Just Another Missing Person – Findest du sie, wirst du alles verlieren - Gillian McAllister - E-Book
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Just Another Missing Person – Findest du sie, wirst du alles verlieren E-Book

Gillian McAllister

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Beschreibung

»Ein raffinierter, emotionsgeladener und zum Nachdenken anregender Thriller. Hervorragend!« Claire Douglas Jemand dort draußen hat dich im Visier. Er bedroht dich mit der schlimmstmöglichen Waffe. Er hat keine Pistole und kein Messer, sondern kennt ein Geheimnis. Und zwar dein dunkelstes. Er stellt dir ein Ultimatum, das dich zwingt, zwischen deinen Grundsätzen und dem Schutz deiner Familie zu wählen. In dieser ausweglosen Situation findet sich die erfahrene Ermittlerin Julia Day wieder, als ihr aktueller Vermisstenfall zum reinsten Albtraum wird. Denn plötzlich hängt die Sicherheit ihrer eigenen Tochter davon ab, dass Julia im Fall um die vermisste Oliva einen Unschuldigen ans Messer liefert – und die wahren Hintergründe niemals ans Licht kommen ... »Clevere Wendungen, atemberaubende Enthüllungen. Einfach großartig!« Lisa Jewell »Ein guter Roman mit einer wirklich enorm überraschenden Wende.« Radio Bremen »Gillian McAllister hat mich vollkommen verblüfft. Ich wette, Sie werden dieses Buch in einem Zug verschlingen!« Jodi Picoult »Eine packende Reise voller falscher Fährten und gewagter Wendungen. McAllister in Bestform!« Erin Kelly »Einer der besten Plottwists, die mir je begegnet sind. Ein kluger Kriminalroman, ein fesselnder Vermissten-Thriller und ein starkes Mutter-Tochter-Drama, alles in einem einzigen Buch vereint.« Beth O'Leary

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Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger

© Gillian McAllister 2023

Titel der englischen Originalausgabe: »Just Another Missing Person« bei Michael Joseph, London 2023

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Kerstin Kubitz

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einem Entwurf von Lee Motley // MJ

Covermotiv: Getty Images (Allison Farnworth; Peter Cade)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

TEIL 1

OLIVIA

Erster Tag vermisst

1. Kapitel

Julia

2. Kapitel

Lewis

3. Kapitel

Julia

4. Kapitel

Julia

5. Kapitel

Julia

6. Kapitel

Olivia

Zweiter Tag vermisst

7. Kapitel

Emma

8. Kapitel

Julia

9. Kapitel

Lewis

10. Kapitel

Julia

11. Kapitel

Olivia

Dritter Tag vermisst

12. Kapitel

Emma

13. Kapitel

Julia

14. Kapitel

Olivia

Vierter Tag vermisst

15. Kapitel

Julia

16. Kapitel

Lewis

17. Kapitel

Olivia

Fünfter Tag vermisst

18. Kapitel

Julia

19. Kapitel

Emma

20. Kapitel

Lewis

Sechster Tag vermisst

21. Kapitel

Olivia

22. Kapitel

Julia

23. Kapitel

Julia

24. Kapitel

Emma

25. Kapitel

Lewis

26. Kapitel

Lewis

27. Kapitel

Lewis

28. Kapitel

Lewis

TEIL 2

SADIE

Dreihunderteinundsiebzig Tage vermisst

29. Kapitel

Julia

30. Kapitel

Julia

31. Kapitel

Emma

Dreihundertzweiundsiebzig Tage vermisst

32. Kapitel

Julia

33. Kapitel

Emma

34. Kapitel

Lewis

Dreihundertdreiundsiebzig Tage vermisst

35. Kapitel

Julia

Dreihundertvierundsiebzig Tage vermisst

36. Kapitel

Lewis

37. Kapitel

Julia

38. Kapitel

Emma

39. Kapitel

Julia

TEIL 3

Julia

Erster Tag vermisst

40. Kapitel

Lewis

41. Kapitel

Emma

42. Kapitel

Lewis

43. Kapitel

Julia

Neunzehn Monate später

44. Kapitel

Julia

45. Kapitel

Emma

46. Kapitel

Lewis

47. Kapitel

Julia

Gestern

48. Kapitel

Lewis

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Neil Greenough, weil jeder Autor und jede Autorin einen hilfsbereiten, ideenreichen (und unbestechlichen) Polizisten braucht, der ihm oder ihr hilft.

Prolog

Daran, wie Genevieve auf sie zurannte, erkannte Julia, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihre Tochter kam durch die Tür des Parkhauses gestürzt und ließ sie ungestüm mit einem unkontrollierten Krachen hinter sich zufallen, das von den Wänden widerhallte. Julia hätte sie nicht allein gehen lassen sollen: Das war ihr erster Gedanke. Jemand aus dem Büro hatte Julia angerufen, sodass Genevieve allein losgezogen war, um einen Parkschein zu lösen. Und jetzt …

»Mum?«, schrie Genevieve und schoss auf sie zu. Sie sah völlig verängstigt aus; das Gesicht kalkweiß im Licht der Neonröhren, der Eyeliner verschmiert. Panik stand in ihren Augen, und sie schaute hektisch über die Schulter nach hinten. Angst begann in Julias Magen zu rumoren. Sie konnte ihren Puls überall fühlen, in den Händen, den Beinen, den Schultern; das Sirenengeheul ihres Körpers. Da stimmt etwas nicht. Da stimmt etwas nicht, dröhnte ihr Herzschlag.

Und dann zeigte Genevieve mit einer blutverschmierten Hand hinter sich. »Du musst kommen!«

TEIL 1

OLIVIA

Erster Tag vermisst

1. Kapitel

Julia

Julia versucht, sich darüber klar zu werden, ob der Mann am übernächsten Tisch jemand ist, den sie schon einmal verhaftet hat. Er hat sich einen Karamell-Käsekuchen bestellt, ist mit Frau und zwei Kindern hier, und sie ist sich ziemlich sicher, dass sie ihn einmal wegen Mordes festgenommen hat. Das Licht ist dämmrig; sie kann es einfach nicht genau sagen.

Sie gibt sich alle Mühe, ihren Mann und ihre Tochter nichts merken zu lassen, hält den Blick auf die Speisekarte gesenkt.

»Nando’s ist in letzter Zeit ja irgendwie voll cringe, stimmt’s?«, stellt Genevieve fest, und Julia lächelt ihr freches einziges Kind an.

»Inwiefern?«, will Art entrüstet wissen. Art, benannt nach Art Garfunkel, ihr Ehemann. Ein Englischlehrer, ein Pedant, ein Zauderer, der letzte Mensch, der in SMS noch Semikolons verwendet. Und bis vor Kurzem Julias große Liebe.

Am Tisch des Vielleicht-Mörders wird der Käsekuchen serviert. Julia beobachtet ihn, als er aufschaut. Er hat zwei Handys, beide liegen mit dem Display nach unten vor ihm auf dem Tisch. Das untrügliche Merkmal eines Kriminellen. Sie ist sich ziemlich sicher, dass er es ist. Irgendetwas an seiner Stirn …

»Ach, einfach … du weißt schon. Allein schon die Werbung und so, ich meine, hör bloß auf«, antwortet Genevieve und nimmt eine Speisekarte zur Hand. Sie trägt ein schwarzes Neckholder-Shirt, in Jeans mit hohem Bund gesteckt. Große goldene Kreolen. Sie sieht toll aus, aber es wäre ihr auch egal, wenn es nicht so wäre. Das ist typisch Genevieve: Sie tut, was sie, verdammt noch mal, will. Manchmal freut es Julia, eine so starke Frau großgezogen zu haben. Manchmal freut sie das nicht ganz so sehr.

Es ist sieben Uhr abends, und Julia kann nicht recht glauben, dass sie hier ist. Dass nichts dazwischengekommen ist, dass sie es geschafft hat.

»Die machen gutes Hühnchen«, erwidert Art milde, vielleicht auch ein wenig gekränkt. Das Restaurant hat er ausgesucht.

Der Käsekuchen ist schon fast aufgegessen. John. Julia glaubt, dass er John heißt. Wieder schaut sie rasch zu ihm hinüber und zieht ihr Handy hervor. »John Mord Portishead« tippt sie bei Google ein. Sie ist sicher, dass er noch nicht wieder draußen sein sollte. Eine Messerstecherei im Stadtzentrum, eine brutale Attacke. Lebenslänglich hat er bekommen, und so lange ist das noch nicht her.

Die Google-Suche ist nicht begrenzt genug, es gibt zu viele Ergebnisse. Gerade, als sie erwägt, etwas anderes einzugeben, klingelt das Handy. Es ist das Revier.

»DCI Day«, sagt der Mann in der Zentrale der Polizei in Julias Privathandy – das, das sie immer benutzt –, und da geht das Herz in ihrer Brust in den vorhersehbaren Sinkflug. »Gefährdete vermisste Person, ist gerade reingekommen«, meldet er, und es landet direkt vor ihren Füßen.

Julia seufzt. Kein Hühnchen, kein Herumalbern mehr mit Genevieve. Bloß Arbeit. So ist der Job eben. So ist der Job eben, sagt sie sich noch einmal. Nach zwanzig Jahren bei der Polizei ist das zu ihrem Mantra geworden.

Nachdem sie sich die Einzelheiten angehört hat, starrt sie auf die Tischplatte. Eine vermisste Zweiundzwanzigjährige. Keine psychischen Erkrankungen bekannt. Wurde gestern zum letzten Mal gesehen, auf Aufnahmen einer Überwachungskamera. Die Mitbewohner haben die Polizei verständigt, als sie nicht nach Hause gekommen ist. Das sind die Fakten.

Doch hinter den Fakten steht noch etwas anderes, dessen ist sie gewiss. Etwas anderes. Etwas, das sie noch nicht benennen kann. Das sagt ihr ein ganz tiefer Detective-Instinkt. Sie schaudert in dem düsteren Restaurant.

»Ich muss aufs Revier«, verkündet sie, gerade als das Essen kommt. Dampfende Maiskolben, Kartoffelbrei, Hühnchen … Sehnsüchtig betrachtet sie die Teller.

Als sie aufsteht, sieht sie rasch zu dem Vielleicht-Mörder links von ihnen hinüber. »Falls ihr zufällig mitkriegt, wie der wegfährt«, sagt sie leise zu Art und Genevieve, »könnt ihr euch das Kennzeichen merken?«

Julia war immer zu weich, um Polizistin zu sein. Das denkt sie, als sie ins Revier eilt und eigentlich gleich ihr Team auf den neuesten Stand bringen will, jedoch stehen bleibt, um einen ihrer Informanten zu mustern. Es ist Price, den Julia immer schon zu gern hatte. Er sitzt auf einer der Bänke, und seine Züge sind in einem Ausdruck der Verblüffung stecken geblieben, als hätte jemand eine Sekunde lang das Universum angehalten.

Julia will ihn schon fragen, was er hier macht. Sie kann nicht anders, sie ist durchdrungen davon, egal, was sie noch alles auf dem Zettel hat. Wenn man Julia schneidet, blutet sie Interesse für die, die ihr wichtig sind, und das sind alle und jeder.

Price hat die Beine an den Knöcheln überkreuzt und einen Arm über die metallene Rückenlehne gelegt. Anscheinend fühlt er sich hier wie zu Hause, aber Julia weiß, dass er Angst hat. Natürlich hat er Angst: Er handelt mit Informationen – der gefährlichsten Ware, die es gibt.

Er hat rotbraunes Haar, das er so stark gelt, dass das Rot zu unauffälligem Braun wird. Sommersprossen. Haut, die leicht verbrennt und leicht errötet. Price ist Schotte, ursprünglich aus Glasgow, und hat den Akzent nie abgelegt, obwohl er vor zwanzig Jahren hierhergezogen ist, mit siebzehn.

»Was haben Sie denn ausgefressen?«, erkundigt sich Julia und bleibt in der leeren Eingangshalle vor ihm stehen. Es riecht nach Industriereinigungsmittel und dem abgestandenen Essen, das sie den Angeklagten bringen. Da ist oft Fleisch drin, das man aus irgendeinem Grund nicht kühl zu lagern braucht und dessen Verfallsdatum erst in etlichen Jahren erreicht ist.

Die meisten Lampen sind aus. Julia findet das Revier um diese Zeit immer unfassbar romantisch, als wäre es ein Museum außerhalb der Besuchszeiten, zu dem nur sie Zutritt hat. Ein Standbild aus einem Film, in dem sie herumstreifen darf, nur sie allein.

»So dies und das«, antwortet Price. Er ist klug, denkt strategisch; sicher sagt er es ihr aus einem bestimmten Grund nicht.

»Will heißen?«, fragt sie. Price wird so gut wie nie verhört; er liefert nur ihr Informationen. Er ist flink, gerissen und auch witzig, aber nie in Haft. Fast alles, was Julia mit ihm zu tun gehabt hat, hat in der Welt dort draußen stattgefunden.

Der Sergeant vom Dienst kommt mit einem Becher Revierkaffee. Julias Blick fällt kurz darauf. »Sie haben sich also nur selbst einen gemacht?«, bemerkt sie. Der Sergeant beachtet sie nicht.

Wieder sieht sie Price an und geht dann seufzend nach hinten zur Küche. Dort brüht sie einen Tee auf, drei Stück Zucker, jede Menge Milch – auch, um das Zeug abzukühlen, damit es weniger riskant ist. Dampfend heißer Tee ist in Polizeigewahrsam nicht erlaubt, weil er eine Waffe ist. Der Becher wärmt ihre Finger. Sie ist versucht, ihn selbst zu leeren, hat den ganzen Tag nur einmal etwas getrunken, im Nando’s, doch sie tut es nicht. Sie hat zu viel zu tun. Sie muss herausfinden, was bei Price abgeht. Sie will sich über den Mörder im Restaurant schlaumachen. Und dann noch die Hauptsache: Es sieht so aus, als müsse sie eine Vermisste finden.

Price streckt schon die Hand aus, als sie mit dem Becher zurückkommt. »Ooh, Miss«, sagt er entzückt zu ihr und nippt daran. »Und auch noch mit Zucker. Ich schulde Ihnen einen Tipp. Wie viel sind zehn Prozent von gar nichts?« Er lacht bellend auf. Er ist bissig, aber eins ist sicher: Wenn ihre Rollen vertauscht wären, würde er ihr auch Tee holen.

Sie lächelt und weicht dem Blick des Sergeants vom Dienst aus. Lieber von einem Kollegen für zu vertrauensselig gehalten werden, als nachts wach liegen und über Price nachdenken, und darüber, ob er an diesem Tag, in dieser Woche schon etwas Heißes zu trinken gehabt hat. Nichts kann Julia besser, als mitten in der Nacht zwanghaft über etwas nachgrübeln. Und mitten am Tag übrigens auch.

»Alles Gute, okay?«, sagt sie zu ihm.

Er hebt den Teebecher zu einem wortlosen Toast.

Als sie vor der Besprechung mit dem Team in ihr Büro zurückkehrt, überprüft sie die Akte des Mörders. Er hieß wirklich John, John Gibbons. Sie lässt sich von einem Wärter bestätigen, dass er immer noch im Gefängnis von Bristol sitzt. Es muss jemand anders gewesen sein. Julia legt die Hände an die Wangen – zwei Aufgaben erledigt, eine noch offen, und kurz vor acht Uhr abends –, und erwägt, in einem Supermarkt zu arbeiten. Doch die Sache ist die, sie würde nichts anderes wirklich gern tun. Nicht so gern wie das hier. Und niemand kann ein ausgewogenes Verhältnis zu etwas haben, das er liebt.

Julia pappt das Polaroid-Foto von Olivia an das Whiteboard im Besprechungsraum. Es ist ein verbrauchtes altes Zimmer; abgehängte Decke, ein fürchterlicher Teppichboden. Aus irgendeinem Grund räumt der Putztrupp hier nicht so oft auf wie im Rest der Büros, und der Raum beherbergt und bewahrt alte Kaffeebecher, den Geruch von Portisheads allgegenwärtiger Feuchtigkeit und die Aktenreste früherer Ermittlungen.

Die Lamellenvorhänge aus den Siebzigern haben den Nachthimmel ausgesperrt, und als Julia sie betrachtet, fragt sie sich, ob sie hier mehr Abende verbracht hat als irgendwo anders. Es ist kein warmes Restaurant mit ihrem Kind, aber witzigerweise ist es etwas fast Stärkeres: Für Julia ist es ein Zuhause. Sie zieht ihre Schuhe aus, als sie sich das eingesteht, und stürzt sich in die Ermittlungen, in den Menschen, zu dem sie werden muss, zumindest eine Zeit lang. Eine Polizistin, für die alles andere zweitrangig ist.

Der Rest des Teams kommt nacheinander herein. Sie sehen müde aus. Manche waren bestimmt noch gar nicht zu Hause. Manche sind von Familienessen weggeholt worden, aus Verabredungen oder Elternabenden. In Portishead gibt es kein festes Major Incident Team, das Schwerverbrechen bearbeitet. Dieses hier wurde hastig zusammengestellt, als der Fall für schwerwiegend befunden wurde, Detectives und Fallanalytiker aus anderen Teams wurden hinzugezogen, und Julia hofft, dass ein paar gute Leute darunter sind. Sie mag, wen sie mag, dagegen kann sie nichts machen.

Sie schaut zu Olivias Foto hinauf. Die junge Frau ist schlank und blond, doch um die Nase herum hat ihr Gesicht etwas Kraftvolles, das sie auf »beeindruckend« hochstuft. Julia streckt die Hand aus, um das Polaroid gerade zu rücken. Der Blu Tack, mit dem es festgeklebt ist, hält nicht, er ist alt und vertrocknet. Typisch Polizeibudget. Es ist Olivias Passfoto; ihr Instagram-Profilbild war zu gekünstelt: mit herzförmiger Sonnenbrille und einer Eistüte, hinter der sie hervorlugte. Sie hat ein enormes Lächeln, schiefe Zähne. Vollkommene Unvollkommenheit, jene strahlende Qualität, die jungen Menschen eigen ist.

Julia sieht ihr in die Augen und denkt, dass niemand je wirklich verschwunden ist, nicht für sich selbst. Nur für die, die zurückbleiben.

Olivias Schicksal mag ihr unbekannt sein, ihr eigenes jedoch kennt sie schon: Schlaflosigkeit. Zu Hause zu viel über die vertraulichen Details reden. Genevieve – die Julia bereits viel zu ähnlich ist – wird anfangen, sich auf den Fall zu fixieren. Art wird sich ausgegrenzt fühlen, das aber niemals laut sagen.

Zwei Fallanalytiker unterhalten sich über einen Mann, der gestern Nacht festgenommen worden ist. »Es waren Deko-Buddhas«, sagt David zu Brian.

»Buddhas …«

»Als die von der Forensik die Dinger untersucht haben, war sehr klar, dass er sich die in den …«

»Okay«, geht Julia dazwischen und verkneift sich ein Grinsen. Sie weiß alles über diesen Fall. »Genug Buddhas und …«

»Sagen Sie bitte, dass wir was Tolles, Interessantes haben«, meldet sich Jonathan zu Wort, ihr Lieblingsdetective. Seit fünfzehn Jahren arbeiten sie zusammen. Er hat als Fallanalytiker angefangen und sich dann für den aktiven Polizeidienst qualifiziert. Selbst, als er dem Rang nach noch weit unter ihr stand und für Telekommunikation zuständig war, hatte Julia mittags mit ihm zusammen draußen auf der Mauer Sandwiches gegessen. Sie war froh gewesen, jemanden gefunden zu haben, der wie sie war: einen detailverliebten Menschen, jemand, der seine Arbeit immer, immer mit nach Hause nahm, ob nun physisch oder emotional. Nachdem er sich qualifiziert hatte, hatte sie es geschafft, ihn in der Major Crime Unit zu behalten, indem sie einen Gefallen einforderte.

Julia setzt eine zweideutige Miene auf und antwortet noch nicht. »Das nehme ich mal als Ja«, brummt Jonathan. Er ist genauso hartnäckig wie Julia selbst, scheint innerhalb von Sekunden Informationen herbeizaubern zu können. Ohne Zweifel kommt das von seiner Vergangenheit als Fallanalytiker. Seine Strategie besteht schlicht und ergreifend darin, dass er fragt und fragt: Telefonanbieter, Airlines, jeden. Er wiederholt seine Anfragen einfach und ruft dann wieder und wieder an. Sein Slogan ist »Ich warte gern«. Beim Tippen hat er sich meistens einen Hörer mit der Schulter ans Ohr geklemmt, und man hört leise Callcenter-Fahrstuhlmusik.

Im Besprechungsraum ist es saukalt, die Teppichfliesen sind eisig unter ihren Füßen. Es ist Ende April, aber noch immer frostig, so schlimm wie im Januar. Nathan Best, der Detective Sergeant, den sie am zweitliebsten mag, erwischt sie dabei, wie sie aus dem Fenster späht. »Morgen soll’s schneien«, knurrt er. »Ist echt ’n Scheißwitz.«

»Im Schnee verwest nichts«, schmeißt Jonathan ihm an den Kopf.

»Reden wir mal nicht übers Verwesen«, fährt Julia auf, »reden wir darüber, lebendige Menschen zu finden.«

»Ist das hier so ähnlich wie die Nummer letztes Jahr? So was schaffe ich nicht noch mal, ganz ehrlich«, sagt Jonathan. Sie ist ihm dankbar für seine Ehrlichkeit: Ihr geht es genauso. Eine Frau namens Sadie war letztes Frühjahr verschwunden, auf dem Heimweg; auch sie war auf Überwachungsaufnahmen aufgetaucht. Das einzig Hoffnungsvolle an dem Ganzen war, dass sie ihren Reisepass mitgenommen hatte – obgleich der nie an einem Flughafen zum Einsatz gekommen war. Die Ermittlungen zogen sich monatelang hin; mittendrin wurde die Gesuchte angeblich gesehen, was sich als Fehlalarm herausstellte, aber alle völlig fertigmachte. Sie verdoppelten ihre Anstrengungen, dehnten die Suche weiter und weiter aus, forderten massenhaft Telekommunikationsdaten an, nahmen etliche bekannte Sexualstraftäter im fraglichen Gebiet fest und verhörten sie, gingen immer unwahrscheinlicheren Hinweisen nach. Erst vor Kurzem hatten sie darüber geredet, die Ereignisse nachzustellen, doch sie wussten so wenig, dass das wenig sinnvoll erschien. Rekonstruktionen funktionieren nur, wenn die Öffentlichkeit sich an kleinste Einzelheiten eines Verschwindens erinnern kann.

Jonathan gestikuliert so nachlässig, dass sein Tee auf den Teppichboden kleckert. Der Fleck wird wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit überdauern. Das ist das Leben bei der Polizei. Keine Hochgeschwindigkeits-Verfolgungsjagden, keine Undercover-Missionen. Nur der vage, ständige Druck, alle Bälle in der Luft halten zu müssen, muffige Büroumgebung, und irgendwo jenseits davon, an einem Ort, der schwer auszumachen, aber nichtsdestotrotz magisch ist: Leben und Tod. Und – jenseits davon – das Trauma des Ganzen. Sadie war trotz Julias enormer Bemühungen nie wieder aufgetaucht, was nicht nur dazu führte, dass die Angehörigen der Vermissten die Polizei der Faulheit beschuldigten, sondern auch dazu, dass Julias Mann ihr vorwarf, ihn zu vernachlässigen.

Sie erinnert sich noch gut an den Tag, als sie den Fall zu den Akten legten. Keiner von ihnen konnte es akzeptieren. Am Ende waren sie Dinge durchgegangen, die sie bereits zweimal in Augenschein genommen hatten. An dem Tag, an dem sie aufgegeben hatten, war Julia auf kürzestem Weg nach Hause gefahren, hatte sich mitten am Tag aufs Bett gelegt und durch das Dachfenster darüber geschaut. Sie hatte Arts Geburtstag verpasst. Der Wagen musste zur Hauptuntersuchung. Viermal hintereinander war sie nicht beim allmonatlichen Buchclub-Treffen gewesen. Die anderen Mitglieder waren keine Polizeibeamte, also verstanden sie es nicht. Und alles, woran sie denken konnte, war diese Frau und ihr unsichtbares, schreckliches mutmaßliches Ende, und dass Julia sie im Stich gelassen hatte.

DS Poole kommt herein. »’tschuldigung«, sagt er. »Ich hab für das hier gerade einen Dealer gegen Kaution laufen lassen, also wehe, wenn’s nicht richtig gut ist.«

Irgendetwas in Julia entspannt sich, als sie an Price denkt, der seiner Wege geht, mit Gratistee und allem. Irgendwie fällt der Typ immer auf die Füße. Sie werden ihn wieder einkassieren, aber er wird davonkommen.

Sie schnappt sich einen roten Stift und zieht einen Pfeil über das Whiteboard. Der Stift quietscht, und im Raum wird es so still, als hätte sie gegen ein Glas geklopft.

»Bisher wissen wir Folgendes«, fängt sie an. »Olivia Johnson ist zweiundzwanzig. Spitzname Little O. Sie arbeitet im Marketing. Am 27. April unterschreibt sie einen Vertrag für ein Zimmer in einer WG. Am 28., also vorgestern, zieht sie in das Haus im Zentrum von Portishead.« Sie schaut rasch zu Best hinüber, der bedrückt aussieht, und dann zu Jonathan, der aussieht, als sei er bereit für eine Herausforderung.

»Sie verbringt die Nacht in ihrem Zimmer, packt ein bisschen aus und geht dann am nächsten Morgen zu einem Bewerbungsgespräch bei einem Marketingunternehmen namens Reflections im Bristol City Centre. Noch wissen wir nicht, wo sie vorher gearbeitet hat, aber laut ihren E-Mails an den Vermieter ist sie von Walton Bay hierhergezogen. Spät an diesem Abend schickt sie ihren Mitbewohnern eine SMS, in der steht Bitte kommt. Unterschrieben mit einem Kuss. Keine Ortsangabe. Etwas früher war sie auf Überwachungsaufnahmen von der Portishead High Street aufgetaucht. Die Aufnahmen haben wir gesichert. Heute Morgen haben die Mitbewohner sie als vermisst gemeldet. Hat eine Weile gedauert, bis das Ganze bei uns gelandet ist, und in der Zwischenzeit war der Vater, der per Telefon befragt wurde, echt hilfreich.«

Die SMS an die Mitbewohner macht Julia am meisten zu schaffen. Bitte kommt x. Das ist ein spezifisch weiblicher Ruf zu den Waffen, mit einem einzigen Ziel, denkt Julia: gerettet zu werden. Manche Dinge weiß man nicht einfach nur, weil man Polizistin ist, man weiß sie, weil man eine Frau ist.

Sie gehen durch, was Julia weiß. Olivias Freunde und Bekannte, laut ihrem Instagram-Account häufig frequentierte Orte, und dann macht Julia sich daran, Aufgaben zu verteilen, und denkt dabei, wie interessant Genevieve das alles finden würde. »Was würde ich nicht dafür geben, bei einer Teambesprechung dabei zu sein«, hat sie neulich zu ihr gesagt. Vorher eher ambivalent, ist Genevieve jetzt richtig besessen von dem, was sie als True Crime bezeichnet und was Julia ihren Job nennt.

»Nie im Leben«, hatte Julia abgewehrt. In Anbetracht der Situation beunruhigt sie Genevieves gesteigertes Interesse an der Polizei, doch das ist ein Gespräch für einen anderen Tag.

Poole unterbricht sie, noch ehe sie richtig anfangen kann. »Warum gilt sie als gefährdet?«, will er wissen. Das überrascht Julia nicht; er ist ein querköpfiger Typ, die Sorte Mensch, der unter den richtigen Umständen sogar seiner eigenen Existenz widersprechen würde. »Nur, um hier den Advocatus Diaboli zu spielen«, fügt er hinzu, als wolle er demonstrieren, was Julia denkt. Herrgott noch mal. Ist es nicht eine der Binsenweisheiten des Lebens, dass jeder, der das Bedürfnis verspürt, den Advocatus Diaboli zu spielen, ganz dringend einen ordentlichen Gin und einen ordentlichen Fick braucht? Werd erwachsen, denkt sie giftig.

»Keinerlei bekannte psychische Probleme, eine attraktive Frau, mutmaßlich spätabends allein, eine SMS an ihre Mitbewohner, dass sie zu ihr kommen sollen. Lohnt sich wahrscheinlich, sich das mal näher anzuschauen, oder?«, antwortet sie, anstatt zu sagen, was sie wirklich denkt. Trotzdem ist ihr Ton scharf.

»Ist ja gut«, brummt er, hebt die Hände und fährt sich mit einer über die Glatze. »Sie brauchen hier nicht gleich auf Julia zu machen.«

Sie redet weiter, über ihn hinweg, erteilt Anweisungen zur Beschaffung von Überwachungsaufnahmen und Telefonunterlagen, zur formellen Befragung der Eltern und der Mitbewohner, der Suche nach Fingerabdrücken. Ihre Strategie besteht immer darin, sofort so viel Zeit – und finanzielle Mittel – in einen Vermisstenfall zu investieren, wie sie kann. Julia hält sich an das Prinzip der goldenen Stunde: Wenn man die initiale Reaktion richtig hinbekommt, folgt der Rest. Sie versteht nicht, wieso jemand anders vorgehen sollte. Informationen sind für Julia von entscheidender Bedeutung, und davon brauchen sie jede Menge. Irgendwann werden sie ihnen verraten, ob Olivia sich versteckt, entführt wurde oder tot ist: Ein anderes Resultat gibt es nicht.

Voller Tatendrang kehrt Julia in ihr Büro zurück, um mit ihren eigenen Aufgaben loszulegen, ohne Schuhe und semizufrieden. Doch sie denkt mit schlechtem Gewissen an Genevieve und Art im Nando’s. Genevieve ist nur ein paar Jahre jünger als Olivia. Es hätte ohne Weiteres sie treffen können.

Julia schätzt es, wenn ihre Leute ihr persönlich Bericht erstatten, von Angesicht zu Angesicht, und sie sieht sich das, was sie ihr zeigen, auch gern direkt an. Das macht viel mehr Arbeit, als ein DCI haben sollte, doch sie kann nichts dagegen machen. Bei einer E-Mail, einem trockenen Überwachungsbericht bekommt man kein Gefühl für ein Problem.

Jonathan sitzt in ihrem Büro und schaut unnachgiebig durch die Jalousie hinaus, die Julia letztes Jahr auf ihre Kosten anbringen lassen hat. Ihr ist klar, dass das nicht normal ist, doch ihre Vorgesetzten haben sie nicht daran gehindert, und jetzt hat sie weiße Lamellenjalousien, die sie schließen und mit denen sie die Welt aussperren kann. Oder sie kann sie ganz aufziehen und das Sonnenlicht hereinlassen. Die ganze rechte Wand besteht aus Fenstern und wunderschönen Jalousien, genau wie zu Hause. Der Rest ihres Büros ist ein ordentliches Quadrat, in der Ecke ein Schreibtisch voller Dinge, die sie von ihrem eigenen Geld gekauft hat: eine Lampe von Next, ein Mac, weil sie die lieber mag. Mit anderen Worten, es ist ein Zimmer in ihrem Haus, das ins Büro verpflanzt worden ist.

Es ist ein paar Stunden später, kurz nach zehn Uhr. Julia hat ein stetig wachsendes Team aus Ermittlern, Fallanalytikern und Forensikern zusammengestellt. Sie ist froh, Jonathan zu sehen, der seine große Brille mit dem schwarzen Gestell abgenommen hat und sich die Augen reibt. Sein Ehering klirrt gegen den Schreibtisch, als er die Hand ausstreckt, um sie wieder aufzusetzen.

Seine Frau hat erst vor ein paar Monaten ein Baby bekommen. Julia hatte ihn zwingen müssen, Urlaub zu nehmen. Trotzdem ist er eine Woche zu früh wieder zur Arbeit gekommen, mit strahlenden Augen und erfüllt von der Freude darüber, dass sich sein Leben schlagartig verändert hatte. Er liebt das Baby, aber er ist süchtig nach dem Job. Julia war genauso. Der süße warme Körper eines Neugeborenen reichte nicht ganz, um ihre Leidenschaft für das hier auszumerzen: Rätsel zu lösen, Bruchstücke zusammenzufügen, Menschen zu helfen und sich immer dichter an jenes Flüchtigste aller Dinge heranzupirschen – an die Wahrheit.

Sie sitzt im Schneidersitz auf ihrem Stuhl. »Okay, erzählen Sie mir, was Sie wissen.«

»Machen Sie sich’s bequem«, antwortet er. »Ich fürchte, sie ist der Inbegriff der iGeneration.«

»Der i-was?«

»Enorme Onlinepräsenz. Eigentlich gehört sie ja zur Generation Z, aber sie würde bestimmt sagen: ›Steckt doch nicht eine ganze Generation in eine Schublade, Leute, das ist so was von abwegig.‹«

»Ich komme mir plötzlich sehr, sehr alt vor«, bemerkte Julia trocken.

»Lassen Sie mich mal mit Instagram anfangen«, sagte Jonathan. Er sitzt auf Julias zweitem Stuhl, der genau für so etwas da ist und »Der Verhörstuhl« genannt wird. Jetzt ruft er die Rasteransicht von Olivias Instagram-Account auf dem Bildschirm auf, und sie sehen sie sich gemeinsam an. Jonathan zeigt ebenfalls lieber, als dass er erklärt, doch das, so hat er einmal zu ihr gesagt, liegt daran, dass er nicht besonders gern mit anderen Menschen redet.

Die Rasteransicht zeigt Selfies, Blumen, Bücherstapel. Witzige Bildunterschriften. »Können Sie mir das alles ausdrucken?«, fragt Julia. »Gehen Sie’s jetzt ruhig trotzdem durch, aber kann ich das auf Papier haben? Und auch alles andere, ihre E-Mails, Tweets, und was weiß ich noch alles.«

»Habe ich in weiser Voraussicht bereits erledigt, Verehrteste«, knurrt er und hebt die Akte an, um ihr den Stapel Ausdrucke darunter zu zeigen. »Aber wir müssen Sie echt ins digitale Zeitalter überführen.«

Julia lächelt schwach. »Nein, nein, nein.« Für sie hat es etwas Authentisches, im Bett die Seiten durchzublättern. Etwas Fassbares, als würden dadurch alle Geheimnisse, die zwischen den Blättern lauern, in die Nachtluft entlassen.

»Na klar. Also. Okay, dieses letzte Foto – das ist eindeutig in dem Starbucks in Portishead gemacht worden, und zwar gestern. Sehen Sie das Fenster mit dem Logo? Sie hat einen VSCO-Filter benutzt.« Jonathan ist ein Zivilfahnder in mittleren Jahren, der sich auf die kleinteilige Art und Weise spezialisiert hat, wie die Jugend ihr Onlineleben führt. Er weiß über alles Bescheid: über TikTok-Trends, über Incels, über Tumblr-Selbstmordabkommen. Und er hat den besten Instinkt von allen Detectives, die Julia kennt.

»Okay.«

Er zieht das Foto größer. Es zeigt einen auffälligen zitronengelben Mantel, der zusammengefaltet auf einem Hocker liegt, einen offenen Laptop im Fenster und einen Kaffee. Bildunterschrift: »Als wär’s Sommer«.

»Wir haben Überwachungsaufnahmen von einer Frau in so einem Mantel«, sagte Jonathan. »Nur ein paar Hundert Meter von diesem Starbucks entfernt.«

Julia schluckt die eine oder andere Gefühlsregung hinunter, die sie nicht beim Namen nennen will. Seit letztem Frühjahr wird sie bei »Überwachungsaufnahmen« für alle Zeit an Genevieve denken müssen. Genauer gesagt, an das, was Genevieve getan hat.

»Hier, das ist vor dem Friseurladen. Gelber Mantel, stimmt’s? Eine Frau, die die Straße raufgeht.«

Es ist eine unscharfe Aufnahme von oben, aber in Farbe, und es ist – zumindest für Julia – eindeutig Olivia. Dasselbe auffällig helle Haar, naturblond, kein dunkler Ansatz. Und der Mantel von dem Foto. Sie hält den Clip an, zoomt. Hat die junge Frau da gewusst, dass dies ihre letzten Augenblicke im Vorher sein würden?

»Stimmt. Das ist Olivia«, stellt Julia fest.

»Genau. Gestern Abend um halb neun. Okay? Jetzt wird’s komisch.« Jonathan klickt wieder auf PLAY. Olivia biegt nach rechts von der Hauptstraße in eine Gasse ab. Er lässt die Aufnahme noch fünf Minuten weiterlaufen. Leute kommen und gehen, Menschen, die spät noch einkaufen waren, die letzten Pendler, eine Handvoll abendlicher Trinker. So, wie er es oft tut, lässt er die Beweislage für sich sprechen.

»Okay?«, fragt Julia.

Er öffnet auf seinem Handy Google Maps. »Hier ist die Gasse«, sagt er. »Heißt passenderweise Blindman’s Lane, Blindenweg.« Jonathan schickt das Street-View-Männchen die Gasse hinauf. Während Julia zuschaut, taucht eine Nachricht von seiner Frau auf, ein Foto-Icon und die Nachricht: Schlafenszeit, MAL WIEDER. Es geht wohl um das Baby, nimmt sie an.

»Die ist zugemauert«, sagt er und wischt die Nachricht weg. »’ne Sackgasse. Schauen Sie.« Tatsächlich, die Gasse endet an der Backsteinmauer eines Wohnblocks, die sie vollkommen versperrt. Keine Türen, keine erreichbaren Fenster. Nichts.

»Sie kommt nicht raus. Ich habe mir fünf Stunden Überwachungsvideo reingezogen, im Schnelldurchlauf«, fährt Jonathan fort.

»Ist die Gasse immer noch zu? Ist die Google-Karte auf dem neusten Stand?«

»Vier Kollegen von der Streife haben’s bestätigt. Und ich war selbst da drin. Das ist« – er ruckt mit dem Daumen – »gleich da die Straße runter.«

»Keine Leiter? Kein Notausgang? Ein Kellerschacht?«, fragt Julia und zoomt Google näher heran.

»Nein, nein und nein«, antwortet Jonathan und schließt Google Maps. Dann öffnet er die Nachricht seiner Frau. Es ist tatsächlich ein Foto von ihr und ihrem Baby, das jetzt ungefähr vier Monate alt ist.

»Echt niedlich«, bemerkt Julia.

»Der hat uns beide glatt um den kleinen Finger gewickelt. Schlafenszeit sagt ihm gar nichts.«

»Tja«, meint Julia und denkt an Genevieve, »in fünfzehn, sechzehn Jahren pennt er bis Mittag.«

Jonathans lächelnder Blick begegnet dem ihren. »Wir haben eine sogenannte Smart-Sleeper-Babywiege gekauft, die soll angeblich helfen.«

»Na klar. Viel Glück damit«, erwidert Julia. »Ich muss mir diese Gasse auch ansehen«, erklärt sie ihm dann. »Nicht wahr?«

Mit einer knappen Geste Marke Tun Sie sich keinen Zwang an deutet er auf die Tür, doch dann kommt er trotzdem mit; er ist ein Gentleman durch und durch.

Die Gasse ist einen knappen halben Kilometer entfernt. Als sie das Revier verlassen, geht der Feueralarm los; das tut er andauernd und wird nie repariert. Sie achten nicht darauf und schreiten rasch aus, während es in Julias Kopf brodelt. »Nie hört der innere Monolog auf«, hat ihr Mann Art – ist er eigentlich noch ihr Mann? – mal zu ihr gesagt, ein Satz, den sie sich aus irgendeinem Grund all die Jahre lang gemerkt hat.

Es ist kalt draußen, die Luft ist trockeneiskalt, auf den Straßen ist es still. Portisheads Nachtleben hat sich noch nicht von der Pandemie erholt, oder vielleicht hat sich auch niemandes Nachtleben davon erholt. Die verwaiste Straße vor ihnen ist bereift, der Bürgersteig unter ihren Füßen ist glatt.

»Ich glaube, das wird ’ne große Sache«, bemerkt Jonathan. »Wir brauchen jede Menge Ressourcen. Sie war unheimlich viel auf Social Media unterwegs, hat seit über einem Jahr täglich gepostet. Und nicht mal der Hauch eines Grundes für ihr Verschwinden.«

»Was für ein Mensch ist sie?«, fragt Julia ihn.

»Hm«, macht er, und Julia wartet. Jonathan ist gut darin, Charaktere zu beurteilen. »Dogmatisch. Links. Irgendwie … lebhaft, ihre Bildunterschriften sind alle wirklich … wortgewaltig.«

Julia nickt. Olivia gefällt ihr jetzt schon.

Die Gasse ist nicht zu übersehen, sie ist mit Polizeiabsperrband abgeriegelt und wird von zwei Polizisten bewacht. Alles gilt als Tatort, bis der Gegenbeweis erbracht ist, aber Julia staunt, dass sie zwei Mann bekommen konnten: Die Polizei von Portishead ist unterbesetzt, unterfinanziert wie alle anderen und schlecht ausgerüstet. Für jeden großen Fall muss ein Team von Leuten aus Bristol, Avon und Somerset zusammengeschustert werden.

Sie bleibt stehen und schaut in die Gasse. Die Polizisten nehmen sie mit hochgezogenen Brauen zur Kenntnis, mehr aber auch nicht. Ihr plötzliches Auftauchen hier wird sie nicht wundern. Niemanden von der Polizei wird das wundern, und auch nicht, dass Jonathan mitgekommen ist. Julia sucht sich anscheinend sehr genau aus, mit wem sie zusammenarbeitet, aber sollte das nicht eigentlich jeder tun?

Zur Linken ist ein Friseursalon. Altes Mauerwerk, fleckig von den Wasserschäden der Jahrzehnte. Rechts ist ein Pub, roter Backstein, recht neu, aber trotzdem wahrscheinlich vierzig Jahre alt. Und in der Mitte die Gasse.

Eine totale Sackgasse. Das hintere Ende bis zum vierten oder fünften Stock hinauf zugemauert. Julia tritt zurück und geht langsam einen großen Halbkreis um die Einmündung der Gasse. »Aus den Wohnungen kommt man nicht in die Gasse«, meint Jonathan, während sie im Gleichschritt dahingehen. Es überrascht Julia nicht, dass er genau diesen Halbkreis auch abgeschritten hat. Manche Menschen wollen wissen, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und manche Menschen nicht. Zum Glück gehört Jonathan zur ersten Kategorie.

Er zeigt auf den neu gebauten Wohnblock. Er ist auf der einen Seite an den Friseursalon angebaut, auf der anderen an den Pub und schließt die Gasse u-förmig ab. »Es besteht wohl keine Chance, dass das Ding ganz neu ist?«, fragt sie.

»Wie, erst gestern fertig geworden?«, fragt Jonathan mit einem Auflachen zurück.

»Genau.«

Er braucht ihre rhetorische Frage nicht zu beantworten, und deswegen tut er es auch nicht. Sie gehen zurück zum Eingang der Gasse. Julias Handy meldet sich mit einer SMS ihres Bruders. Offenherzig, immer witzig, ein ewiges Kind; Julia kann es nicht fassen, dass er Anwalt ist. Vor ein paar Jahren hat er als Strafverteidiger aufgehört und sich auf Zivilrecht verlegt, zum Glück, bevor sie je vor Gericht aufeinandergetroffen sind. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie gut ich drauf bin – schaue mir gerade California High School an, und entwerfe dabei eine Klageschrift«, hat er geschrieben. Julia lächelt und steckt das Handy ein.

Dann zieht sie Schutzkleidung an. Streng nach Vorschrift, streng nach Vorschrift, streng nach Vorschrift. Das ist auch eines ihrer Mantras. Nie wird jemand, der schuldig ist, aufgrund eines Fehler von Julia ungestraft davonkommen. Und ebenso wenig wird jemand Unschuldiges deshalb verurteilt werden.

Sie duckt sich unter dem Absperrband hindurch, tritt in die Gasse und fährt mit einer behandschuhten Hand über die Mauer am hinteren Ende, über die Stelle, wo die beiden Gebäudeflügel aufeinandertreffen. Ein nahtloser Übergang. Kein einziger Weg führt dort hinein. Das erste Wohnungsfenster befindet sich in fast sechs Metern Höhe. Julia blickt sich um, und ihr Verstand dreht auf Hochtouren.

Es ist nichts zu sehen. Keine Spuren, wo eine Leiter gestanden hätte. Keine Kanaldeckel. Keine Gullys. Nichts. Olivia hatte nichts dabei. Laut Jonathan ist kein Fahrzeug in die Gasse hineingefahren oder herausgekommen.

Die einzigen Gegenstände in der Gasse sind zwei blaue Müllcontainer. Julia muss an einen Fall aus den Nachrichten denken, vor Jahren, bei dem die schottische Polizei solche Dinger bei einer Fahndung, die dieser nicht unähnlich war, nicht überprüft hatte, mit katastrophalen Folgen. Sie beherbergten nämlich einen besinnungslos betrunkenen jungen Mann, der zu einer Müllkippe gekarrt und zwei Tage zu spät gefunden wurde.

»Sind die Container geleert worden?«, ruft sie den Polizisten zu.

»Hier ist keiner rein- oder rausgelassen worden, seit wir die Aufnahmen gefunden haben«, antwortet Ed, einer der beiden. Er ist jung, gerade mal zwanzig, ein Fitnesscenter-Freak. Trinkt Tee mit Eiweißpulver drin, was Julia unfassbar süß findet.

»Gut. Weiter so«, sagt sie. »Niemand kommt hier rein oder raus.«

»Aber hallo«, erwidert er und lässt einen Muskel spielen.

»Und ihr macht auch nicht an den Container rum«, fügt sie hinzu. »Nicht mal als Kraftbank.«

Ed prustet.

Mit einer vom Handschuh geschützten Hand zieht sie an einem der Container. Er rollt ganz leicht. Sie klappt beide Deckel auf, starrt hinein. Nichts: Der eine ist makellos sauber, sieht aus, als wäre er noch nie benutzt worden, riecht nicht nach Putzmitteln. In dem anderen liegt eine einsame Bierdose, doch der Fleck, der da herausgetropft ist, ist uralt, eine dunkelbraune Schmiere.

Im Geist setzt sie eine genaue Durchsuchung und forensische Analysen der Müllcontainer auf ihre Liste. Diese Fähigkeit ist jetzt etwas Lebendiges, Atmendes. Wie die Aufgaben die Prioritätenliste hinaufflitzen, ein mystisches, aber doch methodisches Auswahlverfahren. Alles Größere steigt automatisch an die Oberfläche, die kleineren Körner sinken zu Boden. Die Liste ordnet sich über Nacht neu, unter der Dusche, wenn sie eigentlich ihrem Mann zuhören sollte. Meistens liegt sie richtig. Aber nicht oft genug.

Sie lässt den Blick über den Boden wandern. Alte Kaugummis. Ein bisschen Kies. Sonst nichts. Sie hält Ausschau nach Blut. Nach einer Waffe. Nach Anzeichen eines Kampfes. Doch hier ist nichts.

»Na schön«, sagt sie laut zu sich und schaut sich noch einmal um, bevor sie geht. Ihr ist kalt. Es gibt so viel zu tun, und nichts davon kann hier getan werden.

Bestimmt hat Jonathan sie gehört, denn er erscheint am Eingang der Gasse und sagt: »Extrem merkwürdig, nicht wahr?«

»Total«, pflichtet Julia ihm verwirrt bei. »Mir fällt nicht eine einzige plausible Erklärung ein.«

»Seil aus dem Fenster?«, schlägt er vor, und genau deshalb arbeitet Julia gern mit Jonathan.

Sie streckt den Kopf noch einmal in die Gasse und betrachtet die Mauern, sucht nach Scharrspuren, nach winzigen Löchern, nach irgendetwas. Doch da sind nur saubere Ziegelsteine und Mörtel. Sonst nichts.

»Ich brauche jedes Fitzelchen Überwachungsvideo von dieser Gasse«, sagt sie.

»Ja«, antwortet er bedächtig. »Ich schicke es Ihnen. Aber ich hab’s mir angesehen. Ich verspreche Ihnen, sie kommt nicht wieder raus.«

Es ist nach elf, und Julia verlässt das Revier mit brennenden Augen, die sich vier Videos auf einmal am Bildschirm angesehen haben, und dann noch einmal vier. Sie hat jede einzelne Kamera überprüft, und jede einzelne Minute. Und dabei kaum geblinzelt, während sie Jonathans Arbeit noch einmal gemacht hat.

Es kann nicht wahr sein, aber es ist wahr: Olivia geht in die Gasse und kommt nicht wieder heraus. Niemand sonst geht hinein. Die Container kommen nicht heraus und werden nicht hineingebracht. Um zwei Uhr morgens schlüpft ein Fuchs hinein und wieder heraus. Und das ist alles. Keine Autos, keine Menschen. Nichts. Sie hat im Pub angerufen und abgeklärt, dass die Müllcontainer nicht benutzt werden. Morgen früh wird sie bei dem Friseursalon nachfragen. »Warum stehen die dann da?«, hat Julia gefragt, und der Wirt des Pubs konnte ihr keine zufriedenstellende Antwort geben. Diese Müllcontainer stehen auf Julias Liste, irgendwo in der Mitte, und nerven sie wie ein paar lästige Fliegen im Sommer. Denk nach, beschwört sie sich selbst. Denk ruhig auch mal um die Ecke.

Jetzt geht sie zu ihrem uralten Auto, das fast einen Kilometer entfernt geparkt ist, obwohl ein Parkplatz am Revier für sie reserviert ist. Kriminelle aus der Gegend haben gefilmt, welche Wagen da hinein- und herausfahren und die Clips auf YouTube hochgeladen, Gott allein weiß, wieso, aber Julia hat nicht die Absicht, in einem davon mitzuspielen.

Sie reibt sich die Stirn. Jetzt kommt es ihr vor, als sei es hundert Jahre her, dass sie das Restaurant verlassen hat. Vielleicht hatte Art ja recht, was ihre Work-Life-Balance angeht. Ein Pedant, ein Typ, der auf der Toilette literarische Romane liest – Art hat in der Tat oft recht, aber das heißt nicht, dass das nicht schmerzt.

Aus schlechtem Gewissen checkt Julia Genevieves »LastSeen«-App. Vor zwei Minuten. Sie schickt ihr eine SMS: »Noch wach?«

Genevieve ruft sofort an, genau wie Julia es wollte. »Immer«, sagt sie.

»Ich auch«, antwortet Julia lächelnd. Wahnsinn, dass Genevieve, ihr Kleinkind, das früher gern mit Sonnenbrille posiert und eine launische Miene zur Schau getragen hat, jetzt eine Erwachsene ist, die sie spätabends anrufen kann, um ein bisschen zu quatschen. Eine Insomnikerin wie sie. Julia schließt die Augen. Sie bereut nicht, was sie für sie getan hat.

»Was machen die Verbrecher?«, fragt Genevieve wie so oft. »Ich hab das Kennzeichen. Willst du’s noch?«

»Du bist der Hammer«, antwortete Julia und notiert sich die Autonummer, wohl wissend, dass sie sie wahrscheinlich nicht überprüfen wird. »Die Vermisste ist übrigens nicht viel älter als du«, fügt sie hinzu.

»Dann war’s das wohl erst mal mit Nando’s?«, will Genevieve wissen, und Julia denkt über die Frage nach. Bei ihrer Tochter ist es so, dass sie nicht sagt, wie sie sich fühlt. Man muss danach schürfen, es zutage fördern, aufgrund von Bemerkungen, die sie macht, eigene Theorien entwickeln. In letzter Zeit sogar noch mehr.

»Tut mir leid, aber – ja, so ist es«, sagt sie. Und während die Stimme ihrer Tochter durch die Leitung bis zu ihr tönt, denkt sie: Es ist okay. Sie ist okay. »Hast du mir mein Essen einpacken lassen?«

»Wir haben alles aufgegessen«, verkündet Genevieve ohne jede Verlegenheit. »Ich büffele wie irre«, fügt sie hinzu. Unter ihrer Scharfzüngigkeit ist Genevieve eine wahre Konformistin, sie strengt sich gern an, passt sich gern ins System ein. Und darunter – wer weiß?

Julias Atem lässt beim Gehen Federwolken in die kalte Aprilluft aufsteigen. Sie nimmt eine Abkürzung durch einen Park; das eiserne Tor singt hinter ihr, der Himmel ist ein brombeerdunkles Jenseits. Niemand ist hier, nur sie, nur sie beide.

Letzte Weihnachten hat Art es ihr gestanden. Sie hätte es kommen sehen müssen. Den ganzen Sommer und den ganzen Herbst hat sie ihn kaum zu Gesicht bekommen.

Es war so ein Morgen mit Milchglaslicht. Das Wetter mild, regnerisch, ab und zu sonnig. Auf ihrer Straße war es vollkommen still. Die Luft erfüllt vom Summen der Nostalgie, von Dingen, die man nur einmal im Jahr tut: einen Truthahn braten, staubigen Weihnachtsschmuck hervorholen, den sie schon seit zwanzig Jahren hatten. Genevieve packte Geschenke aus, Julia putzte auf dem Sofa Rosenkohlköpfchen und warf sie in ein Sieb, obgleich es zehn Uhr morgens war. Sie weiß noch, wie Genevieve »Nicht Mariah Carey, nein«, zu Alexa sagte, unmittelbar, bevor Art aufstand und in die Küche ging. Das tat er so schnell, so ohne irgendwelche Umstände mitten im Geschenkeauspacken, dass Julia ihm verblüfft folgte.

Er sah sie an, als sie hereinkam. »Ich habe mit jemandem geschlafen«, sagte er. »Mit jemand anders«, fügte er dann hinzu, denn selbst beim Verletzen ist er pedantisch in Sachen Grammatik. Fünf Worte. Acht. Die schlimmsten Worte ihres Lebens. Seine Fingerspitzen auf der Arbeitsplatte waren weiß, weil er sich darauf stützte.

Sie hatte getan, was ihr ehemaliges – und ihr zukünftiges – Ich ihrer Ansicht nach gewollt hätte, obwohl es ihr vorgekommen war, als sei sie in einem alternativen Universum, ohne Hirn oder irgendwelche Emotionen. Sie hatte ihn gebeten, nicht mehr mit ihr zu sprechen. Und das hatten sie seither auch wirklich nicht mehr getan. Sie befinden sich in einem Hinterland der Ehe. Julia hat ihn nicht aufgefordert auszuziehen. Sie ist mitten in der Bewegung erstarrt. Sie schlafen auf beiden Seiten einer dünnen Wand, getrennte Schlafzimmer, obgleich jeder den anderen hören kann.

Genevieve kapierte es nach einer Woche. »Also, irgendwas ist doch los«, stellte sie fest, typisch Teenager. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als es ihr zu erklären, und Genevieve wandte sich an Julia und fragte: »Kann man denn nicht mal einen Fehler machen?«, und großer Gott, Teenager können ja bissig sein, aber darauf war Julia nicht gefasst gewesen. Am liebsten hätte sie eine kugelsichere Weste angezogen. Natürlich ging es eindeutig um Genevieves eigenen Fehler früher in diesem Jahr, und Julia wollte das ganze vergangene Jahr plötzlich gegen irgendetwas Besseres eintauschen.

»Wo bist du?«, fragt Genevieve jetzt. »Fast schon zu Hause? Ich kann heiße Schokolade machen …«

»Bin fast am Auto«, antwortet sie.

»Ist es schlimm?«, fragt Genevieve. »Der Vermisstenfall?«

»Sehr.«

»Ah – inwiefern denn?«

»Sie ist in einer Gasse verschwunden – nur ist das eine Sackgasse. Kein Weg raus. Erklär mir das mal«, sagt Julia und ruft sich innerlich selbst zur Ordnung, weil sie ihrer Tochter zu viel erzählt, die sich bereits viel zu sehr für den Fall interessiert. Doch sie kann nicht anders.

»Wow«, meint Genevieve. »Das ist ja so was von abgedreht. Für diesen Fall brauchst du die TikTok-Detectives.«

Unwillkürlich muss Julia lachen. »Das könnte tatsächlich sein.«

»Wie sagt man noch mal? Eine Leiche kann man nicht verstecken, aber man kann eine Leiche in hundert Stücken verstecken.«

»Du liebe Güte, Genevieve!« Früher fand Genevieve Julias Beruf anscheinend banal und frustrierend zugleich; sie hatte den Eindruck, dass Julia ihre Tage damit verbrachte, Familienessen sausen zu lassen, um Kleinkriminelle zu verhaften. Und jetzt schau sich einer das an. Sie macht Vorschläge zur Entsorgung von Leichen. Der Gedanke beunruhigt Julia.

»Okay – bin in zehn Minuten zu Hause. Hab dich lieb.« Sie beendet das Gespräch. Dabei dauert die Fahrt nach Hause nicht mal zehn Minuten, die Fahrt zu ihrem neuen Zuhause. Nach der Geschichte mit Art sind sie umgezogen, obgleich es ihr falsch vorkam, sich gemeinsam zu entwurzeln, noch immer als Familie, während sie und Art weiter in getrennten Zimmern schliefen und grübelten (was das betraf, kann Julia nur für sich selbst sprechen). Doch sie hatte ein Haus gesehen, nach dem sie schon seit Jahren gesucht hatten. Und Art kam mit, weil beiden damals keine bessere Entscheidung einfallen wollte.

Dafür haben sie jetzt etwas ungeheuer Begehrenswertes: eine neue Doppelhaushälfte, von der aus man einen Blick auf den Sugar Loaf Beach von Portishead hat. Während der Winterstürme prasselt der Sand gegen die Fensterscheiben und wird in die Ritzen geweht. Julia findet ihn überall. Es ist unfassbar schön.

Sie kommt aus dem Park heraus. Er ist von einem eisernen Zaun umgeben, dessen Stäbe wie Berggipfel in der dunklen Luft verschwimmen, im Nebel; die scharfen Spitzen sind fast vollkommen unsichtbar.

Schritte.

Julia reagiert nicht, hat sich antrainiert, nicht zu reagieren. Sie ruft sich die Macht der Polizei ins Gedächtnis. Die Macht, festzunehmen, einen Dienstausweis zu zücken. Julia sollte sich unangreifbar fühlen.

Mit gleichmäßigen Schritten geht sie weiter, lässt ihr Handy aufleuchten. Wenn die sie ausrauben wollen, sollen sie. Mach das Ziel hell und offensichtlich.

Sie schaut beiläufig über die Schulter. Es ist ein Mann in einem Kapuzenpullover. Eigentlich ein Junge, sechzehn, siebzehn, vielleicht. Hoffentlich hat sie ihn noch nie verhaftet.

Alles an seiner Körpersprache verkündet, dass er ein Problem mit der Welt hat. Die Arme kreuzen beim Gehen vor und hinter seinem Körper. Die Kapuze ins Gesicht gezogen, langsamer Gang, als hätte er alle Zeit der Welt. Julia ist schon vielen Männern wie ihm begegnet. Sie hat sie festgenommen, Informationen aus ihnen herausgequetscht. Hat auch Opfer-Aussagen von ihnen zu Protokoll genommen. Ist ihren Eltern begegnet, ihren Kindern. Er könnte ohne Weiteres ein Feind sein.

Rasch biegt sie nach links ab, nur um zu sehen, was er tut. Er lächelt schwach, dann geht er weiter, an ihr vorbei. Julia sieht ihm nach. Er schaut sich um, nur ein einziges Mal. Sie hofft, dass er ein Zuhause hat, und jemanden, dem er wichtig ist.

Dann greift sie nach ihrem Autoschlüssel und entriegelt den Wagen erst, als sie so nahe bei ihm ist, wie es nur geht. Sie stößt einen Seufzer aus, als sie einsteigt. Im Auto riecht es nach Genevieves McDonald’s-Fraß.

Der Stoff der Sitze ist kalt unter Julias Haut. Sie lässt es zu, dass ihr Herzschlag langsamer wird, und denkt an Olivia und daran, wo sie sein könnte. Diese unverwechselbar weibliche Angst, die sie empfunden haben muss, die SMS an ihre Mitbewohner. Würde Julia das schreiben, wenn sie ernsthafte Schwierigkeiten hätte?

Sie lässt den Motor an, macht das Licht an und dreht die Heizung hoch. Ihr Handy vibriert im Getränkehalter, doch sie ignoriert es. Sie weiß, es wird Genevieve sein, mit irgendwelchen Vorschlägen oder Ideen.

Sobald das Handy verstummt, spürt sie es. Eine Anwesenheit. Oder vielmehr, das Fehlen von Abwesenheit. Das Gefühl, dass sie nicht allein ist.

Sie sagt sich, dass sie doch immer so drauf ist, wenn sie Vermisstenfälle bearbeitet. Das kommt daher, redet sie sich ein, dass eine junge, attraktive Frau verschwunden ist, dass es spät ist, und ungewöhnlich kalt für diese Jahreszeit. Dass Art gleichzeitig zu Hause ist und auf sie wartet, und auch wieder nicht.

Doch dann kribbelt etwas in ihrem Nacken, das mehr ist als nur Beklommenheit: Stattdessen feuert irgendein Teil ihres Gehirns aus der Tiefe ihres limbischen Systems eine warnende Leuchtrakete in die Nacht. Da ist jemand im Auto. Sie zählt bis drei und sieht dann in den Rückspiegel.

Hinten im Wagen sitzt ein Mann mit einer Skimaske. Er sagt nur drei Worte: »Fahren Sie los.«

2. Kapitel

Lewis

Ich weiß es noch nicht, aber gleich kommt der Anruf, dass du vermisst wirst.

Ich sitze allein im Hinterzimmer und arbeite, bin ziemlich gelangweilt und nehme daher sehr ernsthaft einen Oscar für meine Rolle in einem Film entgegen, über dessen Titel ich mir noch nicht schlüssig bin. Damit werde ich die Dreiviertelstunde bis zu meinem Morgenkaffee herumbringen. »Die Person, der ich am meisten danken möchte«, sage ich, während ich verlängerte Reisepässe in die dafür vorgesehenen Umschläge schiebe und sie zuklebe, »ist mein früheres Ich.« Hm. Würde selbst Hollywood finden, dass das vielleicht einen Schritt zu weit geht?

Du hast das immer urkomisch gefunden, hast manchmal auch mitgemacht, wenn du mich gehört hast. Während ich immer weiter über das unglaubliche Spezialeffekte-Team plappere, das das alles eigentlich erst möglich gemacht hat, denke ich plötzlich daran, wie verhasst es dir war, hier mit mir im Passamt zu arbeiten. Aber ich fand es toll, dass wir zusammen waren, du warst der abgeklärte Arbeitsspielgefährte, den ich gesucht hatte. Du – einundzwanzig und gerade mit dem Studium fertig, auf der Suche nach etwas Besserem – konntest es nicht fassen, dass dein Vater so seine Tage verbrachte. Ich weiß noch, wie du mich angeschaut hast, das blonde Haar verwuschelt, einen Donut auf dem Weg zum Mund, und gesagt hast: »Das hier ist das Highlight meines Tages, und dabei ist es noch nicht mal ein guter Scheißdonut.«

Wir sind zusammen nach Hause gegangen und haben Mum mit dem Gerede über unsere dysfunktionalen Kollegen und ihre kleinkarierten Marotten gelangweilt: Namensschilder auf ihre Tacker kleben und all so was. Einen ganzen Schub Pässe haben wir so schlimm versaut, dass wir das nicht beichten konnten; wir haben sie mit nach Hause genommen, sie unter dem Gästebett versteckt und beide ein paar Wochen lang in Angst gelebt, dass es jemand herausfindet.

Ich beende meine Oscar-Rede, als ich mit den Umschlägen fertig bin. Vor dem Kaffee muss ich noch ein paar Anträge auf einen neuen Reisepass prüfen. Das neue Foto mit dem bereits existierenden Pass abgleichen. Neues Foto. Existierender Pass. Noch mal fünfundzwanzig Minuten, bis ich Wasser aufsetzen kann …