarktung des Sports machen und nehmen obendrein jede Gelegenheit mit, in der Mode-, Kosmetik- oder Nahrungsmittelwerbung weitere Kohle zu machen. Fußballspieler werden, das weiß jeder, für horrende Summen kreuz und quer durch Europa verkauft und wieder zurück und damit ist doch der Erfolg einer Mannschaft, wie z. B. jetzt gerade der Hoffenheimer, das Resultat einer geschickten Einkaufs- und Verkaufsstrategie. Skrupellose Manager stecken dahinter, die selbst auf Gewinnmache aus sind und alles zu einem Riesenspektakel werden lassen. Nichts ist mehr vor Ort gewachsen, die Spieler sind letztlich Einzelkämpfer, auf Konkurrenz und nicht auf Mannschaftssinn getrimmt. Und deshalb haben die Zuschauer auch so ein bedenkliches Verhältnis zum Sport, besonders zum Fußball. Sie fallen wild übereinander her, können nicht ertragen, wenn die eigene Mannschaft verliert, obwohl das doch auf jeden Fall immer schon zum Sportgeist dazugehörte, und prügeln dann wild aufeinander ein. Großereignisse wie die Fußball-WM ziehen doch heute jeden an, die Innenstädte werden zugepflastert mit Großleinwänden und alle, wirklich fast alle, auch die, die eigentlich kein Interesse an diesem Sport haben, gucken zu, auch wenn sie nicht mal die Grundregeln kennen. Alles dreht sich um den Kick, alles ist ein Mega-Event und die Spieler sind Unterhaltungsclowns. Man regt sich auf über ihre Fouls und Fehlhandlungen, obwohl man doch in Wirklichkeit ganz versessen darauf ist, danach giert, und macht sich dann lustig über die verbalen Ausrutscher der Sportler nach dem Spiel. Ich liebe den Sport, aber was heute passiert, zerstört den Sinn des Sports, dient dazu, die unbefriedigten Massen bei Laune zu halten. Der Sport ist wie alles andere eine Industrie geworden, profitorientiert, eine Ablenkungsindustrie, ein Ausgleich für die vielen, die einen miesen Job oder gar keine Arbeit haben.«
Hier nun war es Thomas genug, er unterbrach ihn: »Meinst du nicht, dass das ein bisschen arrogant ist, dich so über die Leute zu stellen? Deine linke Weltverbesserei übersieht, dass Menschen immer schon Sport getrieben haben, schon seit der Antike. Es begeistert die Menschen, anderen bei ihren Höchstleistungen zuzuschauen. Nicht jeder kann selbst ein Akrobat oder ein Michael Ballack, ein Michael Schumacher oder Boris Becker sein und erst recht kein dreimal kluger Einstein oder Schöngeist, wie es dir vorzuschweben scheint.«
Nun mischte sich auch Anke ins Gespräch. Sie sagte: »Tommilein, ich finde, Georg hat recht.« Vermutlich wollte sie ihren aufgebrachten Liebsten mit dieser Redeeinleitung besänftigen oder wenigstens doch den Widerspruch, zu dem sie nun mit einem tiefen Atemzug ansetzte, abmildern: »Ich finde die Sportler viel zu verbissen, man sollte das alles nicht so ernst nehmen. Sport ist wichtig für die Gesundheit und für die Figur. Es ist ja nett, mal so ein Spiel anzugucken, aber die Leute sollen lieber selbst was machen und nicht bloß mit der Bierflasche vor dem Fernseher hängen …« »So meine ich das nicht«, wandte Georg ein. »Ich will keinesfalls den Sport darauf reduzieren, nur der Schönheit oder der Gesundheit zu dienen. Diesen Fitness- und Schönheitswahn, dieses Therapietheater finde ich fast genauso schlimm. Das alles zeigt genauso, wie durchgedreht man heute ist. Bei allem geht es nur noch darum, entweder Gewinner und Erfolgstypen zu produzieren oder die Massen zu bespaßen. Da gibt es keine Grenzen mehr. Da sieht man 87-Jährige im Fitnessstudio schwitzen oder in den Wäldern der Jugend hinterherjoggen.«
Clara, die seit Jahren ihre kleine Altbauwohnung nicht mehr verlassen hatte, blickte ihn verwundert an.
»Da tut man alles, um die Leute bei der Stange zu halten. Rituale, Tanzmädchen im Stadion, fanatisches Einpeitschen von Beifall, Skispringen auf Hawaii und Windsurfen in Grönland, es würde mich nicht wundern, wenn wir das demnächst auch noch haben …« »Jetzt krieg dich aber mal ein«, zischte Thomas, »diese Leier von der Konsum- und Leistungsgesellschaft ist doch längst überholt. Völlig out ist das. Ich kann den Scheiß nicht mehr hören. Wahrscheinlich neidest du den Leuten nur ihren Erfolg und dass sie wissen, wie man Geld macht, was man dir nicht gerade nachsagen kann.« Georg sackte ein wenig in sich zusammen, setzte aber noch einmal an: »Aber denk doch mal daran, wie viele Sportler ihre Gesundheit für den Erfolg ruinieren, übermäßiges Training, ganz zu schweigen von Doping …« – »Soviel ich weiß, haben es die sozialistischen Gesellschaften, denen dein Herz ja offensichtlich zufliegt, besonders wüst mit dem Doping getrieben, bis hin zu bleibenden Gesundheitsschäden und Todesopfern. Hör doch auf mit dem Gesülze, beweg dich lieber mal selbst, anstatt Leuten, die was auf die Reihe kriegen, mit Weltverbesserungspredigten zu kommen. Ich kann das echt nicht hören. Guck dich doch mal an.«
Und wirklich, Georg kapitulierte und starrte mit gequältem Gesichtsausdruck auf seinen Teller, was Franz nicht daran hinderte, die »Plauderei« mit weiteren Tiefschlägen gegen ihn fortzusetzen. Franz war vielleicht weniger direkt als Thomas, dafür waren seine Spitzen feiner und drangen tiefer ein. Georg, der keine brillante Vita vorzuweisen hatte, der sich und seinen Hund mühsam mit Klavierunterricht über die Runden brachte, gab sich geschlagen und zog sich endgültig in einen Bunker aus Schweigsamkeit zurück. Ich sagte zwar noch, dass ich die Aggression nicht verstehe und es doch auch ohne beleidigende Attacken gehen müsse – Helga und auch Anke nickten –, aber im Grunde war es nun für jede Verteidigung zu spät. Wir taten besser daran, uns zur Beruhigung von Tante Clara, die sich anderes erhofft hatte, auf die Suche nach einem unverfänglichen Thema zu machen. Ob uns das gelungen wäre, weiß ich nicht, denn zu unser aller Glück stürzten nun Helgas Söhne herein und kamen uns mit ihrer Rauflust und Wildheit zur Hilfe.
Die geschilderte Situation hing mir noch lange nach. Keine Frage, dass meine Sympathien aus vielerlei Gründen bei Georg lagen. Ich schämte mich ein wenig, auf meinem hohen Podest verharrt zu haben. Von Sport verstand ich nichts, und so verpasste ich den rechten Moment, in dem ich mich hätte einmischen müssen. Als wir auseinandergingen, drückte ich fest Georgs linke Hand und versprach ihm einen baldigen Besuch, ein bisschen zum Trost und ein bisschen zur Entschuldigung für meine Kleinmütigkeit. Er nickte kurz und trottete mit gesenktem Blick davon.
Meine Vettern stammen aus unterschiedlichen Welten, so viel ist unübersehbar. Oder besser gesagt: Franz und Thomas scheinen durch und durch eingepasst in die Lebensmuster des etablierten Wohlstandes, der uns umgibt. Hätte ich nicht bei einer ausgelagerten Zigarettenpause von Anke erfahren, dass Thomas wegen seiner Nervosität und seiner Versagensängste seit einem Jahr in Therapie ist, wäre mir die glatte Weltgewandtheit der beiden gespenstig vorgekommen. Anke erzählte mir auch, dass sie überlege, sich zu trennen, da Thomas wenig Rücksicht auf ihre Bedürfnisse nehme und auf dem Standpunkt stehe: Wenn es nicht passt, dann muss man sich eben umorientieren. Er könne nicht auch noch Stress in seiner Beziehung gebrauchen. Soweit ich über Thomas’ Lebensgeschichte auf dem Laufenden bin, stellt Anke das Schlusslicht einer zahllosen Reihe von Partnerinnen dar, bei denen es offenbar bis dato nie gepasst hat.
Thomas und wohl auch Franz sind für mich trotz ihrer schönen alten Namen ganz und gar »moderne Subjekte«, während ich Georg, auch wenn er durchaus auf der Höhe der Zeit ist, eher als »altes Subjekt« bezeichnen würde, irgendwie als ein Überbleibsel eines romantisch-idealistisch geprägten Weltbildes, in dem es noch um wahre Liebe, tiefe Freundschaft und berufliche Erfüllung ging. Auch Franz und Thomas benutzen diese Begriffe, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie damit etwas ganz anderes meinen: präsentable, passgerechte Partnerinnen mit Lifestyle-Qualitäten und sexuellen Vorzügen statt Liebe; Sportgenossen, Team-Mitspieler und Auf-ein-Bier-Gesellschaftler statt Freunde; Flexibilität, Wettbewerbserfolg, Impression-Management und zielstrebige Selbstverleugnung statt beruflicher Erfüllung und kollegialer Solidarität.
Georg hingegen ist ein Herausgeschleuderter dieser neuen Schnellflüge zum persönlichen Triumph, ein Melancholiker im Windschatten der Gesellschaft, dem noch immer die alten Träume von individueller Autonomie und lebenslanger liebender Verbundenheit im Kopf herumgaukeln. Durch seinen freiwilligen Rückzug in die provinzielle Langeweile eines Mittelgebirgsdorfes – trotz einer Promotion in Geschichte und Sozialwissenschaft wurde er zum erklärten Verweigerer der Konsumwut und Profitgier –, schnappte die Armutsfalle dann sehr schnell und bereitwillig über ihm zu.
Aber auch das beirrt ihn kaum. Er greift auf seine außerordentliche musikalische Begabung zurück und durchpflügt auf seinem Motorroller das westliche Sauerland bis Iserlohn und Hemer auf der Suche nach lernwilligen Klavier- und Gitarrenschülern. Das hält ihn über Wasser und macht ihn jedenfalls nicht unzufrieden. Wenn ich ihn in seinem unmodernen Reich fernab der glänzenden Fassaden der Wohlstandspaläste besuche, scheint er mir im Gegenteil sogar äußerst froh zu sein, dankbar wie ein Davongekommener nach Naturkatastrophen. Was ihn aber verzweifeln lässt, so fand ich im Laufe unserer weiteren Telefonate und persönlichen Gespräche über Sport heraus, das ist der Gesamtzustand dieser Welt und das, was er im Rückgriff auf sein Soziologiestudium die »Selbstauflösungstendenz der Moderne« nennt. Ja, es scheint beinahe so, als sei er stolz auf die Zerbrechlichkeit seiner sozialen Lage, die ihn in eine verborgene Solidargemeinschaft mit den Bruchbiografien der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern versetzt. Am meisten gefiel mir seine Zurückhaltung, seine wohltuende Art, keinen Wind um sich selbst zu machen. Sie veranlasste mich, in der Folgezeit eine Reihe tiefgründiger »Sportgespräche« mit ihm zu führen.
Da die missglückte Diskussion in Claras guter Stube mir Georgs Position nicht wirklich klargemacht hatte, fragte ich nach. Er erläuterte dann, dass er den Sport natürlich liebe, nicht ganz so wie die Musik, aber fast. Er liebe ihn auch in Form von Sportvorführungen und Großereignissen wie Weltmeisterschaften oder Turnieren. Er bedaure nur, dass der Sport so sehr zum Geschäft geworden sei, dass sich sein ursprünglicher Sinn mehr und mehr verflüchtige. Die Außerordentlichkeit großer Sportmomente, in denen Teilnehmer und Zuschauer ein erhöhtes Lebensgefühl erfahren könnten, gehe heute im Geschrei der Moderatoren und im Gegröle aufgestachelter Anhänger unter. Er verwies mich auf den niederländischen Historiker Johan Huizinga, der über die Bedeutung des homo ludens, des spielenden Menschen, ein Buch geschrieben hat, oder auf den Amerikaner Christopher Lasch, der den Niedergang des Sports durch die moderne Unterhaltungsindustrie kritisiert. Ich las ein wenig nach und kam zu einigen Erkenntnissen, die ich mit vielem, was ich zuvor gelernt und gehört hatte, in einen Zusammenhang stellen konnte.
Lasch und auch Huizinga legen dar, dass die Entwicklung der modernen Gesellschaft, die auch als bürgerliche Gesellschaft bezeichnet wird, in zunehmendem Maß die spielerischen Elemente aus den meisten kulturellen Bereichen wie z. B. der Religion, des Rechts, aber auch der produktiven Arbeit herausgedrängt hat. Um den wirtschaftlichen Erfolg zu sichern, hieß es, im Zuge der Industrialisierung rationell, effektiv und ergebnissicher zu agieren, und da blieb kein Raum für Kategorien wie Zufall, Glück, und Wagnis – allesamt Komponenten, die das Spiel ausmachen. Also lehnte die bürgerliche Gesellschaft die sportlichen Volksvergnügungen zunächst ab. In der Wettleidenschaft und Verschwendungssucht der Menschen, die der Sport förderte, sah man eine ernsthafte Bedrohung für die neuen Fortschrittstugenden wie Fleiß, Disziplin und Ordnung.
Doch das Blatt sollte sich schon bald wenden, denn einige maßgebliche Leute erkannten, dass es sinnvoller und den eigenen Zwecken zuträglicher wäre, den Sport nicht zu verdammen, sondern ihn in den Dienst der neuen Zukunftsideale zu stellen. Bald schon feierte man den Sport als Wundermittel, durch das sowohl der Charakter gebildet als auch der Nationalgeist entfacht und die kriegerische Moral vorangetrieben werden konnten. Insbesondere in der Heranzüchtung gesteigerter Wettbewerbsbereitschaft sah man den Nutzen des Sportes. Christopher Lasch nun vertritt die Ansicht, dass nicht die Betonung des Wettstreites selbst das Problem der heutigen Verwahrlosung des Sportes ist, sondern vielmehr der »Zusammenbruch jener Konventionen, die früher eben die Rivalität einschränkten, die sie zugleich verherrlichten«. Das heißt: Zu beklagen ist, dass der Sport sein regulierendes Ethos verloren hat.
Ich dachte darüber nach und mir fielen all die Skandale und Skandälchen der letzten Jahre wieder ein, die ich, nicht gerade sehr sportversessen, am Rand der Tagesthemen zur Kenntnis nahm. Ich dachte daran, wie viel Akzeptanz heute doch eine gnadenlose Siegermentalität gefunden hat, sodass die Bestechung von Schiedsrichtern, die Verabreichung von Drogen sowie der Gagenhunger der Sportler zum Alltagsgeschäft gehören. Man nimmt all das achselzuckend hin.
Ich musste Lasch also aus gegenwärtiger Sicht zustimmen, wenn er herbe Verluste an Kooperationsbereitschaft und Fairness beanstandet. Seit Erscheinen seiner Analysen vor ca. 30 Jahren ist es keinesfalls besser geworden. Im Gegenteil, schaut man genauer hin, so zeigt sich heute oftmals ein besonderer Zynismus: Man kultiviert das romantische Ideal des heldenhaften, opferbereiten, naturreinen Sportsmannes und betrachtet dessen ungeachtet schweren Dopingbetrug als Kavaliersdelikt. Man bewertet ihn nicht als Ergebnis einer freien Willensentscheidung des einzelnen Sportlers, sondern als Erfordernis quasi naturgesetzlicher Konkurrenzzwänge. Friss oder stirb, scheint hier die Devise, und wie wir wissen, obwohl es gerne vertuscht wird, gibt es eine Reihe von Fällen, in denen die Betroffenen dabei sogar ihr Sterben in Kauf nahmen.
Hier wird der Sport bitterer Ernst, und das – man muss Lasch zustimmen – genau deswegen, weil der Sport in seiner ursprünglichen Eigenart kaum noch ernst genommen wird, sondern zum Spektakel und Medienrummel verkommt. Viele suchen im Sport Ablenkung von ihren Alltagssorgen, vom Druck der Existenzsicherung, von den Gesetzmäßigkeiten des Erwerbslebens und müssen, wenn sie ihre Sinne schärfen, erkennen, dass – wie Lasch schreibt – »dieselben Kräfte, die Fabrik und Büro organisiert haben (…) auch die Freizeit organisiert und sie zu einem Anhängsel der Industrie reduziert« haben.
Wie schon der Philosoph Adorno dargelegt hat, ist inzwischen der Gegensatz von Arbeit und Freizeit nur noch ein scheinbarer. Je besinnungsloser man in der Masse untertaucht, um sich von den Anstrengungen des Berufs abzulenken, umso mehr läuft man Gefahr, auf dem Sportplatz nicht nur dem ungeliebten Kollegen, sondern gleichermaßen den Fremdbestimmungen der Arbeitswelt wieder zu begegnen. Je verzweifelter man abdriftet in die Sphären des schönen Scheins und des rauschhaften Vergessens, umso leichter kann es wohl passieren, dass man eingeholt wird von einem altbekannten Katzenjammer. Lasch formuliert das so: »Erst wenn Spiel und Sport als bloße Formen der Flucht aus der Wirklichkeit gewertet werden, büßen sie die Fähigkeit ein, diese Fluchtmöglichkeit auch wirklich zu bieten.«
Verwandte Überlegungen lassen sich auch im Hinblick auf Beziehungen, Ehe, Liebe und Sex anstellen. Ich bin froh, dass wir, Tante Clara sei Dank, darüber damals nicht gesprochen haben. Was hätte Georg, der 15 Jahre nach der Trennung noch immer seiner Frau Renate nachtrauerte, sich womöglich dazu von seinen Cousins anhören müssen? Doch dieses Thema soll nicht ausgespart bleiben, zumal ein anderes geselliges Ereignis mich in tiefes Nachsinnen darüber stürzte.
Eines Tages wird das Mädchen da sein und die Frau, deren Name nicht mehr nur einen Gegensatz zum Männlichen bedeuten wird, sondern etwas für sich, etwas, wobei man an keine Ergänzung oder Grenze denkt, nur an Leben und Dasein –: der weibliche Mensch.
Dieser Fortschritt wird das Liebe-Erleben, das jetzt voll Irrung ist (sehr gegen den Willen der überholten Männer zunächst), verwandeln, von Grund aus verändern, zu einer Beziehung umbilden, die von Mensch zu Mensch gemeint ist, nicht mehr von Mann zu Weib.
(Rainer Maria Rilke)
Mein Mann und ich erhielten eine Einladung von einem alten Bekannten, den wir lange nicht gesehen hatten. Neben der Vorfreude auf ein Wiedersehen mit uns spornte den Freund, so merkte ich bald, gleichermaßen der Wunsch an, uns stolz seine neue Partnerin zu präsentieren, die wie ich das Fach Deutsch und zusätzlich noch Englisch unterrichtete und darüber hinaus noch viele andere Aktivitäten in diesen Branchen verfolgte. Ich blickte voller Interesse der Begegnung mit einer Gleichgesinnten entgegen und erkundigte mich dann bald, vielleicht ein wenig zu übereifrig und neugierig, nach ihren Tätigkeiten. In Anbetracht all dessen, was sie vorzuweisen hatte, entwich mir in einem unbewachten Moment ein Seufzer, begleitet von der leicht resignierten und leider auch ein bisschen unehrlichen Bemerkung, dass ich nicht so viele Kinder hätte bekommen dürfen, wenn ich eine Hochschullaufbahn hätte weiter verfolgen wollen.