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Samy steckt mitten in den Weihnachtsvorbereitungen und eine Christmas Party folgt der nächsten, als sie erneut die dunkle Seite Windsors kennenlernt. Die Burtons veranstalten kurz vor den Feiertagen ein rauschendes Fest, zu dem Samy und Cornelius eingeladen sind. Glüh-Gin fließt in Strömen und die Gäste versuchen krampfhaft, dem boshaften Kolumnisten Thomas Leicester aus dem Weg zu gehen. Er hat schon viele Karrieren und Leben zerstört und die Gesellschaft fürchtet sich vor ihm. Daher ist es kaum verwunderlich, dass er im Laufe des Abends tot aufgefunden wird. Weil die Reichen Windsors lieber unter sich bleiben, versucht die Polizei auf anderem Weg hinter die Geheimnisse der Partygäste zu kommen - und zwar mit der Hilfe von Samy und Cor.
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Seitenzahl: 297
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Trudy Cos
Glüh-Gin
zum Mord
Ein Windsor-Krimi mit Samy Wilde
Windsor-Krimi
Cos, Trudy: Glüh-Gin zum Mord. Ein Windsor-Krimi mit Samy Wilde. Dryas Verlag 2022
Originalausgabe
EPUB-ISBN: 978-3-98672-005-6
PDF-ISBN: 978-3-98672-006-3
Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
Print-ISBN: 978-3-98672-004-9
Lektorat: Sarah Weber
Korrektorat: Claudia Lezár
Umschlaggestaltung: © © Julia Röck | Guter Punkt, München, unter Verwendung von Motiven von istockphoto und iStock / Getty Images Plus
Umschlagabbildungen: © JimSchemel / istockphoto; creativenaturemedia, IvanMikhaylov / iStock / Getty Images Plus
Satz: Dryas Verlag, Hamburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek :
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.
Der Dryas Verlag ist ein Imprint der Bedey und Thoms Media GmbH,
Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.
© Dryas Verlag, Hamburg 2022
(1. Auflage 2022, Dryas Verlag, Hamburg)
Alle Rechte vorbehalten.
http ://www.dryas.de
Inhalt
„Kapitel 1“
„Kapitel 2“
„Kapitel 3“
„Kapitel 4“
„Kapitel 5“
„kapitel 6“
„Kapitel 7“
„Kapitel 8“
„Kapitel 9“
„Kapitel 10“
„Kapitel 11“
„Kapitel 12“
„Kapitel 13“
„Kapitel 14“
„Kapitel 15“
„Kapitel 16“
„Kapitel 17“
„Kapitel 18“
„Kapitel 19“
„Kapitel 20“
„Kapitel 21“
„Kapitel 22“
„Epilog“
Kapitel 1
Es weihnachtet sehr
»Frau Doktor, dürfte ich endlich bitten?«, rief Cornelius zum wiederholten Male, sodass Samy seinen wachsenden Unmut nicht überhören konnte.
Seufzend betrachtete sie sich im Spiegel und war zufrieden, endlich eine Gelegenheit zu haben, den weitschwingenden, silbergrauen Tüllrock zu tragen. Er war nicht viel mehr als ein langes Tutu, übersät mit kleinen Glitzersteinen und in Kombination mit dem kurzen Angora-Pullover, der den Blick auf ihre schmale Taille lenkte, einfach hinreißend.
Sie fühlte sich wie die Balletttänzerin oder Prinzessin, die sie als Kind gerne hätte sein wollen. Samy drehte sich schwungvoll hin und her, um die Weite des Rocks zu genießen und den Gedanken an ihre Kindheit abzustreifen. Natürlich war derartiger Mädchenkram in ihrer Familie undenkbar gewesen.
Doch ehe Wehmut sie übermannen konnte, verscheuchte sie die Erinnerungen. Was soll es?, schalt sie sich kampflustig und griff nach den beiden Taschen, die auf dem Bett bereit lagen. Sie hatte nicht vor, sich den Abend durch Vergangenes verderben zu lassen.
Als sie den Salon ihres Apartments betrat, sprengte Cor wie immer den Rahmen. Ohne sein Dazutun dominierte er den Raum, der nur spärlich beleuchtet war. Das meiste Licht kam vom gegenüberliegenden Schloss, das mit Einsetzen der Dunkelheit immer angestrahlt wurde. Obwohl sie bereits ein Jahr hier lebte, konnte Samy sich an dem Blick nicht sattsehen. Ehrfurcht vor den Geschichten, die die gigantischen Mauern gesehen hatten, erfüllten sie ebenso, wie die Tatsache, dass sie nur durch die schmale High Street davon entfernt lebte.
Alle Räume ihrer Wohnung waren von ihrem Vater geschmackvoll in weiß eingerichtet worden. Einzig die Drucke an den Wänden in schwarzen Rahmen und ein paar Kissen und Accessoires setzten Akzente. Obwohl er gestorben war, bevor sie ihn kennenlernen konnte, hatte Samy den Eindruck, dass ihr Vater ein gutes Gespür für Stil gehabt hatte.
Cornelius kam in dem monochromen Ambiente bestens zur Geltung. Er trug einen schwarzen Smoking, dessen Bügelfalten messerscharf waren. Er legte viel Wert auf Etikette und weniger als dieser Aufzug wäre aus seiner Sicht für eine Abendeinladung nicht akzeptabel gewesen. Der tadellos sitzende Anzug, bei dem es sich um eine Maßanfertigung handelte, verlieh seiner Figur etwas Erhabenes. Seine exakt zwei Meter und einhundertdreißig Kilo – wie er selbst immer wieder betonte – waren imposant, egal ob in Abend- oder Freizeitgarderobe. Dabei war Samy sicher, dass ihr Freund kaum etwas im Kleiderschrank hatte, was in die zweite Kategorie passte.
Als sie den Raum nun betrat, senkte er den Whiskey-Tumbler, den er gerade zum Mund führen wollte, und schaute sie fasziniert an. Seine runden Pausbacken röteten sich und in seinen Augen flackerte Begeisterung auf, die jedoch nicht ihr galt, wie sie feststellen musste. Das Glas abstellend erhob er sich und eilte auf sie zu. Dann griff er nach eine der Abendtaschen.
»Oh mein Gott, sag nicht, dass es die neueste Bottega Clutch ist!«
Verwirrt ließ sie sich die Tasche entreißen und wollte sich beschweren, weil er ihr Outfit nicht würdigte. Doch Cor war derart fasziniert, dass es nur so aus ihm heraussprudelte.
»Wie kommst du an dieses Täschchen? Ich stehe seit Monaten auf der Warteliste.«
Samy war vor den Kopf gestoßen. Egal wie exzentrisch er auch war, mit einer Damentasche hatte sie den Designerklamotten-ergebenen Freund noch nie gesehen. Sie verfolgte seine fachmännische Prüfung des Accessoires und wollte wissen, was er da tat.
»Bist du sicher, dass du wirklich eine Abendtasche brauchst? Willst du sie als Kosmetiktasche verwenden? Da gibt es doch bestimmt auch etwas Maskulineres, nicht wahr?«
Er stieß einen verächtlichen Ton aus und belehrte sie.
»Es versteht sich von selbst, dass ich dieses Teil nicht für mich brauche.« Seine tiefe Stimme wurde schrill, was immer passierte, wenn er sich ereiferte.
Erleichtert vernahm Samy, dass er plante, dieses exquisite Stück seiner Mutter zu Weihnachten zu schenken. Diese Tatsache beruhigte sie ungemein, den letztlich war ihm alles zuzutrauen. Zufrieden nahm sie sie ihm wieder ab und drehte sich von links nach rechts, in jeder Hand eine Clutch.
»Also, welche passt besser?«, erkundigte sie sich und stellte sich seinem geschulten Auge.
Nach langer Überlegung und vielen Kommentaren votierte er letztlich gegen das Modell, das ihn noch Minuten zuvor verzückt hatte. Die strassübersäte Minitasche mit der doppelten›C‹-Verzierung machte mehr her, was seiner Meinung nach für eine Christmasparty nicht verkehrt sein konnte.
Cornelius kannte die großen Designer wie kein anderer. Daher verließ Samy sich an dieser Stelle auf sein Urteil. Sie selbst hatte die ersten 33 Jahre ihres Lebens ohne jeglichen Pomp verbracht und war noch dabei, sich an den Luxus zu gewöhnen, den ihr neues Leben ihr bot.
Sie hatte gelernt, diese Dinge zu lieben. Dennoch fehlte ihr immer noch die Selbstverständlichkeit, im Luxus zu schwelgen, ohne ein schlechtes Gewissen wegen ihres Müßiggangs zu haben.
Cornelius, ihr treuer Freund aus der Schulzeit, hingegen war ein Lebemann und hatte nie verstanden, warum man sich in seinen Möglichkeiten beschränken sollte. Er lebte stets nach Oscar Wildes Prinzip: Versuchungen sollte man nachgeben, denn man weiß nie, ob sie zurückkommen.
Samy schätzte ihn über allen Maßen und ließ sich gerne von ihm auf den richtigen Pfad führen, denn sie wusste, dass sie sich in puncto Mode blind auf sein Urteil verlassen konnte.
Er war für einen langen Weihnachtsbesuch angereist und wild entschlossen, Samy auf jedes Event zu begleiten. Er war ein Partylöwe und immer auf der Suche nach neuen Inspirationen, die ihm die Gesellschaft Windsors um diese Jahreszeit ganz sicher bieten würde.
»Sollten wir nicht langsam aufbrechen?«, erkundigte er sich und trank seinen Whiskey aus.
Seine Ungeduld war kaum zu bremsen, doch Samy ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Sie hasste es, als Erste auf einer Party zu erscheinen, und entschied sich daher für einen Drink. Als sie ihn bat, ihr diesen zu mixen, rümpfte er minimal die Nase. Langsam ging er an den Barwagen und machte sich dort gekonnt zu schaffen. Für ihre Nervosität im Umgang mit Menschen hatte er noch nie Verständnis gehabt, daher überraschten sie seine folgenden Worte nicht.
»Bitte, meine Liebe, wenn du glaubst, mit einem kleinen Schwips besser durch die Welt zu kommen.« Er überreichte ihr einen formvollendeten Drink und dazu ein kleines Schälchen mit Oliven, was er nach seiner Ankunft vorbereitet hatte.
Dann ließ er sich erneut in das weiche Sofa fallen und zupfte an dem scharlachroten Seidenschal, den er als Tribut an die Weihnachtszeit umgelegt hatte. Cornelius liebte den großen Auftritt und Samy sah vor ihrem inneren Auge bereits, wie er im Herrenhaus der Burtons durch die Menge schritt. Sie seufzte und wünschte sich zum wohl millionsten Male ein klein wenig seiner Courage.
Während sie sich auf einem Lederhocker in der Nähe des Fensters niederließ und die unzähligen Lagen Tüll ihres Rocks zurechtzupfte, spürte sie seine Augen prüfend auf sich. Sie wappnete sich, denn sicherlich würde eine Belehrung über Alkohol und mangelndes Selbstvertrauen kommen – ein Klassiker zwischen ihnen. Doch stattdessen wollte er wissen, wer die Gastgeber waren, die ihn freundlicherweise ebenfalls eingeladen hatten.
»Emily und Les Burton sind Freunde von Valerie, Charles’ ältester Tochter. Natürlich sind sie wie all diese Menschen Teil der Berkshire Society und bis in die allerhöchsten Kreise vernetzt.«
Cor spitzte die Lippen und sie hätte drauf schwören können, dass er überlegte, bis wo die höchsten Kreise reichten. Er war ein Fan von Sir Charles, dem bekanntesten, wenn auch inzwischen pensionierten, Strafverteidiger der Insel. Samy wusste, dass alles, was mit ihm zu tun hatte, in Cors Augen ein Gütesiegel trug.
Sir Charles war äußerst konservativ und hatte erwartet, dass die Kinder in seine juristischen Fußstapfen traten. Allerdings hätte es nichts gegeben, was weniger zu Anabel gepasst hätte. Doch mit dem Beruf, den sie stattdessen gewählt hatte, konnte »Iron Charly« gar nichts anfangen. Samy war jedoch nicht vollkommen sicher, ob Bel das, womit sie ein Vermögen verdiente, selbst als ihren Beruf bezeichnete.
Natürlich hatte sie genau wie ihre Geschwister etwas Seriöses studiert, war jedoch inzwischen als Influencerin in den sozialen Medien so bekannt wie ihr Vater als Strafverteidiger. Sie betrieb auf Instagram und TikTok einen Vlog mit dem Namen Hoch zu Ross, in dem sich alles um Pferde und Reiten drehte. Ihre Followerzahl war astronomisch hoch und die Millionen begeisterter Zuschauer ließen Bels Kasse durch Werbeeinnahmen laut klingeln. Damit konnten ihre Eltern aber nichts anfangen und beäugten das Lebenskonzept ihrer Jüngsten argwöhnisch. Zu Cor und seiner speziellen Art passte Bel dahingegen hervorragend.
Er kommentierte ihre Ausführungen über die Burtons nicht und so erläuterte Samy ihr Verhältnis zu den Gastgebern genauer.
»Ich kenne Emily nur flüchtig, weil sie in das Yogastudio geht. Seit dem traurigen Tod von Jennifer ist die Mitgliederzahl rasant angestiegen. Tragödien ziehen die Menschen immer an.«
Cor nickte zustimmend und ermunterte sie fortzufahren, während er an einem neuen Drink nippte.
»Ich verdanke die Einladung sicherlich Bel, denn ich glaube nicht, dass ihre Schwester Valerie an mich gedacht hätte, ich kenne sie ja kaum. Aber ich kann mir gut vorstellen, wie Bel sie überzeugt hat, mich bei den Gastgebern ins Spiel zu bringen.« Sie zuckte die Schultern und schloss resigniert: »Aber am Ende des Tages ist es Charles, der in dieser Stadt die Strippen zieht, und er fühlt sich mehr denn je dazu berufen, mich aus Dankbarkeit überall anzupreisen.«
Cor lachte und prostete dem älteren Herrn imaginär zu. Dabei murmelte er: »Der gute Charles!«
Seine Bewunderung für den eloquenten Juristen war enorm. Dessen vollendeter Kleidungsstil und seine geschliffenen Manieren empfand Cor als eine innere Verbindung zu sich. Samy wusste, dass er für ihre nächsten Worte kaum Verständnis aufbringen würde, daher genehmigte sie sich ebenfalls einen Schluck ihres Drinks und sofort überzog Gänsehaut ihre Arme. Die braune Flüssigkeit des Whiskey Macs war so kalt, dass das gesamte Glas von kleinen Kondensperlen überzogen war. Daher brachte sie es schnell außer Reichweite ihres Rocks, denn sie wollte nicht riskieren, dass ihr sündhaft teures Outfit Schaden nahm.
»Manchmal bedauere ich, dass ich mich jemals bei ihm beschwert habe, weil es schwer ist, in dieser Gesellschaft Fuß zu fassen.«
Sie hatte Cors Reaktion richtig vorausgesehen und redete schnell weiter, als er sie ungläubig anschaute.
»Als er damals erwähnte, er würde seine Frau bitten, etwas zu organisieren, um mich in die Gesellschaft einzuführen, hätte ich mir nicht vorstellen können, wie aktiv diese Menschen sind. Du hast keine Vorstellung davon, wie oft und zu was ich eingeladen werde!«
Als er protestieren wollte – ein Zuviel gab es für Cor nicht – wischte sie seinen Einwand beiseite und berichtete von unzähligen Kindergeburtstagen, die allesamt gefeiert wurden, wie anderenorts ein besonderes Jubiläum. Hauseinweihungen, Tontaubenschießen, Halloweenpartys, Begrüßungsfeste für neue Turnierpferde, Tratschrunden und andere Absurditäten.
Dabei wurden selbst Cors Augen immer größer und Samy schloss: »… und überall fließt Alkohol in rauen Mengen. Ich trinke selbst gerne ein Glas, aber der hiesige Konsum übertrifft alles, wo ich mithalten könnte.«
Cornelius brach in schallendes Gelächter aus und es war nicht zu übersehen, wie wohl er sich fühlte. Seine weichen Gesichtszüge waren entspannt und die Wangen gerötet. Dabei funkelten seine dunklen Augen vor Begeisterung, denn seiner Meinung nach musste man die Feste feiern, wie sie fallen.
»Ich liebe die Engländer, eine Nation nach meinem Geschmack. Sie machen keine halben Sachen!«
Kein Wunder, dachte Samy, denn auch ihm sah man den Hang zum Genuss deutlich an. Zwanzig Kilo weniger hätten ihm gutgetan, allerdings haderte er nie mit seinem Gewicht oder Aussehen. Statt sich als Schüler wegen seines imposanten Aussehens mobben zu lassen, hatte er aus der Not eine Tugend gemacht und sich einen extravaganten Stil zugelegt.
Er übertrieb an allen Fronten maßlos, doch genau das war es, was ihm eine gewisse Sicherheit verlieh, denn hinter dieser schillernden Fassade war er meist sicher.
Er war, egal ob in bunten Designerklamotten oder dem eleganten Abendanzug, rotem Seidenschal und Gucci-Slippern, einfach bewundernswert authentisch.
Nachdem sie ihm genauestens berichtet hatte, wie viele Weihnachtsempfänge und Partys sie in den letzten Wochen besucht hatte, und er eine ungefähre Vorstellung davon hatte, was ihn erwartete, machten sie sich auf den Weg.
Wie immer nahm Samy die Dienste von Faward in Anspruch, einem höflichen Pakistani, der mit seinem Cousin ein Taxiunternehmen mit einer Limousine unterhielt. Er war zuverlässig und respektierte, dass sie gerne ihre Ruhe hatte.
Er wartete bereits geduldig vor ihrem Haus, bis sie endlich eingestiegen waren, dauerte es jedoch etwas. Cor war derart beeindruckt von dem Anblick, der sich ihm vor Samys Haus bot, dass er staunend an der geöffneten Autotür verharrte.
Unweit von ihrem Zuhause befand sich einer der großen Befestigungstürme in der Schlossmauer. Von einem der gegenüberliegenden Häuser aus wurde er mit einem Beamer angestrahlt, was ihn zu einer Leinwand für Weihnachtskartenmotive machte, die Kinder einer hiesigen Schule für diesen Zweck entworfen hatten. Zusätzlich rieselten Lichttropfen, die Schneefall simulierten, unaufhörlich an der uralten Wand herab. Das Ergebnis war zugegebenermaßen spektakulär und Samy verstand Cors Begeisterung.
Er war so gefesselt, dass er das Einsteigen vergaß und mit offenem Mund den Gehweg blockierte. Sie ließ ihn einen Moment gewähren, denn auch sie war jedes Mal aufs Neue begeistert, wenn sie im Dunklen auf die High Street trat. Doch schließlich eiste sie ihn los und drängte ihn, ins Auto zu steigen – ihre Garderobe war nicht für das feuchtkalte Wetter gemacht. Deutlich widerstrebend folgte er ihrer Aufforderung und klebte anschließend beinahe am Fenster, um die festlichen Eindrücke im Ort weiter aufzusaugen.
Faward, der die Begeisterung seines Fahrgastes bemerkt hatte, zwinkerte Samy im Spiegel zu. Er kroch im Schneckentempo die Straße entlang, damit Cor die imposanten Lichtdekorationen in der Peascod Street und am Rathaus genießen konnte. Überall hingen gigantische goldene Kronen und Reichsäpfel, die beleuchtet waren. Ihre bunten Glühlampen ähnelten im Dunkeln funkelnden Edelsteinen und verliehen der kleinen Fußgängerzone einen festlichen Glanz.
Auf dem Weg durch das angrenzende Old-Windsor, welches sich entlang der Themse erstreckte, kamen sie an vielen wunderschön geschmückten Cottages vorbei, Cors Begeisterungsrufe rissen nicht ab. Allerdings machte er auch aus seiner Abscheu keinen Hehl, wenn sie eines der Häuser passierten, die schlichtweg geschmacklos hergerichtet waren. Dafür hatte er kein Verständnis, dennoch sah auch er ein, dass eben diese Mischung für die einzigartige Stimmung verantwortlich war.
Besonders taten es ihm die Lichterketten in den kahlen Bäumen entlang des Flusses an, denn sie enthielten Gebilde künstlicher Eiszapfen und ließen einen glauben, es schneie.
»Ganz fantastisch. So eine Pracht habe ich noch nie gesehen. Es ist beinahe so, als haben sich alle abgesprochen, um dieses zauberhafte Ensemble herzurichten.«
Samy überließ ihn seinen Gedanken und versuchte, sich selbst auf den letzten Meter vor Erreichen des Hauses ihrer Gastgeber innerlich zu stärken. Es kostete sie Überwindung, auf fremde Menschen zu treffen, und sie wusste, dass sich an diesem Abend bei den Burtons alle versammeln würden, die zwischen Windsor und dem nahe gelegenen, sehr exklusiven Virginia Water zum harten Kern der Society gehörten.
Bereits bei der bloßen Vorstellung überkam sie Panik.
Kapitel 2
Was für eine Party
Als Faward das Tempo drosselte und sie in eine Einfahrt bogen, die von hohen Tannen gesäumt wurde, konnte sie ihren Herzschlag deutlich spüren, so aufgeregt war sie. Obwohl sie versuchte, sich zu beruhigen, war sie hibbelig und wäre am liebsten wieder umgekehrt. Andererseits war sie gefangen von der Pracht, die sie umgab.
Die Burtons hatten alles gegeben, denn die endlos erscheinende Allee von dunklen Bäumen, die auf ein hell erleuchtetes Haus zuführte, glich einem Lichtertunnel. Blinkende Lianen hingen in den Ästen und verwandelten die Zufahrt in ein Spektakel, das in jeden Barbie-Film gepasst hätte.
Cor war sprachlos, sein Mund stand erneut offen. Er stieg aus dem Auto und war ausnahmsweise mucksmäuschenstill. Der Kies unter den Reifen des Wagens knisterte, während es im Schritttempo voranging. Vor ihnen reihten sich weitere Fahrzeuge aneinander, die Besucher herankarrten. Schließlich kamen auch sie vor einem Portal zum Stehen und sahen zwei riesige Nussknacker, die den Eingang rechts und links flankierten. Zwischen ihnen wirkte der Security Mann, der an einem kleinen Pult die Namen der Gäste mit einer Liste verglich, beinahe zwergenhaft.
Das Zuhause der Burtons war baulich einheitlich und recht schnörkellos. Es war ein großer zweigeschossiger Bau aus grauem Sandstein, der trotz seiner beeindruckenden Ausmaße gedrungen wirkte. Wahrscheinlich lag es an den Fenstern, die verhältnismäßig klein waren und dem Ganzen etwas Trotziges verliehen.
Der Kies reichte bis an das Gebäude heran, jedoch wurde er an manchen Stellen von Beeten mit großen Hortensienbüschen unterbrochen. Diese waren zwar abgeblüht, aber stattdessen mit unzähligen Lichtern geschmückt. Das Ganze strahlte etwas Einladendes aus und Samy wäre am liebsten sofort eingezogen.
Sie nannten dem jungen Mann ihre Namen und er überzeugte sich, dass sie zu den geladenen Gästen zählten. Dann öffnete sich ein Flügel der großen Holztür wie von Zauberhand und sie wurden eingelassen. Die leise Weihnachtsmusik, die schon durch die geschlossene Tür zu hören war, nahm deutlich an Volumen zu, sobald sie ins Innere traten.
Überrascht stellte Samy fest, wie niedrig die Decken im Entree waren. Allerdings verstärkte dies den gemütlichen Charakter des Hauses. Zwei junge Frauen in altmodischen Dienstmädchen-Uniformen standen bereit, um den Ankommenden ihre Mäntel abzunehmen, und schickten sie anschließend informell in einen langen Flur, der zum Ort des Geschehens führte. Mit jedem Schritt nahm der Lärmpegel zu und Cornelius musste beinahe brüllen, als er Samy aufforderte, sie solle sich gut amüsieren.
Unmittelbar bevor sie eine große Doppelflügeltür in mattem Dunkelgrau erreichten, wurde diese schwungvoll aufgerissen und ein angetrunkener Mann trat heraus. Er hatte glasige Augen und Samy warf Cor einen vielsagenden Blick zu. Amüsiert nickte er. Als er ihr galant die Tür aufhielt, wurde ihr schlagartig klar, wie unbegründet ihre Sorgen gewesen waren.
Der riesige flache Raum war gefüllt mit Menschen, die ausgelassen feierten. Aus allen Ecken drang Gelächter und angeregtes Stimmenwirrwarr zu ihnen hinüber. Niemand schenkte ihnen Beachtung und so konnten sie die Gemengelage, die sich vor ihnen erstreckte, im Detail betrachten.
Der gigantische Raum schien einen Großteil des rückwertigen Hauses einzunehmen und war sicherlich zwanzig Meter lang. An der gegenüberliegenden Wand reichten Bücherregale vom Boden bis zur Decke, während die anderen von beeindruckenden, modernen Gemälden in schillernden Farben geziert wurden. Auch ohne großen Kunstsachverstand war Samy klar, dass jedes einzelne sicherlich mehr wert war als eine durchschnittliche Wohnungseinrichtung. Soviel sie wusste, war die Hausherrin Galeristin und vertrat Künstler überall auf der Welt.
Wo keine Bilder prangten, waren überdimensionale Tannenkränze aufgehängt worden, deren breite blutrote Schleifenbänder beinahe bis zum Boden hingen. Damit wurde dem Raum die weihnachtlichste Note verliehen, die man sich vorstellen konnte.
Links neben der Eingangstür stand ein schwarzer Flügel. Sein geschlossener Deckel war auf Hochglanz poliert und die Lichter der modernen Kronleuchter spiegelten sich darin. Samy erkannte, dass es ein Steinway war, und musste entsetzt zusehen, wie diese Tatsache ignoriert wurde. Sie hinderte niemanden daran, ein tropfendes Glas auf dem Juwel abzustellen. Am liebsten hätte sie mit einem Tuch alles trocken gewischt, denn solch eine Achtlosigkeit tat ihr in der Seele weh. Allerdings war ihr bewusst, dass sie damit für Aufsehen gesorgt hätte und es die letzte Party gewesen wäre, zu der man sie eingeladen hätte. Also wandte sie den Blick ab und ließ es bleiben.
Vor der Wand mit den endlosen Bücherregalen war eine Bar aufgebaut, hinter der zwei knackige Barkeeper beeindruckende Cocktails zauberten. Die Luft war jedoch von einem starken Duft nach Mullet-Wein und Glüh-Gin, der englischen Variante des Glühweins, geschwängert. Doch Samy war beinahe sicher, dass der Duft nur von den unzähligen Kerzen herrührte, die in Gläsern brannten. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass in diesem Ambiente etwas derart Gewöhnliches ausgeschenkt wurde.
Beruhigt stellte sie fest, dass weder Cor noch sie overdressed waren. Im Gegenteil – ihr eigenes Outfit wirkte beinahe brav neben all den paillettenbesetzten Abendkleidern, die den Raum erstrahlen ließen. Obwohl die französischen Türen zur Terrasse geöffnet waren und der Raum trotz all der Menschen recht kühl war, sah sie mehr Haut, als sie erwartet hätte. Andererseits zeigte es die britische Feierlust und den Hang zum Zügellosen, wenn es ums Ausgehen ging. Die Frauen liebten es, sich in Kleider zu werfen, die es anderen Ortes niemals auf eine elegante Abendgesellschaft geschafft hätten. Auch Ausschnitte bis zum Bauchnabel und Miniröcke waren nicht tabu. Ein Zuviel an Strass und Glitzer gab es genauso wenig wie ein allzu grelles Make-up.
Bei den Männern ging es traditionell zu. Sie trugen ausnahmslos Smoking und verliehen dem Ganzen den nötigen Dämpfer, den es brauchte, um die Style-Skala wieder aus dem tiefroten Bereich zu heben.
Vor Samy lag ein Meer aus purer Lebenslust und sie wusste, dass Cor nicht lange an ihrer Seite ausharren würde. Diese Party war genau das Parkett, auf dem er sich wohlfühlte und bereits nach Sekunden hielt ihn nichts mehr zurück.
»Herrlich«, raunte er und zeigte zur Bar. Mit einer Geste fragte er, ob sie einen Cocktail wolle. Als sie verneinte, weil sie eine junge Kellnerin mit einem Tablett voller Champagnergläser auf sich zukommen sah, ließ er sie stehen und machte sich auf den Weg durch die Menge.
Samy seufzte. Doch sie hatte keine Zeit, sich über ihn zu ärgern. Zeitgleich mit dem Eintreffen des Champagners erhielt sie einen Knuff in die Seite. Als sie sich umdrehte, stand sie ihrer Freundin Bel gegenüber. Es beruhigte sie zu sehen, dass zumindest Sir Charles jüngste Tochter sich nicht in ein übertriebenes Cocktailkleid gezwängt hatte. Allerdings wich die Erleichterung unmittelbar dem Gedanken, dass ein Kleid vielleicht nicht die schlechteste Wahl für die untersetzte Freundin gewesen wäre.
Pferdeliebhaberei hin oder her, dachte Samy, eine Reithose aus rotem Samt und eine taillierte Jacke aus Brokat waren weder schön noch vorteilhaft. Aber Anabel scherte sich nicht um einen Dresscode oder derartige Dinge. Was Samy an Selbstbewusstsein fehlte, hatte diese im Übermaß. Die junge Frau wollte niemandem gefallen. Vielleicht war genau das der Grund, warum sie allseits beliebt war.
Ihr heutiger Aufzug war nur als schräg zu bezeichnen, sie hätte nicht unpassender gekleidet sein können. Anders als ihre Mutter Lady Helen und ihre ältere Schwester Valerie, die ätherische Schönheiten waren und durch das Leben zu schweben schienen, war Anabel burschikos. Niemand hätte sie für einen Sprössling der Bolman-Whitecliffs gehalten. Sie war das genaue Gegenteil der Eleganz, die mit dieser Familie einherging. Wenn man Bel eine Form hätte zuschreiben müssen, wäre dies ein Quadrat gewesen. Ihre Oberschenkel und Oberarme waren muskulös, weil sie nichts anderes tat, als ihre Pferde zu bewegen. Entsprechend flach und breit war ihr Hintern, der an diesen Abend besonders imposant zu Geltung kam. Dennoch hätte Samy sich jeden Kommentar zu dem Outfit verkniffen, wäre diese nicht sofort in die Offensive gegangen.
»Wow, was für ein Pullover! Hast du keine Angst, in all den Flusen zu ersticken?«, war ihr Kommentar zu Samys schönem Ensemble.
»Zumindest werden sie auf deiner unmöglichen Jacke nicht auffallen. Du siehst aus, als hättest du eines eurer Sofas an.«
Daraufhin brachen beide in Gelächter aus und umarmten sich. Samy wusste, dass sie von vielen Seiten beobachtet wurden, denn ihr war klar, dass der Kontrast zwischen Bel und ihr nicht größer hätte sein können. Es störte sie nicht. Im Gegenteil, die Freundin gab ihr ein Gefühl von Sicherheit und war zu einer Konstanten in ihrem Leben geworden.
»Wo hast du den guten Cornelius gelassen?«, wollte Anabel wissen und schaute sich neugierig um. Als sie ihn nicht sah, machte sich Bestürzung auf ihrem runden Gesicht breit. »Er ist hier, oder etwa nicht?«
Samy wollte sich lieber nicht ausmalen, warum sie so scharf darauf war, ihn zu sehen. Besonders nicht, als sie aus dem Augenwinkel bemerkte, dass Lucas, der Barkeeper des Castle Hotels, ebenfalls in einem Smoking umherlief. Cor, der Männer und Frauen gleichermaßen mochte, schien sich prächtig zu amüsieren und Samy fragte sich, ob er sich wohl jemals festlegen würde. Genauso gut war es möglich, dass er sein Leben lang wie ein Schmetterling von einer Blume zur nächsten flattern würde.
»Doch, doch«, beschwichtigte sie Bel und machte eine ausschweifende Handbewegung in die Richtung der Bar. »Er nimmt lediglich ein Bad in der Menge.«
Anabel lachte schallend los und entspannte sich sichtlich.
»Da bin ich beruhigt. Ich möchte ihn ein paar Leuten vorstellen. Die Herausgeber des Berkshire Antiques sind hier. Ich bin mir sicher, dass sie vor seiner Gläser-Fachkompetenz den Hut ziehen werden.«
Bel grinste von einem Ohr zum anderen und Samy fragte sich, ob sie die kurzen Locken gefärbt hatte. Sie wirkten dunkler als sonst. Doch sie kam nicht dazu, danach zu fragen, denn die Freundin wechselte das Thema und kam verschwörerisch näher.
Einer vorbeigehenden Kellnerin entriss sie ein Glas Champagner und trank es in einem Zug aus. Ihre Manieren waren eine weitere Komponente ihres Daseins, das ihre Eltern das Grauen lehrten. Doch Bel war ein Haudegen und ein geziemtes Verhalten hätte noch weniger zu ihr gepasst, davon war Samy, die immer noch an ihrem ersten Glas nippte, überzeugt.
Bel war eine unglaubliche Klatschbase und setzte eindeutig dazu an, die Freundin mit neuestem Tratsch zu versorgen. Immer wieder verblüffte sie Samy, über welche Interna der Windsor Society sie verfügte. Sie selbst war ein verschwiegener Mensch und kannte neunzig Prozent der Menschen, von denen ihre Freundin erzählte, nicht. Das hinderte sie jedoch nicht daran, von vielem peinlich berührt zu sein.
Heute kam ihr das Gerede jedoch gelegen, denn auf diese Art erfuhr sie etwas über die schillernden Gastgeber und Gäste. Sie standen inmitten einer Kakofonie und so musste Bel nicht einmal die Stimme senken, als sie über die Burtons berichtete.
Beide waren erfolgreich und ein Dreh- und Angelpunkt der Gesellschaft. Er war Investmentbanker in der City und ihr lagen Künstler und Sammler zu Füßen. Während Bel dies berichtete, zeigte sie zu dem Paar, das inmitten einer Traube nahe der Bar stand. Emily trug ein asymmetrisches Taftkleid in Lila, das eine Schulter komplett freiließ, während auf der anderen eine gigantische Schleife prangte. Ihre blonden Locken waren kunstvoll hochgetürmt und sie wackelte auf ihren Pumps, die schwindelerregenden hoch waren, hin und her. Dies ließ erahnen, dass sie schon einiges getrunken hatte.
Lesley, ihr Mann, hatte seinen linken Arm besitzergreifend um ihre Taille gelegt und hielt der Gruppe, die sie umringte, einen Vortrag. Samy hatte noch nie mit ihm gesprochen und mochte ihn bereits auf den ersten Blick nicht. Sein Gehabe wirkte großspurig und irgendwie anmaßend. Vielleicht war es nur seine Hand auf dem Rücken seiner Frau, die dieses Gefühl bei ihr auslöste, aber Samy konnte es nicht abschütteln. Aus ihrer Perspektive hatte er die Ausstrahlung eines Mannes, der bei jeder Gelegenheit erwähnte: meine Frau, mein Haus, mein Auto.
Interessiert lauschte sie Bels Schilderung darüber, dass diese Party das Highlight der Weihnachtssaison war, denn das Ehepaar Burton lieferte sich jedes Jahr vor allen Anwesenden den gleichen Streit.
»Böse Zungen behaupten, dass die Sache inzwischen nur noch Inszenierung ist, nachdem sie ein paarmal das Gesprächsthema schlechthin wurden.«
Samy beäugte die beiden und versuchte sich vorzustellen, was ihre Freundin so detailreich beschrieb. Angeblich tranken beide gerne zu viel, was bei ihr dazu führte, dass sie hemmungslos flirtete und laut ihrem Mann auch nicht abgeneigt war, eine Grenze zu überschreiten. Er wurde unter Alkoholeinfluss laut und fing gerne Streit an. Seine Frau bezeichnete ihn in solchen Momenten öffentlich als vulgär und jammerte darüber, dass dies passiere, wenn man unter seinem Stand heiratete.
Samy konnte erahnen, wie explosiv die Kombination war, und laut Bel waren die Burtons zuverlässig. Seit Jahren liefen Wetten darauf, wer von beiden auf der alljährlichen Party das Haus zuerst verlassen würde. Einmal war aber ihr Streit sogar derart eskaliert, dass beide alle Gäste rausgeschmissen und sie als Schmarotzer bezeichnet hatten.
»Trotzdem kommen alle noch hier her?«, wollte Samy fassungslos wissen. Sie konnte sich nicht vorstellen, sich noch einladen zu lassen, wenn man sie zuvor beleidigt hätte.
»Aber ja doch!«, versicherte Bel. »Das ist ein Mordsspaß, den niemand verpassen möchte. Warte es nur ab!«
Zufrieden blickte sie sich in dem Raum um, der bis auf den Flügel leer geräumt worden war, und hielt Ausschau nach weiteren Klatschobjekten. Bei einem Mann in mittleren Jahren, der nur wenige Meter entfernt stand, verharrte sie.
»Das ist der widerliche Theo Leicester. Kennst du ihn?«
Samy glaubte zwar, den Namen schon gehört zu haben, doch sicher war sie sich nicht. Anabels Informationen zu ihm lösten keine Begeisterung aus und sie hegte nicht den Wunsch, seine Bekanntschaft zu machen. Der rotgesichtige Mann, der unglaublich zu schwitzen schien, wirkte bereits auf den ersten Blick boshaft. Seine Augen, die dunkel wie zwei Kohlestücke aussahen, blickten im Saal herum. Samy glaubte Bel aufs Wort, als diese behauptete, alle hätten Angst vor dem Kerl.
»Er schreibt für den Guardian und ist beinahe so gefährlich wie Piers Morgan«, erklärte Anabel. »Seine Kolumne ist gefürchtet. Niemand will ihm eine Angriffsfläche bieten, weil eine Erwähnung von ihm ein Leben zerstören kann. Er ist wie ein Trüffelschwein, das alles aufspürt, egal, wie tief es vergraben ist.«
Ihr Bericht war schockierend, denn sie erzählte von Menschen, die gezwungen gewesen waren, das Land zu verlassen, nachdem Theo ihr Privatleben an die Öffentlichkeit gezerrt hatte. Eine Frau aus Slough hatte sich das Leben genommen, weil er sie des Diebstahls bezichtigt hatte. Eine andere musste ihren Mann nach vierzig Ehejahren verlassen, weil er angeblich Beziehungen zu Prostituierten unterhielt.
Samy war angewidert und fassungslos. Beim genauen Betrachten glaubte sie, die Angst in den Gesichtern der Menschen zu sehen, wenn Theo sie ansprach.
»Warum lädt man ihn ein, wenn alle Angst vor ihm haben?«
»Das tut niemand, er erscheint einfach. Alle rätseln seit Jahren darüber, denn er ist offensichtlich mit irgendwem eng verbandelt, der ihn wissen lässt, wo etwas stattfindet. Leider weiß keiner, wer sein Maulwurf ist. Seit Jahren wird versucht, durch gezieltes Nichteinladen einzelner Personen herauszufinden, wer ihm Informationen zuträgt, bisher erfolglos. Zu Beginn jeder Party halten alle die Luft an und warten darauf, ob er auftaucht oder nicht. Einmal ist er erst kurz vor Ende erschienen, doch dieser verbleibende Moment hatte ihm gereicht. Der Gastgeber, ein angesehener Bankier, wurde als Looser durch die Presse gejagt und konnte zusehen, wie sein kleines Imperium sich in Lichtgeschwindigkeit in Luft auflöste.«
Samy versuchte, den furchteinflößenden Mann unauffällig zu beobachten. Auf keinen Fall wollte sie seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er war nicht besonders groß, hatte jedoch einen enormen Bauch. Die verdeckte Knopfleiste seines Smokinghemdes war zum Zerreißen gespannt, seine Fliege saß schief. Das schüttere Haar war grau und streng zurückgegelt. Alles in allem wirkte der Kerl schmierig und ein wenig heruntergekommen. Dennoch umgab ihn eine Aura von Macht, was wohl einzig an der Angst lag, die man vor ihm verspürte. Samy riss den Blick erst von ihm los, als Bel sich dem nächsten Objekt zuwandte.
»Aber hey, es gibt auch erfreulichere Typen hier!« Sie zeigte auf eine Gruppe junger Männer, die lauthals grölend zu einer der Terrassentüren hineinkam.
»Die zum Beispiel sind ganz süß. Ich könnte mich durchaus für einen von ihnen erwärmen«, seufzte sie mit schmachtendem Blick.
Während Samy die lärmenden Kerle betrachtete, von denen einer die Gastgeberin quer durch den Raum aufforderte, endlich die »Scheiß-Weihnachtsmusik« auszumachen und etwas »Vernünftiges laufen zu lassen«, informierte Anabel sie.
»Das ist Conrad, Emilys jüngerer Bruder. Er macht nichts, außer mit seinen Oxford Freunden rumzureisen und das Geld seines Vaters zu verprassen. Vor ein paar Jahren war er im britischen Olympiateam der Ruderer, wurde aber wegen mangelnder Disziplin rausgeschmissen. Trotzdem mag ich ihn«, schloss sie beinahe trotzig und fügte noch an: »Er ist nett und ich werde ihn dir vorstellen.«
Diese Ankündigung kam Samy beinahe wie eine Drohung vor. Conrad und seine Freunde lärmten herum und bedrängten den DJ, der hinter seinem Mischpult stand und dem Musikwunsch der jungen Männer scheinbar gern entsprechen wollte. Emily zeigte ihm einen Daumen hoch und die Meute begann zu feiern, bis im nächsten Moment laute Bassklänge den Raum erfüllten.
Die Dynamik der Party veränderte sich und plötzlich schienen sich alle zu bewegen. Es wurde getanzt und noch bevor Samy reagieren konnte, war Bel verschwunden. Das Nächste, was sie von ihr sah, war, dass sie am anderen Ende des Saals Conrad auf die Tanzfläche zerrte. Diese hatte sich wie durch Zauberhand in der Mitte des Raumes entwickelt und war innerhalb von Sekunden gefüllt.
Das ungleiche Paar hatte Spaß und das Lachen des großen attraktiven Kerls ließ Samy verstehen, warum Anabel so angetan von ihm war. Dankbar, dass sie nicht tanzen musste, griff sie nach einem weiteren Glas Champagner und kapitulierte innerlich – dieser Abend war definitiv nur mit viel Alkohol zu ertragen. Mit Weihnachten hatte das nichts zu tun und sie fragte sich, ob die nächsten Partys genauso werden würden. Seufzend schwor sie sich, in diesem Fall Cor allein loszuschicken. Am liebsten hätte sie ihm mitgeteilt, dass sie nicht vorhatte, lange zu bleiben. Doch gerade als sie Cornelius erblickt hatte, kam eine kleine Frau in einem dunklen Tweet-Kostüm auf sie zu und verstellte ihr den Weg.
Dieser Aufzug ist nicht weniger unpassend als Bels Reitoutfit, dachte Samy und stellte überrascht fest, dass die Dame sie ansprach.
»Ah, die junge Deutsche! Wie geht es Ihnen? Wir haben uns lange nicht gesehen.«
Samy, die es aufgegeben hatte, den Engländern zu erklären, dass sie zur Hälfte eine von ihnen war, starrte die Frau einen Moment an. Dann begriff sie, wen sie vor sich hatte – Dr. Anita Freshman. Sie hatte die Ärztin im Frühjahr unter widrigen Umständen kennengelernt, als die kompakte Frau nicht viel mehr als ein Saunatuch trug. Genau genommen war es sogar ausschließlich ein Saunatuch gewesen, das ihren massigen Körper umhüllt hatte.
Damals war Dr. Freshman mit klatschnassen Haaren aus der Sauna gerufen worden, weil Samy im angrenzenden Dampfbad ein Toter auf die Füße gefallen war. Sofort tauchten die verblassenden Tattoos an den Beinen der Ärztin wieder vor ihrem inneren Auge auf und Samy musste sich zusammenreißen. Sie hatte die ungewöhnliche Körperkunst fälschlicherweise für Krampfadern gehalten und versuchte nun, die Erinnerung zu verdrängen, schließlich war der Aufzug der Dame heute der britischste, den man sich vorstellen konnte.
»Oh, hallo, Dr. Freshman. Es tut mir leid, ich hatte sie nicht erkannt«, entschuldigte sie sich, doch Anita lachte und polterte: »Kein Wunder, bei unserem letzten Zusammentreffen waren wir beide beinahe nackt. Ich erinnere mich noch an ihren Turban!«
Dummerweise endete genau in diesem Moment Wham!s Last Christmas und so schlugen die letzten Worte »… waren wir beide beinahe nackt …« wie eine Bombe ein. Samy wäre am liebsten im Boden versunken, als unzählige Augen sich ihr und der Ärztin zuwandten. Doch Anita, die mit dem Rücken zum Saal stand, bemerkte nichts und plauderte munter weiter, während Samys Wangen zu brennen begannen.
Glücklicherweise ebbte das Interesse schnell wieder ab und nach ein paar überraschten Blicken, setzte die Musik wieder ein.
Die Ärztin wollte wissen, wie es ihr in den vergangenen Monaten ergangen war und fragte, ob sie sich von dem Schrecken einigermaßen erholt hatte.