Glücksfaktor Stress - Kelly McGonigal - E-Book

Glücksfaktor Stress E-Book

Kelly McGonigal

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  • Herausgeber: TRIAS
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Warum Stress gut für Sie ist. Der faszinierende neue Weg, mit Stress umzugehen. Stress ist böse und unbedingt zu bekämpfen: Stress verursacht Herzinfarkte, Stress verursacht Schlafmangel, Stress ist Gift! Was aber, wenn all unsere Annahmen über Stress falsch wären? Stress kann uns stärker, klüger und glücklicher machen. Wie aber funktioniert das? Fundiert und unterhaltsam zeigt Bestsellerautorin Kelly McGonigal wie Resilienz - unsere psychische Widerstandskraft gegenüber den Herausforderungen des Lebens - und unsere innere Einstellung zusammenhängen. Der Schlüssel zu einem entspannteren Umgang mit Stress liegt nicht darin, ihn zu vermeiden. Sondern darin, Stress zu verstehen, anzunehmen und neu zu bewerten: - Wie wir Stress mit anderen Augen betrachten können. - Wie Stress uns zielgerichteter und stärker macht. - Wie wir aus Stresssituationen lernen, unser Leben besser zu meistern.

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Seitenzahl: 411

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Glücksfaktor Stress

Warum Stress uns erfolgreich und gesund macht

Kelly McGonigal

Aus dem Englischen übersetzt von Benjamin Schilling

1. Auflage

Zitat

Wenn du Schmetterlinge im Bauch hast, öffne ihnen dein Herz.

Cooper Edens

Einleitung

Welche der folgenden beiden Aussagen fasst am besten zusammen, wie Sie über Stress denken?

A) Stress ist schädlich und sollte reduziert, vermieden und bewältigt werden.

B) Stress ist hilfreich und sollte akzeptiert, genutzt und angenommen werden.

Vor fünf Jahren hätte ich Aussage A gewählt, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Ich bin Gesundheitspsychologin, und in all den Jahren meiner psychologischen und medizinischen Ausbildung habe ich eine Botschaft mehr als deutlich vernommen: Stress ist Gift.

Viele Jahre lang machte ich diese Botschaft zu meiner eigenen, vertrat sie im Unterricht und in Seminaren, forschte und schrieb Artikel und Bücher mit ihr. Ich erzählte den Menschen, dass Stress sie krank mache, dass Stress ihr Risiko erhöhe, an so ziemlich allem zu erkranken – von der gewöhnlichen Erkältung bis hin zu Herzschwäche, Depressionen und Sucht –, dass er ihre Gehirnzellen töte, ihre DNA schädige und sie schneller altern lasse. Auf allen Kanälen, von der „Washington Post“ bis zum Hochzeitsmagazin „Martha Stewart Wedding“, verbreitete ich jene Art von „Den-Stress-reduzieren“-Ratschlägen, die Sie vermutlich schon tausendmal gehört haben: Machen Sie bewusste Atemübungen, schlafen Sie mehr, teilen Sie sich Ihre Zeit gut ein – und natürlich: Reduzieren Sie den Stress in Ihrem Leben.

Ich erklärte den Stress zum Feind und war dabei nicht allein, sondern bloß einer von vielen Psychologen, Ärzten und Wissenschaftlern, die gegen den Stress ins Feld zogen. Wie jene war auch ich davon überzeugt, dass es sich um eine gefährliche Epidemie handelte, die unbedingt gestoppt werden müsse.

Doch inzwischen sehe ich Stress mit anderen Augen, und heute möchte ich auch Ihre Sicht auf ihn verändern.

Zuallererst will ich Ihnen von jener erschütternden wissenschaftlichen Erkenntnis berichten, die mich überhaupt dazu gebracht hat, meine Denkweise über Stress zu reformieren. Im Jahr 1998 wurden 30.000 Menschen in den USA befragt, wie viel Stress sie in den Jahren zuvor ausgesetzt gewesen waren. Außerdem stellte man ihnen die Frage: „Glauben Sie, dass Stress Ihrer Gesundheit schadet?“.

Acht Jahre später durchsuchten die Forscher öffentliche Behördendaten, um herauszufinden, wie viele der 30.000 Probanden bereits gestorben waren. Hier zuerst die schlechte Nachricht: Bei hohen Stresspegeln erhöht sich das Sterberisiko um 43 Prozent(1). Doch was meine Aufmerksamkeit erregte, war, dass dieses höhere Risiko nur jene Menschen betraf, die Stress für schädlich gehalten hatten. Bei allen, die zwar von viel Stress berichtet, diesen aber nicht als schädlich empfunden hatten, blieb die Sterbewahrscheinlichkeit gleich. Tatsächlich hatten sie von allen Studienteilnehmern sogar das niedrigste Sterberisiko, niedriger noch als jene, die sehr wenig Stress angegeben hatten.

Daraus schlussfolgerten die Forscher, dass nicht Stress allein für den Tod der Menschen verantwortlich war. Es war die Verbindung aus dem Vorhandensein von Stress und der Überzeugung, dass Stress schädlich ist. Die Forscher schätzten, dass bis zu 182.000 Amerikaner, die Stress für ungesund hielten, im Laufe der acht Studienjahre frühzeitig gestorben sein könnten.

Mehr als 20.000 Tote pro Jahr! Diese Zahl stieß mich vor den Kopf. Demnach wäre die Überzeugung „Stress ist schlecht für mich“ die fünfzehnthäufigste Todesursache in den USA – bezogen auf statistische Daten der Amerikanischen Gesundheitsbehörde – und würde mehr Menschen töten als Hautkrebs, HIV/AIDS und Selbstmord.

Diese Erkenntnis erschütterte mich zutiefst, das können Sie sich vorstellen. Bis dahin hatte ich meine ganze Zeit und Energie dafür eingesetzt, den Leuten einzureden, dass Stress schlecht für sie sei. Diese Botschaft half den Menschen – genau wie meine eigene Arbeit, davon war ich absolut überzeugt gewesen. Was aber, wenn das gar nicht stimmte? Was, wenn ich zwar geeignete Methoden lehrte, Stress zu reduzieren, zum Beispiel Körperübungen, Meditation und soziale Verbundenheit, ihren unbestreitbaren Nutzen aber im selben Atemzug durch die Botschaft „Stress ist Gift“ wieder schmälerte? War es vielleicht sogar möglich, dass ich im Namen des Stressmanagements mehr Schaden angerichtet hatte, als Gutes zu tun?

Zugegeben, fast hätte ich vorgetäuscht, diese Studie nie gesehen zu haben, schließlich war es nur eine einzige Studie – und noch dazu eine korrelative! Die Forscher hatten eine Vielzahl von Faktoren betrachtet, um das Untersuchungsergebnis zu erklären, darunter Geschlecht, Hautfarbe, ethnische Herkunft, Alter, Bildungsniveau, Einkommen, Beruf, Familienstand, Raucher/Nichtraucher, körperliche Betätigung, chronische Erkrankungen sowie den Krankenversicherungsstatus der Probanden: Keiner dieser Faktoren konnte erklären, warum das Zusammenspiel zwischen dem Stresspegel und der Überzeugung, dass Stress schädlich ist, Rückschlüsse auf die Sterblichkeit ermöglichen sollte. Allerdings hatten die Forscher im Grunde gar keinen Einfluss darauf ausgeübt, wie die Probanden über Stress dachten, und konnten deshalb gar nicht sicher sein, dass die Überzeugungen tatsächlich für ihren Tod verantwortlich waren. Lebten Menschen, die Stress für ungesund hielten, möglicherweise mit einer anderen – irgendwie giftigeren – Art von Stress? Oder waren sie aufgrund ihrer Persönlichkeit vielleicht besonders anfällig für seine negativen Folgen?

Dennoch ging mir die Studie nicht mehr aus dem Kopf, und trotz aller Selbstzweifel witterte ich zugleich eine Chance. Stets hatte ich meinen Psychologie-Studenten an der Stanford-Universität gepredigt, dass die aufregendste wissenschaftliche Erkenntnis genau jene sei, die das eigene Selbst- und Weltbild in Frage stelle. Doch nun wurde ich selbst damit konfrontiert: War auch ich bereit, meine Überzeugungen in Frage zu stellen?

Das rein zufällig entdeckte Ergebnis, dass Stress nur schadet, wenn wir daran glauben, gab mir Gelegenheit zu hinterfragen, was ich andere lehrte. Mehr noch: Es lud mich ein, mein eigenes Verhältnis zu Stress zu überdenken. Würde ich die Einladung annehmen, oder würde ich den Artikel beiseite legen und meinen Kreuzzug gegen den Stress fortsetzen?

Zwei Punkte sprachen aus meiner Sicht als Gesundheitspsychologin dafür, dass das Denken über Stress von Bedeutung ist – und dass es ungewollte Folgen haben könnte, den Leuten einzureden: „Stress wird dich umbringen!“

Erstens wusste ich bereits, dass bestimmte Überzeugungen die Lebensdauer beeinflussen können. So leben Menschen mit einer positiven Einstellung zum Altern länger als jene, die negativen Klischees anhängen. Eine klassische Studie von Forschern der Yale-Universität begleitete Erwachsene im mittleren Alter über einen Zeitraum von 20 Jahren – mit dem Ergebnis, dass Probanden mit anfangs positiver Haltung zum Altern durchschnittlich 7,6 Jahre länger lebten als jene, die negativ eingestellt waren(2). Zum Vergleich: Es ist nachgewiesen, dass viele Dinge, die als unbestrittene und wichtige lebensverlängernde Faktoren gelten – wie regelmäßiges Training, Nichtrauchen oder gesunde Blutdruck- und Cholesterinwerte –, die Lebensdauer durchschnittlich um weniger als vier Jahre verlängern.

Vertrauen ist ein weiteres Beispiel für die positive Wirkung von Überzeugungen. Menschen, die ihren Mitmenschen Vertrauen schenken, leben in der Regel länger. So waren am Ende einer 15-jährigen Langzeitstudie der Duke-Universität 60 Prozent der über 55-Jährigen noch am Leben, die ihre Mitmenschen für vertrauenswürdig hielten. Dagegen waren 60 Prozent der Probanden mit einem zynischen Menschenbild bereits verstorben(3).

Längst hatten mich derartige Ergebnisse umgestimmt, dass manche Überzeugungen für die Gesundheit und die Lebensdauer eine wichtige Rolle spielen. Ob das Denken über Stress ebenfalls dazuzählte, wusste ich bis dahin allerdings noch nicht.

Als Zweites stellte das, was ich über die Geschichte der Gesundheitsförderung wusste, meine Sicht auf Stress in Frage. Falls die Botschaft „Stress tötet“ schlecht für die öffentliche Gesundheit wäre, so wäre es nicht das erste Mal, dass eine populäre Strategie der Gesundheitsförderung alles nur noch schlimmer machte. Tatsächlich haben einige der gängigsten Methoden zur Förderung gesünderen Verhaltens genau das Gegenteil dessen bewirkt, was sich Gesundheitsexperten erhofften.

Zum Beispiel frage ich im Gespräch mit Ärzten manchmal, wie sie die Wirkung der Warnbilder auf Zigarettenschachteln einschätzen. Meist erhalte ich darauf die Antwort, die Bilder würden Rauchern die Lust nehmen und ihren Wunsch steigern, das Rauchen aufzugeben. Allerdings zeigen Studien, dass diese Warnungen oft genau das Gegenteil bewirken und die schlimmsten Bilder (wie das eines Lungenkrebspatienten, der in einem Krankenbett stirbt) die positive Einstellung zum Rauchen sogar verstärken(4). Warum? Die Bilder machen Angst, und was gibt es Besseres als eine Zigarette, um sich wieder zu beruhigen? Nach Einschätzung der Ärzte müsste die Angst eine Verhaltensänderung bewirken, doch stattdessen nährt sie einzig den Wunsch, sich nicht länger schlecht zu fühlen.

Auch der Versuch, Menschen durch Scham von ihrem ungesunden Verhalten abzubringen, geht regelmäßig schief. In einer Studie der Universität von Kalifornien in Santa Barbara lasen übergewichtige Frauen einen Artikel der „New York Times“ darüber, wie Angestellte mit Übergewicht immer öfter von ihren Arbeitgebern diskriminiert würden. Infolgedessen nahmen diese Frauen doppelt so viele Kalorien in Form ungesunder Nahrung zu sich wie andere übergewichtige Probandinnen, die einen Artikel zu einem anderen Arbeitsplatzthema gelesen hatten(5).

Angst, Stigmatisierung, Selbstkritik, Scham – viele Gesundheitsexperten halten sie für wirkungsvolle Botschaften, die helfen können, das Wohlbefinden der Menschen zu steigern. Doch tatsächlich belegen wissenschaftliche Untersuchungen, dass diese Botschaften bei den Menschen genau jene Verhaltensweisen fördern, die die Experten eigentlich überwinden wollten(6). Immer wieder habe ich im Laufe der Jahre dasselbe Wechselspiel erlebt: Ärzte und Psychologen erteilen ihren Patienten einen gut gemeinten Rat, den sie als hilfreich ansehen, der diese jedoch letztlich niedergeschlagen und überwältigt zurücklässt und zu selbstzerstörerischem „Coping-Verhalten“ (deutsch „Bewältigungsstrategie“, Anm. d. Übers.) verleitet.

Nach der Entdeckung der Studie, die einen Zusammenhang zwischen den Überzeugungen von Stress und der Sterblichkeit herstellte, achtete ich genauer auf die Reaktion der Menschen, mit denen ich über die schädliche Wirkung von Stress sprach. Meine Botschaft wurde eindeutig mit demselben Gefühl der Überwältigung aufgenommen, das ich bei medizinischen Warnhinweisen erwartet hätte, die Menschen ängstigen oder beschämen sollen. Wenn ich ausgelaugte Studenten, die kurz vor den Abschlussprüfungen standen, auf die Negativfolgen von Stress hinwies, verließen sie den Hörsaal noch niedergeschlagener als zuvor, während Pflegekräfte beim Betrachten beängstigender Stress-Statistiken Tränen in den Augen hatten. Und keiner der Zuhörer bedankte sich später bei mir mit den Worten: „Danke, jetzt weiß ich endlich, wie giftig mein stressiges Leben ist! Ich weiß, dass ich den Stress loswerden kann, es war mir bisher einfach nur nicht in den Sinn gekommen!“

Mir wurde klar, dass egal, für wie wichtig ich es hielt, über Stress zu sprechen, die Art und Weise, wie ich darüber sprach, vielleicht nicht hilfreich war. Alles, was ich je zum Thema Stressmanagement gelernt hatte, beruhte auf der Annahme, dass Stress gefährlich ist und die Menschen darüber informiert werden müssen. Sobald sie das verstanden hätten, würden sie ihn reduzieren und dadurch gesünder und glücklicher werden. Doch inzwischen war ich mir da gar nicht mehr so sicher.

Aus Neugier, wie die persönliche Einstellung zu Stress seine Wirkung beeinflusst, machte ich mich auf die Suche nach mehr Belegen. Ich fragte mich, ob unser Denken über Stress wirklich eine Rolle spielte, und welche Alternativen sich boten, wenn es tatsächlich schädlich sein sollte, Stress als schädlich zu betrachten. Hatte Stress vielleicht doch etwas Gutes, das es sich anzunehmen lohnte?

Während ich über nicht enden wollenden Studien und Erhebungen der letzten dreißig Jahre brütete, bemühte ich mich, die Daten völlig unparteiisch zu betrachten. So fand ich Beweise für einige der schädlichen Nebenwirkungen, die wir alle fürchten, aber auch für kaum wahrgenommene Vorteile. Ich befasste mich mit der Geschichte des Stresses und was Psychologie und Medizin dazu gebracht hatte, ihn als Gift einzustufen. Außerdem sprach ich mit Wissenschaftlern einer neuen Generation von Stressforschern, die mit ihren Arbeiten unser Verständnis von Stress reformieren, indem sie das Gute an ihm beleuchten. Und alles, was ich in dieser Zeit lernte, veränderte mein Denken nachhaltig.

Neueste wissenschaftliche Forschungen belegen, dass wir durch Stress schlauer, stärker und erfolgreicher werden können, dass er uns beim Lernen und Wachsen unterstützt und sogar Mut und Mitgefühl auslösen kann. Die jüngste Forschung zeigt außerdem, dass wir gesünder und glücklicher leben können, wenn wir unsere Haltung zu Stress ändern. Alles – vom gesunden Kreislauf bis zur erfolgreichen Suche nach dem Sinn in unserem Leben – wird von dieser Haltung beeinflusst. Stress lässt sich am besten bewältigen, indem wir ihn mit anderen Augen betrachten und ihn annehmen, und nicht, indem wir ihn reduzieren oder vermeiden.

Mein Ziel als Gesundheitspsychologin hat sich dadurch folglich gewandelt. Ich will Ihnen jetzt nicht mehr dabei helfen, Stress loszuwerden, sondern ich will Ihnen helfen, besser mit Stress zu leben! So lautet das Versprechen der neuen Stressforschung, und das ist auch der Zweck dieses Buches.

Über dieses Buch

Dieses Buch beruht auf dem Seminar „Die Neue Stressforschung“, das ich im „Studium generale“ der Stanford-Universität anbiete. Der Kurs richtet sich an Menschen aller Lebenslagen und Altersstufen und soll verändern, wie wir über Stress denken und mit ihm leben.

Zwei Gründe sprechen dafür, mehr über die Forschung zu wissen, die dem neuen Stressdenken – dem Annehmen von Stress – zugrunde liegt. Zuallererst ist sie faszinierend. Denn wenn es um das Wesen des Menschen geht, ist jede Studie eine Gelegenheit, uns selbst und die Menschen, die wir lieben, besser zu verstehen. Zweitens hält die Stressforschung jede Menge Überraschungen parat und vertritt einige schwer verdauliche Ideen – darunter die zentrale These dieses Buches, dass Stress gut für uns ist. Gäbe es keine Beweise, so könnte man sie allzu leicht widerlegen. Doch wenn wir die Forschung dahinter kennen, dann kann uns das helfen, sie zu berücksichtigen und zu überlegen, wie wir sie auf unsere eigenen Erfahrungen anwenden könnten.

Die Ratschläge in diesem Buch stützen sich nicht auf eine einzige erschütternde Studie, auch wenn genau diese mich zum Umdenken bewegt hat. Stattdessen werden Sie Strategien kennenlernen, die auf hunderten Studien und den Erkenntnissen Dutzender Wissenschaftler basieren, mit denen ich gesprochen habe. Es würde nicht funktionieren, die Wissenschaft einfach beiseitezulassen und gleich mit den Ratschlägen zu beginnen. Denn erst wenn wir wissen, was hinter jeder einzelnen Strategie steckt, bleibt sie uns dauerhaft im Gedächtnis. Deshalb ist dieses Buch zugleich ein Crashkurs über die neue Stressforschung sowie über das, was Psychologen „Mindset“ (deutsch „Denkweise“ oder „Denkart“ bzw. auch „Selbstbild“, Anm. d. Übers.) nennen. Sie werden aufstrebende Nachwuchsforscher und einige ihrer faszinierendsten Untersuchungen kennenlernen – und all das, wie ich hoffe, in einer für jeden Leser unterhaltsamen Sprache. Und schließlich, falls Ihr Verlangen nach wissenschaftlichen Einzelheiten und Informationen sogar noch größer sein sollte, finden Sie am Ende des Buches Anmerkungen bzw. Quellenangaben, die Sie tiefer in die Materie eindringen lassen.

Zuallererst aber ist dieses Buch ein praktischer Leitfaden, der Ihnen helfen soll, besser mit Stress zu leben. Stress anzunehmen kann dazu führen, dass Sie sich für Herausforderungen besser gewappnet fühlen und seine Energie besser einsetzen können, ohne anschließend völlig ausgebrannt zu sein. Es kann Ihnen helfen, Stressmomente für das Knüpfen sozialer Bande zu nutzen, statt sie als Weg in die Isolation zu betrachten. Und schließlich kann es Ihnen neue Wege weisen, damit Sie im Leid einen Sinn erkennen können.

Überall im Buch werden Ihnen zwei Arten von Praxisübungen begegnen, die Sie ausprobieren können.

Die „Stress-neu-denken“-Übungen im ersten Teil sollen verändern, wie Sie über Stress denken. Sie können sie als Anstoß für das Verfassen eines Textes nutzen oder jede andere Form der Selbstreflexion wählen, die für Sie funktioniert. Überall und jederzeit können Sie sich mit dem Thema befassen, auf dem Laufband im Fitnessstudio oder im Bus zur Arbeit, im Stillen oder im Gespräch, mit Ihrem Partner beim Abendessen oder mit Ihren Freunden auf Facebook. Diese Übungen helfen Ihnen nicht nur, über Stress allgemein anders zu denken, sondern lassen Sie außerdem hinterfragen, welche Rolle er in Ihrem Leben spielt – auch mit Blick auf Ihre wichtigsten Werte und Ziele.

Die „Stress-umwandeln“-Übungen im zweiten Teil enthalten einerseits Ad-hoc-Strategien, die Sie in Stressmomenten anwenden können, und andererseits Selbstreflexionen, die Sie darauf vorbereiten, bestimmten Herausforderung im Leben zu begegnen. Sie werden Ihnen in Zeiten der Unruhe, Frustration, Wut oder Überforderung helfen, Ihre Energie- und Kraftreserven anzuzapfen und Hoffnung zu schöpfen. Die „Stress-umwandeln“-Übungen beruhen auf dem Prinzip der sogenannten „Mindset-Resets“ („reset“ bedeutet unter anderem „wiederherstellen“/„zurücksetzen“/„neueinstellen“, Anm. d. Übers.). Dabei handelt es sich um Veränderungen der Art und Weise, wie Sie in einer Akutsituation über Stress denken. Diese „Mindset-Resets“ sind in der Lage, Ihre körpereigene Stressreaktion sowie Ihre Einstellung zu modifizieren und aktives Handeln zu fördern. Letzten Endes verändern sie also die Wirkung, die Stress in einer Akutsituation auf Sie hat. All diese Übungen fußen auf wissenschaftlichen Untersuchungen, und ich möchte auch Ihnen nahelegen, sie als Experimente zu betrachten: Probieren Sie einfach aus, was für Sie persönlich funktioniert.

Gemeinsam werden alle Übungen dazu beitragen, dass sich Ihr Verhältnis zu Stress wandelt. Vielleicht erscheint Ihnen ja schon die Vorstellung seltsam, überhaupt irgendein Verhältnis zu Stress zu unterhalten, besonders wenn Sie ihn normalerweise als etwas verstehen, das Ihnen widerfährt. Und dennoch haben Sie wirklich ein Verhältnis zu Stress! Vielleicht fühlen Sie sich ja als Opfer von Stress – haben das Gefühl, ihm hilflos ausgeliefert zu sein – oder Sie verbindet eine Art Hassliebe, denn obwohl Sie mit seiner Hilfe Ihre Ziele erreichen, fürchten Sie sich vor den Langzeitfolgen. Vielleicht haben Sie das Gefühl, ständig gegen Stress ankämpfen und dauernd versuchen zu müssen, ihn zu reduzieren, zu vermeiden oder zu bewältigen – ohne jedoch irgendeine Kontrolle über ihn zu haben –, oder Sie betrachten ihn als Feind, als lästigen Gast oder unwägbaren Gefährten. Wie auch immer diese Beziehung gerade aussieht, Ihre Haltung gegenüber Stress sowie Ihre Reaktion auf ihn sind entscheidend dafür verantwortlich, wie er auf Sie wirkt. Indem Sie über Stress neu denken und ihn sogar annehmen, können Sie seine Auswirkungen auf alle Bereiche Ihres Lebens verändern – auf Ihre Gesundheit und Ihre Gefühle ebenso wie auf Ihren Arbeitsalltag und Ihre Erwartungen für die Zukunft.

Weiterhin werden wir in diesem Buch immer auch erörtern, wie Sie mithilfe der Stress- und Mindset-Forschung all die Menschen, Gemeinschaften und Organisationen unterstützen können, die Ihnen am Herzen liegen. Wie können wir bei unseren Angehörigen Resilienz fördern, wie würde eine Unternehmenskultur aussehen, die Stress bereitwillig annimmt, wie knüpfen Menschen soziale Auffangnetze, um mit Trauma oder Verlust zurechtzukommen? Ich werde Ihnen einige meiner Lieblingsprojekte vorstellen, die mithilfe dieser Forschung Gemeinschaften erzeugen, die Leid verwandeln, und zwar in Wachstum, Sinn und Verbundenheit. Sie können uns als Beispiel und Inspiration dienen, denn sie zeigen, wie man Wissenschaft in Wirklichkeit und abstrakte Theorien in wirkungsvolle Taten überführt.

Wird dieses Buch mir mit meinem Stress helfen?

Bis jetzt habe ich es vermieden, „Stress“ zu definieren. Das liegt unter anderem daran, dass sich dieses Wort zu einer Art Sammelbegriff entwickelt hat und für so ziemlich alles steht, was wir nicht erleben wollen oder was falschläuft in der Welt. Im Straßenverkehr zu spät zu kommen, läuft ebenso unter Stress wie ein Todesfall in der Familie, immer wenn wir unruhig, beschäftigt und frustriert, in Gefahr oder unter Druck sind, dann fühlen wir uns gestresst. Ja, an manchen Tagen kann uns vom Wetter bis zur eigenen To-do-Liste so ziemlich alles stressen. In diesem Augenblick könnte die größte Stressquelle in Ihrem Leben die Arbeit, das Elterndasein, ein gesundheitliches Problem, die Bewältigung Ihrer Schulden oder eine Scheidung sein. Manchmal verwenden wir das Wort Stress für die Prozesse in unserem Inneren – für Gedanken, Gefühle und physische Reaktionen – und manchmal für die Probleme, die vor uns liegen. In der Regel sind es ganz banale Störungen, die als Stress bezeichnet werden, aber es kann ebenso gut sein, dass viel ernstere psychische Probleme wie Depressionen oder Angstzustände damit abgehandelt werden. Kurzum, eine einzelne Definition kann all diese Aspekte nicht abdecken, und trotzdem werden sie alle unter einem einzigen Begriff – „Stress“ – verbucht.

Diese Vielseitigkeit des Wortes Stress ist Fluch und Segen zugleich. Ein Nachteil besteht darin, dass es dadurch kompliziert wird, über die Stressforschung zu sprechen. Sogar Wissenschaftler verwenden das Wort für eine verwirrende Vielfalt von Aspekten, obwohl eigentlich gerade sie für präzise Definitionen bekannt sind. So kann Stress in einer Studie Überforderung durch hohe Pflegebedürfnisse bedeuten, in einer anderen arbeitsbedingtes Burn-out, während das Wort wieder anderswo die Mühen des Alltags beschreibt. Noch schlimmer ist es, wenn das Schlagwort Stress bei Medienberichten über solche Forschung zwar in der Überschrift auftaucht, im Anschluss aber keine weiteren Details zum Inhalt der Studie genannt werden. Sie müssen dann selbst raten, ob die Ergebnisse für Ihr Leben relevant sein könnten.

Doch die Vielfalt der Lebensaspekte, die mit diesem einen Wort beschrieben werden, birgt auch einen Vorteil: Unser Denken über Stress hat großen Einfluss auf die Frage, wie wir unser Leben erleben. Wenn wir unsere Denkweise über Stress verändern, kann das ähnlich weitreichende Folgen haben und sowohl die Anstrengungen des Alltags wie auch die größten Herausforderungen des Lebens komplett verwandeln. Aus diesem Grund bemühe ich mich hier nicht um eine handlichere Definition des Wortes Stress, sondern halte seine Bedeutung bewusst offen. Denn schließlich besteht das große Potential der Entscheidung, das Gute am Stress zu sehen, darin, dass wir dadurch mit einem Mal unser Denken und unsere Haltung zu so vielen Aspekten des Lebens verändern können.

Zum Auftakt unserer Reise biete ich Ihnen daher die folgende Definition von Stress an: „Stress ist das, was entsteht, wenn etwas, das Ihnen wichtig ist, auf dem Spiel steht.“Diese Definition ist weit genug, um sowohl Ihren Ärger über den Straßenverkehr als auch Ihre Trauer über den Verlust eines Menschen zu umfassen. Sie kann Ihre Gedanken, Gefühle und physischen Reaktionen in einem Stressmoment ebenso beschreiben wie Ihre Art, sogenannte Stresssituationen zu bewältigen. Darüber hinaus unterstreicht sie eine wichtige Tatsache in Bezug auf das Wesen von Stress: Stress und Sinn sind untrennbar miteinander verbunden. Etwas, das Ihnen egal sind, macht Ihnen keinen Stress. Und ohne Stress wird es Ihnen nicht möglich sein, ein sinnvolles Leben zu führen.

Mit diesem Buch möchte ich Ihnen wissenschaftliche Tatsachen, Geschichten und Strategien an die Hand geben, die die gesamte Bandbreite dessen abdecken, was wir als Stress bezeichnen. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass Ihnen nicht jedes Beispiel zusagen wird, und dass es schlicht unmöglich ist, alle Aspekte zu erfassen, die wir gemeinhin „stressig“ nennen. Wir werden Stress im Bildungs-, Arbeits- und Familienleben betrachten, werden uns gesundheitlichen, finanziellen und sozialen Stress ebenso anschauen wie die Herausforderung, mit Angstzuständen, Depressionen, Verlust oder einem Trauma zu leben. Kurz, wir werden uns mit Dingen beschäftigen, die am ehesten unter dem Begriff „Leid“ zusammengefasst werden können und die immer dann zur Sprache kommen, wenn ich Menschen dazu bringe, über Stress in ihrem eigenen Leben nachzudenken.

Die Stimmen meiner Studenten werden Ihnen davon berichten – natürlich anonymisiert, sofern das gewünscht war –, wie sie die Ideen dieses Buches in ihrem Leben umgesetzt haben. Bedenken Sie, dass es sich um reale Geschichten von realen Menschen handelt. Indem sie hier über ihre ganz persönlichen Erfahrungen sprechen, möchten sie Ihnen dabei helfen, dass Sie selbst eine andere Erfahrung im Umgang mit Stress entwickeln. In Gestalt der Fragen und Bedenken, die ich zu behandeln versuche, begleiten sie uns durch das gesamte Buch. Ihnen verdanke ich einen tieferen Einblick in die Frage, was es in Lebensumständen, die sich von meinen eigenen unterscheiden, bedeutet, Stress anzunehmen.

Ich vertraue Ihnen, dass Sie Ihre größtmögliche Aufmerksamkeit dem Teil der Forschung und der Geschichten widmen, der gerade zu Ihrem Leben passt. Das Gleiche gilt für die Übungen und Strategien in diesem Buch. Denn schließlich kann eine einzige Studie genauso wenig jede Art von Stress erfassen, wie ein und dieselbe Stressbewältigungsstrategie immer und überall funktioniert. Ich bitte Sie also, sich die Methoden selbst auszusuchen, von denen Sie denken, dass sie zu Ihren persönlichen Herausforderungen am besten passen.

Jedes Mal, wenn ich über das Gute am Stress rede, fragt jemand: „Was ist mit dem wirklich üblen Stress? Gilt das, was Sie uns erzählen, dann immer noch?“ Die Leute verstehen immer gleich, dass es hilfreich sein könnte, den kleinen Stress anzunehmen – etwas mehr Druck im Beruf oder ein bisschen Nervosität vor einem wichtigen Ereignis. Aber was ist mit dem richtig großen Stress? Gilt das „Den-Stress-annehmen“-Konzept auch bei einem Trauma, bei Verlust, Gesundheitsproblemen und chronischem Stress?

Tatsächlich kann ich nicht garantieren, dass die Ideen dieses Buches bei jeder Art von Stress oder jedem Leid helfen werden. Aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass es nicht nur bei kleinen Dingen nützlich ist, Stress anzunehmen. Zu meiner eigenen Überraschung hat diese Haltung mir in den schwierigsten Situationen am besten geholfen: beim Umgang mit dem Tod eines geliebten Menschen, dem Ertragen chronischer Schmerzen und sogar bei der Überwindung einer lähmenden Flugangst. Das bestätigen auch die Erzählungen meiner Studenten. Am Ende des Kurses geht es meistens nicht darum, wie sie besser mit ihren Abgabefristen oder dem lästigen Nachbarn zurechtkommen. Vielmehr berichten sie davon, wie sie gelernt haben, den Verlust ihrer Arbeit oder ihres Ehepartners zu überwinden, mit ihrem lebenslangen Kampf gegen Angst umzugehen oder eine Krebsbehandlung zu überstehen.

Warum sollte es unter diesen Umständen etwas nützen, das Gute am Stress zu sehen? Ich bin überzeugt, es liegt daran, dass sich durch das Annehmen von Stress unsere Denkweise über uns selbst und über das verändert, was wir bewältigen können. Es handelt sich hierbei aber nicht nur um eine intellektuelle Anstrengung. Wenn wir uns das Gute am Stress vor Augen führen, dann beeinflusst das, wie wir ihn körperlich und emotional erleben, und das verändert wiederum, wie wir den Herausforderungen unseres Lebens begegnen. Genau vor diesem Hintergrund habe ich dieses Buch verfasst: Es soll Ihnen helfen, Ihre eigene Stärke, Ihren Mut und Ihr Mitgefühl zu entdecken. Dabei geht es nicht um die Entscheidung, ob Stress entweder als ausschließlich gut oder schlecht betrachtet werden kann. Es geht vielmehr darum, wie die Bereitschaft, das Gute am Stress zu sehen, Ihnen dabei helfen kann, die Herausforderungen Ihres Lebens zu meistern.

Inhaltsverzeichnis

Zitat

Einleitung

Über dieses Buch

Wird dieses Buch mir mit meinem Stress helfen?

Teil I Stress neu denken

1 Wie Sie Ihre Haltung zu Stress ändern können

1.1 Wir bekommen immer das, was wir erwarten

1.2 Vom Placebo zum Mindset

1.3 Wie sieht Ihr Stress-Mindset aus?

1.4 Die erste Stress-Mindset-Intervention

1.5 Die Kunst der Veränderung von Mindsets

1.6 Warum Mindset-Interventionen schwer zu fassen sein können

1.7 Wie Sie Ihr Mindset verändern können

1.8 Lernen Sie Ihr Stress-Mindset kennen

1.9 Schlussbemerkung

2 Jenseits von „fight-or-flight“

2.1 Wie der Stress seinen schlechten Ruf erlangte

2.2 Ist es falsch, eine Stressreaktion zu zeigen?

2.3 Mehr als nur „fight-or-flight“

2.3.1 Stress gibt Ihnen die nötige Energie, um die Herausforderung zu meistern

2.3.2 Stress macht Sie gesellig und fördert damit gesellschaftliche Bindungen

2.3.3 Stress hilft uns beim Lernen und Wachsen

2.4 Wählen Sie Ihre eigene Stressreaktion

2.4.1 Stress in 11.000 Metern Höhe

2.4.2 Jeder Stressmoment ist eine Gelegenheit, die Stressreaktion umzuformen

2.5 Schlussbemerkung

3 Ein sinnerfülltes Leben ist ein stressiges Leben

3.1 Führen Sie ein sinnerfülltes Leben?

3.1.1 Warum sind Stress und Sinn so eng miteinander verknüpft?

3.2 Welchen Sinn hat unser Alltagsstress?

3.2.1 Wie kann es möglich sein, dass eine einzige, kleine Intervention so viel Macht ausübt?

3.3 Besinnen Sie sich auf Ihre Werte

3.4 Wie wir über Stress reden

3.5 Stressvermeidung hat ihren Preis

3.6 Schlussbemerkung

Teil II Stress umwandeln

4 Was bedeutet es, mit Stress gut umgehen zu können?

5 Sich einlassen: Wie Angst Ihnen hilft, sich der Herausforderung zu stellen

5.1 Kraftstrotzend oder dem Zusammenbruch nahe?

5.2 Ein Traum wird Wirklichkeit: Wie Wissenschaft zur Praxis wird

5.2.1 Der Teufelskreis aus Angst und Vermeidung

5.3 Wie Sie aus einer Bedrohung eine Herausforderung machen

5.4 Zwischen Herausforderung und Bedrohung unterscheiden

5.4.1 Wie aus „Ich wünschte, ich müsste das nicht tun“ ein „Ich kann das“ wird

5.5 Hat das Annehmen von Angst Grenzen?

5.5.1 Aus der Sozialhilfe ins Arbeitsleben: Das „Welfare-to-work-Programm“

5.6 Schlussbemerkung

6 Sich verbinden: Wie durch Fürsorge Resilienz entsteht

6.1 Wie sich Stress verändert, wenn wir für andere sorgen und Freundschaften schließen

6.1.1 Tend-and-befriend: Jetzt wird es richtig spannend

6.2 Wie sich unser Stress durch übergeordnete Ziele verändert

6.3 Die Entwicklung übergeordneter Ziele am Arbeitsplatz

6.4 Durch Fürsorge entsteht Resilienz

6.4.1 Aus der Gesellschaft, für die Gesellschaft

6.4.2 Vom Jäger zum Beschützer

6.5 Wenn wir uns mit unserem Leid alleingelassen fühlen

6.5.1 Ein Mindset der Isolation oder der verbindenden Humanität

6.5.2 Das Unsichtbare sichtbar machen

6.6 Knüpfen Sie Ihr eigenes soziales Auffangnetz

6.7 Schlussbemerkung

7 Wachsen: Wie Sie durch Widrigkeiten stärker werden

7.1 Was uns nicht umbringt, macht uns stärker

7.2 Soll ich für mein Leid etwa dankbar sein?

7.3 Wie Sie ein wachstumsorientiertes Mindset ausbilden können

7.4 Posttraumatisches Wachstum

7.5 Das Gute an Widrigkeiten erkennen

7.5.1 Benefit-Finding kann sehr aufbauend sein, wenn es freiwillig geschieht

7.6 Wie man andere Menschen mit Wachstum und Resilienz ansteckt

7.6.1 Bilder und Stimmen der Hoffnung

7.6.2 Geschichten, die Resilienz wecken

7.7 Schlussbemerkung

8 Abschließende Gedanken

9 Danksagung

10 Endnoten

11 Abkürzungsverzeichnis

Autorenvorstellung

Sachverzeichnis

Impressum

Teil I Stress neu denken

1 Wie Sie Ihre Haltung zu Stress ändern können

2 Jenseits von „fight-or-flight“

3 Ein sinnerfülltes Leben ist ein stressiges Leben

1 Wie Sie Ihre Haltung zu Stress ändern können

Ich stand im Verhaltensforschungslabor der Columbia-Universität und hielt meinen rechten Arm auf Schulterhöhe ausgestreckt, während die Psychologin Alia Crum ihn nach unten zu drücken versuchte. Unser Wettstreit dauerte einige Sekunden lang, und zu meiner Überraschung war meine Gegnerin trotz ihrer Zierlichkeit ziemlich stark. (Später sollte ich erfahren, dass Alia in der ersten Hochschulliga Eishockey gespielt hatte und heute eine Ironman-Athletin von internationalem Rang ist.)

Mein Arm gab nach.

Dann sagte sie: „Stell dir jetzt bitte vor, dass du deinen Arm nach einer Person oder Sache ausstreckst, die dir am Herzen liegt, nicht nur, dass du gegen mich gewinnen willst.“ Außerdem sollte ich mir beim Dagegenhalten vorstellen, dass ich ihre Energie auf mein eigenes Ziel umlenken könnte. Die Idee für diese Übung verdankte sie ihrem Vater, einem Aikido-Meister. Die Umwandlung gegnerischer Energie ist ein grundlegendes Prinzip dieser Kampfkunst. Beim nächsten Versuch folgte ich also ihren Anweisungen. Diesmal konnte sie meinen Arm nicht nach unten drücken, da ich stärker als zuvor war und meine Kraft mit zunehmendem Druck sogar wachsen fühlte.

„Hast du es auch wirklich mit der gleichen Kraft versucht?“, fragte ich.

Alia Crum strahlte, denn sie hatte mir soeben den einen, grundlegenden Gedanken veranschaulicht, der ihre gesamte Forschung beseelt: Unser Denken über eine Sache kann verändern, wie diese auf uns wirkt.

Ich hatte Alia Crum im Keller der Columbia-Universität getroffen, um mit ihr über ihre Forschung über Stress zu sprechen. Für eine junge Wissenschaftlerin kann sie schon jetzt auf eine ungewöhnliche Erfolgsgeschichte voller hochkarätiger Forschungsergebnisse zurückblicken. Ihre Arbeit erregt Aufmerksamkeit, weil sie beweist, dass unser körperlicher Zustand viel subjektiver ist, als wir glauben. Indem sie beeinflusst, wie Menschen über ein Erlebnis denken, kann sie auch deren körperliche Prozesse beeinflussen. Ihre Forschungsergebnisse sind derart überraschend, dass man sich kopfschüttelnd fragt, wie so etwas überhaupt möglich sein kann.

Mindset-Forscher sind mit einer solchen Reaktion vertraut. Mindsets sind Überzeugungen, die unsere Wirklichkeit formen, dazu zählen auch objektiv messbare Körperreaktionen (wie die Kraft meines Armes, als Crum gegen ihn drückte) und selbst Dinge wie dauerhafte Gesundheit, Zufriedenheit und Erfolg. Vor allem zeigt die neue Mindset-Forschung aber, dass schon ein einziger Eingriff in unsere Art, über etwas zu denken, eine deutliche Verbesserung für unsere Gesundheit, Zufriedenheit und unseren Erfolg bringen kann. Dieser Forschungszweig hat schon eine Vielzahl bemerkenswerter Erkenntnisse hervorgebracht, die auch Ihre Überzeugungen in Frage stellen werden. Er beweist, dass es von entscheidender Bedeutung ist, wie wir eine Sache wahrnehmen, egal ob es dabei um ein Placebo oder eine sich selbst erfüllende Prophezeiung geht.

Nach diesem Crashkurs in Sachen Mindset-Forschung werden auch Sie erkennen, warum Ihre Überzeugungen in Bezug auf Stress eine wichtige Rolle spielen und wie Sie daran arbeiten können, Ihre eigene Haltung gegenüber Stress zu verändern.

1.1 Wir bekommen immer das, was wir erwarten

„Die Pfunde wegdenken“ und „Glauben Sie sich selbst gesund“ – solche Schlagzeilen begleiteten die Veröffentlichung einer der ersten Studien von Alia Crum(7). Sie untersuchte darin, wie Überzeugungen sich auf Gesundheit und Gewicht auswirken, und hatte dafür Reinigungskräfte aus sieben Hotels in ganz Amerika angeworben. Putzen ist eine sehr anstrengende Arbeit, bei der man bis zu 300 Kalorien pro Stunde verbrennt, und steht damit – wenn man es als körperliche Übung betrachtet – auf einer Ebene mit Gewichtheben, Wassergymnastik und schnellem Gehen (mit mehr als 5 km/h). Zum Vergleich: Büroarbeit verbraucht nur etwa 100 Kalorien pro Stunde. Trotzdem glaubten zwei Drittel der Studienteilnehmerinnen, dass sie zu wenig Bewegung hätten, und ein Drittel gab an, sich überhaupt nicht zu bewegen. Diese Wahrnehmung spiegelte sich in ihren Körpern wider: Im Durchschnitt erreichten sowohl der Blutdruck der Reinigungskräfte als auch ihre Körperform (konkret das Taille-Hüft-Verhältnis) und ihr Körpergewicht Werte, die man eher von Menschen mit einer sitzenden Tätigkeit erwarten würde. Mithilfe eines eigens entworfenen Plakats erläuterte Alia Crum den Probandinnen, warum Putzen als Bewegung gelten könne und dass alle damit verbundenen Arbeiten Kraft und Ausdauer erforderten – vom Anheben der Matratzen über das Aufheben der Handtücher bis zum Staubsaugen. Das Plakat gab sogar genau an, wie viele Kalorien die einzelnen Arbeiten verbrauchten. In einem viertelstündigen Vortrag präsentierte sie diese Informationen den Reinigungskräften von vier der sieben Hotels, außerdem pinnte sie das Plakat auf Englisch und Spanisch in den Aufenthaltsräumen des Personals an. Sie versicherte den Probandinnen, dass sie durch ihre Arbeit die Empfehlungen des Obersten Nationalen Gesundheitsrats zu ausreichender Bewegung zweifellos einhielten, wenn nicht gar überträfen, und mit positiven Folgen für ihre Gesundheit rechnen könnten. Dagegen dienten die Reinigungskräfte der übrigen drei Hotels als Kontrollgruppe. Man informierte sie darüber, wie wichtig Bewegung für die Gesundheit sei, jedoch nicht darüber, dass ihre Arbeit als solche gelten könne.

Nach vier Wochen meldete sich Alia Crum erneut bei den Probandinnen. Zu diesem Zeitpunkt hatten all jene Gewicht und Körperfett verloren, denen man gesagt hatte, dass ihre Arbeit Bewegung war. Ihr Blutdruck war gesunken und sie hatten sogar mehr Spaß an der Arbeit, obwohl sie an ihrem Privatleben ansonsten nichts verändert hatten. Das Einzige, was sich gewandelt hatte, war ihre Selbstwahrnehmung: Sie betrachteten sich nun als aktive Menschen, als Sportlerinnen. Im Gegensatz dazu zeigten die Probandinnen in der Kontrollgruppe keine dieser Verbesserungen.

Soll das also heißen, dass wir beim Fernsehen abnehmen können, wenn wir nur daran glauben? Nein, tut mir leid! Was Alia Crum den Probandinnen gesagt hatte, entsprach der Wahrheit: Sie trieben tatsächlich Sport. Bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Crum hatten sie das Putzen jedoch ganz anders wahrgenommen, viel eher als Belastung ihres Körpers.

Daraus leitete Alia Crum die folgende provokante Hypothese ab: Wenn zwei Ausgänge möglich sind – in diesem Fall die positive Wirkung von Bewegung auf die Gesundheit oder die Belastung durch körperliche Arbeit –, dann haben die individuellen Erwartungen der betreffenden Person einen Einfluss darauf, welcher Ausgang wahrscheinlicher ist. Alia Crum kam zu dem Schluss, dass indem die Reinigungskräfte ihre Arbeit als gesundheitsfördernd wahrnahmen, sich die Wirkung dieser Arbeit auf ihre Körper veränderte. Mit anderen Worten: Man bekommt immer das, was man erwartet.

In ihrer nächsten Studie, die ebenfalls für Schlagzeilen sorgte, entwickelte Alia Crum diesen Gedanken weiter(8). Im Rahmen der sogenannten „Milchshake-Studie“ lud sie die Probanden ein, gegen acht Uhr morgens nüchtern ins Forschungslabor zu kommen. Bei ihrem ersten Besuch erhielten sie einen Milchshake mit der Aufschrift „Genuss: Dekadenz, die Ihnen zusteht“ und einer Nährwerttabelle, die 620 Kalorien und 30 Gramm Fett anzeigte. Beim zweiten Besuch, eine Woche später, tranken sie einen Milchshake mit der Aufschrift „Sensi-Shake: unschuldige Befriedigung“, mit laut Angaben 140 Kalorien und null Gramm Fett.

Beim Trinken legte man den Probanden einen Venenkatheter zur Entnahme von Blutproben an, mit deren Hilfe Alia Crum die Veränderungen des Ghrelinspiegels überprüfte. Ghrelin ist auch als „Hungerhormon“ bekannt. Sinkt der Ghrelinspiegel im Blut, fühlen wir uns satt, steigt er an, wächst der Wunsch nach einem Snack. Sehr fettiges oder kalorienreiches Essen lässt den Ghrelinspiegel rapide sinken, dagegen wird er von weniger sättigendem Essen auch weniger stark beeinflusst.

Wie zu erwarten, wirkte sich der dekadente Milchshake tatsächlich ganz anders auf den Ghrelinspiegel aus als der gesunde. Der Verzehr des Sensi-Shakes führte zu einem leichten, der Genuss-Shake zu einem viel stärkeren Absinken des Ghrelins.

Doch hier kommt der Clou: Die Etiketten der Shakes waren nichts als Augenwischerei! In beiden Fällen wurde den Probanden der gleiche Milchshake mit 380 Kalorien verabreicht, ihr Verdauungssystem hätte also beide Male gleich reagieren müssen. Dennoch fiel ihr Ghrelinspiegel dreimal so schnell, während sie den vermeintlich dekadenten Genuss-Shake tranken, wie beim Trinken des Diät-Shakes. Wieder einmal kam am Ende genau das heraus, was die Menschen erwartet hatten – Sättigung. Letztlich bewies Alia Crums Studie, dass unsere Erwartungen selbst etwas derart Konkretes beeinflussen können wie die Menge eines Hormons, das durch die Zellen in unserem Verdauungstrakt ausgeschüttet wird.

Sowohl im Fall der Reinigungskräfte als auch der Milchshake-Studie wandelten sich die körperlichen Reaktionen der Menschen, wenn sich ihre Wahrnehmung veränderte. In beiden Fällen schien eine einzige, ganz bestimmte Überzeugung die adaptive Antwort des Körpers außerdem weiter zu verstärken: Die Betrachtung körperlicher Arbeit als Bewegung führte zu einem gesünderen Körper, die Wahrnehmung eines Milchshakes als kalorienreiches Genussmittel veranlasste den Körper, mehr Sättigungshormone zu produzieren.

Alia Crums Neugier, welche Resultate sonst noch von unserer Sicht auf die Welt beeinflusst werden könnten, war damit aber nicht gestillt. Gab es eine Wahrnehmung, die für unsere Gesundheit womöglich noch weiterreichende Folgen hatte? Also begann sie, über Stress nachzudenken. Sie wusste, dass er auch nützlich sein konnte, obwohl die meisten Menschen ihn allein für schädlich hielten. Es gab also zwei mögliche Effekte! Konnte die Wirkung von Stress auf unser Wohlbefinden zum Teil davon abhängen, welche Wirkung wir selbst erwarteten? Und falls Crum selbst beeinflussen könnte, wie jemand über Stress denkt – würde das zugleich die Körperreaktion dieses Menschen verändern?

Diese Frage führte mich eines sonnigen Aprilmorgens hinab in Alia Crums Labor. Nach ein paar netten Worten mit Crums Labormitarbeitern schnallte mich einer ihrer Masterstudenten in einer Vorrichtung fest, die Außenstehende leicht für ein Folterinstrument halten könnten. Zwei Streifen aus metallischem Klebeband schlangen sich straff um meinen Brustkorb, zwei weitere um meinen Hals. Sie waren an ein IKG-Gerät angeschlossen, das meine Herztätigkeit aufzeichnete (IKG steht für Impedanzkardiographie, Anm. d. Übers.). Eine Blutdruckmanschette umschloss meinen rechten Oberarm, eine zweite meinen linken Zeigefinger, während am Bein, an den Fingerspitzen und in der Armbeuge Elektroden angebracht waren, um Durchblutung und Schweißproduktion zu messen. Am kleinen Finger der rechten Hand überwachte ein Thermometer meine Körpertemperatur. Schließlich sollte ich in ein Reagenzröhrchen speicheln, damit meine Spucke auf Stresshormone untersucht werden konnte.

Ich war hierher gekommen, um am eigenen Leib zu erfahren, was die Probanden von Alia Crums neuester Studie durchgemacht hatten(9). Deren Ziel war es, die Denkweise der Probanden über Stress zu manipulieren und anschließend zu beobachten, wie ihr Körper auf eine Stresssituation reagierte.

Es ging um ein vorgetäuschtes Vorstellungsgespräch. Die falschen Gesprächspartner sollten mir helfen, mein Auftreten zu verbessern, und gaben mir deshalb im Laufe des Gesprächs permanent Feedback. Allerdings handelte es sich nicht um ein gewöhnliches Rollenspiel, vielmehr hatte man den Interviewern vorab eingebläut, dass sie mir (und allen anderen Probanden) in jeder Situation – was ich auch sagte oder tat – negatives Feedback geben sollten. Entweder hatte ich ihrer Meinung nach zu wenig Blickkontakt oder ich wählte ein schlechtes Beispiel oder sagte zu oft „Äh“. Dann bemängelten sie wieder meine Körperhaltung oder stellten mir schwierige Fragen wie „Glauben Sie, dass die Ungleichheit der Geschlechter am Arbeitsplatz heutzutage noch immer eine Rolle spielt?“. Was auch immer ich oder jeder andere Proband sagte, sie kritisierten es. Und obwohl ich genau wusste, dass dieses minutiös geplante Experiment mich verunsichern sollte, war ich gestresst.

Vor Gesprächsbeginn wurde jedem Probanden nach dem Zufallsprinzip eines von zwei Videos zum Thema Stress vorgespielt. Mein dreiminütiges Video begann mit den Worten: „Die meisten Menschen glauben, dass Stress etwas Schlechtes ist …doch Untersuchungen beweisen, dass er uns in Wahrheit nützt.“ Anschließend ging es darum, wie Stress unsere Leistung verbessern, unser Wohlbefinden steigern und uns helfen kann zu wachsen. Die Hälfte der Studienteilnehmer bekam ein anderes Video zu sehen, das mit der folgenden bedrohlichen Botschaft begann: „Die meisten Menschen wissen, dass Stress schädlich ist …, aber Untersuchungen zeigen, dass er sogar noch schädlicher ist, als sie denken.“ Anschließend erläuterte das Video, wie Stress unserer Gesundheit, Zufriedenheit und Leistung im Beruf schaden kann.

Jedes der Videos berief sich auf reale wissenschaftliche Untersuchungen, in diesem Sinne entsprachen sie beide der Wahrheit. Doch zugleich sollte jedes der Videos eine ganz bestimmte Wahrnehmung von Stress stimulieren, und Alia Crum hoffte, dass beide die jeweilige körperliche Reaktion der Probanden auf die anschließende Stresssituation beeinflussen würden.

Ich setzte mich diesem gespielten Experiment erst Monate nach Abschluss der Studie aus. Das bedeutete, dass ich von den vorläufigen Ergebnissen sofort erfuhr, gleich nachdem mir die Elektroden abgenommen worden waren, und eines dieser Ergebnisse haute mich von den Socken.

Meine Speichelprobe enthielt zwei Stresshormone: Cortisol und Dehydroepiandrosteron (DHEA). Beide werden bei Stress durch die Nebennieren ausgeschüttet, erfüllen jedoch unterschiedliche Funktionen. Cortisol hilft bei der Umwandlung von Zucker und Fett in Energie und unterstützt die Fähigkeit unseres Körpers und Gehirns, diese Energie zu nutzen. Außerdem unterdrückt Cortisol einige Körperfunktionen wie etwa Verdauung, Fortpflanzung und Wachstum, die bei Stress eher unwichtig sind. DHEA, ein sogenanntes Steroidhormon, fördert dagegen das Gehirnwachstum. Ähnlich wie Testosteron, das bei körperlicher Anstrengung das Muskelwachstum fördert, lässt DHEA unser Gehirn bei Stress wachsen. Außerdem gleicht es in einigen Punkten die Wirkung des Cortisols aus. Zum Beispiel beschleunigt DHEA die Wundheilung und verbessert die Immunabwehr.

Beide Hormone sind wichtig, und keines davon ist ein „gutes“ oder „schlechtes“ Stresshormon. Allerdings kann das Mengenverhältnis der beiden zueinander beeinflussen, welche Langzeitfolgen Stress – insbesondere chronischer Stress – verursacht. In diesem Zusammenhang können höhere Cortisolwerte negative Folgen wie Immunschwäche und Depressionen haben. Ein höherer DHEA-Spiegel wird dagegen mit einem geringeren Risiko von Angstzuständen, Depressionen, Herzleiden, neurodegenerativen Erkrankungen und anderen Krankheiten in Verbindung gebracht, die wir gemeinhin als stressbedingt betrachten(10).

Das Verhältnis von DHEA zu Cortisol wird als „growth index“ (deutsch „Wachstumsindex“, Anm. d. Übers.) einer Stressreaktion bezeichnet. Ein höherer Growth-Index – d.h. mehr DHEA – trägt dazu bei, dass Menschen von Stress profitieren. Im akademischen Umfeld führt er zu einer größeren Beharrlichkeit und Resilienz der Studenten sowie zu einem besseren Notendurchschnitt(11). Beim militärischen Überlebenstraining besteht ein Zusammenhang zwischen einem hohen Growth-Index einerseits und der Zunahme der Konzentrations- und Problemlösungsfähigkeit sowie der Abnahme von dissoziativen Störungen und Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) andererseits(12). Selbst in Extremsituationen, etwa nach einem Fall von Kindesmissbrauch, ist der Growth-Index gleichbedeutend mit der Resilienz, also der psychischen Widerstandsfähigkeit, der betroffenen Person(13).

Mit ihrer Studie wollte Alia Crum herausfinden, ob sie bei den Probanden durch Veränderung der individuellen Stresswahrnehmung – mithilfe eines dreiminütigen Videos – jenes grundlegende Verhältnis zwischen zwei Stresshormonen variieren konnte, das als Messgröße für Resilienz gilt.

Und die überraschende Antwort lautet: ja!

Wie erwartet, stieg der Cortisolspiegel bei allen Probanden im Lauf des Gesprächs an, aber die Videos hatten darauf keinerlei Einfluss. Allerdings zeigten all jene Probanden, die das „Stress-ist-förderlich“-Video gesehen hatten, deutlich höhere DHEA-Werte und somit einen höheren Growth-Index als die anderen Probanden. Wer Stress als nützlich betrachtete, dem nützte er tatsächlich etwas – und das nicht etwa aus subjektiver, selbstreflexiver Sicht, sondern ganz konkret durch das Verhältnis der Stresshormone, die von den Nebennieren produzierten wurden. Die positive Wahrnehmung von Stress erzeugte eine andere biologische Wirklichkeit.

1.2 Vom Placebo zum Mindset

Man könnte Alia Crums Studie über Stress als Veranschaulichung eines Placeboeffekts auffassen. Das hieße, dass das positive Video die Erwartungen der Probanden veränderte, was der Stress mit ihnen machen würde, und damit die vorhergesehene Reaktion auslöste – genau wie eine Pille aus Zucker.

In der Tat ist der Placeboeffekt ein eindrucksvolles Phänomen, aber auch Folge von Manipulation. Jemand sagt uns, wie wir über etwas denken sollen, und meistens geht es dabei um etwas, zu dem wir keine vorgefertigte Meinung haben. Jemand gibt uns eine Tablette und sagt, dass sie uns helfen wird, also vertrauen wir ihm. Wenn es aber um das Thema Stress geht, dann hat jeder schon eine feste Meinung. Immer, wenn wir Stress erleben, werden wir an unsere eigenen Überzeugungen erinnert. Wie oft sagen Sie sich am Tag: „Das ist so stressig“ oder „Ich bin so gestresst“? In jedem dieser Momente kann Ihre Denkweise über Stress die biochemische Reaktion Ihres Körpers verändern, bis hin zu Ihrer Reaktion auf das, was den Stress verursacht hat.

Eine Überzeugung, die über so viel Kraft verfügt, übersteigt die Reichweite eines Placeboeffekts. Wir haben es hier mit einem Mindset-Effekt zu tun. Im Vergleich zum Placebo, das sich in der Regel nur kurzzeitig auf ein sehr spezifisches Ergebnis auswirkt, steigert sich die Wirkung eines Mindsets im Laufe der Zeit. Sein Einfluss und seine Langzeitwirkung nehmen permanent zu.

Wie wir wissen, ist ein Mindset eine Überzeugung, die unser Denken, Fühlen und Handeln im Voraus bestimmt, eine Art Filter, durch den wir die Welt betrachten. Nicht jede Überzeugung hat das Zeug zum Mindset, denn manche sind einfach nicht wichtig genug. Sie können noch so vehement darauf bestehen, dass Schokolade besser schmeckt als Vanille oder dass man niemanden nach seinem Alter fragen sollte – solche Überzeugungen wirken sich kaum darauf aus, wie Sie über Ihr Leben denken.

Überzeugungen, die zu Mindsets werden, übersteigen persönliche Vorlieben, intellektuelle Positionen und alles Erlernte. Sie werden zu Glaubensgrundsätzen, die unsere Lebensphilosophie widerspiegeln. Ein Mindset beruht in der Regel auf einer These, wie die Welt funktioniert, zum Beispiel dass Geld glücklich macht oder hinter allem ein tieferer Sinn steckt. Solche Überzeugungen sind stark genug, um zu bestimmen, wie wir Erfahrungen einschätzen und Entscheidungen treffen. Wenn so ein Mindset angesprochen wird – egal ob durch irgendeine Erinnerung, Situation oder Bemerkung –, dann löst es eine Flut von Gedanken, Gefühlen und Zielvorstellungen aus, die unsere Antwort auf das Leben entscheidend prägen. Und das kann sich wiederum auf die Langzeitfolgen auswirken, zu denen Gesundheit, Zufriedenheit und die Lebensdauer zählen.

Betrachten wir zum Beispiel, wie wir über das Älterwerden denken. Wie eingangs erwähnt, verlängert eine positive, optimistische Sicht auf das Altern das Leben um durchschnittlich etwa acht Jahre. Außerdem ist diese Haltung auch in anderen Gesundheitsfragen förderlich. So ergab die Baltimore-Längsschnittstudie zum Altern – nach beeindruckenden 38 Studienjahren – unter anderem, dass das Herzinfarktrisiko derjenigen Probanden um 80 Prozent niedriger lag, die dem Altern am positivsten gegenüberstanden(14). Andere Studien zeigen, dass sich diese Sichtweise auch auf die Regeneration nach schweren Krankheiten und Unfällen auswirkt. In einem Fall erholten sich erwachsene Herzinfarktpatienten, die das Alter mit positiven Stereotypen wie „weise“ und „kompetent“ in Verbindung brachten, schneller als jene, die damit negative Vorstellungen wie „nutzlos“ und „festgefahren“ verbanden(15). Eine zweite Studie wies einen Zusammenhang zwischen einer positiven Sicht auf das Altern und einer schnelleren, vollständigen körperlichen Genesung nach Krankheit oder Unfall nach(16). Dabei ist es wichtig, dass die Genesung in beiden Studien anhand von objektiv messbaren Resultaten ermittelt wurde, wie Gehgeschwindigkeit, Gleichgewichtsgefühl und der Fähigkeit, die Aufgaben des Alltags zu meistern.

Doch wie genau kann sich eine Überzeugung zum Altern auf so etwas wie das Herzinfarktrisiko, den Grad der Behinderung oder das Sterberisiko auswirken – besonders dann, wenn sie bereits Jahrzehnte zuvor ermittelt worden war? In allen genannten Studien wird der Einfluss wichtiger Faktoren berücksichtigt, zum Beispiel der anfängliche Gesundheitszustand, das Vorhandensein einer Depression oder die sozioökonomische Situation der Probanden, daher können sie die Effekte nicht erklären.

Stattdessen liegt eine mögliche Erklärung im Verhalten der Probanden bezogen auf ihre Gesundheit. Menschen, die dem Altern negativ gegenüberstehen, halten einen schlechten Gesundheitszustand eher für unvermeidlich als positiv Denkende. Da sich jene „Alterspessimisten“ mit zunehmendem Alter immer weniger in der Lage fühlen, gesund zu bleiben oder wieder gesünder zu werden, widmen sie ihrem zukünftigen Wohlergehen immer weniger Zeit und Energie. Demgegenüber achten „Altersoptimisten“ viel mehr auf ihre Gesundheit und verhalten sich entsprechend, etwa indem sie regelmäßig Sport treiben oder die Ratschläge ihres Arztes befolgen. Indem man die Einstellung eines Menschen zum Altern verändert, kann man ihn sogar zu einem gesünderen Verhalten bewegen. So steigerte etwa eine Intervention zur Förderung einer positiven Einstellung zum Altern zugleich die körperliche Aktivität der Probanden(17). Wer dem Altern positiv gegenübersteht, neigt eher zu Handlungen, die der eigenen Gesundheit auch in Zukunft nützen werden.

Besonders stark wirken sich die individuellen Überzeugungen zum Altern auf das Verhalten nach einer gesundheitlichen Krise aus. Forscher des Deutschen Zentrums für Altersfragen in Berlin begleiteten ältere Menschen über einen längeren Zeitraum, um die Folgen von Unfällen oder schwerwiegenden Erkrankungen, zum Beispiel einer gebrochenen Hüfte, eines Lungenleidens oder von Krebs, zu untersuchen(18). Dabei reagierten Menschen mit einer positiven Einstellung zum Altern proaktiver auf die gesundheitliche Krise. Sie schenkten der eigenen Gesundheit mehr Aufmerksamkeit und bemühten sich stärker um die eigene Genesung. Demgegenüber war die Wahrscheinlichkeit geringer, dass „Alterspessimisten“ im höheren Alter etwas für ihre Genesung taten. Die jeweilige Entscheidung der Probanden beeinflusste zugleich ihre Genesung: Die „Altersoptimisten“ berichteten am Ende, dass sie nach ihrer Krankheit oder ihrem Unfall mit ihrem Leben zufriedener und außerdem körperlich gesünder und fitter waren.

Im fortgeschrittenen Alter kann unsere Einstellung zum Altern sogar unseren Lebenswillen beeinflussen. Menschen, die sich in mittleren Jahren als „Alterspessimisten“ zu erkennen geben, berichten später über einen schwächeren Lebenswillen(19). Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie ihr Leben im Alter als leer, hoffnungslos oder sogar wertlos betrachten. So testeten Forscher der Yale-Universität in einer Studie den Zusammenhang zwischen den Überzeugungen zum Altern und dem Lebenswillen. Zu diesem Zweck impften sie älteren Menschen unterbewusst entweder gute oder schlechte Stereotypen über das Altern ein. Anschließend wurden die Probanden gebeten, hypothetische medizinische Entscheidungen zu treffen. Im Ergebnis waren die mit positiven Stereotypen ausgestatteten Personen angesichts einer vermeintlich tödlichen Krankheit eher bereit, einer lebensverlängernden Behandlung zuzustimmen, während bei den übrigen eine Ablehnung wahrscheinlicher war(20).

Solche Ergebnisse legen nahe, dass unsere Einstellung zum Altern sich nicht etwa durch die ominöse Kraft des Positivdenkens auf unsere Gesundheit und Lebensdauer auswirkt, sondern dadurch, dass sie unsere Ziele und Entscheidungen beeinflusst. Es handelt sich hierbei um ein wunderbares Beispiel für einen Mindset-Effekt. Er ist stärker als ein Placeboeffekt, denn er verändert nicht nur unsere gegenwärtige Erfahrung, sondern beeinflusst auch unsere Zukunft.

Es hat sich gezeigt, dass auch unsere Denkweise über Stress zu jenen Glaubensgrundsätzen gehört, von denen unsere Gesundheit, unsere Zufriedenheit und unser Erfolg abhängen können.

Wie wir noch sehen werden, prägt Ihr Stress-Mindset