Yoga kann tödlich sein - Trudy Cos - E-Book

Yoga kann tödlich sein E-Book

Trudy Cos

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Beschreibung

Samy Wilde, die in Windsor ein neues Leben beginnen möchte, kommt einfach nicht zur Ruhe. Während sie sich den schönen Dingen des Lebens zuwendet und am liebsten Yoga macht, wird ihr eine Stelle an der renommierten Universität von Oxford angeboten. Beim Versuch, sich Klarheit zu verschaffen, ob sie bereit für einen neuen Berufsalltag ist, stolpert sie (erneut) über eine Leiche. Als wäre dies nicht schlimm genug, handelt es sich bei der Toten um die Besitzerin des angesagten Windsor Yoga Studios, das Samy täglich besucht. Alarmiert erörtert sie den Fall mit ihrem scharfsinnigen Freund Cornelius, der kurzerhand beschließt, nach Windsor zu reisen. Obwohl er selbst nicht viel von Yoga hält, möchte er gemeinsam mit Samy herausfinden, wer Jennifer Dalton in die ultimative Totenstellung versetzt hat.

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Seitenzahl: 306

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Trudy Cos

Yoga kann tödlich sein

Ein Windsor-Krimi

mit Samy Wilde

Windsor-Krimi

Cos, Trudy: Yoga kann tödlich sein. Ein Windsor-Krimi mit Samy Wilde. Dryas Verlag 2022

Originalausgabe

Epub-ISBN: 978-3-948483-72-2

PDF-ISBN: 978-3-948483-73-9

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print-ISBN: 978-3-948483-71-5

Herstellung: Dryas Verlag, Hamburg

Lektorat: Sarah Weber

Korrektorat: Claudia Lezár

Umschlaggestaltung: © Julia Röck, Guter Punkt, München (www.guterpunkt.de), unter Verwendung von Motiven von AdobeStock

Satz: Dryas Verlag, Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek :

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Dryas Verlag ist ein Imprint der Bedey und Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© Dryas Verlag, Hamburg 2022

(1. Auflage 2022, Dryas Verlag, Hamburg)

Alle Rechte vorbehalten.

http ://www.dryas.de

Inhaltsverzeichnis

„Prolog“

„Ein Angebot“

„Treibgut“

„Seltsame Begebenheiten“

„Iron Charly“

„Überlegungen“

„Curry und andere Zutaten“

„Ein Freund kommt an“

„Lügen, Lügen, nichts als Lügen“

„Was man Alles Erfährt ...“

„N wie Nachbar“

„Beechworth Manor“

„The Fox & Hounds“

„Die Nebel lichten sich“

„Ein schöner Abend“

„Liebhaber und andere Feinde“

„Leider kein Foto ...“

„Hintergründe und Anderes“

„Überlegungen“

„Da waren es nur noch wenige ...“

„Ein Arztbesuch“

„Ein Laden voller Krimskrams“

„Epilog“

Prolog

Sie spürte, wie der Schweiß ihr langsam in den Nacken lief, Tropfen für Tropfen. Daran änderte auch der hochgesteckte Haarknoten nichts. Ihre Mähne war eine Pracht und ihr Ein und Alles, aber beim Laufen verfluchte sie die langen Haare regelmäßig.

Der Weg war nur minimal uneben, dennoch lief sie mit höchster Konzentration. Seit sie sich als Kind einen Knöchel gebrochen hatte, war sie übervorsichtig. Außerdem war Achtsamkeit ein Teil ihrer Yogapraxis und Jennifer strebte immer nach Perfektion.

Seit Jahren absolvierte sie die gleiche Strecke, obwohl sie wusste, dass jeder Sporttherapeut ihr dringend geraten hätte, die Route hin und wieder zu variieren. Schließlich brauchten sowohl Körper als auch Geist neue Reize, um zu gedeihen und eine Entwicklung zu durchlaufen.

»Bla, bla, bla«, dachte die athletische junge Frau. Sie war der Meinung, als einzige zu wissen, was gut für sie war. Dennoch war ihr bewusst, wie viele böse Zungen behaupteten, sie wisse generell alles besser.

Es störte sie nicht, im Gegenteil, beim Gedanken an ihre Kritiker schmunzelte Jennifer, und ein hämischer Zug legte sich um ihren Mund. Sie hielt sich für perfekt und glaubte prinzipiell, dass niemand besser wusste, was gut für sie war, als sie selbst.

Es mangelte ihr nicht an Selbstbewusstsein. Jennifer lebte ein Fake-Leben, auch wenn sie niemandem gestattet hätte, dies auszusprechen. Solange sie denken konnte, versuchte sie, anderen Menschen eine Person zu präsentieren, von der sie glaubte, sie käme vorteilhafter rüber als ihr wahres Ich.

Auch wenn sie überzeugt war, das absolute Ideal zu leben, hatte sie oft feststellen müssen, wie sehr man sie fehlinterpretierte. Um dies zu unterbinden, hatte sie sich angewöhnt, den Erwartungen ihrer Mitmenschen auf den ersten Blick zu entsprechen.

In ihrem Fall hieß das, ein Bild von OM abzugeben – so titulierte sie es. Als Yogalehrerin sollte man ausgeglichen und friedfertig sein, eben die Dinge, die allgemein mit dem Begriff OM in Verbindung gebracht wurden. Also hatte sie diese Attribute einstudiert und wusste, dass man sie als Verkörperung einer in sich ruhenden Person betrachtete.

Hin und wieder kam es vor, dass Menschen ihr so nahekamen, oder sie aus der Reserve lockten, dass sie die Contenance verlor und ungewollt die echte Jennifer durch­schimmerte. War dieser Punkt erreicht, zog sie sich zurück. Sie konnte es sich nicht erlauben, dass irgendwer begann, von ihr anders zu sprechen als von einem perfekten Beispiel einer Yogalehrerin. Zu wichtig war ihre Karriere, und ihr Erfolg hing von der Wahrnehmung anderer ab.

»Verflucht sei dieser dämliche Dan!«

Wütend beschleunigte sie ihr Tempo und schimpfte innerlich über ihren Mann. Es war einer ihrer größten Fehler gewesen, diesen Loser zu heiraten. Nun musste sie schauen, wie sie die Sache am Laufen hielt. Sie würde ihm nicht erlauben, Nutzen aus einer Scheidung zu ziehen, dafür war die momentane Situation zu sensibel.

»Oh, warum habe ich das alles nicht im Voraus bedacht?«, heulte sie innerlich auf.

Sie würde sich sicher nicht von ihm oder sonst jemandem daran hindern lassen, ihren Traum zu verwirklichen.

Um dem durch ihre Wut steigenden Adrenalinlevel zu folgen, erhöhte Jennifer ihr Lauftempo. Sie griff nach der Smartwatch an ihrem Handgelenk und drehte die Musik lauter, obwohl sie normalerweise darauf verzichtete, sich derart anfeuern zu lassen. Es beeinträchtigte ihre Aufmerksamkeit und passte ihrer Meinung nach nicht zum Image der entspannten Frau, die voller Freude ihre Joggingrunde absolvierte.

Sie war weder entspannt, noch genoss sie das Laufen, das Gegenteil war der Fall – Jennifer hasste Joggen und jeder einzelne Meter entlang des Ufers der Themse forderte ihr alles ab. Schon lange bemerkte sie die Schönheit der ins Wasser hängenden Bäume und der pittoresken, vereinzelt stehenden Häuser nicht mehr. Für sie gab es nur den alten Asphalt unter ihren Füßen und all ihre Bemühungen gingen dahin, nicht zu stolpern.

Die Wut auf ihren Mann berauschte sie. Sie war sich ihrer Unachtsamkeit bewusst, dennoch gebot sie sich keinen inneren Einhalt, wie sie es sonst tat, wenn ihre Emotionen hochkochten.

Meter für Meter rannte sie weiter. Das Blut rauschte in ihren Ohren und übertönte die lauten Beats. Jennifer wusste, dass sie sich in etwas hineinsteigerte, aber gerade sah sie keinen Weg, dieser inneren Raserei zu entkommen.

»Ich sollte mir einfach den Frust aus der Seele brüllen«, war ihr letzter Gedanke, dann spürte sie den Schmerz und versank in Dunkelheit.

Kapitel 1

Ein Angebot

»Nun denn, Dr. Wilde. Ich kann nur noch einmal erwähnen, wie sehr wir uns geehrt fühlen würden, wenn Sie sich entscheiden, unser Angebot wohlwollend zu prüfen. Wir empfangen Sie mit offenen Armen. Sicherlich würde es Ihrer akademischen Laufbahn ebenfalls zur Ehre gereichen, wenn Sie zu uns stoßen …«

Samy hatte sich bereits vor einiger Zeit ausgeklinkt und ließ die Beweihräucherung des Oxforder Würdenträgers über sich ergehen. Sie kannte solche Leute zu Genüge, obwohl man sagen musste, dass die Angestellten der englischen Elite Universitäten ein sehr spezieller Typus Wissen­schaftler waren. Man konnte sie in zwei Kategorien einordnen – distinguiert, über jeden Zweifel erhaben und im vollen Bewusstsein der eigenen großen Bedeutung, oder etwas schnoddrig mit einem Hang zum Bohemien und dem oftmals nur gespielten Wunsch, progressiv zu wirken.

Ihr Gast gehörte ohne Einschränkung in die erste Kategorie und hatte auch optisch ihren Erwartungen entsprochen. Er war klein und recht beleibt, in einen tadellosen dunklen Maßanzug gezwängt, der ihm vor ein paar Jahren sicherlich gepasst hatte. Dazu trug er eine gepunktete Fliege und hatte auf die Krawatte in den Farben seines Colleges verzichtet. Sein Kopf war beinahe kahl und sein Gesicht um den Mund herum von einem grauen Vollbart eingerahmt. Er hatte jede Silbe derart präzise betont, dass kein Zweifel an seiner Herkunft aufgekommen war. Samy hatte Männer wie ihn überall auf der Welt kennengelernt. Wenn man Mathematik oder Informatik studierte und eine Universitätskarriere einschlug, pflasterten diese Herren den Weg – im eigenen Institut und auch auf Kongressen, die man besuchte, wenn man erfolgreich war.

Nachdem er mehrfach betont hatte, wie gerne man sie unter Vertrag nähme, hatte er sich mit großem Tamtam verabschiedet und Samy konnte wieder durchatmen. Sie streckte sich in dem bequemen Korbsessel aus und sog die frische Luft tief ein, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Die Terrasse des Boatsman am Ufer der Themse war um diese Zeit leer. Niemand außer ihr und Sir Richard Carmichael hatte das Frühstück genossen. Samy war sich sicher, dass es in diesem Spätsommer nicht mehr viele Frühstückstage auf dem Holzdeck geben würde. Auch im Herbst konnte man in Windsor zwar viele strahlende Momente erleben, aber Samy war nicht hart gesotten genug, um bei 13 Grad regelmäßig draußen zu speisen.

»Ich bin halt ein Weichei, wie Cor behauptet«, dachte sie und zog die dünne Strickjacke enger um sich. Sie genoss die noch wärmende Sonne, die ihr ins Gesicht schien. In der Luft hing der typische Duft von beginnender Laubfärbung und des ausklingenden Sommers.

»Eine neue Jahreszeit, ein neuer Lebensabschnitt«, dachte sie. Mit geschlossenen Augen und ­ausgestreckten Beinen ließ sie das Gespräch Revue passieren. Sir Richard hatte ihr ein Angebot unterbreitet, das viel zu gut war, als dass man es ablehnen konnte – das musste selbst sie sich eingestehen. Auch wenn sie es nicht nötig hatte, einen Job anzunehmen, wäre eine direkte Absage zu kurzsichtig gewesen, denn mit zusätzlichem Geld konnte man etwas Gutes tun. Schließlich hatte sie in den letzten ­Monaten gelernt, dass die Engländer Wohltätigkeit liebten. Die Gesellschaft kümmerte sich gerne um Bedürftige, es wurde an allen Stellen gesammelt, was das Zeug hielt. Der Gedanke, daran zu partizipieren, gefiel ihr.

Obwohl sie erst 33 war, lag das Berufsleben bereits hinter ihr. Sie hatte eine App entwickelt und diese für eine hohe zweistellige Millionensumme an ein amerikanisches Unternehmen verkauft. Da sie etwa zum selben Zeitpunkt ein Apartment mit einem fantastischen Blick aufs Windsor Castle geerbt hatte, war sie in den unglaublichen Genuss gekommen, das Dolce Vita zu genießen.

Dennoch quälte sie seit einiger Zeit ein inneres Stimmchen, das sie aufforderte, etwas Sinnvolles zu tun. Sie musste sich eingestehen, dass sie nicht der Typ war, der nichts tat. Allerdings war es ihr bisher gelungen, die Stimme meistens zu ignorieren. Bis jetzt hatte sie auch noch nicht den Wunsch verspürt, etwas an diesem Zustand zu ändern.

Schließlich hatte sie ausreichend Zerstreuung erlebt. Wäre die Anfrage des Oxforder Dekans früher gekommen, hätte sie gleich abgesagt und nicht einmal dieses Gespräch geführt.

Nachdem sie im Frühjahr nur knapp einer Ermordung entkommen war, durfte sie feststellen, dass ihr Vater, der ihr das Apartment vermacht hatte, Eigentümer des gesamten Hauses in Windsor war. Leider hatte sie ihren Vater niemals kennengelernt, hatte aber inzwischen seinen Bruder, Thomas Lovejoy, getroffen. Ihr Onkel hatte sie mit offenen Armen empfangen und veranlasst, dass ihr der Rest des Hauses ebenfalls übertragen wurde. Eigentlich hätte sie gerne darauf verzichtet, denn eine Immobilie mit ­mehreren Wohnungen ging mit Verantwortung einher, die sie viel lieber anderen überlassen hätte. Thomas hatte es aber als seine Pflicht angesehen, das zu tun, wovon er glaubte, sein Bruder hätte es gewollt. Außerdem machte es im Besitz der Familie Lovejoy wohl kaum einen Unterschied, ob man ein Stadthaus in Windsor in erstklassiger Lage besaß oder nicht, so viel hatte sie zumindest inzwischen erkannt.

Nachdem sie ihren Onkel kennengelernt hatte, war es eigentlich an der Zeit, sich mit der Sippe ihres Vaters auseinanderzusetzen, aber dazu fehlte ihr immer noch der Mut. Somit war ihr der zweite Corona Lockdown willkommen gewesen. So konnte sie sich einigeln und ihre Wunden lecken, da es verboten gewesen war, das Haus zu ­verlassen. Sie hatte die Auszeit genossen und in ihrer Wohnung ein seit Langem angedachtes Projekt angefangen.

Außerdem musste sie den Umbau beaufsichtigen, der in ihrem Haus begonnen hatte. Die Wohnung der ­boshaften Mrs Williams-Turner, von der sie um ein Haar getötet worden wäre, war geräumt und entkernt worden. Nun wurde das herunter­gekommene Apartment ein Schmuckstück und Samy hatte einiges an Renovierungsexpertise erlangt. Sie kannte virtuell jeden Teppich- und Tapetenhändler von Windsor bis London und wusste mehr über die Erneuerungen von Installationen und Bädern, als ein Innenarchitekt – zumindest fühlte es sich so an.

Allerdings hatte sie noch nicht entschieden, ob sie die größere Wohnung beziehen wollte, oder ob sie in ihrem schönen Dachgeschoss bleiben und eine perfekte Mieterin suchen sollte. Aber egal, wie sie sich entschied, ihre Tage als Bauleiterin näherten sich dem Ende, sodass sich manchmal die unangenehme Vorahnung von Langeweile in ihre Gedanken schlich.

Bevor die mörderischen Attacken von Mrs Williams-Turner sie getroffen hatten, war sie am selben Punkt gewesen. Damals hatte sie darüber nachgedacht, dass es sie nicht für immer befriedigen würde, die neusten Designer­klamotten zu shoppen. Dann war ihr aber ein Toter im wahrsten Sinne des Wortes vor die Füße gefallen, und ihre Welt war aus den Fugen geraten.

Doch nun kehrte erneut Ruhe in ihr Leben ein, sodass sie dem Dekan nicht direkt abgesagt hatte, als er ihr ein Gespräch mit Sir Richard Carmichael anbot. Der angestaubt wirkende Wissenschaftler aus Oxford hatte ihr einen interessanten Arbeitsbereich in Aussicht gestellt und die Ehre, in Oxford forschen oder lehren zu dürfen, als das Ziel aller Träume der universitären Arbeit dargestellt.

›Wer nicht in Oxford war, war nirgendwo.‹ Diesen Satz hatte er mehrmals erwähnt, ohne darüber nachzudenken, dass er sie und die meisten anderen Wissenschaftler damit diskreditierte.

Samy Wilde kannte ihren Platz in der Welt der Informatik jedoch gut und nahm ihm dies nicht übel. Stattdessen war sie überrascht, wie intensiv die Leute sich mit ihr auseinandergesetzt hatten, denn Sir Richard Carmichael hatte von ein maximal zwei Arbeitstagen und einem hohen Gehalt gesprochen. Das hohe Gehalt war nebensächlich. Samy musste aber zugeben, dass es wesentlich üppiger war, als sie es von anderen Universitäten kannte. Vielmehr war es die Aussicht, lediglich zwei Tage eingebunden zu sein, die sie interessierten.

»Das Geld könnte ich einer Charityorganisation ­spenden und hätte immer noch Zeit, mein Leben zu genießen«, war eine ihrer Überlegungen, während sie sich in der Sonne aalte.

Ehre und Ruhm, die Sir Richard so oft erwähnt hatten, waren ihr nicht wichtig, denn sie wusste, dass sie schon einen Namen hatte. Andernfalls wäre Oxford nicht an sie herangetreten. Die Welt der Informatiker war riesig, und dennoch war es wie überall – wer einmal aufgefallen war, blieb in Erinnerung.

Dr. Samantha Wilde verfügte über eine Gabe, die selbst in ihrer Branche unüblich war. Sie sah Zahlen wie andere Bilder und Farben. War irgendwo ein Bug versteckt, erkannte ihr innerer Detektor den Fehler vor allen anderen. So etwas spricht sich herum. Sie hatte schon vor der Entwicklung ihrer App hin und wieder Erwähnungen im Havard Business Manager, der renommierten Fachzeitschrift aller Wirtschaftsbosse, gefunden. Dennoch war es ihr nicht schwergefallen, all das hinter sich zu lassen, als sie nach Windsor kam.

Stattdessen war sie dankbar für die Gelegenheit, zu sich selbst zu finden und zu erkennen, was der Sinn ihres Daseins war. Auf dem Weg dorthin hatte sie aber einen unerwarteten Weg eingeschlagen. Kaum einer hätte gedacht, dass die unscheinbare Dr. Wilde, die jeder als talentiert aber zurückhaltend kannte, ihre Leidenschaft in etwas Banalem wie Mode finden könnte. Ihr bester Freund hingegen war begeistert von diesem Wandel. Cornelius frönte selbst einem opulenten Lebensstil und hatte sich immer dafür ausgesprochen, dass Samy ihre feminine Seite betonte. Er unterstützte ihr Laisser-Faire und hätte niemals verstanden, dass sie nur einen Gedanken an eine neue Anstellung im Universitätszirkus verschwendete.

Aus seiner Sicht war es richtig, wie sie ihr Leben heute lebte. Er wusste besser als jeder andere, dass Fremd­bestimmung in ihrem Leben immer präsent gewesen war. Es waren nicht Banalitäten wie Mode und die Renovierung eines Appartements, mit denen Samy sich nun beschäftigte. Sie waren lediglich Vehikel, die sie brauchte, um zu erkennen, was sie vom Leben erwartete.

Nachdem sie in Windsor angekommen war, hatte sie sich zunächst nur mit Äußerlichkeiten beschäftigt und damit eine neue Lebenserfahrung gemacht. Als uneheliches Kind einer strengen Schuldirektorin hatte sie ein freudloses Dasein unter enormem Druck gelebt, was sie veranlasst hatte, etwas so Trockenes wie Informatik zu studieren und darin zu glänzen.

Viele Jahre Universitätsalltag hatten keinen Raum für Mode, Schönheit oder generell der Wahrnehmung ihrer eigenen Weiblichkeit gelassen. Sie war zunächst als Studentin, Doktorandin und später als forschende Angestellte dort tätig gewesen, und hatte sich in den schmucklosen Alltag integriert.

Mit der finanziellen Freiheit, die sie durch den Verkauf ihrer App erlangt hatte, begann sie, ihre Haare wachsen zu lassen und Unmengen für eine neue Garderobe und Kosmetik auszugeben. Sie hatte bewusst ihr Gehirn ausgeschaltet und sich an jedem Schönheitsritual berauscht. Sie ließ sich die Nägel machen, besuchte das Windsor Daily Spa und ging zum Yoga. Einfach nur, um zu spüren, wie es war, eine Frau zu sein.

Sie wollte nicht länger Hosenanzüge in gedeckten Farben tragen und die aschblonden Haare praktisch kurz schneiden lassen. Vielmehr hatte sie sich in das Abenteuer Weiblichkeit gestürzt.

Während ihrer ersten Maniküre wollte sie weglaufen, so dekadent war ihr alles in dem pink dominierten Studio vorgekommen. Doch sie hatte sich zusammengerissen und von Mal zu Mal genoss sie es mehr.

Dennoch war ihr vieles immer noch fremd, denn sie war kein oberflächlicher Mensch und würde es niemals werden. Wenn sie zum Friseur oder zur Kosmetikerin ging, steckte sie Jack, einem Obdachlosen, der vor dem Hart & Garter Hotel kampierte, ein paar Pfund zu. Sie war der Meinung, wer es sich selbst gut gehen ließ, sollte auch etwas für die tun, die es nicht so gut getroffen hatten.

Daher gefiel ihr der Gedanke, ein komplettes Gehalt einer Wohltätigkeitsorganisation zukommen zulassen. Langsam machte sie sich bereit, aufzubrechen. Während sie auf die Kellnerin wartete, fiel ihr Blick auf das funkelnde Ding im Schilf. Mehrmals war ihr an diesem Morgen ­aufgefallen, das im hohen Gras am Ufer des Flusses etwas leuchtete. Jedes Mal, wenn die Sonne darauf fiel, blitze es auf. Daher beschloss sie, den kleinen Umweg zu machen und zu schauen, was dort so schön schimmerte.

Kurz wurde sie noch abgelenkt, als die junge Frau, die sie bedient hatte, erschien. Sie trug ein Plastikvisier, wie es viele in der Gastronomie seit der Corona-Krise beibehalten hatten. Die junge Frau war ziemlich aufgedonnert und Samy war sicher, dass sie das Ding nur aufgesetzt hatte, weil ihr Chef anwesend war und es verlangte. Sie hatte schon oft erlebt, dass die Betreiber von Lokalen und Geschäften sich strikt an die Empfehlungen des NHS hielten, während besonders bei jungem Servicepersonal diese Notwendigkeit nicht mehr gesehen wurde.

Als Samy sich verabschiedete, reichte das Mädchen ihr Kaugummikauend eine Flasche mit Desinfektionsmittel und sprühte ihr wortlos etwas auf die Hände.

»Ob das alles etwas bringt, wenn die meisten anderen sich nicht drum scheren?«, überlegte Samy, bevor sie die Terrasse verließ.

Sie lief nicht zur Windsor Bridge, sondern nahm stattdessen Kurs auf das hohe Schilf, um der Funkelei auf den Grund zu gehen.

Der Weg war an dieser Stelle nicht besonders breit und beidseits von Bäumen gesäumt, deren Äste zum Teil ins Wasser herabhingen. Links fiel die Böschung sanft ab und ging ins Wasser des Flusses über, der auf der Höhe von Windsor nichts mehr mit dem großen Strom, der London unterteilte, gemeinsam hatte. Hier war er noch ein sich windender breiter Bach, der beschaulich durch die Landschaft floss und zu kleinen Bootstouren einlud.

»Wie schön«, dachte Samy, wie jedes Mal, wenn sie entlang der Themse lief. Sie war sich sicher, niemals einen derart romantischen Flusslauf gesehen zu haben, und liebte es, daran entlangzuspazieren.

Ungefähr dort, wo das Grundstück des Boatsman endete, ging das Gras in kniehohes Schilf über. Genau dort hatte Samy das rote Leuchten gesehen. Aus der Nähe konnte sie es nicht mehr ausmachen, die Terrasse war höher gelegen und hatte eine bessere Sicht geboten.

Kurz überlegte sie, ob das, was sie gesehen hatte, hier nicht zu finden war, aber in diesem Moment verzog sich die große Wolke, die langsam über sie hinweg glitt, und Sonnenstrahlen verwandelten die Themse ein funkelndes Band. Keine zwei Meter von ihr entfernt blitzte das rote Funkeln erneut auf.

Zufrieden ging Samy näher und hielt dabei Ausschau nach einem Stock, mit dem sie das Schilf teilen konnte, um in Augenschein zu nehmen, was dort lag. Schließlich fand sie einen langen Knüppel und beugte sich über das Gras. Sofort stutze sie, denn sie erkannte die goldene Sonne mit dem geschliffenen blutroten Kristall. Es war der Ring, den sie seit Monaten an der Hand ihrer Yogalehrerin bewunderte. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie ihn hier verloren haben sollte. Das Schmuckstück war groß, der goldene Sonnenkranz hatte sicherlich einen Durchmesser von drei Zentimetern und Samy wunderte sich, wieso er hier im Wasser lag.

Im Nachhinein fragte sie sich, wie sie so dämlich sein konnte. Allein die Tatsache, dass der imposante Ring an der Oberfläche schwamm, hätte ihr die Augen öffnen müssen.

Kapitel 2

Treibgut

»Aber nein, Samantha Wilde, du musstest es ja genau wissen«, schalt sie sich, immer noch zitternd. Sie saß inzwischen wieder auf der Terrasse des Boatsman und nippte an einem doppelten Gin Tonic.

Von der idyllischen Romantik war nichts mehr übrig, stattdessen war der schmale Weg, der auch zum Außendeck des Restaurants führte, von einem Polizeiauto abgesperrt worden. Überall schritten Uniformierte und Menschen in weißen Schutzanzügen umher, gelbes Absperrband flatterte zwischen den Bäumen im Wind und das Holzdeck glich einer Einsatzzentrale. Samy war aufgefordert worden zu warten, bis jemand Zeit hatte, sie zu befragen. Inzwischen hatte sie ihr Zeitgefühl verloren und wusste nicht, ob es Minuten oder Stunden her war, dass sie Jennifer Dalton gefunden hatte.

Erneut hielt sie die Übelkeit zurück, die sie überkam, sobald sie an die bleiche Hand dachte, aber es war schwer, die Erinnerung loszuwerden – dafür hatte sie zu viel gesehen.

Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas und fragte sich, wie ein Gehirn etwas klarsehen und dennoch nicht verstehen konnte. Sie hätte den ausgefallenen Ring überall erkannt. Ihr Verstand bestätigte ihr im ­Nachhinein, dass sie sofort wusste, was sie vor sich hatte, als sie das Schmuckstück unter der Wasseroberfläche sah. Dennoch hatte sie versucht, an den Ring heranzukommen.

Das Wasser war glatt und unbewegt, bis sie darin gestochert hatte, und auch danach hatte es sich nicht vom aufgewühlten Dreck verfärbt. Im Gegenteil, sobald sie im Uferwasser rührte, war es hell geworden – weiß. Dieses Bild hätte sie ebenfalls zuordnen können, dennoch hatte ihr Verstand den richtigen Schluss verweigert. Erst als sie so viel Bewegung ins Wasser gebracht hatte, dass sie auch das andere Ende der weißen Fläche sah, begriff ihr Gehirn und sie hatte angefangen zu schreien.

*

Auf der Terrasse des Boatsman herrschte Chaos, doch die lahme Kellnerin lief nun zur Hochform auf. Plötzlich war sie überall und wuselte zwischen den Beamten hin und her. Es schien sie nicht zu stören, dass all das stattfand, weil Samy eine Leiche gefunden hatte. Die Tote interessierte sie nicht, es war ihr offensichtlich vollkommen egal, dass eine junge Frau ihr Leben verloren hatte.

»Schockiert Sie das nicht?«, wollte Samy von ihr wissen.

»Ne, gar nicht! Das ist voll spannend und diese Polizisten sind echt süß«, schwärmte sie.

Die junge Frau holte einen Taschenspiegel hervor und überprüfte ihren Lippenstift. Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, suchte ihr geübtes Auge die Terrasse ab und fand ein Opfer, das unbedingt mit Tee versorgt werden musste.

Samy war erschüttert über die Abgebrühtheit und kämpfte mit den Tränen. Sie hatte die Tote nach ihrer Ankunft in Windsor kennengelernt und seitdem fast jeden Tag getroffen. Nicht, dass sie befreundet gewesen wären, aber Samy hatte sich in Jennifers Yoga Institut angemeldet und beinahe täglich einen Kurs besucht. Jennifer war immer anwesend, so hatte sich eine seichte Bekanntschaft zwischen ihnen entwickelt.

Es kam ihr unwirklich vor, dass sie die Yogalehrerin niemals wieder sehen würde, sodass es ihr schwerfiel, sich zu beruhigen. Nachdem sie ein paar Mal in ein Taschentuch geschnieft hatte, nahm sie aus einem Augenwinkel wahr, wie weitere Personen den Uferweg entlangkamen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Obwohl sie die beiden seit dem Tag, der beinahe ihr letzter gewesen wäre, nicht mehr gesehen hatte, erkannte sie Inspector Stone und Constable Friendly schon aus der Ferne.

»Sch…!«, dachte sie mit einem Anfall von Wut. Es konnte doch kaum sein, dass die Grafschaft Berkshire so wenig Kriminalbeamte hatte, dass ihr Nate und die schreckliche Becca erneut begegneten.

Intuitiv drehte sie sich weg und wickelte sich in die Decke ein, die die Kellnerin ihr gebracht hatte. Sie wusste natürlich, dass ein Gespräch mit den beiden unausweichlich war, aber vielleicht ließ sich der Moment noch hinauszögern.

Constable Friendly war vielleicht im weitesten Sinne dafür verantwortlich, dass sie noch lebte, aber ihre Geringschätzung und Abneigung gegen Samy waren so intensiv gewesen, dass man sich besser aus dem Weg ging.

Und Inspektor Nate Stone?

Nun, Samy hatte es nicht über sich gebracht, ihn zu treffen, nachdem er beinahe schuld gewesen wäre, wenn Mrs Williams-Turner es geschafft hätte, sie zu töten. Einzig Cornelius Eingreifen war es zu verdanken, dass sie hier saß.

Samy schniefte erneut und wusste tief in ihrem Inneren, wie dumm dieses Verhalten war. Inspector Stone hatte nicht leichtfertig ihr Leben aufs Spiel gesetzt, sondern zu ihrer Sicherheit warten wollen, bis eine Spezialtruppe eintraf.

Aber es hatte ihr gefallen, sich einzureden, er hätte sie einer Gefahr ausgesetzt, denn es war ein guter Vorwand gewesen, ihm aus dem Weg zu gehen.

Sie mochte das Kribbeln in ihrem Magen nicht, das sich einstellte, wenn er mit ihr sprach. Es erinnerte sie an die Zeiten, in denen sie Männer, die ihr nicht guttaten, in ihr Leben gelassen hatte.

»Reiß dich zusammen, Samantha!«, ermahnte sie sich innerlich. »Der Mann ist Polizist und gerade hier, weil es einen Mord gegeben hat. Er wird sicherlich keine Diskussion mit dir beginnen, weil du ihm ausgewichen bist.«

Tief in ihrem Inneren vernahm sie ein leises »Schade«. Daher griff sie nach ihrem Glas und kippte den Rest in einem Zug runter, um auf andere Gedanken zu kommen.

*

Die Polizisten waren am Boatsman vorbeigegangen und am Ufer verschwunden. Nach etwa zehn Minuten kamen sie zurück und Samy sah, dass sie von einem uniformierten Kollegen begleitet wurden. Augenscheinlich versorgte er sie mit Informationen, die er auf einem kleinen Block notiert hatte. Er hielt einen Monolog, dem die anderen zuhörten, bis Nate Stone abrupt stehen blieb. Er schaute sich suchend um und wirkte überrascht und schien etwas zu hinterfragen. Daraufhin zeigte der Polizist zu Samy und in seinem Gesicht spiegelte sich Unglauben, als er sie erblickte.

Schließlich betraten er und Constable Friendly die Terrasse und kamen auf sie zu. Becca sah genauso furchteinflößend aus, wie Samy sie in Erinnerung hatte. Als sie vor ein paar Monaten in einen Mordfall verwickelt gewesen war – unverschuldet selbstredend – war Becca es gewesen, die sie am liebsten ohne Untersuchung verurteilt hätte.

Dankbar nahm Samy zur Kenntnis, wie Inspector Stone die junge Frau am Arm zurückhielt und hörbar erklärte: »Das übernehme ich!«

Auf Samy wirkte diese Handlung, als würde er sich vor sie stellen und vor den Attacken seines Constables beschützten – aber vielleicht entsprach diese Wahrnehmung auch nur ihrem Wunsch. Sie jedoch zog es vor, sein Verhalten positiv zu bewerten, wodurch ihre Bemühung um ein halbwegs professionelles Auftreten, ins Wanken geriet.

Nate blieb vor ihr stehen und begrüßte sie freundlich und provokant zugleich.

»Dr. Wilde! Ich darf doch davon ausgehen, dass es Zufall ist, dass Sie erneut über eine Leiche gestolpert sind?«

Seine Worte waren nicht schroff, dennoch fühlte Samy sich angegriffen. Daher ging sie in die Defensive und plusterte sich innerlich auf, bevor sie ihm sarkastisch antwortete.

»Mitnichten, ich habe mir ein neues Hobby zugelegt und bin tagein, tagaus auf den Straßen der Grafschaft unterwegs in der Hoffnung, ein paar Leichen aufzugabeln.«

Um Nates Mund zuckte es verräterisch, aber er blieb ernst und erkundigte sich, ob er und seine Kollegin sich setzen dürften.

Noch ehe sie antworten konnte, meinte Constable Friendly: »Ein bisschen früh, meinen Sie nicht, Dr. Wilde?«, und zeigte auf das Glas Gin. Dabei betonte sie Samys Titel so extrem, dass es lächerlich wirkte.

Sofort fühlte Samy sich unwohl und merkte, wie Röte ihr Gesicht überzog. Dies passierte immer, wenn ihr ungewollt Aufmerksamkeit zuteilwurde. Daher war sie für Stones Reaktion dankbar.

Er schaute seine Kollegin strafend an. Sofort erhob Becca sich frustriert und kündigte an, sie werde das Personal befragen. Sobald sie außer Reichweite war, entspannte Samy sich und konnte ein leises Aufseufzen nicht unterdrücken. Inspector Stones Blick war warm, als er sich zu ihr herüberbeugte und leise erkundigte: »Wie geht es Ihnen?«

Scham überkam sie und sie spürte, wie das Rot erneut auf ihre Wangen kroch. Siedend heiß wurde ihr bewusst, wie oft sie ihn ignoriert hatte, als er versucht hatte, sie zu erreichen.

»Ich hätte mich melden sollen«, entschuldigte sie sich verlegen, und war überrascht, als er eine wegwerfende Handbewegung machte.

Beinahe kränkte sie diese Geste. Es gab ihr das Gefühl, als sei es ihm egal. Für einen Moment verharrte sie in diesem Gedanken und wollte schmollen, doch der Polizist kam unmittelbar auf die aktuelle Situation zurück. Er wirkte konzentriert, in seinen dunklen Augen funkelte Wachsamkeit. Samy hatte ihn in privaten Momenten erlebt und wusste, dass er sehr charmant sein konnte. Davon war nun nichts zu spüren, und sie überlegte, ob er nicht doch ein kleines bisschen sauer war.

Nate beherrschte den neutralen Gesichtsausdruck wie kein anderer. Um sich abzulenken, betrachtete sie sein Outfit. Das hellblaue Hemd unter seiner Lederjacke sah frisch gebügelt aus. Daraus schloss sie, dass sein Dienstbeginn noch nicht lange zurücklag. Allerdings wurden ihre Gedanken direkt wieder von ihm unterbrochen.

»Sie haben die Tote gefunden, richtig?«, wollte er wissen. Als er sah, dass sie zögerte, erkundigte er sich erneut nach ihrem Gemütszustand.

»Wie geht es einem, wenn man zum zweiten Mal in kurzer Zeit eine Leiche findet?«, versuchte sie es auf eine gleichmütige Art, aber schnell kam ihr der Ton in Anbetracht der Situation vollkommen falsch vor.

»Sorry, Sie sind das sicherlich gewohnt«, fügte sie hinzu. »Mich erschreckt es. Ich muss gestehen, dass ich mich zusammenreißen muss, mein Frühstück bei mir zu halten.«

Nate schaute sie eindringlich an. Sein Gesicht war ernst. Plötzlich glaubte Samy jedoch zu erkennen, wie sich ein Schatten darüberlegte. Sein Blick schweifte in die Ferne und einen kurzen Moment lang meinte Samy, er würde ihre Aussage ignorieren.

»Man gewöhnt sich nie dran, aber es wird besser«, antwortete er stattdessen. Für einen Augenblick schwiegen beide gemeinsam, bis er bedauernd wieder auf die Tote zurückkam. »Also, wie kommt es, dass Sie hier sind und die Leiche gefunden haben? «

Samy berichtete von dem, was passiert war. Als sie den Namen der Toten erwähnte, wurden Nates Augen immer größer und schließlich unterbrach er sie fassungslos.

»Dr. Wilde, Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie die Frau kennen?«

Verunsichert hielt Samy inne. Sie fror und war dankbar für ihre Jacke. Die Schultern straffend erläuterte sie ihm trotzig, woher sie und Jennifer sich kannten.

Wieso geben die Polizisten mir immer das Gefühl, etwas verkehrt zu machen? überlegte sie empört. Dann wurde ihr jedoch klar, dass er nur aufgebracht war, weil die Polizei die Tote noch nicht identifiziert hatte.

»Aber es ist doch Jennifer, nicht wahr?«, wollte sie verunsichert wissen. Doch anstatt ihr zu antworten, pfiff Stone nach Becca und instruierte sie, herauszufinden, ob es sich bei der Toten um Jennifer Dalton, Betreiberin eines Yogastudios nahe der Victoria Street handelte.

Die eng zusammenstehenden Augen von Constable Friendly starrten Samy vorwurfsvoll an.

»Kennt sie die Tote?«, wollte sie von ihrem Boss wissen. Der gab ihr aber durch eine Handbewegung zu verstehen, sie solle sich um ihre Aufgabe kümmern. Widerwillig trat die junge Polizistin den Rückzug an, doch Samy war sicher, dass sie ihr bei Gelegenheit erneut das Leben schwermachen würde.

Für den Moment genoss sie Stones Schutz. Doch dieser würde erlöschen, sobald Becca Samy allein erwischte. Schon beim ersten Zusammentreffen hatte sie bemerkt, dass sie sich nur seiner Autorität beugte. Auch wenn Stone ruhig und besonnen wirkte, ließ er keinen Zweifel daran, was er von seinen Mitarbeitern erwartete.

»Also Dr. Wilde«, schloss er nahtlos an, sobald sie wieder allein waren. Auch wenn er freundlich war, wurde deutlich, dass auch er sich wunderte.

»Wie passt das alles zusammen? Es übersteigt mein Vorstellungsvermögen, dass Sie erst wenige Monate hier leben und nun schon zum zweiten Mal über eine Leiche stolpern, die Sie kennen.«

Samy wollte etwas erwidern, doch er redete weiter und griff ihrem Einwand vorweg.

»Ersparen Sie uns das. Wir wissen beide, dass Sie Jeremy Burkehead nicht persönlich kannten, als er Ihnen tot vor die Füße fiel. Dennoch wollen Sie sicherlich nicht bestreiten, dass es eine Beziehung zwischen Ihnen und diesem Toten gab, oder?«

Samy schwieg, denn er hatte recht. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass es zwischen ihr und dem Toten eine Verbindung gegeben hatte. Auch wenn sie weder ihn noch ihren Vater gekannt und nichts von den Fotos geahnt hatte, war der Inspector dennoch im Recht – sie stolperte schon zum zweiten Mal über eine Leiche, die in irgend­einer Beziehung zu ihr stand.

Nachdem sie mehrmals geschluckt hatte, berichtete sie ihm alles, was sie über Jennifer wusste. Auch die Tatsache, dass die Frau nur weiße Kleidung trug und Samy sie mehrfach in ihrem hellen Laufdress gesehen hatte.

»Jeder, der in diesem Ort Yoga macht, kennt sie, und jeder weiß von ihrem Faible für weiße Kleidung. Den Ring an ihrer Hand trug sie ebenfalls 24/7. Sie werden mir zustimmen, wenn ich behaupte, dass man ihn nicht vergisst, wenn man ihn einmal gesehen hat.«

Nate hörte aufmerksam zu, dennoch wurde sie den Eindruck nicht los, dass er an ihren Schilderungen zweifelte.

»Sie haben berichtet, dass Sie mit Sir Richard Car­michael hier waren. Wessen Idee war es, sich im Boatsman zu treffen?«, war sein einziger Kommentar.

Samy begriff, was er meinte und war drauf und dran, etwas Patziges zu erwidern, dann aber schluckte sie ihren Stolz runter. Ihr war klar, dass er nur seinen Job machte und die Frage legitim war. Also berichtete sie ihm von der Anfrage des Dekans und dass der Treffpunkt Sir Richards Wunsch gewesen war. Das Pub befand sich in unmittelbarer Nähe des Riverside Bahnhofs und war somit für ihn optimal zu erreichen.

Nate notierte sich die Kontaktdaten des Mannes und wollte Samy nach Hause schicken, als sein Constable ihn zu sich rief. Er entschuldigte sich bei Samy und ließ sie allein zurück, was ihr die Gelegenheit gab, ihn zu beobachten. Schon im Frühjahr war ihr aufgefallen, wie attraktiv er war, und auch heute übte er wieder eine gewisse Anziehungskraft auf sie aus. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig. Er war groß, und wenn er keine Jacke trug, zeichneten sich unter seinen Hemden Muskeln ab, die auf regelmäßiges Training schließen ließen. Sein Haar war leicht gelockt und minimal zu lang, was ihm einen verwegenen Ausdruck verlieh. Samy hätte es nichts ausgemacht, ihn weiterhin anzustarren, und sie war beinahe enttäuscht, als er wenig später an den Tisch zurückkehrte. An seinem besorgten Gesichtsausdruck merkte sie sofort, dass er etwas gehört hatte, was nun seine volle Aufmerksamkeit verlangte. Daher überraschte es sie nicht, dass er sie nur kurz abfertigte.

»Sie können gehen, Dr. Wilde. Wir danken Ihnen für Ihre Hinweise.«

»Es ist Jennifer, nicht wahr?«, bohrte sie dennoch nach und sah ihm an, wie er mit sich rang.

Natürlich durfte er nichts preisgeben, das war auch ihr klar. Dennoch schaute sie ihn beharrlich an und er seufzte schließlich resigniert. Leise und nur für sie hörbar gab er ihr die gewünschte Antwort.

»Mrs Dalton wurde gestern Abend vermisst gemeldet. Sie ist nicht zu einer Verabredung mit ihrem Mann erschienen und war nicht zu erreichen. Um 19 Uhr informierte er die Kollegen auf der Wache Windsor. Laut Ersteinschätzung unseres Mediziners hat sie 18 bis 24 Stunden im Wasser gelegen, was zu all dem passt.«

»Oh mein Gott«, stöhnte Samy. In ihren Augen lag blankes Entsetzen.

Nate schien zu spüren, dass sie erneut mit Übelkeit kämpfte. Er besorgte ihr ein Glas Wasser und beauftragte eine junge Polizistin in Uniform, sie nach Hause zu bringen. Als sie bereits auf dem Weg zum Auto waren, fiel ihr etwas ein und sie lief zurück.

»Ich bin überrascht, dass gerade Daniel bemerkt hat, dass sie verschwunden war«, überlegte sie laut, woraufhin Nate sie verdutzt anschaute. Also ließ sie ihn wissen, dass Jennifer und ihr Mann getrennt waren und er mit einer anderen Frau zusammenlebte.

Als sie sah, wie überrascht er war, sprudelte es weiter aus ihr heraus, ohne ihm die Chance zu geben, sie zu unterbrechen.

»Eigentlich kenne ich die beiden gar nicht als Paar. Solange ich ins Yogastudio gehe, ist er schon mit Naomi zusammen. Sie ist jünger als Jennifer und Dan, und kommt manchmal gemeinsam mit ihrer Mutter zu den Stunden. Sie ist wohl Studentin, Jennifer ist immer sehr nett zu ihr gewesen. Es scheint sie nicht zu stören, dass sie Dans Freundin ist. Daher gehe ich nicht davon aus, dass sie der Trennungsgrund ist.«

Sie sah, dass die Augen des Polizisten größer wurden. Schließlich endete sie atemlos mit: »Aber man weiß ja nie. Vielleicht war es auch eine Dreiecksbeziehung, manche Menschen mögen so etwas.«

Im selben Moment wurde sie rot, was ihn zum Schmunzeln brachte. Als sie versuchte, ihre Worte zu relativieren, verabschiedete er sich.

»Legen Sie sich eine Stunde hin, so ein Fund führt oft zu einem Schock, der kann sich auf die unterschiedlichste Art und Weise zeigen.«

Sie sah, dass er lächeln musste, und wäre am liebsten im Boden versunken, was ihm nicht verborgen blieb.

»Ich melde mich später bei Ihnen, natürlich muss auch Ihre offizielle Aussage aufgenommen werden. Aber das hat Zeit, ich muss mich um Mr Dalton kümmern und herausfinden, ob er seine Frau identifizieren kann. Danke für die Informationen, Dr. Wilde.«

Damit war sie entlassen und Samy machte sich erschöpft auf den Nachhauseweg. Wahrscheinlich hatte er recht, und eine Stunde Schlaf würde ihr gut bekommen.

Kapitel 3

Seltsame Begebenheiten