Goethes Orte in Weimar - Annette Seemann - E-Book

Goethes Orte in Weimar E-Book

Annette Seemann

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Beschreibung

Vom Haus am Frauenplan zum Theater, vom Palais Schardt zum Gartenhaus in den Park an der Ilm … So könnten Goethes Spaziergänge durch die Stadt ausgesehen haben, in die der junge Dichter 1775 aus Frankfurt kam. Und Weimar, die kleine Residenzstadt an der Ilm, wurde schon bald zu seiner Heimat. Seine Wege durch die Stadt, aber auch seine Ausflüge ins Umland, nach Ettersberg und Tiefurt, erzählen vom täglichen Leben des Dichters und erschließen zugleich ein Panorama seiner Zeit.

Der reich bebilderte Band, kenntnisreich geschrieben von Annette Seemann, folgt diesen Gängen und sucht die Orte, die Goethe besonders liebte und häufig besuchte.

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Seitenzahl: 198

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Annette Seemann

Goethes Orte in Weimar

Mit Fotografien von Constantin Beyer

Insel Verlag

Inhalt

Vorwort

1. Das Erfurter Tor

2. Der Sächsische Hof

3. Palais Schardt – Teepavillon

4. Luthergasse 1

5. Herders Wohnung hinter der Stadtkirche St. Peter und Paul

6. Das Residenzschloss

7. Goethes zweite Wohnung am Burgplatz und das Goethe zimmer im Café Resi

8. Das Geheime Consilium im Roten Schloss

9. Die Großherzogliche Bibliothek

10. Das Fürstenhaus

11. Das Gartenhaus im Park an der Ilm

12. Der Park an der Ilm

13. Das Felsentor oder Nadelöhr

14. Das Louisenkloster oder Borkenhäuschen

15. Der Schlangenstein

16. Das Römische Haus

17. Das Tempelherrenhaus

18. Die Parkhöhle

19. Das Stadthaus

20. Goethes Wohnung in der Seifengasse 16

21. Das Haus der Frau von Stein an der Ackerwand

22. Die Jägerhäuser

23. Goethes Haus am Frauenplan

24. Goethes Hausgarten am Frauenplan

25. Goethes Steinpavillon am Hausgarten

26. Die Erweiterungsbauten des Goethe-Nationalmuseums

27. Das Eckermannhaus in der Brauhausgasse 13

28. Das Gasthaus Weißer Schwan

29. Wielands Wohnung in der Marienstrasse 1

30. Schillers Wohnung in der Windischengasse (heute: Windischenstraße) 8

31. Das Schillerhaus an der Esplanade (heute: Schillerstraße)

32. Der erste Wohnsitz Johanna Schopenhauers in Weimar

33. Das Weimarer Theater

34. Das Goethe-Schiller-Denkmal auf dem Theaterplatz

35. Das Wittumspalais

36. Das Goethe-Denkmal im Neuen Museum

37. Die Altenburg

38. Das Goethe- und Schiller- Archiv

39. Historischer Friedhof mit Fürstengruft und russisch- orthodoxer Grabkapelle

40. Schloss und Park Belvedere

41. Die Orangerie von Schloss Belvedere

42. Schloss Ettersburg

43. Der Ettersberg

44. Das Schießhaus

45. Schloss Tiefurt

46. Der Park von Tiefurt

47. Die Denkmäler im Park von Tiefurt

48. Das Tiefurter Journal

49. Schloss Kochberg

50. Die Dornburger Schlösser

Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Sekundärliteratur:

Abbildungsnachweis

Vorwort

Er kam aus Frankfurt, der stolzen freien Reichsstadt, mit 26 Jahren nach Weimar, einer kleinen Residenz in Mitteldeutschland. Frankfurt hatte damals etwa 32.000 Einwohner, Weimar gerade einmal 6.000. Wir schreiben November 1775.

Was für eine Veränderung! Was mag den Juristen und Autor dazu bewogen haben? Ein Jahr zuvor war er mit dem Roman Die Leiden des jungen Werthers zum Star der literarischen Szene aufgestiegen. Sogar in Frankreich und England wurde das deutsche Buch gelesen, ein bislang so nie dagewesenes Phänomen, galt doch Deutschland damals keineswegs als eine Kulturnation. Goethe sprach mit dem Werther offenbar allen jungen Menschen aus dem Herzen, und seine Geschichte hatte eine so starke Wirkung, dass sich zahlreiche Liebeskranke ganz wie Werther das Leben nahmen.

Diesen Mann holte sich der 18-jährige, gerade für volljährig erklärte Thronfolger von Sachsen-Weimar-Eisenach in seine Residenz. Was erhoffte er sich von ihm, abgesehen davon, dass er ihn zum Freund wählte? Die Freundschaft wurde von Goethe erwidert und das mag auch ein Grund dafür sein, dass der Dichter die kleine Residenzstadt schon nach kurzer Zeit in sein Herz schloss und nicht mehr nach Frankfurt zurückwollte.

Goethes Wege in Weimar nachzuverfolgen, die Orte in der kleinen Residenz, die er mochte und frequentierte, in Text und Bild einzufangen und ihre damalige Bedeutung für Goethe und die Weimarer einzuschätzen, ist das Anliegen dieses Buchs, das die Leser zu einer Zeitreise in das 18. Jahrhundert einladen möchte und dabei Goethes Leben in Weimar zu erzählen versucht.

Das Buch versteht sich als Einladung, Goethes Wege nachzugehen, die in einer kleinen Stadt oft gar nicht weit sind, aber dennoch ins Weite führen können, denn Goethe genoss auf seinen Streifzügen auch die schöne Natur rundherum. Und daher schließen sich an die Lieblingsorte in der Stadt auch einige Ausflüge in die nähere Umgebung Weimars an, auf den Spuren von weiteren Lieblingsorten des Dichters.

1. Das Erfurter Tor

Er hatte sich von seiner Verlobten Lili getrennt, als er erkannte, dass er in der Bankiersfamilie Schönemann nur mit Argwohn betrachtet wurde: Zu wenig Reichtum brachte er mit. Aber er hatte auch selbst Fluchtbewegungen entwickelt, denn er begriff, dass die 16 Jahre alte Lili nicht nur schön und bestens auf die vornehme Welt vorbereitet, sondern sehr charakterstark war. Goethe nennt »vollkommene Dienstbarkeit« hinsichtlich seiner eigenen Rolle, und man spürt sein Unbehagen. Nachdem er mit den Brüdern Stolberg durch die Schweiz gereist war, empfand er die Verlobung als nicht mehr bindend. Er strebte nach Italien, landete aber – in Weimar.

Das Erfurter Tor, das jeder wählen musste, der von Westen die Stadt betrat, passierte der Dichter am Morgen des 7. November 1775. Dieses Tor, das heute nicht mehr existiert, gehörte zur mittelalterlichen Stadtbefestigung Weimars, die einst nur drei Tore aufwies. Es wurde »Neues Tor« oder »Erfurter Tor« genannt und war im Zuge der Verstärkung der Befestigungen erst im 14. Jahrhundert errichtet worden. Es war, wie auch das südliche Stadttor Weimars, stärker befestigt, nur über eine Brücke passierbar und präsentierte sich als ein von zwei Rundtürmen flankiertes Tor in der äußeren Stadtmauer. Daneben erhob sich ein mehrstöckiger viereckiger Turm auf der inneren Seite, der später als Gefängnis diente. Man muss es sich unter der Geleitstraße auf der Höhe der Böttchergasse vorstellen. Dies weiß man aufgrund von Grabungen im Stadtraum hinter dem Lesemuseum, die 1999 vorgenommen wurden, während man den weiteren Verlauf der Stadtmauer vom Erfurter Tor bis zum Wittumspalais und zum Beginn der ehemaligen Esplanade, die erst unter der Herzogin Anna Amalia durch Niederlegung dieses Teils der Stadtmauer als Straße entstand, nicht kennt.

Was Goethe empfand, als er das Tor an diesem nebligen Novembermorgen durchfuhr, nachdem der Wagen des Kammerherrn von Kalb, der ihn begleitet hatte, visitiert und beim Herzog gemeldet wurde, ist unbekannt. Was er von Weimar wusste? Herzlich wenig, darf angenommen werden.

Er nimmt sicher rasch wahr, dass er in einer sehr kleinen Residenzstadt gelandet ist. Auch von dem Fürstentum, zu dem Weimar gehört, weiß der Dichter nicht viel, doch immerhin, dass Sachsen-Weimar-Eisenach zu einem Flickenteppich von 27 teils winzigkleinen thüringischen Fürstentümern und Herrschaften gehört.

Sehr schnell bemerkt er, dass das Leben in dieser Residenz noch sehr bäuerlich geprägt ist. Von Straßen kann man in dieser Stadt beim besten Willen nicht sprechen. Und die schwarze Ruine, die man schon von weitem sieht, war bis zum Mai des Jahres zuvor das Residenzschloss.

Was Goethe jedoch weiß, ist, dass auf den jungen Herzog ungeheure Aufgaben warten. Dass dieser ihn als einen Freund – und vielleicht mehr – braucht. So hat er viele Jahre später in Dichtung und Wahrheit dazu geschrieben: »Die durch den Schloßbrand gewirkten gräulichen Ruinen betrachtete man schon als Anlaß zu neuen Tätigkeiten. Das in Stocken geratene Bergwerk zu Ilmenau, dem man durch kostspielige Unterhaltung des tiefen Stollens eine mögliche Wiederaufnahme zu sichern gewusst, die Akademie Jena, die hinter dem Zeitsinn einigermaßen zurückgeblieben und mit dem Verlust gerade sehr tüchtiger Lehrer bedroht war, wie so vieles andere, regte einen edlen Gemeinsinn auf. Man blickte nach Persönlichkeiten umher, die in dem aufstrebenden Deutschland so mannigfaches Gute zu fördern berufen sein könnten, und so zeigte sich durchaus eine frische Aussicht, wie eine kräftige und lebhafte Jugend sie nur wünschen konnte.«[1]

Tatsächlich war trotz der morgens und abends noch wie im Mittelalter verschlossenen Stadttore der Geist, der den Fürsten Carl August beherrschte, alles andere als mittelalterlich und begrenzt. Der Schüler des Philosophen und Schriftstellers Wieland war wie bereits seine Mutter mit den Schriften der Aufklärung groß geworden, und es war damals in Mode gekommen, dass die jungen Fürsten auf ihren Bildungsreisen nach klugen Köpfen mit originellen Ideen Ausschau hielten. So exerzierten es große, reiche Höfe vor, und Weimar war durch Anna Amalia längst ein Ort geworden, der sich einem aufgeklärten und toleranten Umgang des Adels mit dem Bürgertum verschrieben hatte: Originalität und Kreativität, dafür stand Goethe, und mit Männern wie ihm wollte sich Carl August umgeben.

Abb. 1

2. Der Sächsische Hof

Der Vater des Kammerherrn von Kalb nimmt den jungen Dichter nach seiner Ankunft in Weimar bei sich auf, seine erste Wohnung ist also im Sächsischen Hof, heute unter der Adresse Eisfeld 12. Es gibt ihn noch: Er gehörte zu einer Reihe von »Herrenhöfen« rund um die Stadtkirche, darunter auch das Deutschritterhaus. Markant ist besonders der Giebel des auf den Platz hin – damals hieß er noch nicht Herderplatz, sondern »Töpfermarkt« – orientierten Gebäudes. Der Sächsische Hof war mehrteilig, zwischen Rittergasse und Eisfeld gelegen, und gehörte ursprünglich dem Deutschen Orden. Im 15. Jahrhundert ging er an die Gräfin Anna von Schwarzburg, daher der Name noch bei Goethes Ankunft und bis in das 19. Jahrhundert hinein: Schwarzburgischer Hof. Über die Jahrhunderte wurde das Ensemble ständig erweitert, bis 1945 Fliegerbomben den größten Teil des Hofs zerstörten. Das verbliebene Giebelhaus geht auf einen 1580 durchgeführten Umbau zurück. Der spätere Name »Sächsischer Hof« wurde dem als Gasthaus betriebenen Hof im Jahre 1809 gegeben, als der Mundkoch Anna Amalias, Le Goullon, sein Haus »Hôtel de Saxe« benannte. Nach dem Krieg 1870 / 71 wurde der Name eingedeutscht.

Wie aber kam es zu dem freundlichen Wohnungsangebot? Immerhin verbrachte Goethe hier viereinhalb Monate, vom 7. November bis zum 18. März 1776.

Johann August Alexander von Kalb hatte am Weimarer Hof als ältester Sohn des sachsen-weimarischen Geheimrats Carl Alexander von Kalb rasch Karriere gemacht. Der Herzog mochte und protegierte ihn, und das war damals fast das Wichtigste, wollte man im Staatsdienst aufsteigen. Von Kalb hatte schon früh eine Militärlaufbahn eingeschlagen und diente ab 1767 als Hauptmann in Sachsen-Weimar. 1768 wurde er Kammerjunker und Kammerassessor, 1772 dann Kammerrat bei dem Kammerkollegium, das sein Vater leitete. Die Kalbs waren eine machtorientierte Familie und nicht die einzige im damaligen Weimar, weshalb ein gewisses Kalkül bei der Annäherung an den jungen Dichter mitgespielt haben mag: Man musste danach streben, die Hausmacht zu stärken.

Von Kalb schreibt an Goethes Eltern in Frankfurt, um sie über dessen neue Position zu beruhigen. Er berichtet, dass der einzige Sohn ein überaus vertrauter Freund des Herzogs sei und alle braven Jungen ihn bis zur Schwärmerei liebten.

Ein Jahr später erklomm Kalb die höchste Stufe seiner Karriere, wurde Präsident des Kammerkollegiums, um 1782 von Carl August in Unehren, wegen Leichtfertigkeit und finanzieller Unkorrektheit, entlassen zu werden. Goethe, der Kalbs Stelle übernahm, urteilte in einem Brief an seinen »Urfreund Knebel« am 27. Juli 1782 mittlerweile so über ihn: »Daß Kalb weg ist, und daß auch diese Last auf mich fällt, hast du gehört. Jeden Tag, je tiefer ich in die Sachen eindringe seh ich wie notwendig dieser Schritt war. Als Geschäftsmann hat er sich mittelmäßig, als politischer Mensch schlecht und als Mensch abscheulich aufgeführt …«[2]

Johann Alexander von Kalb und sein jüngerer Bruder Heinrich sollten übrigens zwei Schwestern heiraten, Eleonore und Charlotte Marschalk von Ostheim. Beide wurden sehr unglücklich in ihren Ehen. Charlotte war später weder mit Schiller noch mit Jean Paul ein dauerndes Glück beschieden, immerhin wurde ihr aber ein Platz in der Literatur- und Kulturgeschichte Weimars zuteil.

In der Zeit, in der Goethe bei den Kalbs wohnte, war seine Anstellung am Hof in Weimar keineswegs sicher. Der junge Herzog genoss sein Leben, reiste mit dem Dichter durch sein Herzogtum, besuchte Bälle und Redouten und jagte. All das verschlang auch Goethes Geld, das dieser nicht hatte, sondern sich beschaffen musste. Da sein Vater ihm auf seine Bitte hin die erwünschten 200 Gulden versagt hatte (weil er die neue Lebensbahn seines Sohns kritisch sah), lieh er sich bei seinem Darmstädter Freund Merck das Geld gegen einen Schuldschein und schrieb ihm am 22. Januar 1776:

»Ich hab das Geld, lieber Bruder, erst den 19. Januar kriegt! Was Du mir länger als März lassen kannst, das tu; was Du aber wiederbrauchst, sollst Du haben. Hier hast Du einen Schein.

Ich bin nun ganz in alle Hof- und politische Händel verwickelt und werde fast nicht wieder weg können. Meine Lage ist vorteilhaft genug, und die Herzogtümer Weimar und Eisenach immer ein Schauplatz, um zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesichte stünde. Ich übereile mich drum nicht, und Freiheit und Gnüge werden die Hauptkonditionen der neuen Einrichtung sein, ob ich gleich mehr als jemals am Platz bin, das durchaus Scheisige dieser zeitlichen Herrlichkeit zu erkennen. Eben drum. Adieu! – Ich hab einen Streich gemacht, der hoffentlich durchgeht und dir hoher Spaß sein wird.«[3] (Mehr zu diesem Streich in Kapitel 5)

Abb. 2

3. Palais Schardt – Teepavillon

Ein kurzer Spaziergang führt vom Herderplatz Richtung Westen über die Geleitstraße nach rechts in die Scherfgasse Nr. 3, einst das Haus der Familie von Schardt. Seit 2003 ist das in einer privaten Initiative durch Josef und Waltraud Brinkmann restaurierte und mit zwei Museen (dem Schardtschen Hausmuseum und dem Puppenstubenmuseum) ausgestattete Schardtsche Haus öffentlich zugänglich.

Hier ist der mutmaßliche Ort des ersten Blicks, der ersten Worte zwischen Goethe und der Tochter der Familie von Schardt, Charlotte, verheiratete von Stein (1742-1827). Wir schreiben vermutlich den 11. November 1775. Der Ort dieser Begegnung soll der stimmungsvolle Rokoko-Teepavillon im ersten Geschoss, den man durch einen Galeriegang erreicht, gewesen sein. Damals und bis ins 19. Jahrhundert grenzte das große Grundstück mit seinem Garten an die Stadtmauer. Das Hauptgebäude stammt unter Einbeziehung älterer Bauteile aus den Jahren 1596 / 1597.

Johann Christian Wilhelm von Schardt (1711-1790), Charlottes Vater, war Hofmarschall und erwarb das Haus 1743. Er ließ den erwähnten Laufgang und den Pavillon errichten, der den Garten verschönerte. Noch heute zeigt das Haus zahlreiche Relikte der barocken Ausstattung aus Schardts Zeiten wie Türen, Parkett- und Dielenböden, Stuckdecken, Kamine und Öfen. An der Einrichtung hatte der Hofmarschall nicht gespart und das von seiner Gattin in die Ehe eingebrachte Vermögen fast vollständig für Repräsentationszwecke ausgegeben, nicht zuletzt für die Deckengemälde, eines von Adam Friedrich Oeser, eines von Christian W. E. Dietrich. Sein Argument war, dass sein Haus auch als Gästehaus des Hofes dienen musste, aber Schardts Verschwendungssucht veranlasste die sparsame Herzogin Anna Amalia, ihn bereits einen Tag nach dem Tod ihres Ehemanns, Ernst August II. Constantin, im Mai 1758 vorzeitig in den Ruhestand zu versetzen. Damals war Charlotte, die älteste Tochter von insgesamt zehn Kindern der Familie, sechzehn Jahre alt. Da die Familie sich nun stark einschränken musste, um eine drohende Versteigerung des Hauses abzuwehren, sah sich Charlotte gezwungen, etwas zum Lebensunterhalt beizutragen. So kam das Angebot der Herzogin, ihre Hofdame zu werden, sehr gelegen. Sechs Jahre lang versah sie das Amt gewissenhaft und erwarb sich Diplomatie, Weltklugheit und Takt. Dann ging sie die Ehe mit Josias von Stein ein, dem herzoglichen Oberstallmeister. Die Ehe galt als standesgemäß, nach Liebe wurde nicht gefragt.

Das Paar lebte zunächst ganz in der Nachbarschaft von Charlottes Eltern, in der Kleinen Teichgasse 3 im Frankeschen Hof, einem leider heute dem Verfall preisgegebenen Anwesen gegenüber dem Teepavillon, in dem sie dann Goethe kennenlernte. Er ist sieben Jahre jünger als sie, die bereits Mutter von sieben Kindern ist und desillusioniert durch die uninspirierte Ehe mit Stein. Dieser ist glücklicherweise oft von Weimar abwesend, das verlangt sein Amt – als Oberstallmeister ist er auch Reisemarschall des Herzogs.

Charlotte besuchte also am 11. November 1775 die Eltern und lernte Goethe in deren Teepavillon kennen. Der Gegensatz kann nicht schärfer gedacht werden: Sie ist eine gereifte, möglicherweise bereits leicht verbitterte, jedenfalls hoferfahrene Ehefrau und Mutter, er ein in ihren Augen ungeformtes jugendlich wirkendes Genie. Und es gibt eine romantische Vorgeschichte für beide …

Die Beziehung war nämlich von anderer Seite angebahnt worden und schon dadurch emotional für beide Beteiligten stark aufgeladen: Der Modearzt der damaligen Zeit, Johann Georg Zimmermann, den Charlotte von Stein 1773 und 1774 in Bad Pyrmont kennengelernt hatte, wusste seinem Freund, dem Physiognomiker Lavater, in hellsichtiger Weise die Frau des Weimarer Oberhofstallmeisters zu beschreiben: »Sie hat überaus große schwarze Augen von der höchsten Schönheit. Ihre Stimme ist sanft und bedrückt. Ernst, Sanftmut, Gefälligkeit, leidende Tugend und feine, tiefbegründete Empfindsamkeit sieht jeder Mensch beim ersten Anblick auf ihrem Gesichte. Die Hofmanieren, die sie vollkommen an sich hat, sind bei ihr zu einer sehr seltenen hohen Simplizität veredelt … Der Körper mager, ihr ganzes Wesen elegant mit Simplizität.« Als Charlotte von Stein wieder in Weimar ist, schreibt sie Zimmermann, dem sie vertraut, von ihren Lektüren; insbesondere Die Leiden des jungen Werthers hätten sie tief berührt. Sie möchte den Autor am liebsten kennenlernen. Zimmermann warnt, facht jedoch gleichzeitig das Feuer an: »Sie wünschen, ihn zu sehen, und Sie wissen nicht, bis zu welchem Punkte dieser liebenswürdige und bezaubernde Mann Ihnen gefährlich werden könnte.« Er fügt eine Silhouette Goethes bei und im selben Oktober 1774, als er Goethe trifft, zeigt er diesem aus seiner großen Sammlung von Schattenrissen auch jenen Charlotte von Steins. Und Zimmermann schickt ihr den Text, den der Dichter an den Rand dieses Bildes geschrieben hatte: »Es wäre ein herrliches Schauspiel zu sehen, wie die Welt sich in dieser Seele spiegelt. Sie sieht die Welt, wie sie ist, und doch durchs Medium der Liebe. So ist auch Sanftheit der allgemeine Eindruck.«[4] Zimmermann beschreibt ihr Goethe als Genie und bereitet sie auf seinen baldigen Besuch in Weimar vor.

Nach dem ersten Kennenlernen acht Tage nach seinem Eintreffen in Weimar musste Goethe einsehen, dass entscheidende Charakterzüge dem Bild nicht anzusehen gewesen waren, aber richtig blieb seine erste Einschätzung von Charlottes besonderer Sanftmut. Und obwohl sie bei aller Bewunderung für Goethes Genie im unmittelbaren Umgang den gebührenden Respekt vermisste, wurde die Beziehung rasch sehr intensiv, so lud sie den Dichter schon wenige Wochen später auf ihr Landgut Schloss Kochberg ein.

Abb. 3

4. Luthergasse 1

Der Weg führt zurück zum Herderplatz, dort biegt man links ab in die Jakobsstraße, von der eine kleine Gasse abgeht, die Luthergasse. Einen wahrhaft historischen Ort hatte sich der ehemalige Erfurter Rhetorikprofessor Christoph Martin Wieland als Wohnort für sich und seine ständig wachsende Familie ausgesucht, als er 1772 in das damals »Söllnersches Freihaus« genannte Gebäude zog. Von der Herzogin Anna Amalia zum Prinzenerzieher bestellt, sollte Wieland den ungeliebten Professorenberuf an den Nagel hängen und gegen ein gutes Gehalt sowie eine sichere Pensionszusage für die überschaubare Zeit von drei Jahren die Prinzen vor allem in der Philosophie unterrichten. Empfohlen hatte er sich der Herzogin durch seinen Roman Der goldene Spiegel, in dem das Ideal des aufgeklärten Herrschers präsentiert wird, genau so, wie es sich Anna Amalia vorstellte und wie sie es sich für ihren Sohn Carl August als Vorbild wünschte.

Das damals unmittelbar an die Stadtmauer grenzende Grundstück gehörte zum herrschaftlichen Besitz und trägt heute den Namen »Lutherhof«: Der Reformator hatte hier auf Reisen wiederholt genächtigt. Im 19. Jahrhundert gründete der Schriftsteller und Sozialpädagoge Johann Daniel Falk gemeinsam mit Carl Friedrich Horn hier die »Gesellschaft der Freunde in der Noth«, die insbesondere Waisen, die nach den Plünderungen in Folge der napoleonischen Kriege unversorgt zurückgeblieben waren, eine Heimstatt gab und eine Ausbildung gewährte. Es war dies die erste sozialpädagogische Einrichtung in Deutschland. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Lutherhof durch den Hof verkauft und stark verändert.

Wieland lebte hier bis 1777 und Goethe hat ihn mit Sicherheit oft besucht. Die intensive Beziehung der beiden Dichter hatte bereits vor Goethes Ankunft in Weimar ihren Anfang genommen und sollte bis zu Wielands Tod im Jahr 1813 währen. Allerdings muss man es als menschliche Größe interpretieren, dass Wieland Goethe so freundlich entgegenkam, wie er es in Weimar tat. Was war zuvor geschehen?

Wieland hatte den Götz von Berlichingen des jungen Frankfurter Genies gelesen und in seinem Teutschen Merkur von 1773 angezeigt. Immer wieder publizierte Wieland aber auch eigene Werke in der Zeitschrift, etwa im selben Jahr seine Briefe über Alceste. Diese Art der Selbstvermarktung war Goethe ein Dorn im Auge, was ihn dazu antrieb, Wieland mit seiner literarischen Farce Götter, Helden und Wieland zu attackieren. Anders als in seiner Studentenzeit, als er Wieland verehrt hatte, sah er in dem Älteren plötzlich einen Pedanten, die Verkörperung des Antiquierten – vor allem aber, so fand Goethe, verniedliche Wieland unzulässigerweise die von ihm verehrte Antike. Wieland reagierte auf diesen Angriff gelassen, ja er empfahl seinen Lesern die Farce Goethes im Teutschen Merkur sogar, indem er Goethe mit dem großen Komödiendichter der Antike, Aristophanes, gleichsetzte – ein großzügiges Versöhnungsangebot.

Entsprechend großzügig und offen empfing der Ältere den Jüngeren bei seiner Ankunft in Weimar. Friedrich Heinrich Jacobi berichtete er von seiner Zuneigung für Goethe, und er schwärmte auch anderen von Goethes Liebenswürdigkeit und seinem Genie vor.

Und wirklich: In den Lutherhof kam Goethe oft, aß bei Wieland zu Mittag oder zu Abend, man tauschte sich aus – es entwickelte sich eine Freundschaft, und Goethes jugendliche Ausbrüche wurden seltener. An den erwähnten Arzt Zimmermann schrieb Wieland schon im Januar 1776: »Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Goethe, Lavater, Herder, warum sollten sie nicht auch meine Freunde sein? Seit ich dieses Kleeblat kenne, sind sie meine Heiligen.

Ich lebe nun neun Wochen mit Goethe, und lebe, seit unsere Seelenvereinigung so unvermerkt und ohne allen effort nach und nach zu Stande gekommen ist, ganz in ihm.«[5]

Goethe seinerseits lernte »Vater« Wielands Güte schätzen, aber auch mit seinem aufbrausenden Charakter zu leben. Zu Wieland gehörten sein Kinderreichtum, sein Schreibfuror, seine Unlust, der höfischen Etikette zu gehorchen. In all diesen Punkten war Goethe dezidiert anders strukturiert bzw. sollte das Leben ihm etwa reichen Kindersegen vorenthalten. Aber Goethe erkannte in Wieland sofort das Original, das er in anderer Hinsicht selbst war, und er lernte diesen kleinen Mann mit den großen Sprachkenntnissen respektieren, ja freundschaftlich lieben.

Lange nach Wielands Tod hat Goethe im Gespräch mit Eckermann seine Beziehung zu Wieland reflektiert: »Wieland, wie immer, erscheint auch in diesen Briefen[6] durchaus heiter und wie zu Hause. An keiner besonderen Meinung hängend, war er gewandt genug, um in alles einzugehen. Er war einem Rohre ähnlich, das der Wind der Meinungen hin und her bewegte, das aber auf seinem Wurzelchen immer feste blieb.

[…] Als aber Herder nach Weimar kam, wurde Wieland mir ungetreu; Herder nahm ihn mir weg, denn dieses Mannes persönliche Anziehungskraft war sehr groß.«[7]

Abb. 4

5. Herders Wohnung hinter der Stadtkirche St. Peter und Paul

Vom Lutherhof geht man wieder den kurzen Weg zurück zum Herderplatz und erblickt hinter der Kirche den schönen Renaissance-Eingang zum Herderhaus mit seinem Garten und den Sitzsteinen.

Herder in Weimar – was hat das mit Goethe zu tun? In dem im zweiten Kapitel zitierten Brief Goethes an seinen Freund Merck findet man einen fast kryptischen Satz, der jedoch Bezug nimmt auf sein Aufgreifen einer Anregung Wielands, Johann Gottfried Herder als Generalsuperintendenten nach Weimar zu holen. Goethe sprach zu Merck von einem »Streich […], der hoffentlich durchgeht und dir hoher Spaß sein wird«.[8]

Herder, den Goethe in Straßburg als wegen seiner vielfältigen literarischen und philosophischen Bildung bewunderten Mentor und Freund kennengelernt hatte, war inzwischen Konsistorialrat in Bückeburg. Seine Frau Caroline, die Goethe aus dem Kreise der Empfindsamen in Darmstadt ebenfalls schon kannte, erwartete ihr zweites Kind. Herder für Weimar durchzusetzen, war für Goethe aus zwei Gründen nicht einfach, hatten sich doch die vier Stadtpfarrer in den vergangenen Jahren, in denen die Stelle vakant war, die Einnahmen sowie die Arbeit des Superintendenten aufgeteilt. Vor allem war Herder wie auch Goethe als ein moderner Denker bekannt, wenig orthodox als Theologe und weit gefächert in seinen literarischen und intellektuellen Interessen. Gerade das gefiel aber dem jungen Carl August. Doch Goethe und er brauchten einige Monate Überredungszeit, um die Berufung Herders voranzutreiben, der eigentlich auf eine Professur nach Göttingen strebte. Goethes Lockrufen konnte er aber schließlich nicht widerstehen.

Als Ende Januar Herders Berufung erfolgte, machte sich Goethe daran, dem Freund, den er im Brief immer Bruder nannte, die Wohnung vorzubereiten, die heute immer noch die des Superintendenten Weimars ist (der jedoch nicht mehr neben der kirchlichen auch die Schulbildung verantworten muss wie damals). Am 5. Juli 1776 schreibt Goethe an Herder über dessen künftige Wohnung: »Lieber Bruder, heut war ich in der Superintendentur, wo Herr Konsistorialrat Seidler mit einem Schwanz von zehn Kindern nach und nach ausnistet. Ich hab gleich verstanden, daß wenigstens das obre Stock repariert werde, und so eingerichtet, dass ihr einziehen und deine Frau Wochen halten könne. Es müssen noch Öfen gesetzt werden, Fenster gemacht, angestrichen, geweißt und so weiter.«[9]