Going Back – Wo fing das Böse an? - Gillian McAllister - E-Book
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Going Back – Wo fing das Böse an? E-Book

Gillian McAllister

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Beschreibung

»Ungewöhnlich und vollkommen einzigartig. Ein Meisterwerk, das es in sich hat!« Claire Douglas | Reese Witherspoons Book Club Pick für August 2022 | Der Sunday-Times- und New-York-Times-Bestseller endlich auf Deutsch!

 

Es ist nach Mitternacht, du wartest auf deinen Sohn. Du siehst ihn kommen, doch er ist nicht allein. Du kannst kaum begreifen, was du beobachtest – dein lebensfroher jugendlicher Sohn ermordet einen Fremden. 

Du weißt nicht, wen. Du weißt nicht, warum.

Du weißt nur, dass seine Zukunft verloren ist. Deine Welt zerbricht.

In dieser Nacht schläfst du verzweifelt ein. Als du aufwachst, bist du im Gestern, dann im Vorgestern. Jeden Morgen wachst du einen weiteren Tag vor dem Mord auf. Und du begreifst: Irgendwo in der Vergangenheit liegt eine Antwort, der Auslöser für dieses Verbrechen. Der Moment, in dem das Böse seinen Ursprung fand. Und deine einzige Chance, die Zukunft deines Sohnes zu retten ...

 

»Die faszinierendste Idee für einen Roman, die ich seit Langem gesehen habe!« Ian Rankin

»Gewagt, raffiniert, inspirierend, ungewöhnlich. Worauf warten Sie?« A.J. Finn


In ihrem außergewöhnlichen Thriller »Going Back« stellt die mehrfache britische Bestsellerautorin Gillian McAllister ihre Protagonistin Jen vor einige elementare Fragen. Denn würde eine Mutter nicht alles für ihr Kind tun? Selbst, wenn der eigene Sohn zum Mörder wird? Und was, wenn man die Möglichkeit bekäme, diesen Mord ungeschehen zu machen? Das Ergebnis ist ein atmosphärischer Zeitschleifen-Thriller, der Mutterschaft und mütterlichen Instinkt in den Fokus rückt.


Reese Witherspoon wählte Gillian McAllisters »Going Back« als Augustlektüre für ihren Buchclub und hob es damit auf Platz 2 der New York Times Bestsellerliste!

Das sagt Reese Witherspoon über das Buch:

»Die August-Lektüre des @reesesbookclub ist ›Going Back‹ von @gillianmauthor. Dieses Buch ist SO gut. Es handelt von einer Mutter, die sich Sorgen um ihren jugendlichen Sohn macht, weil er eines Abends lange unterwegs ist. Als sie aus dem Fenster schaut, sieht sie, wie er einen Mann in ihrem Vorgarten ersticht (!!), aber als sie am nächsten Morgen aufwacht, ist es der Tag, bevor ihr Sohn die Tat begeht. Sie reist immer weiter in die Vergangenheit zurück, um herauszufinden, was mit ihrem Sohn passiert ist. Das Buch ist EXTREM spannend und perfekt für den Abschluss des Sommers. Ich kann es kaum erwarten zu hören, was ihr denkt!«


Wen Gillian McAllister mit ihrem Thriller noch begeistert hat:

»Spannend. Verworren. Unerwartet feinfühlig.« The New York Times

»Ein genial angelegter Genre-Mix, der die Zeit rückwärts laufen lässt. Eine Meisterleistung!« The Guardian

»Dies ist Romanschreiben auf höchstem Niveau.« Ian Rankin

»Genial geplottet ... Eine beeindruckende Leistung!« The Guardian

»Eine auf geniale Weise genreübergreifende und verblüffende Antwort auf die Frage, wie weit du gehen würdest, um dein Kind zu retten.« Ruth Ware

»Ein fesselnder Thriller und ein ganz besonderer Roman. Mit seiner Vielschichtigkeit lässt er andere Psychothriller dünn und fantasielos erscheinen.« Sunday Times

»Klug, fesselnd und genial konstruiert – ein verblüffender Thriller mit einem außergewöhnlichen Ansatz.« T.M. Logan

»Zweifellos der beste Thriller, den ich je gelesen habe.« Lia Louis

»Der perfekte Thriller, jedes Wort, jeder Moment. Eine Glanzleistung!« Lisa Jewell

»Unheimlich raffiniert und hervorragend umgesetzt.« Rosie Walsh

»Hervorragend gemacht, unglaublich spannend und ergreifend.« Lucy Clarke 

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www.piper.de

Aus dem Englischen von Maria Hochsieder

© Gillian McAllister 2022

Titel der englischen Originalausgabe: »Wrong Place, Wrong Time«, Penguin Books Ltd, London 2022

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einem Entwurf von Lee Motley

Covermotiv: Silas Manhood / Trevillion Images; Getty Images (monkeybusinessimages; Aaron Foster)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Tag null, kurz nach Mitternacht

Tag null, kurz nach 1 Uhr

Tag minus 1, 8 Uhr

Tag minus 1, 8:20 Uhr

Tag minus 1, 8:30 Uhr

Tag minus 2, 8:30 Uhr

Tag minus 2, 19 Uhr

Tag minus 2, 19:20 Uhr

Ryan

Tag minus 3, 8 Uhr

Tag minus 4, 9 Uhr

Tag minus 8, 8 Uhr

Tag minus 8, 19:30 Uhr

Ryan

Tag minus 9, 15 Uhr

Tag minus 12, 8 Uhr

Ryan

Tag minus 13, 19 Uhr

Tag minus 13, 20:40 Uhr

Ryan

Tag minus 22, 18:30 Uhr

Tag minus 47, 8:30 Uhr

Ryan

Tag minus 60, 8 Uhr

Tag minus 65, 17:05 Uhr

Tag minus 105, 8:55 Uhr

Tag minus 144, 18:30 Uhr

Ryan

Tag minus 531, 8:40 Uhr

Tag minus 783, 8 Uhr

Tag minus 1.095, 6:55 Uhr

Ryan

Tag minus 1.672, 19:25 Uhr

Tag minus 5.426, 7 Uhr

Ryan

Tag minus 6.998, 8 Uhr

Tag minus 6.998, 11 Uhr

Tag minus 6.998, 23 Uhr

Ryan

Tag minus 7.157, 11 Uhr

Ryan

Tag minus 7.158, 12 Uhr

Tag minus 7.230, 8 Uhr

Tag null

Tag plus 1

EpilogTag minus 1

Die unbeabsichtigte Konsequenz

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Felicity und Lucy.

Von euch würde ich mich in jedem beliebigen Multiversum vertreten lassen.

Tag null, kurz nach Mitternacht

Jen ist froh, dass die Uhren heute Nacht zurückgestellt werden. Eine gewonnene Stunde, in der sie verschleiern kann, dass sie wach bleibt, um auf die Rückkehr ihres Sohnes zu warten.

Es ist Samstagnacht, kurz nach Mitternacht. Übermorgen ist Halloween. Jen sagt sich, dass Todd achtzehn ist, ihr Septemberbaby ist jetzt erwachsen. Er kann tun und lassen, was er will.

Einen großen Teil des Abends hat sie damit zugebracht, unbeholfen an einem Kürbis herumzuschnitzen. Sie platziert ihn auf dem Sims des großen Fensters mit Blick auf die Einfahrt und zündet die Kerze darin an. Sie hat ihn aus demselben Grund geschnitzt, aus dem sie die meisten Dinge macht – weil sie das Gefühl hatte, sie sollte es tun –, aber auf seine etwas eigene, ausgezackte Art ist er doch recht hübsch geraten.

Sie hört die Schritte ihres Mannes Kelly auf dem Treppenabsatz über sich und wendet sich um. Es ist untypisch für ihn, dass er noch auf ist, denn er ist die Lerche und sie die Nachteule. Er kommt aus dem Schlafzimmer im Dachgeschoss. Sein Haar ist verstrubbelt und wirkt im Halbdunkel schwarzblau. Er trägt kein einziges Kleidungsstück am Leib, nur ein schiefes, belustigtes Lächeln um die Mundwinkel.

Er kommt die Treppe herunter. Ein Lichtstreifen fällt auf das Tattoo am Handgelenk, dort ist ein Datum eingraviert: der Tag im Frühling 2003, an dem er wusste, dass er sie liebt. Jen betrachtet seinen Körper. Ein paar wenige der dunklen Brusthaare sind im letzten Jahr, seinem dreiundvierzigsten, weiß geworden. »Du warst fleißig.« Er deutet auf den Kürbis.

»Alle haben einen gemacht«, ist Jens wenig überzeugte Erklärung. »Die ganze Nachbarschaft.«

»Wen kümmert das schon?«, erwidert er. Typisch Kelly.

»Todd ist noch nicht da.«

»Für ihn ist es noch früh am Abend«, sagt er. Ganz schwach ist sein walisischer Tonfall in den ausbuchstabierten Silben zu erkennen, als stolpere sein Atem über eine Bergkette. »War nicht ausgemacht, dass er erst um ein Uhr nach Hause kommen muss?«

Es ist ein klassischer Dialog zwischen ihnen. Jen macht sich sehr viele Gedanken, Kelly möglicherweise zu wenige. Noch während sie das denkt, dreht er sich um, und da ist er: sein perfekter, vollkommener Hintern, den sie seit fast zwanzig Jahren liebt. Sie wirft einen Blick auf die Straße, hält Ausschau nach Todd, dann sieht sie wieder zu Kelly.

»Die Nachbarn können deinen Hintern sehen«, meint sie.

»Sie werden denken, es ist noch ein Kürbis«, erwidert er mit messerscharfer Schlagfertigkeit. Frotzelei. Das war schon immer ihr Umgangsstil. »Kommst du ins Bett? Ich kann kaum fassen, dass ich mit der Merrilocks-Sache fertig bin«, fügt er gedehnt hinzu. Er hat die ganze Woche den viktorianischen Fliesenboden eines Hauses in der Merrilocks Road restauriert. Allein, ohne Unterstützung, so wie Kelly es am liebsten mag. Er hört sich einen Podcast nach dem anderen an und sieht kaum einen Menschen. Kompliziert und irgendwie unerfüllt, so ist Kelly.

»Ja«, sagt sie. »Bald. Ich will nur wissen, dass er sicher zu Hause ist.«

»Der wird jeden Augenblick mit einem Döner in der Hand auftauchen«, meint Kelly mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Bleibst du auf, um was von den Pommes abzubekommen?«

»Sei still«, sagt Jen lächelnd.

Kelly zwinkert und geht wieder ins Bett.

Ziellos durchstreift Jen das Haus. Sie denkt an den Fall, mit dem sie gerade zu tun hat, eine Scheidung, bei der sich das Paar vordergründig um ein Service streitet, aber im Grunde natürlich über den Treuebruch. Sie hätte ihn nicht annehmen sollen, sie kümmert sich bereits um dreihundert Fälle. Aber Mrs Vichare hatte Jen beim ersten Gespräch angesehen und gesagt: »Wenn ich ihm diese Teller geben muss, dann verliere ich alles, was mir lieb und teuer ist«, und Jen hatte nicht widerstehen können. Sie wünschte, sie würde sich weniger Gedanken machen – um fremde Menschen, die sich scheiden lassen, um Nachbarn und beschissene Kürbisse –, aber sie kann nicht anders.

Sie kocht sich einen Tee und nimmt ihn mit ans Panoramafenster, wo sie ihre Wache fortsetzt. Sie wird so lange warten wie nötig. Beide Enden der Elternschaft – die Jahre mit dem Neugeborenen und die mit dem beinahe Erwachsenen – sind von Schlafentzug geprägt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Das Haus haben sie wegen dieses Fensters gekauft, das exakt in der Mitte des dreistöckigen Gebäudes liegt. »Wie die Könige werden wir von dort hinausschauen«, hatte Jen gesagt, und Kelly hatte gelacht.

Sie blickt in den Oktobernebel, und da, endlich, taucht Todd auf der Straße auf. Jen entdeckt ihn in dem Augenblick, als die Uhr auf dem Handy von 1:59 auf 1:00 zurückspringt. Sie verkneift sich ein Lächeln: Dank der Zeitumstellung ist er nicht zu spät dran. Typisch Todd, er findet die linguistischen und semantischen Kapriolen in der Auseinandersetzung um die vereinbarte Uhrzeit interessanter als die eigentlichen Gründe.

Schnell kommt er die Straße herauf. Er besteht nur aus Haut und Knochen, scheint nie auch nur ein Gramm zuzulegen. Beim Gehen bohren seine Knie Ecken in die Jeans. Der Nebel schluckt die Farben, die Bäume und Bürgersteige sind schwarz, die Luft ein milchiges Weiß. Die Welt besteht aus Grauschattierungen.

Ihre Straße am Ortsrand von Crosby ist unbeleuchtet. Vor dem Haus hat Kelly eine Laterne wie aus dem Land Narnia installiert, als Überraschung für Jen. Die Lampe ist schmiedeeisern und teuer, und Jen hat keine Ahnung, wie er sie sich leisten konnte. Bei Bewegung schaltet sie sich ein.

Aber Halt. Todd hat irgendetwas bemerkt. Abrupt bleibt er stehen und kneift die Augen zusammen. Jen folgt seinem Blick und sieht es auch: Eine Gestalt hastet aus der Gegenrichtung herbei. Der Mann ist älter als Todd, viel älter. Das lässt sich an seinem Körperbau und seinen Bewegungen erkennen. Solche Dinge fallen Jen auf. Schon immer. Das macht sie zu einer guten Anwältin.

Sie legt die heiße Handfläche an die kühle Fensterscheibe.

Etwas stimmt hier nicht. Irgendetwas wird passieren. Das weiß Jen ganz sicher, ohne es benennen zu können. Es ist ihr Instinkt für Gefahren, genauso fühlt sie sich bei Feuerwerken, an Bahnübergängen und Felskanten. Wie Kameraklicks schießen ihr die Gedanken durch den Kopf, einer nach dem anderen nach dem anderen.

Sie setzt die Tasse auf dem Fensterbrett ab, ruft Kelly und rennt die Treppe hinunter, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nimmt. Der gestreifte Läufer unter ihren nackten Füßen ist rau. Sie schlüpft in die Schuhe und hält, die Hand auf dem metallenen Türgriff, eine Sekunde inne.

Was? Was ist das für ein Gefühl? Sie kann es sich nicht erklären.

Ist es ein Déjà-vu? So etwas widerfährt ihr nur selten. Sie blinzelt, und das Gefühl, substanzlos wie Rauch, vergeht. Was war das? Ihre Hand auf dem Messinggriff? Der gelbe Lichtschein vor dem Haus? Nein, sie erinnert sich nicht. Es ist vorbei.

»Was ist?«, fragt Kelly, der hinter ihr auftaucht und sich einen grauen Morgenmantel um die Taille bindet.

»Todd … er ist dort draußen … mit jemandem.«

Sie eilen hinaus. Sofort kühlt die Herbstkälte ihre Haut aus. Jen läuft auf Todd und den Fremden zu. Aber noch bevor sie überhaupt versteht, was passiert, brüllt Kelly: »Stopp!«

Todd rennt und packt den Fremden innerhalb von Sekunden an der Vorderseite seiner Kapuzenjacke. Mit vorgewölbten Schultern steht er vor ihm, ihre Körper dicht aneinandergepresst. Der Fremde steckt eine Hand in die Tasche.

Kelly rennt auf sie zu, panisch sieht er nach rechts und links, die Straße hinauf und hinunter. »Todd, nicht!«, sagt er.

Da bemerkt Jen das Messer.

Das Adrenalin schärft ihren Blick, als sie sieht, was passiert. Ein schneller, akkurater Stich. Und dann verlangsamt sich alles: die Bewegung des Arms beim Herausziehen, die Kleider, die zunächst Widerstand leisten und schließlich das Messer freigeben. Mit dem Messer kommen zwei weiße Federn heraus, die wie Schneeflocken ziellos durch die eisige Luft schweben.

Jen starrt auf das Blut, das hervorquillt, es sind riesige Mengen. Sie hat sich wohl hingekniet, denn sie merkt, wie sich ihr der Kies auf dem Gehweg in die Knie prägt. Sie hält ihn im Arm, öffnet seine Jacke und spürt, wie ihr das warme Blut an den Händen herabströmt, zwischen den Fingern hindurch und über die Handgelenke.

Sie knöpft sein Hemd auf. Der Oberkörper wird überflutet. Immer wieder verschwindet die münzschlitzgroße Wunde aus dem Blick, als versuche man, den Grund eines roten Teichs zu erkennen. Ihr ist eiskalt.

»Nein!« Als sie schreit, ist ihre Stimme schwer und feucht.

»Jen«, sagt Kelly heiser.

Da ist so viel Blut. Sie legt ihn in die Einfahrt und beugt sich über ihn, betrachtet ihn aufmerksam. Sie hofft, dass sie sich täuscht, doch einen Augenblick lang hat sie das sichere Gefühl, dass er nicht mehr da ist. Irgendetwas stimmt nicht mit dem gelben Laternenlicht, das auf seine Augen trifft.

Die Nacht ist vollkommen still, und es scheinen einige Minuten zu vergehen, bis sie schockiert blinzelt und zu ihrem Sohn aufsieht.

Kelly hat Todd von dem Opfer fortgezogen und beide Arme um ihn geschlungen. Kellys Rücken ist ihr zugewandt, und Todd blickt sie an, über die Schulter seines Vaters sieht er ungerührt auf sie herab. Er lässt das Messer fallen. Es klingt wie eine Kirchenglocke, als das Metall auf den vereisten Bürgersteig trifft. Er wischt sich mit der Hand über das Gesicht und hinterlässt dort eine blutige Spur.

Jen starrt ihm ins Gesicht. Vielleicht zeigt er Reue, vielleicht auch nicht. Sie weiß es nicht. Jen blickt hinter die Fassade fast aller Menschen, Todd aber hat sie noch nie durchschaut.

Tag null, kurz nach 1 Uhr

Jemand muss den Notruf gewählt haben, denn plötzlich ist die Straße von grellen blauen Lichtern erleuchtet. »Was …«, sagt Jen zu Todd. In diesem »Was« ist alles enthalten: wer, warum, was zum Teufel?

Kelly lässt seinen Sohn los, das Gesicht leichenblass vom Schock, aber wie so oft sagt er nichts.

Todd sieht weder sie noch seinen Vater an. »Mum«, sagt er schließlich. Wenden sich Kinder nicht immer als Erstes an ihre Mütter? Sie will die Hand nach ihm ausstrecken, aber sie kann sie nicht von dem Körper wegziehen. Sie darf mit dem Druck auf die Wunde nicht nachlassen. Das könnte es für alle nur noch schlimmer machen. »Mum«, sagt er noch einmal. Seine Stimme ist gebrochen, wie ausgedorrter Boden, der sich spaltet. Er beißt sich auf die Lippen und wendet den Kopf ab, blickt die Straße hinunter.

»Todd«, sagt sie. Das Blut des Mannes läuft ihr wie zähflüssiges Badewasser über die Hände.

»Ich musste es tun«, sagt er und sieht sie endlich an.

Jen fällt der Unterkiefer herab, so schockiert ist sie. Kellys Kopf senkt sich auf die Brust. Die Ärmel seines Morgenmantels sind voller Blut von Todds Händen. »Junge«, sagt Kelly so leise, dass Jen sich gar nicht sicher ist, ob er es wirklich ausgesprochen hat. »Todd.«

»Ich musste es tun«, wiederholt Todd mit Nachdruck. Beim Ausatmen hinterlässt er ein Wölkchen in der eisigen Luft. »Ich hatte keine Wahl«, sagt er dann, diesmal mit der Entschiedenheit des Teenagers. Pulsierend nähert sich das Blau des Polizeiautos. Kelly starrt Todd an. Seine Lippen, die weiß sind, weil alles Blut aus ihnen gewichen ist, bewegen sich, vielleicht ein stummer Fluch.

Regungslos blickt sie ihn an: ihren Sohn, den Gewalttäter, der Computer mag und Statistik und – immer noch – jedes Jahr zu Weihnachten einen Schlafanzug, der zusammengefaltet am Fußende seines Betts liegt.

Die Hände in den Haaren vergraben, geht Kelly in der Auffahrt ziellos im Kreis. Kein einziges Mal hat er den Mann angesehen. Er hat nur Augen für Todd.

Jen versucht, den Blutfluss einzudämmen, der unter ihren Händen pulsiert. Sie darf den … das Opfer nicht loslassen. Die Polizei ist hier, aber noch keine Sanitäter.

Todd zittert immer noch, ob von der Kälte oder dem Schock, weiß Jen nicht. »Wer ist das?«, fragt sie ihn. Sie hat so viele Fragen, aber Todd zuckt nur die Achseln und antwortet ihr nicht. Jen will nach ihm greifen, die Antworten aus ihm herauspressen, aber es kommt nichts.

»Sie werden dich festnehmen«, sagt Kelly leise. Ein Polizist rennt auf sie zu. »Pass auf, sag kein Wort, okay? Wir werden …«

»Wer ist das?«, fragt Jen noch einmal. Es kommt zu laut heraus, ein Schrei in der Nacht. Mit aller Macht wünscht sie sich, dass der Polizist langsamer wird, bitte, nicht so schnell, gib uns nur ein bisschen Zeit.

Todd wendet ihr wieder den Blick zu. »Ich …«, sagt er, und dieses eine Mal hat er keine wortreiche Erklärung parat, kein intellektuelles Gehabe. Nichts als ein angefangener Satz, in die feuchte Luft zwischen ihnen gehaucht, in den letzten gemeinsamen Momenten, bevor diese Sache zu etwas Größerem wird als ihre Familie.

Der Polizeibeamte erreicht sie: hochgewachsen, schwarze Schutzweste, weißes Hemd, in der linken Hand ein Funkgerät. »Echo von Tango zwei vier fünf – sind vor Ort. RTW ist unterwegs.« Todd wirft dem Polizisten über die Schulter einen Blick zu, dann noch einen, dann sieht er wieder seine Mutter an. Das ist der Augenblick. Das ist der Moment seiner Erklärung, bevor die Polizeigewalt mit ihren Handschellen und ihrer Macht zuschlägt.

Jens Gesicht ist starr, die Hände heiß vom Blut. Sie wartet ab, wagt nicht, sich zu regen, den Blickkontakt abzubrechen. Todd ist derjenige, der es tut. Er beißt sich auf die Lippen und sieht dann auf seine Füße. Das war’s.

Ein zweiter Polizist schiebt Jen fort vom Körper des fremden Mannes, und sie steht in Turnschuhen und Schlafanzug in der Hauseinfahrt, die Hände nass und klebrig, und sieht ihren Sohn an und dann ihren Mann im Morgenmantel, der versucht, mit dem Rechtssystem zu verhandeln. Dabei sollte sie die Regie übernehmen. Immerhin ist sie die Anwältin. Aber ihr fehlen die Worte. Sie ist völlig fassungslos. So hilflos, als habe man sie eben am Nordpol abgesetzt.

»Bitte nennen Sie mir Ihren Namen«, sagt der erste Polizist zu Todd. Weitere Beamte kommen aus weiteren Autos hervor wie Ameisen aus ihrem Bau.

Jen und Kelly treten gleichzeitig einen Schritt nach vorn, aber da macht Todd etwas, nur eine kleine Geste. Er streckt eine Hand zur Seite, um sie aufzuhalten.

»Todd Brotherhood«, antwortet er schleppend.

»Können Sie mir erklären, was vorgefallen ist?«, fragt der Polizist.

»Augenblick.« Jen erwacht zum Leben. »Sie können ihn nicht hier am Straßenrand vernehmen.«

»Fahren wir gemeinsam auf die Wache«, wirft Kelly eilig ein, »und …«

»Na ja, ich habe ihn erstochen«, unterbricht ihn Todd und deutet auf den Mann am Boden. Er steckt die Hände in die Taschen und geht auf den Polizisten zu. »Also sollten Sie mich wohl besser festnehmen.«

»Todd«, sagt Jen. »Hör auf.« Tränen schnüren ihr die Kehle zu. Das hier kann unmöglich wahr sein. Sie braucht einen Drink, sie will die Zeit zurückdrehen, sich übergeben. Sie zittert am ganzen Körper in dieser surrealen, verworrenen Kälte hier draußen.

»Todd Brotherhood, Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern«, sagt der Polizist, »doch es kann sich nachteilig auf Ihre Verteidigung auswirken, wenn Sie bei der Vernehmung etwas verschweigen …« Bereitwillig legt Todd die Handgelenke aneinander, als wäre er in einem verdammten Film, und mit einem metallischen Klicken schnappen die Handschellen zu – einfach so. Er zieht die Schultern hoch. Er friert. Seine Miene ist neutral, vielleicht sogar gleichgültig. Jen kann einfach nicht, sie kann nicht, kann nicht aufhören, ihn anzustarren.

»Das dürfen Sie nicht machen!«, sagt Kelly. »Ist das eine …«

»Halt«, wendet sich Jen panisch an den Beamten. »Wir kommen mit. Er ist noch ein Teenager.«

»Ich bin achtzehn«, sagt Todd.

»Steigen Sie ein«, sagt der Polizist zu Todd und deutet auf das Auto, ohne Jen weiter zu beachten. Ins Funkgerät spricht er: »Echo von Tango zwei vier fünf, eine Überwachungszelle vorbereiten, bitte.«

»Wir fahren hinterher«, sagt Jen verzweifelt. »Ich bin Anwältin«, fügt sie hinzu, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung von Strafrecht hat. Trotzdem brennt selbst jetzt, in einer Krise, der mütterliche Instinkt hell und unübersehbar wie der Kürbis im Fenster. Sie müssen nur herausfinden, warum er das getan hat, ihn dort rausholen und ihm Hilfe besorgen. Das müssen sie machen. Das werden sie machen.

»Wir kommen nach«, sagt sie. »Und treffen Sie auf der Wache.«

Endlich begegnet der Polizist ihrem Blick. Er sieht aus wie ein Model. Ein Bartstreifen unterhalb der Wangenknochen. O Mann, es ist ein Klischee, aber warum wirken heutzutage alle Polizisten so jung? »Polizeiinspektion Crosby«, erklärt er ihr, steigt ohne ein weiteres Wort ins Auto und nimmt ihren Sohn mit. Der andere Beamte bleibt beim Opfer. Jen wagt kaum, an ihn zu denken. Nur einen Blick. Das Blut, der Gesichtsausdruck des Polizisten … sie ist sich sicher, dass der Mann tot ist.

Sie dreht sich zu Kelly um, und den Blick, den ihr stoischer Ehemann ihr zuwirft, wird sie nie vergessen. Sie sieht ihm in die dunkelblauen Augen. Für einen winzigen Moment scheint die Erde stillzustehen, und in der Ruhe und Reglosigkeit denkt Jen: So sieht jemand aus, dessen Herz gebrochen ist.

Ein weißes Schild vor der Polizeiinspektion teilt der Öffentlichkeit mit, dass sich hier die Merseyside Police – Crosby befindet. Das gedrungene Gebäude dahinter stammt aus den Sechzigerjahren und ist von einer niedrigen Mauer umgeben, an der kleine Berge Oktoberlaub angeweht wurden.

Jen hält davor an, direkt auf den doppelten gelben Parkverbotsstreifen, und stellt den Motor ab. Ihr Sohn hat jemanden erstochen – was zählt da ein Strafzettel? Kelly steigt aus, noch bevor das Auto richtig steht. Er streckt die Hand nach ihr aus – unbewusst, vermutlich. Sie greift danach wie nach einem Rettungsfloß auf dem Meer.

Er schiebt eine der beiden Glastüren auf, und sie durchqueren eilig das Foyer mit dem abgenutzten grauen Linoleumboden. Der Geruch im Innern ist altmodisch. Wie in Schulen, Krankenhäusern, Pflegeheimen. Institutionen, die Uniformen und schlechtes Essen vorschreiben, Orte, die Kelly nicht ausstehen kann. »Niemals«, hatte er ihr schon früh in der Beziehung erklärt, »werde ich in diesem Hamsterrad mitrennen.«

»Ich rede mit ihnen«, sagt Kelly kurz angebunden. Er zittert. Aber weniger vor Angst als vor Wut. Er ist zutiefst aufgebracht.

»Schon gut. Ich organisiere einen Anwalt und mache den ersten …«

»Wo ist der leitende Superintendent?«, blafft Kelly einen kahlköpfigen Beamten an, der am Empfang sitzt und einen Siegelring am kleinen Finger trägt. Kellys Körpersprache ist anders als sonst. Die Beine gespreizt, die Brust nach vorn gereckt. Selbst Jen hat nur selten erlebt, dass er derart die Kontrolle verliert.

In gelangweiltem Ton erklärt ihnen der Beamte, dass sie warten müssen, bis man Zeit für sie hat.

»Ich gebe Ihnen fünf Minuten«, sagt Kelly und deutet auf die Wanduhr, bevor er sich auf der anderen Seite des Foyers auf einen Stuhl fallen lässt.

Jen setzt sich neben ihn und nimmt seine Hand. Sein Ehering sitzt locker am Finger, wahrscheinlich ist ihm kalt. Sie sitzen da, Kelly schlägt mal das eine, mal das andere Bein über und schnaubt wütend. Jen sagt nichts. Ein Polizist kommt ins Foyer und spricht leise in sein Handy. »Es ist dieselbe Tat wie vor zwei Tagen – vorsätzliche Körperverletzung nach Paragraf 18. Das letzte Opfer hieß Nicola Williams, der Täter ist flüchtig.« Seine Stimme ist so gedämpft, dass Jen sich anstrengen muss, ihn zu verstehen.

Vorsätzliche Körperverletzung nach Paragraf 18 – das bedeutet eine Stichverletzung. Sicher reden sie über Todd. Und ein ähnliches Verbrechen vor zwei Tagen.

Endlich kommt der Polizist heraus, der Todd verhaftet hat, der Hochgewachsene mit den ausgeprägten Wangenknochen.

Jen sieht auf die Uhr hinter dem Tresen. Es ist halb vier, womöglich auch halb fünf. Sie weiß nicht, ob hier noch die Sommerzeit gilt, und das macht sie noch orientierungsloser.

»Ihr Sohn bleibt heute Nacht bei uns – wir werden ihn bald befragen.«

»Wo? Dort hinten?«, fragt Kelly. »Lassen Sie mich zu ihm.«

»Sie können nicht zu ihm«, sagt der Polizist. »Sie sind Zeugen.«

Ärger lodert in Jen auf. Aus diesem Grund – genau diesem – hassen die Leute das Rechtssystem.

»So ist das also?«, entgegnet Kelly mit scharfer Stimme. Er hält die Hände hoch.

»Bitte?«, fragt der Polizist milde nach.

»Wir sind also Feinde?«

»Kelly!«, sagt Jen.

»Keiner ist hier der Feind von irgendjemandem«, widerspricht der Polizist. »Sie können Ihren Sohn morgen früh sprechen.«

»Wo ist der Superintendent?«, fragt Kelly.

»Sie können Ihren Sohn morgen früh sprechen.«

Kelly lässt eine schwere, bedrohliche Pause entstehen. Jen hat erst eine Handvoll Menschen erlebt, die das abbekommen haben, aber sie beneidet den Polizisten nicht. Es dauert sehr lange, bis bei Kelly die Sicherung durchbrennt, aber wenn es passiert, dann wird es brandgefährlich.

»Ich rufe jemanden an«, sagt sie. »Ich kenne jemanden.« Sie holt ihr Handy heraus und fängt an, zitternd durch ihre Kontakte zu scrollen. Strafrechtler. Sie kennt Dutzende. Regel Nummer eins als Jurist ist, sich niemals auf einem Gebiet zu versuchen, von dem man nichts versteht. Regel Nummer zwei ist, niemals die eigene Familie zu vertreten.

»Er hat gesagt, er will keinen Anwalt«, meint der Polizist.

»Er braucht einen Anwalt – Sie sollten nicht …«, wendet sie ein.

Der Beamte hebt die Handflächen. Neben sich kann Jen spüren, wie Kellys Wut hochkocht.

»Ich telefoniere mit jemandem, und dann kann er …«, setzt sie an.

»Okay, Sie lassen mich jetzt da rein.« Kelly deutet auf die weiße Tür, die ins Innere der Polizeiinspektion führt.

»Das kann ich Ihnen nicht erlauben«, sagt der Beamte.

»Fick dich«, sagt Kelly. Erschrocken starrt Jen ihn an.

Der Polizist würdigt das keiner Reaktion, sondern betrachtet Kelly mit eisernem Schweigen.

»Also, wie geht es jetzt weiter?«, fragt Jen. O Gott, Kelly hat einen Polizisten beleidigt. Eine Anzeige wegen Störung der öffentlichen Ordnung wird ihre Lage nicht verbessern.

»Wie gesagt, er bleibt über Nacht in unserer Obhut«, antwortet der Beamte schlicht auf Jens Frage und ignoriert Kelly. »Ich schlage vor, dass Sie morgen wiederkommen.« Er wirft einen kurzen Blick auf Kelly. »Sie können Ihren Sohn nicht zwingen, sich einen Anwalt zu nehmen. Wir haben es versucht.«

»Aber er ist doch noch ein Kind«, sagt Jen, auch wenn ihr bewusst ist, dass es juristisch nicht zutrifft. »Er ist noch ein Kind«, wiederholt sie leise, mehr zu sich selbst, und denkt an seine Weihnachtspyjamas und daran, wie er erst vor Kurzem, als er eine Magengrippe hatte, wollte, dass sie sich zu ihm ans Bett setzte. Sie verbrachten den Großteil der Nacht im Badezimmer. Redeten über nichts Besonderes, während sie ihm den Mund mit einem feuchten Waschlappen abwischte.

»Das ist denen egal, und alles andere auch«, sagt Kelly bitter.

»Wir kommen morgen früh wieder – mit einem Anwalt.« Jen bemüht sich, die Stimmung zu entschärfen und Frieden zu stiften.

»Das steht Ihnen natürlich frei. Wir müssen jetzt ein Team zu Ihnen nach Hause schicken«, sagt der Beamte. Wortlos nickt Jen. Spurensicherung. Ihr Haus wird durchsucht. Das volle Programm.

Jen und Kelly verlassen die Polizeiinspektion. Auf dem Weg zum Auto kratzt Jen sich an der Stirn. Als sie eingestiegen sind, schaltet sie die Heizung auf die höchste Stufe.

»Wollen wir wirklich nach Hause fahren?«, fragt sie. »Dabeisitzen, wenn sie unser Haus durchsuchen?«

Kellys Schultern sind angespannt. Er starrt sie an, überall schwarzes Haar, die Augen traurig wie die eines Poeten.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

Durch die Windschutzscheibe betrachtet Jen einen Strauch, der vom nächtlichen Herbsttau glitzert. Nach ein paar Sekunden setzt sie das Auto leicht zurück und fährt los, weil sie nicht weiß, was sie sonst tun soll.

Der Kürbis auf dem Fenstersims begrüßt sie, als sie einparkt. Offenbar hat sie die Kerze brennen lassen. Die Kriminaltechniker sind schon da in ihren weißen Anzügen, wie Gespenster stehen sie in der Einfahrt neben dem Absperrband, das im Oktoberwind flattert. Die Blutlache ist an den Rändern bereits eingetrocknet.

Man lässt sie herein, in ihr eigenes beschissenes Haus, und sie sitzen unten und sehen dem uniformierten Team vor dem Haus zu. Manche sind auf allen vieren und suchen den Tatort auf Fingerabdrücke ab. Jen und Kelly sagen kein Wort, sondern halten sich in der Stille einfach nur an den Händen. Kelly behält die Jacke an.

Als die Kriminaltechniker schließlich fort sind und die Polizisten das Haus durchsucht und Todds Sachen mitgenommen haben, streckt Jen sich auf dem Sofa aus. Sie starrt an die Decke. Erst jetzt kommen die Tränen. Heiß, heftig und nass. Sie weint um die Zukunft. Und sie weint um gestern und um das, was sie nicht kommen sah.

Tag minus 1, 8 Uhr

Jen macht die Augen auf.

Sie muss ins Bett gegangen sein. Und offenbar hat sie geschlafen. Sie hat zwar nicht das Gefühl, das eine oder andere getan zu haben, aber sie befindet sich im Schlafzimmer und nicht auf dem Sofa, und draußen vor den Lamellenjalousien ist es hell.

Sie dreht sich auf die Seite. Sag, dass es nicht wahr ist.

Blinzelnd betrachtet sie das leere Bett. Sie ist allein, Kelly ist wohl schon aufgestanden und führt Telefonate, wie sie hofft.

Ihre Kleider liegen auf dem Boden verstreut, als habe sich ihr Körper wie Wasserdampf aus ihnen verflüchtigt. Sie steigt darüber hinweg und zieht sich eine Jeans und einen schlichten Rollkragenpullover an, der sie furchtbar dick macht, aber den sie trotzdem liebt.

Sie tritt auf den Flur und steht vor Todds leerem Zimmer.

Ihr Sohn. Er hat die Nacht in einer Gefängniszelle verbracht. Sie mag gar nicht daran denken, wie viele ihm noch bevorstehen.

Okay. Sie wird sich darum kümmern. Jen ist begabt darin, Retterin in der Not zu sein, sie hat ihr Leben lang nichts anderes gemacht, und jetzt ist der Augenblick gekommen, ihrem Sohn zu helfen.

Sie wird herausfinden, was dahintersteckt.

Warum hat er das getan?

Warum hatte er ein Messer bei sich? Wer war das Opfer, jener erwachsene Mann, den ihr Sohn vermutlich getötet hat? Plötzlich erkennt Jen kleine Hinweise in Todds Verhalten der letzten Wochen und Monate. Gereiztheit. Gewichtsverlust. Geheimniskrämerei. Dinge, die sie seinem Teenageralter zuschrieb. Erst vor zwei Tagen hatte er draußen im Garten einen Anruf entgegengenommen. Als Jen ihn gefragt hatte, wer es gewesen sei, hatte er geantwortet, es gehe sie nichts an, und das Handy aufs Sofa geworfen. Es war aufgeprallt und auf den Boden gefallen, und sie beide hatten es angesehen. Er hatte es als Witz abgetan, aber dieser kleine Wutausbruch war kein Witz gewesen.

Jen starrt weiter auf die Tür zum Zimmer ihres Sohnes. Wie kommt es, dass sie einen Mörder großgezogen hat? Teenagerzorn. Messerattacken. Gangs. Antifa. Was ist es? Was hat ihnen dieses Schicksal beschert?

Sie kann Kelly nicht hören. Auf halbem Weg die Treppe hinunter wirft sie einen Blick aus dem großen Panoramafenster, an dem sie vor wenigen Stunden gestanden hat, in dem Moment, als alles anders wurde. Draußen ist es immer noch neblig.

Es überrascht sie, dass auf der Straße keine Flecken sind, der Regen und der Tau müssen das Blut wohl fortgewaschen haben. Die Polizei ist weg, das Absperrband verschwunden.

Sie blickt die Straße entlang, die gesäumt ist von Bäumen mit knisternden, flammend roten Herbstblättern. Aber irgendetwas ist merkwürdig. Sie kommt nicht darauf, was es ist. Es muss an den Erinnerungen von letzter Nacht liegen, die den Anblick irgendwie unheilvoll wirken lassen. Irgendwie verkehrt.

Eilig geht sie hinunter ins Erdgeschoss, durch die Diele mit den Holzbohlen, in die Küche. Dort riecht es nach letzter Nacht, bevor das alles geschah. Nach Essen, Kerzen. Nach Normalität.

Direkt über ihrem Kopf hört sie eine Stimme, eine tiefe Männertonlage. Kelly. Verwirrt blickt sie zur Decke. Er muss in Todds Zimmer sein. Vermutlich durchsucht er es. Sie versteht den Impuls sehr gut. Den Drang, etwas zu finden, das die Polizei übersehen hat.

»Kell?«, ruft sie und rennt die Treppe wieder hinauf. Als sie oben ankommt, ist sie außer Atem. »Wir müssen uns darum kümmern, welchen Anwalt wir nehmen sollten …«

»Ojemine!«, sagt eine Stimme. Sie kommt aus Todds Zimmer und ist ohne jeden Zweifel die ihres Sohnes. Jen macht einen so großen Schritt rückwärts, dass sie am Treppenabsatz ins Taumeln gerät.

Und es ist keine Einbildung: In Jogginghose und einem T-Shirt, auf dem Nerd steht, kommt Todd aus dem Zimmer. Er ist offensichtlich gerade erst aufgewacht und sieht blinzelnd auf sie herab, sein Gesicht im Dunkeln der einzige Lichtpunkt. »Den hatten wir noch nicht«, sagt er und lächelt, sodass sein Grübchen sichtbar wird. »Ich muss zugeben, ich war sogar auf einer Website für Wortspiele.«

Jen kann ihn nur fassungslos anstarren. Ihr Sohn, der Mörder. An seinen Händen ist kein Blut. Auf seinem Gesicht kein mörderischer Ausdruck. Und dennoch …

»Was?«, fragt sie. »Wie kommt es, dass du hier bist?«

»Hä?« Er sieht tatsächlich exakt so aus wie immer. Trotz ihrer Verwirrung ist Jen neugierig. Dieselben blauen Augen. Dasselbe zerzauste schwarze Haar. Dieselbe hohe, schlanke Statur. Dabei hat er eine unverzeihliche Tat begangen. Unverzeihlich für jedermann, außer vielleicht für sie.

Wieso ist er hier? Wie ist er nach Hause gekommen?

»Was?«, fragt er zurück.

»Wie bist du nach Hause gekommen?«

Todds Augenbraue zuckt. »Das ist jetzt schräg, selbst für dich.«

»Hat Dad dich geholt? Hat man dich auf Kaution entlassen?« Sie brüllt beinahe.

»Auf Kaution?« Er zieht die Augenbraue hoch, eine neue Attitüde. In den letzten paar Monaten hat er sich verändert. Am Körper, an der Hüfte ist er dünner, das Gesicht aber ist aufgedunsen und blass, so wie bei Leuten, die zu viel arbeiten, sich zu oft Essen liefern lassen und kein Wasser trinken. Nichts davon tut Todd, zumindest nach Jens Kenntnis, aber wer weiß? Und dann kam diese Eigenheit, die er sich zulegte, gleich nachdem er seine neue Freundin Clio kennengelernt hatte.

»Ich bin gleich mit Connor verabredet.«

Connor. Ein Junge aus seinem Jahrgang, aber auch er ein neuer Freund aus diesem Sommer. Jen hatte sich vor Jahren mit seiner Mutter Pauline angefreundet. Sie ist ganz nach Jens Geschmack: Sie flucht, ist abgehetzt, nicht der mütterliche Typ, sondern die Sorte Mensch, die es Jen indirekt erlaubt, die Dinge zu vermasseln. Solche Leute haben schon immer eine Anziehung auf Jen ausgeübt. Alle ihre Freunde sind unprätentiös, ohne Angst davor, zu sagen und zu tun, was sie denken. Erst kürzlich hat Pauline über Connors jüngeren Bruder Theo gesagt: »Ich liebe ihn, aber mit seinen sieben Jahren benimmt er sich oft wie ein Volltrottel.« Sie standen am Schultor und lachten wie schuldbewusste Irre.

Jen macht einen Schritt auf Todd zu und betrachtet ihn eingehend. An ihm ist kein Teufelsmal, die Augen sind unverändert, im Zimmer hinter ihm sind keine Waffen zu sehen. Genau genommen sieht es unberührt aus.

»Wie bist du nach Hause gekommen? Und was ist passiert?«

»Woher soll ich denn nach Hause gekommen sein?«

»Von der Polizei«, sagt Jen schlicht. Sie ertappt sich dabei, dass sie Abstand zu ihm hält, nur einen Schritt mehr als gewöhnlich. Sie weiß nicht mehr, wozu dieser Mensch – ihr Kind, die Liebe ihres Lebens – fähig ist.

»Wie bitte? Von der Polizei?« Er ist augenscheinlich belustigt. »Fragezeichen?« Todds Miene verzieht sich, er rümpft die Nase, so wie er es schon als Baby tat. Zwei winzige Narben sind ihm von der Teenagerakne geblieben. Davon abgesehen ist sein Gesicht noch kindlich und auf diese wunderschöne pfirsichflaumige Art der Jugend unberührt.

»Deine Verhaftung, Todd!«

»Meine Verhaftung?«

Im Allgemeinen erkennt Jen, wenn ihr Sohn lügt, und in diesem Augenblick, stellt sie fest, tut er es definitiv nicht. Er sieht sie mit klaren halbdunklen Augen an, und auf seinem Gesicht zeichnet sich Verwirrung ab. »Was?«, sagt sie, es ist kaum mehr als ein Flüstern. Etwas kriecht ihr den Rücken herauf, eine zaghafte, erschreckende Gewissheit. »Ich habe gesehen … ich habe gesehen, was du gemacht hast.« Sie deutet auf das Fenster auf dem Treppenabsatz. Und in dem Augenblick versteht sie, was falsch ist. Es ist nicht die Szenerie vor dem Fenster, sondern das Fenster selbst. Der Kürbis. Er ist weg.

Jens Zähne beginnen zu klappern. Das kann nicht sein.

Sie zwingt sich, den Blick von dem Fenster ohne Kürbis abzuwenden.

»Ich habe es gesehen«, sagt sie noch einmal.

»Was gesehen?« Seine Augen ähneln so sehr denen von Kelly, dass sie bestimmt zum tausendsten Mal denkt: Sie sind identisch.

Sie blickt ihn an, und dieses eine Mal hält er ihrem Blick stand. »Was ist gestern Abend, als du nach Hause gekommen bist, passiert?«

»Ich war gestern Abend gar nicht weg.« Die Scherze, die Überheblichkeit und alles Getue sind verschwunden.

»Was? Samstagnacht habe ich auf dich gewartet, du warst spät dran, aber dann wurden die Uhren umgestellt …«

Reglos verharrt er und sieht ihr weiter in die Augen. »Die Uhren werden erst morgen Nacht umgestellt. Heute ist Freitag.«

Tag minus 1, 8:20 Uhr

Wie in einem Aufzugschacht rast etwas mitten durch Jens Brust. Sie streicht sich das Haar aus dem Gesicht und geht Richtung Badezimmer, wobei sie Todd mit erhobenem Zeigefinger ein kurzes Zeichen gibt. Sie zittert, als sie ihm den Rücken zukehrt, als wäre er ein Angreifer, den sie im Auge behalten muss.

Sie erbricht sich über dem Klo, wie sie es seit Jahren nicht mehr getan hat. Kaum etwas kommt heraus, nur ein wenig schleimige gelbe Magensäure, die sich am Grund der Schüssel absetzt. Sie muss daran denken, wie sie während der Schwangerschaft ihrem Arzt erzählte, dass sie sich so stark erbrechen müsse, dass nur noch Galle hochkomme, und er sich bemüßigt fühlte, ihr zu erklären, dass Gallenflüssigkeit hellgrün und ein Zeichen für ein echtes Problem sei. »Sie meinen Magensäure.«

Lange starrt sie in die Säure am Boden der Toilette. Vielleicht ist es keine Galle, aber sie denkt doch, dass sie ein echtes Problem hat.

Todd weiß nicht, wovon sie spricht. Das ist offensichtlich. Selbst er würde das nicht abstreiten können. Aber warum? Wie kann das sein?

Der Kürbis. Der Kürbis fehlt. Wo ist ihr Mann? Sie kann keinen klaren Gedanken fassen. Panik schwappt durch ihren Körper, ein gewaltiger Druck, der nirgendwohin entweichen kann. Sie wird sich noch einmal übergeben.

Dann setzt sie sich auf die kalten Schachbrettfliesen.

Sie zieht das Handy aus der Tasche und starrt darauf, während sie auf den Kalender tippt.

Es ist Freitag, der 28. Oktober. Tatsächlich werden morgen Nacht die Uhren umgestellt. Am Montag ist Halloween. Reglos starrt sie auf das Datum. Wie ist das möglich?

Wahrscheinlich verliert sie den Verstand. Sie steht auf und läuft ziellos hin und her. Ihr Körper fühlt sich an, als sei er über und über von Ameisen bedeckt. Sie muss hier raus. Aber wo raus? Raus aus dem Gestern?

Sie geht auf die letzte Nachricht an ihren Mann und tippt auf Anruf. Er nimmt sofort ab.

»Du«, sagt sie mit Dringlichkeit in der Stimme.

»Uuh«, antwortet er träge, immer belustigt von ihr. Sie hört, wie eine Tür geschlossen wird.

»Wo bist du?« Ihr ist bewusst, dass sie irre klingt, aber sie kann nicht anders.

Eine kurze Pause. »Ich bin auf dem Planeten Erde, aber bei dir bin ich mir nicht so sicher.«

»Bitte antworte mir.«

»Ich bin natürlich bei der Arbeit! Wo bist du denn?«

»Wurde Todd gestern Abend verhaftet?«

»Wie bitte?« Sie hört, wie er etwas Schweres mit einem hohlen Echo auf dem Boden abstellt. »Äh … weswegen?«

»Nein, ich frage dich. Wurde er verhaftet?«

»Nein?« Kelly klingt ratlos. Jen kann es nicht fassen. Schweiß sammelt sich auf ihrer Brust. Sie kratzt sich an den Armen.

»Aber wir saßen doch … wir saßen auf der Polizeiwache. Du hast die Leute angebrüllt. Die Uhren waren gerade erst umgestellt worden. Und ich … ich hatte den Kürbis geschnitzt.«

»Sag mal, geht es dir gut? Ich muss die Merrilocks-Sache fertig machen«, sagt er.

Hörbar atmet Jen ein. Gestern hat er gesagt, dass er dort fertig sei. Oder? Doch, ganz bestimmt hat er das gesagt. Er stand oben an der Treppe, mit nichts als einem Tattoo und einem Lächeln am Leib. Sie erinnert sich genau.

Sie legt die Hand auf die Augen, als könnte sie die Welt ausblenden.

»Ich verstehe nicht, was los ist«, sagt sie und fängt an zu weinen. Die Tränen schnüren ihr den Hals zu. »Was haben wir gemacht? Gestern Abend?« Sie lehnt den Kopf an die Wand. »Habe ich den Kürbis geschnitzt?«

»Was ist denn …?«

»Ich glaube, ich hatte eine Art Anfall.« Sie flüstert beinahe. Sie krempelt die Schlafanzughose über die Knie und betrachtet die Haut. Da sind keine Abdrücke von dem Kies, auf dem sie gekniet hat. Nicht das kleinste bisschen Schmutz. Kein Blut unter den Fingernägeln. Wie im Zeitraffer breitet sich auf ihren Armen Gänsehaut aus.

»Habe ich den Kürbis geschnitzt?«, fragt sie noch einmal, doch noch während sie es sagt, steigt in ihr eine Erkenntnis auf. Wenn es nicht passiert ist … dann hat sie zwar womöglich den Verstand verloren, aber dann ist ihr Sohn auch kein Mörder. Sie spürt, wie ihre Schultern vor Erleichterung ein klein wenig herabsinken.

»Nein. Du hast gesagt, dass es dir am Arsch vorbeigeht …«, sagt Kelly mit einem kurzen Lachen.

»Okay«, antwortet sie schwach und hat deutlich vor Augen, wie der Kürbis geraten war.

Sie steht da und starrt ihr Spiegelbild an. Sie sieht sich in die Augen. Sie ist das Abbild einer Frau in Panik. Dunkles Haar, blasses Gesicht. Gejagter Blick.

»Na, dann mache ich wohl mal Schluss«, meint sie. »Bestimmt war es ein Traum«, fügt sie hinzu, aber wie kann das sein?

»Gut«, erwidert Kelly langsam. Vielleicht ist er kurz davor, etwas zu sagen, entscheidet sich dann aber dagegen, denn er sagt nur ein weiteres Mal »gut« und fügt hinzu: »Ich höre heute ein bisschen früher auf.« Jen ist froh, dass er so ist, ein Familienmensch, nicht der Typ Mann, der in Pubs herumhängt oder mit Freunden Sport treibt, einfach nur ihr Kelly.

Sie verlässt das Badezimmer und geht hinunter in die Küche. Nebel hüllt den Garten vor der Terrassentür ein und verbirgt die Baumkronen. Die Küche hat Kelly vor ein paar Jahren gebaut, nachdem sie – betrunken – gesagt hatte, dass sie gern der Typ Frau wäre, die »die Dinge geregelt kriegt, verstehst du, die zufriedene Klienten, ein glückliches Kind und ein Spülbecken aus Keramik hat«.

Eines Abends hatte er es ihr unterbreitet. »Du kannst damit rechnen, dass du kurz davor bist, die Dinge geregelt zu kriegen, Jen, denn hier ist das Spülbecken deiner Träume.«

Die Erinnerung verblasst. Jen empfiehlt ihren gestressten Auszubildenden immer, zehn tiefe Atemzüge zu machen und sich einen Kaffee zu kochen. Also wird sie das nun auch tun. Für so etwas ist sie geschult. Nach zwei Jahrzehnten Arbeit unter Hochdruck hat man sich so manche Fähigkeit angeeignet.

Als sie jedoch auf die marmorne Kücheninsel zugeht, werden ihre Schritte langsamer. Auf der Arbeitsplatte liegt ein ganzer, unberührter Kürbis.

Abrupt bleibt sie stehen. Es könnte genauso gut ein Geist sein. Jen hat Angst, dass sie sich noch einmal übergeben muss. »Oh«, sagt sie, an niemanden gerichtet, ein winziges Wort, eine weltverändernde Silbe der Erkenntnis. Sie nähert sich dem Kürbis, als wäre er ein Blindgänger, dreht ihn herum und tastet ihn ab, aber er ist fest, ganz und unversehrt. O mein Gott, die vergangene Nacht gab es nicht. Sie hat verflucht noch mal nicht stattgefunden. Erleichterung überschwemmt sie. Er hat es nicht getan. Er hat es nicht getan.

Sie lauscht Todds Bewegungen in seinem Zimmer. Das Öffnen und Schließen von Schubladen, Schritte von hier nach da, das Geräusch eines Reißverschlusses.

»Na, bist du wieder in der Wirklichkeit angekommen?«, sagt er, als er die Treppe herunter in die Diele kommt. Sein schelmischer Tonfall lässt sie zusammenzucken. Jen starrt ihn an. Seine Statur. Er ist dünner als noch vor ein paar Wochen, oder?

»Fast«, antwortet sie mechanisch. Sie schluckt zweimal. Es fröstelt sie am Rücken, als wäre sie krank, das Adrenalin versetzt sie in fieberhafte Panik.

»Dann ist ja gut …«

»Ich hatte wohl einen Albtraum.«

»So ein Mist«, meint Todd lediglich, als wäre ihre Verwirrung so einfach zu erklären.

»Ja. Aber … weißt du, in dem Traum … hast du jemanden getötet.«

»Wow«, sagt er, aber unter der Oberfläche seiner Miene regt sich etwas, wie ein Fisch, der tief im Ozean schwimmt und von dem man nur die kräuselnden Wellen sieht. »Wen?«, fragt er, und Jen findet es merkwürdig, dass es seine erste Frage ist. Sie weiß, wie es ist, wenn ihr die Klienten nicht die ganze Wahrheit erzählen, und danach sieht es hier aus.

Er hebt den Arm und streicht sich das dunkle Haar aus der Stirn. Dabei rutscht das T-Shirt hoch und entblößt die Taille, die sie im Arm hielt, als er winzig und zappelig war, als er lernte, aufrecht zu sitzen, zu laufen, zu springen. Damals empfand sie die Mutterschaft als langweilig und unbefriedigend, Stunden um Stunden widmete man sich in unterschiedlicher Abfolge denselben Aufgaben. Aber es war nicht langweilig, das weiß sie jetzt. Es ist, als würde man sagen, zu atmen sei langweilig.

»Einen erwachsenen Mann, vielleicht vierzig Jahre alt.«

»Mit diesen mickrigen Muskeln?«, meint Todd und hebt theatralisch einen dünnen Arm.

Kelly hat sie einmal spätabends gefragt: »Wie kommt es nur, dass wir einen derart selbstverliebten Freak großgezogen haben?«, und sie hatten ihr Kichern dämpfen müssen. Sein trockener Humor ist das, was Jen an Kelly am meisten liebt. Sie ist so froh, dass Todd ihn geerbt hat.

»Ja, sogar mit denen«, antwortet sie. Und denkt dabei: Du hast keine Muskeln gebraucht, du hattest eine Waffe.

Todd schlüpft mit nackten Füßen in die Turnschuhe, und in diesem Augenblick erinnert sich Jen daran, wie dasselbe am Freitagmorgen passiert ist. Sie hatte sich gewundert, dass ihn der Oktoberfrost nicht kümmert, und sich Sorgen gemacht, dass er in der Schule kalte Knöchel hätte. Beschämt hatte sie sich außerdem Sorgen gemacht, die Leute könnten sie für eine schlechte Mutter halten und denken, sie sei – was genau? – gegen Socken? O Mann, worüber sie sich nur den Kopf zerbrach!

Aber so war es gewesen. Sie erinnert sich daran.

Ein Schauder läuft ihr über den Rücken. Todd greift nach der Türklinke, und Jen erinnert sich an das Déjà-vu. Nein. Es ist in Ordnung. Es geht ihr gut. Mach dir keine Sorgen. Vergiss es. Es gibt keinerlei Beweis, dass irgendetwas geschehen ist.

Aber dann gibt es doch einen.

»Nach der Schule gehe ich gleich zu Clio. Wenn sie Zeit hat. Ich esse dort.« Er ist kurz angebunden. Er teilt nur mit, er fragt nicht, so wie immer in letzter Zeit.

Und da geschieht es. Die Worte kommen ihr so selbstverständlich von den Lippen wie eine Quelle, die aus der Erde sprudelt – der exakt selbe Satz, den sie schon einmal gesagt hat. »Gibt es wieder eimerweise Austern?«, sagt sie. Das erste Mal, das Todd bei Clio zum Abendessen war, hatten sie Austern gegessen, und er hatte ihr das Foto einer Auster mit aufgestemmter Schale geschickt, die er auf seinen Fingern balanciert hatte, und dazu geschrieben: Du findest doch immer, dass ich mich mehr öffnen sollte.

Sie wartet Todds Antwort ab: dass er ziemlich sicher ist, dass es etwas Unspektakuläres wie Foie gras geben wird.

Sein Grinsen durchbricht die Anspannung.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es etwas Unspektakuläres gibt, du weißt schon, so was wie Foie gras.«

Sie erträgt das nicht, hält es nicht aus. Das ist verrückt. Ihr Herz klopft so wild, als würde gleich ein Herzstillstand eintreten.

Todd nimmt seine Schultasche. Dumpf schlägt sie auf seiner Schulter auf, was Jen noch mehr beunruhigt. Der Rucksack wirkt schwer.

Als ihr der Gedanke kommt, ist er bereits voll ausformuliert. Was, wenn die Waffe in der Tasche ist? Was, wenn das Verbrechen tatsächlich stattfinden wird? Was, wenn es gar kein Traum war, sondern eine Vorahnung?

Jen überläuft es erst heiß und dann kalt. »War das dein Computer?«, sagt sie und hebt den Blick zur Decke. »Er hat ein Geräusch gemacht.«

Es ist lächerlich einfach, einen Teenager dazu zu bringen, ein Gerät auf Nachrichten zu checken, und kurz durchzuckt Jen schuldbewusstes Mitgefühl, als sie zusieht, wie er stolpernd losrennt, um nachzusehen. Es ist Gewohnheit, sie hatte schon immer Mitleid mit Todd – manchmal zu sehr, wenn sie sich in die Dramen am Schultor einmischte, weil er von irgendeinem Ereignis ausgeschlossen wurde –, heute aber erscheint es ihr deplatziert. Sie hat ihn beim Töten beobachtet.

Egal was, das Gefühl hält sie nicht davon ab, seinen Rucksack zu durchsuchen.

Das vordere Fach, die Seitenfächer. Es ist gut, sich abzulenken und etwas zu tun. Sie hört Todd oben summen, wie immer, wenn er ungeduldig ist. »Verdammt«, sagt er.

Zwei Chemiebücher, drei lose Stifte. Jen legt sie auf den Dielenboden und sucht weiter.

»Keine Nachrichten!«, ruft er. Wieder klingt er verärgert. In letzter Zeit fühlt sie sich in seiner Gegenwart wie eine Belästigung.

»Tut mir leid!«, ruft sie zurück und denkt: Gib mir noch eine Minute, nur eine, eine einzige. »Vielleicht habe ich mich getäuscht.«

Der Taschenboden ist mit Krümeln von tausend Sandwiches bedeckt.

Doch was ist das? Ganz an der Rückwand? Ein Futteral, ein ledernes Futteral. Kalt und hart wie ein Hüftknochen steckt es im hinteren Fach des Rucksacks. Noch bevor sie es herauszieht, weiß sie, was es sein wird.

Ein längliches ledernes Etui. Schwer atmet sie aus und knöpft die Lasche auf.

Da ist es … ein Messer. Das Messer.

Tag minus 1, 8:30 Uhr

Jen steht da, blickt hinab auf diesen Verrat in ihrer Hand. Sie hat sich nicht überlegt, was sie damit anstellen soll. Sie hatte nicht im Traum damit gerechnet, etwas zu finden.

Sie hält das Messer am langen, unheilvoll schwarzen Griff.

Wieder steigt Panik in ihr hoch, eine Woge der Angst, die hinausbrandet, aber doch stets wiederkehrt. Sie zerrt an der Tür zum Schrank unter der Treppe. Schuhe, Sportausrüstung, Konserven, die keinen Platz in der Küche finden, kommen ihr entgegen, und sie tastet an ihnen vorbei und schiebt das Messer ganz nach hinten. Sie hört Todd oben im Flur, lehnt das Messer an die Rückwand, kommt heraus und packt Todds übrige Sachen zurück in den Rucksack.

Mit einem missmutigen Lächeln – in seinen Zügen zeichnet sich der junge Kelly ab – nimmt Todd seine Tasche. Er scheint den Unterschied nicht zu bemerken, spürt nicht, dass sie leichter ist. Jen starrt ihn an, als er die Haustür aufzieht. Ihr Sohn, bewaffnet, wie er glaubt, und mit einem Vorsatz. Ihr Sohn, der mit diesem Messer mit solcher Wucht zustieß, dass es sich in den Körper eines Menschen bohrte. Über die Schulter wirft er ihr einen argwöhnischen Blick zu, und kurz denkt Jen, dass er weiß, was sie getan hat.

Er verlässt das Haus, und Jen geht die Treppe hinauf und beobachtet sein Auto vom Panoramafenster aus. Beim Anfahren meint sie ganz sicher, dass sein Blick im Rückspiegel für einen winzigen Moment auf ihren trifft, wie ein Schmetterling, der sich hinsetzt und, ehe man es überhaupt bemerkt, mit einem einzigen Flügelschlag wieder auffliegt.

 

»Ich habe ein Messer in Todds Tasche gefunden«, sagt Jen, kaum dass ihr Mann nach Hause kommt. Den Rest erklärt sie nicht, noch nicht. Den ganzen Tag über hat sie hin- und hergeschwankt zwischen Panik und dem Versuch, eine vernünftige Erklärung zu finden. Es bedeutet nichts, es war nur ein Traum, es bedeutet etwas, es ist ein wahr gewordener Albtraum. Sie ist wahnsinnig, wahnsinnig, wahnsinnig.

Wie erwartet verschließt sich Kellys Miene auf der Stelle.

Er kommt auf sie zu, nimmt das Messer und hält es auf den Handflächen, als wäre es ein archäologisches Fundstück. Seine Pupillen sind geweitet. »Was hat er gesagt? Als du es gefunden hast.« Sein Tonfall ist eisig.

»Er weiß es nicht.«

Kelly nickt, starrt auf die lange, scharfe Schneide und sagt kein Wort. Jen denkt an seine Wut in der vergangenen Nacht und bemerkt, dass er im Gegensatz dazu jetzt nur verschlossen wirkt.

»Das Messer ist nagelneu«, sagt er und wirft ihr einen Blick zu. »Verdammt, ich bringe ihn um.«

»Ich weiß.«

»Unbenutzt.«

Jen lacht, ein hartes Lachen, ohne jede Belustigung. »Ganz richtig.«

»Was?«

»Die Sache ist … ich meine, ich habe letzte Nacht gesehen, wie Todd jemanden damit erstochen hat.«

»Was …« Seine Stimme geht nicht nach oben, es ist keine Frage, sondern nur eine ungläubige Feststellung.

»Gestern Abend habe ich auf Todd gewartet, und er … er hat jemanden auf der Straße erstochen. Du warst auch da.«

»Aber …« Kelly kratzt sich am Kinn. »Aber ich war nicht da. Und du auch nicht. Du hast gesagt, es war ein Traum.« Er schenkt ihr ein kurzes Lächeln. »Bist du nach Wahnstadt gefahren?«, sagt er und benutzt ihre Umschreibung für Neurosen.

Jen wendet sich ab. Draußen geht der Nachbar mit dem Hund vorbei. Jen weiß, dass sein Handy gleich klingeln wird, sie erinnert sich daran, aber es klingelt, bevor sie es Kelly sagen kann. Sie muss versuchen, sich an etwas anderes zu erinnern, das gleich passieren wird, als Beweis für Kelly, aber ihr fällt nichts ein, sie kann nur daran denken, in welchem beängstigenden Paralleluniversum sie aufgewacht ist.

»Ich war noch wach«, sagt sie, wendet den Blick vom Nachbarn ab und denkt an all die Dinge, die als Indizien zählen würden, dass der gestrige Tag nicht geschehen ist: der glatte unversehrte Kürbis, die Anwesenheit ihres Sohnes in seinem Zimmer, das Fehlen jeglicher Blutspuren und Polizeibänder auf der Straße. Aber dann denkt sie an das Messer. Es ist das einzige konkrete Beweisstück, das sie besitzt.

»Hör mal, ich habe letzte Nacht nichts gesehen. Wenn er nach Hause kommt, fragen wir ihn nach dem Messer«, meint Kelly. »Das ist eine Straftat, also … können wir ihm das auch so sagen.«

Jen nickt und erwidert nichts. Was sollte sie auch sagen?

 

»Schleich mir nicht dauernd um die Füße.« Kelly redet mit ihrem Kater Henry VIII., der so heißt, weil er seit seiner Rettung aus dem Tierheim an Fettleibigkeit leidet.

Jen, die auf dem Sofa in der Küche herumlungert, zuckt zusammen. Am Freitagabend hat Kelly exakt dasselbe gesagt. Am ersten Freitagabend. Schließlich gab er nach und fütterte Henry, wobei er ihn ermahnte: »In Ordnung, aber du solltest wissen, dass ich das nicht gutheiße.«

Sie steht auf und rennt vor Kelly auf und ab. Sie kann einfach nicht. Sie kann nicht hier sitzen und zusehen, wie ein Tag seinen Lauf nimmt, den sie bereits gelebt hat.

»Wohin bist du denn unterwegs?«, sagt Kelly amüsiert. »Du hast es so eilig, dass du buchstäblich Wind aufwirbelst.« An den Kater gewandt, fügt er hinzu: »In Ordnung, aber du solltest wissen, dass ich das nicht gutheiße.« Er macht ein Tütchen Felix auf. Eine heiße Woge steigt Jen von der Brust herauf. Sie spürt, wie ihr panische Röte über den Hals bis in die Wangen wandert.

»Das ist alles schon passiert«, sagt sie. »Das alles war schon. Was ist nur los?« Sie setzt sich wieder auf das Sofa, zupft geistesabwesend an ihren Kleidern herum, als wolle sie ihrem Körper entfliehen, und versucht, etwas Unmögliches auszudrücken. Wenn sie den Verstand nicht bereits verloren hat, dann wirkt sie bestimmt so, als sei es jetzt so weit.

»Das Messer?«

»Nicht das Messer, das Messer habe ich ja erst heute gefunden«, sagt sie und weiß, dass der Satz für niemanden außer ihr selbst irgendeinen Sinn ergibt. »Alles andere. Alles andere habe ich schon einmal erlebt. Ich lebe diesen Tag jetzt zum zweiten Mal.«

Kelly seufzt, als er mit Henrys Fütterung fertig ist, und öffnet den Gefrierschrank. »Das ist selbst für deine Maßstäbe verrückt«, meint er sarkastisch. Jen neigt den Kopf und sieht vom Sofa aus zu ihm auf.

Als sie diesen Abend das erste Mal erlebten, hatten sie über Urlaub gestritten. Jen, die so gern Urlaub machen will, und Kelly, der sich weigert zu fliegen. Schon zu Beginn ihrer Beziehung hatte Kelly ihr erzählt, wie er in einem Flugzeug gesessen hatte, das bei Turbulenzen tausendfünfhundert Meter abgesackt war. Seither ist er nicht mehr geflogen.

»Du bist doch überhaupt kein ängstlicher Mensch«, hatte Jen eingewandt.