Golden Bay − How it feels - Bianca Iosivoni - E-Book
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Golden Bay − How it feels E-Book

Bianca Iosivoni

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Beschreibung

Die schicksalhafte Second-Chance-Romance der Bestsellerautorin – Teil 1 aus Embers Sicht

Süße Erinnerungen. Heiße Tränen. In einer einzigen Nacht hat sie alles verloren …


Zwei Dinge hat Ember sich geschworen: sich nie mehr zu verlieben und nie wieder an das zu denken, was vor fünf Jahren geschehen ist. Doch als sie in ihre Heimat, auf die kanadische Insel Golden Bay, zurückkehrt, wird sie von Erinnerungen überfallen: an Strandtage und Sternschnuppennächte mit Holden – dem Mann, der ihr das Herz gebrochen hat.

Als sie ihm auf einer Hochzeit wiederbegegnet, sind die tiefen Gefühle plötzlich wieder da – aber auch die Wut und die Enttäuschung. Auf keinen Fall will sie noch einmal so verletzt werden wie in jener Nacht, als sie mit Holden weglaufen wollte und ihre ganze Welt zusammenbrach. Doch mit den alten Gefühlen flammt eine neue, gefährlich intensive Anziehung zwischen ihnen auf. Eine Anziehung, der Ember unter keinen Umständen nachgeben darf, wenn sie nicht erneut alles verlieren will …

Romantik & Spice von der Bestsellerautorin – nach ihrem Nr.1-Hit »SORRY« lockt Bianca Iosivoni ihre Leser*innen mit einer umwerfenden Liebesgeschichte und Endless-Summer-Vibes auf eine traumhafte Insel vor der Küste Kanadas:

1. Golden Bay. How it feels
2. Golden Bay. How it hurts
3. Golden Bay. How it ends

Die Geschichte von Ember und Holden ist perfekt für dich, wenn du diese Tropes liebst:

• Enemies to Lovers
• Broken Hero
• Found Family
• Dark Past

Entdecke auch den wunderschönen und exklusiven Merch zur Reihe – überall im Handel und online erhältlich!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 508

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Bianca Iosivoni ist eine der beliebtesten und erfolgreicohsten New-Adult-Autorinnen Deutschlands. Ihr Roman SORRY. Ich habe es nur für dich getan, ein unwiderstehlicher Mix aus Romantik und Thrill, sprang sofort auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste und hielt sich, angefeuert von seinen begeisterten Fans, wochenlang in den Top 10. Auch mit ihren Romantasy-Bestsellern macht Bianca Iosivoni seit Jahren unzählige Leser*innen süchtig. Die Canadian-Dreams-Reihe ist eine New-Adult-Trilogie voller Gefühle, Spice und Leidenschaft, die die Sehnsucht nach einem Sommerurlaub auf einer kanadischen Insel wie Golden Bay weckt.

Außerdem von Bianca Iosivoni lieferbar:

SORRY. Ich habe es nur für dich getan

www.penguin-verlag.de

Bianca Iosivoni

Golden

Bay

Roman

Band 1

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur.

Redaktion: Melike Karamustafa

Karte: Thilo Corzilius

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildungen: www.shutterstock.com/Konstanttin; www.shutterstock.com/surachet khamsuk; www.shutterstock.com/oksanka007; www.shutterstock.com/merrymuuu

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-30780-6V003

www.penguin-verlag.de

Soundtrack

Imagine Dragons – Wrecked

Taylor Swift, Bon Iver – exile

Rachel Platten – Loose Ends

Ed Sheeran – Perfect

Grace Davies – roots

Flo Rida, Wyclef Jean – Rewind

Sia – Elastic Heart

Taylor Swift, Phoebe Bridgers – Nothing New (Taylor’s Version)

Tate McRae – you broke me first

Two Feet – Twisted

Zayde Wølf – The Boys of Summer

Macklemore, Kesha – Good Old Days

Taylor Swift – Wildest Dreams (Taylor’s Version)

Stileto, Kendyle Paige – Cravin’

Kelly Clarkson – War Paint

Olivia Rodrigo – drivers license

KERRIA – Stay

WILD – Nothing That I Wouldn’t Do

Forest Blakk – Fall Into Me

Jessie Ware – Hearts (Acoustic)

Lewis Capaldi – Before You Go

Kiesa Keller – Only Love Can Hurt Like This

Taylor Swift, Gary Lightbody – The Last Time (Taylor’s Version)

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet sich hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.

Bianca Iosivoni und der Penguin Verlag

Für alle,

die sich ein bisschen verloren fühlen.

Willkommen in Golden Bay.

Fünf Jahre zuvor

06. August

Ember, 22:01 Uhr

Wir ziehen das wirklich durch, oder?

Holden, 22:02 Uhr

Wir ziehen es durch. Bereit?

Ember, 22:26 Uhr

Bereit! Dad ist vorhin weggefahren, und Mom hat sich hingelegt. Ich warte noch ein paar Minuten, dann schleiche ich mich raus. Bis gleich! : *

Holden, 22:34 Uhr

Hab noch schnell was erledigt. Bin gleich da!

Ember, 23:07 Uhr

Ich bin am Nationalpark. Wo bleibst du?

23 : 15 Uhr

Ich warte auf dich. Wann kommst du? Gib mir kurz Bescheid

23 : 17 Uhr

Holden? Was ist los? Langsam mache ich mir Sorgen …

23 : 21 Uhr

Wo bist du? Wir verpassen noch die letzte Fähre

23 : 33 Uhr

Ich warte seit über einer halben Stunde, bilde mir eine Million Geräusche im Wald ein und male mir lauter Horrorszenarien aus … Wo steckst du??

23 : 37 Uhr

Geht‘s dir gut? Ist etwas passiert?

23 : 42 Uhr

Ernsthaft?! Jetzt ignorierst du nicht nur meine Nachrichten, sondern drückst auch meine Anrufe weg? Was ist los?

23 : 55 Uhr

Wenn du mit mir Schluss machen willst, hättest du mir das auch ins Gesicht sagen können. Aber dich mitten in der Nacht mit mir zu verabreden und dann einfach nicht aufzutauchen und nicht mehr zu reagieren? Was soll das?!

00 : 01 Uhr

Nichts? Bin ich dir nicht mal eine verdammte Antwort wert? Ich sehe doch, dass du alles liest!

00 : 03 Uhr

Wir wollten das zusammen durchziehen!

00 : 03 Uhr

Wir wollten zusammen abhauen

00 : 04 Uhr

Warum bist du nicht hier? Warum antwortest du nicht?

00 : 05 Uhr

Was ist passiert? Wo bist du??

Ember, 01:57 Uhr

Holden

01 : 57 Uhr

Ich brauche dich

01 : 58 Uhr

Du musst mir helfen

02 : 01 Uhr

bitte

02 : 01 Uhr

ruf mich zurück

02 : 02 Uhr

wenn du mich wirklich geliebt hast und die letzten Jahre nicht bloß eine Lüge waren, dann antworte mir

02 : 02 Uhr

irgendwas

bitte lass mich jetzt nicht im Stich

02 : 03 Uhr

bitte geh ran

02 : 04 Uhr

ich hab eine beschissene Angst und

Ember, 05:27 Uhr

Wie konntest du mir das antun?

1. Kapitel

»Sehr geehrte Passagiere, wir werden in wenigen Minuten anlegen. Bitte kehren Sie zu Ihren Autos zurück. Alle Fußgänger begeben sich bitte zu den ausgewiesenen Ausgängen.«

Der Wind peitscht mir Haarsträhnen ins Gesicht. Gischt benetzt meine Haut, und ich umklammere die Reling fester. Die Leute um mich herum setzen sich in Bewegung, aber obwohl die Zeit drängt, kann ich mich nicht sofort von dem Anblick vor mir losreißen.

Die bunten Häuser der Hafenstadt säumen die Küste. Leuchtendes Rot, strahlendes Gelb, sanftes Hellblau. Selbst auf die Entfernung sind die Farben deutlich erkennbar, insbesondere, als ein paar Sonnenstrahlen zwischen den Wolken hervorbrechen.

Die Aufregung und Vorfreude in der Luft sind fast greifbar, aber ich kehre mit gemischten Gefühlen nach Golden Bay zurück. Nach Hause, obwohl es das schon seit einigen Jahren nicht mehr ist.

Ich hatte nicht vor, wieder herzukommen. Nicht heute. Nicht morgen. Am liebsten nie mehr.

Allerdings bleibt mir nichts anderes übrig, weil ich nirgendwo sonst hin kann.

Außerdem bin ich auf eine Hochzeit eingeladen und zu allem Überfluss auch noch eine der fünf Brautjungfern, also hatte ich gar keine andere Wahl, als meine letzten Sachen zu packen, in Montréal in den Bus zu steigen und die vierzehnstündige Fahrt nach Golden Bay auf mich zu nehmen. Die Staus und Verspätungen waren nicht eingeplant. Erst recht nicht, dass ich abends die letzte Fähre verpasse und die Nacht auf dem Festland verbringen muss – und das, wo ich ohnehin schon knapp bei Kasse bin.

All das ist auch der Grund dafür, dass ich an diesem Morgen nicht so entspannt und vorfreudig wie alle anderen nach der einstündigen Überfahrt von der Fähre herunterschlendere – sondern renne.

»Entschuldigung!«, rufe ich. »Sorry! Kann ich mal durch? Danke! Entschuldigung! Sorry!«

Mit einem viel zu schweren Rucksack und zwei Reisetaschen in den Händen schiebe und dränge ich mich an den Leuten vorbei. Sobald ich den Hafen hinter mir gelassen habe, sprinte ich die Promenade hinunter, vorbei an den farbenfrohen Häusern mit kleinen Shops, Restaurants und Cafés, bis ich das Hotel ganz am Ende erreiche.

»Guten Morgen! Ich gehöre zur Thorne-Hunting-Hochzeit«, informiere ich den Concierge am Empfang, bevor er auch nur daran denken kann, mich aufzuhalten.

Gleich habe ich es geschafft. Ich brauche nur noch – ah! Da sind die Fahrstühle.

Kurz bevor die Tür schließt, springe ich hinein und drücke den Knopf für die oberste Etage. Ich dachte immer, ich wäre ganz gut organisiert, aber die Timeline, die Gemma mir für ihren Hochzeitstag und die Vorbereitungen geschickt hat, toppt alles. Jeder hat einen detaillierten Plan erhalten, wer wann wo zu welchem Zweck sein soll. Und der zeigt mir, dass ich schon vor über einer halben Stunde in der Brautsuite hätte erscheinen müssen, um mit der Braut, den anderen Brautjungfern und der Trauzeugin für die Feier zurechtgemacht zu werden – was ich wirklich gut gebrauchen kann.

Mein Spiegelbild an der Fahrstuhlwand verzieht das Gesicht im selben Moment wie ich. Abgewetzte Jeans und zerknittertes lilafarbenes T-Shirt. Blass, Augenringe aus der Hölle, verschwitzt und mit frizzy Hair. Der Wind auf der Fähre hat meinen schulterlangen rotblonden Haaren eindeutig nicht gutgetan. Ich hätte es besser wissen müssen, aber ich habe es zu sehr genossen, am Bug zu stehen, wo die rauen Böen an mir zerrten.

Das unverkennbare Pling des Aufzugs reißt mich aus meinen Gedanken. Ich hebe die Reisetaschen auf und eile den Flur entlang, bis ich die richtige Tür gefunden habe.

Tief durchatmen. Einmal. Zweimal. Schließlich hebe ich die Hand und klopfe an.

»Gemma? Ich bin’s. Ember.«

Nichts. Doch dann höre ich schnelle Schritte. Eine Sekunde später wird die Tür aufgerissen.

»Hi! Tut mir leid, dass ich zu spä…«

Gemma fällt mir um den Hals, bevor ich den Satz zu Ende bringen kann. »Du bist wirklich hier!«

»Natürlich. Ich hab doch gesagt, dass ich es schaffe.«

Sonst hätte ich meine Rolle als Brautjungfer direkt wieder abgegeben und nicht wochenlang an Online-Tanzstunden für die Afterparty teilgenommen.

»Ich freu mich so, dich zu sehen, Ember.« Gemmas Augen schwimmen in Tränen, die sie hastig mit den Fingerspitzen wegwischt. Ihre Lippen zittern, ihr Lächeln bebt, und dann … wandern ihre Mundwinkel nach unten. »Auch wenn es vielleicht gar keine Hochzeit geben wird.«

Wie bitte? Was?

Sie reißt sich los und beginnt in der Suite auf- und abzulaufen wie ein eingesperrter Tiger. Erst jetzt fällt mir auf, dass wir allein sind. Bis auf die halb zurechtgemachte, ziemlich aufgelöste Braut ist niemand da.

Niemand außer mir.

»Gemma?«, frage ich vorsichtig und stelle mein Gepäck neben der Tür ab, dann drücke ich sie zu. »Was ist los?«

»Ich habe alle weggeschickt, weil ich allein sein wollte. Weil mir alles zu viel geworden ist.« Ein Schluchzen kommt ihr über die Lippen. »Gott, ich hasse es, eine Drama Queen zu sein.«

»Du bist keine Drama Queen«, beschwichtige ich sie. »Das ist dein Hochzeitstag. Wenn es einen guten Zeitpunkt für deine Gefühle gibt, Achterbahn zu fahren, dann heute.«

Nicht, dass ich davon viel Ahnung hätte. Weder von Gefühlen noch von Hochzeiten. Aber ich hoffe trotzdem, dass meine Worte ihr helfen.

Doch Gemma tigert nur weiter durch die Suite. Auch wenn ich sie noch nie so erlebt habe, kenne ich sie lange genug, um zu wissen, dass sie jetzt keine Umarmung und auch keine tröstenden Worte hören will. Außerdem weiß ich nur zu gut, wie es sich anfühlt, wenn einen die ganze Welt zu erdrücken scheint.

In der Suite stehen lauter Taschen herum, von winzigen Handtaschen bis hin zu großen Reisesets. Bügel hängen am Wandschrank, an manchen davon noch die Kleider der Brautjungfern – einschließlich meines – , andere sind bereits leer. Auf dem Tisch sind jede Menge Schmink- und Friseurutensilien ausgebreitet: Puder, Make-up, Lidschatten, Haarbürsten, Lockenwickler in verschiedenen Formen und Größen. Auf dem Kingsize-Bett liegt das Brautkleid ausgebreitet. Ein wahr gewordener Prinzessinnentraum mit Herzausschnitt und weitem Rock aus Tüll und Spitze.

Ich gehe zum großen Fenster auf der gegenüberliegenden Seite und werfe einen Blick hinaus. Vor uns erstreckt sich der azurblaue Ozean bis zum Horizont, unter uns spazieren Touristen und Einheimische die Promenade entlang. Es ist gerade mal ein halbes Jahr her, dass ich zuletzt auf Golden Bay war, aber es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Vielleicht, weil ich zum ersten Mal, seit ich weggezogen bin, länger als nur ein paar Tage oder eine Woche hierbleiben werde. Vielleicht, weil ich im Gegensatz zu früher kein klares Ziel mehr vor Augen habe.

Hinter mir höre ich Gemma weiter auf- und ablaufen und drehe mich zu ihr um. »Im Zweifelsfall können wir immer noch aus dem Fenster klettern und abhauen.«

Sie gibt einen erstickten Laut von sich, halb Lachen, halb verzweifeltes Schnauben. Aber sie hält nicht inne, sondern läuft weiter hektisch im Bademantel herum, die manikürte Hand gegen die Brust gepresst, das Haar in Lockenwicklern.

»Ernsthaft«, versuche ich es erneut. Der Fenstersims ist aus Stein, breit und stabil gebaut. Direkt daneben führt ein dickes Rohr nach unten. »Wir können runterklettern und die nächste Fähre zum Festland nehmen.«

»Wir sind im vierten Stock«, stellt Gemma nüchtern fest und bleibt stehen. Immerhin. In den letzten Minuten ist sie so hektisch herumgelaufen, dass ich angefangen habe, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Um Gemma, aber auch um den teuren Teppichboden. Jetzt wirkt sie weniger panisch und vielmehr irritiert. Ganz so, als hätte mein Einwurf ihr Gedankenkarussell unterbrochen.

»Das ist das Risiko wert, meinst du nicht?«

Sie schüttelt entschieden den Kopf. »Ich will nicht vor meiner eigenen Hochzeit weglaufen. Ich liebe Peter! Das könnte ich ihm niemals antun.«

»Was ist dann los?«, hake ich behutsam nach und mache einen Schritt auf sie zu.

Gemma und ich standen uns mal nahe. Da ich keine Geschwister habe und sie fünf Jahre älter ist als ich, war sie stets eine Art große Schwester für mich. Sie hat auf mich aufgepasst, mir geholfen, mich manchmal auch genervt, aber war immer zur Stelle, wenn ich sie gebraucht habe. Zumindest früher. Vor dieser Sache. Seither hat sich unser Verhältnis auf zufällige Treffen im Supermarkt oder im Pub beschränkt, gespickt mit seltenen Kaffeedates, wenn ich ausnahmsweise mal zu Hause war.

Also ist es nicht weiter verwunderlich, dass ich überrascht war, als mich die Einladungskarte zu ihrer Hochzeit erreicht hat. Auf ihre Frage, ob ich eine ihrer Brautjungfern sein möchte, bin ich fast vom Stuhl gefallen. Aber ich sehe es als Zeichen, als kleinen Hoffnungsschimmer, dass wir unsere Freundschaft von früher wieder aufleben lassen können. Und jetzt gerade möchte ich ihr wirklich, wirklich helfen.

»Es ist … diese ganze Feier!«, platzt es aus ihr heraus. »Die Leute! Die Erwartungen! Mom dreht durch, weil etwas mit der Blumenlieferung schiefgegangen ist und sie extra hinfahren musste, um die Sträuße zu retten. Falls das überhaupt möglich ist … Das Catering hat die Nanaimo-Bars komplett vergessen, obwohl mein Verlobter diese Nuss-Waffel-Kokos-Dinger liebt, und zwei der Trauzeugen sind bereits betrunken. Wenn ich den Mittelgang entlanglaufe, wird mich jeder anstarren und denken, wie furchtbar alles organisiert ist und was für eine schreckliche Gastgeberin ich bin. Und mein einziger Bruder …« Sie wirft mir einen unsicheren Blick zu und lässt den Satz in der Luft hängen. »Was ich damit sagen will: Das wird die Enttäuschung des Jahrhunderts!«

Ich versuche bei der Erwähnung ihres Bruders nicht zusammenzuzucken. Wollte er kommen? Die Frage liegt mir auf der Zunge, aber ich muss mich förmlich dazu zwingen, sie nicht auszusprechen. Ich will es nicht wissen. Es spielt keine Rolle. Nicht für mich, nicht für ihn, für niemanden. Wir sind schon lange fertig miteinander.

Nach außen hin gelingt es mir, keine Regung zu zeigen, aber mein Magen zieht sich zusammen.

Entschieden ignoriere ich es. Heute geht es nicht um mich, sondern um Gemma. Und ihr zuliebe würde ich mir wünschen, dass Holden zur Hochzeit kommt. Solange ich ihm aus dem Weg gehen kann, ist alles gut. Falls er denn auftaucht. Soweit ich weiß, hat er in den letzten Jahren keinen Fuß auf diese Insel gesetzt. Weder zu den Geburtstagen seiner Mom und Schwester noch zu irgendwelchen Feiertagen oder Beerdigungen. Und auch auf Gemmas Verlobungsfeier hat er sich nicht blicken lassen. Warum sollte es heute anders sein?

So aufgelöst, wie Gemma wirkt, bezweifle ich, dass er herkommt. Ich bezweifle es sogar sehr. Und schäme mich ein kleines bisschen für die Erleichterung, die ich bei der Vorstellung empfinde …

»Niemand wird das denken.« Mit zwei Schritten bin ich bei ihr und nehme ihre Hände in meine, bevor sie an ihren Haarsträhnen herumzupfen kann und sämtliche Lockenwickler herausfallen. »Das Einzige, was alle denken werden, ist, was für eine wunderschöne Braut du bist und wie sehr sie sich für dich und Peter freuen. Nur das zählt. Wen interessieren schon die Blumen oder das Catering? Eure Familien und Freunde sind gekommen, um euch beide zu feiern. Es wird eine wunderschöne Party werden.«

Frische Tränen treten in Gemmas Augen, aber sie blinzelt sie hastig weg. »Wirklich?«

»Wirklich.«

»Danke, Ember.«

Ich drücke ihre Hände. »Kein Problem.«

Sie scheint etwas sagen zu wollen, etwas, das ich mit ziemlicher Sicherheit nicht hören will. Also komme ich ihr zuvor.

»Sollen wir die anderen wieder reinholen, damit es weitergehen kann?«

Auch wenn ich nicht die Trauzeugin bin, die alles organisiert und den Zeitplan fest im Griff hat, bin ich mir ziemlich sicher, dass wir spät dran sind. Andererseits wird die Trauung sicher nicht ohne die Braut anfangen.

Ein letztes Mal atmet Gemma tief durch, dann nickt sie entschieden. »Ja. Aber vorher möchte ich dir noch etwas sagen. Etwas, das ich schon lange mit mir herumtrage.«

Ich spanne mich instinktiv an.

»Auch wenn das mit Holden und dir nicht funktioniert hat, bin ich froh, dass du heute hier bist. Du warst wie eine kleine Schwester für mich – und wirst es immer bleiben. Ganz egal, was passiert.«

»Gemma …« Ich hasse es zu weinen und tue in der Regel alles, um es zu vermeiden, aber jetzt kommen mir dennoch die Tränen. Hastig versuche ich, sie wegzublinzeln.

Sie drückt meine Hände. »Schon gut. Du musst nichts sagen. Ich wollte das nur loswerden.«

Ich schlucke, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden. Vergeblich. Also nicke ich bloß und bringe ein heiseres »Danke« hervor.

Gemma lächelt und zieht ihr Handy aus der Tasche ihres Bademantels, vermutlich, um den anderen Bescheid zu geben.

Nur einen ganz kurzen Moment lang gestatte ich es mir, mir auszumalen, wie ich Gemmas Verlobung und Hochzeit erlebt hätte, wenn Holden damals nicht verschwunden wäre. Wenn wir die Insel gemeinsam verlassen hätten, wie wir es von Anfang an geplant hatten. Wir wären zusammen für Gemmas und Peters Hochzeit zurückgekehrt, hätten entweder in meinem alten Zimmer oder in seinem übernachtet – oder uns vielleicht sogar ein Hotel für ein bisschen Privatsphäre gegönnt. Wir wären auf die Verlobungsfeier und das Probedinner gegangen, hätten miteinander gelacht, getanzt und uns ständig anhören müssen, wann es denn bei uns so weit wäre. Und am Tag der Trauung wäre ich an Holdens Arm den Mittelgang entlanggeschritten statt neben einem Fremden.

Ich beiße die Zähne zusammen, als sich der vertraute Schmerz in meiner Brust meldet. Nichts davon wird jemals eintreffen. Holden hat diese Zukunft für uns beide zerstört.

Ich hasse es, dass diese Hochzeit schon jetzt so viele Erinnerungen und Gedanken ans Licht zerrt, die ich sorgfältig zusammengefaltet und weggepackt habe wie in einem gut organisierten Koffer. Doch nun droht dieser Koffer überzuquellen und aufzuplatzen.

Am liebsten würde ich Gemma nach ihrem Bruder fragen. Ich muss herausfinden, ob er auch da sein wird, damit ich mich seelisch und emotional darauf vorbereiten kann, aber die Frage kommt mir einfach nicht über die Lippen. Denn wenn ich sie ausspreche, muss ich mit der Antwort leben, egal, wie sie ausfällt. Und ich weiß nicht, ob ich das kann.

Ein Teil von mir hofft, nein befürchtet, ihn auf dieser Hochzeit wiederzusehen. Ein anderer Teil hofft, dass ich für den Rest meines Lebens nicht einmal mehr seinen Namen hören muss. Davon, ihm gegenüberzutreten, ganz zu schweigen.

Um mich abzulenken, fange ich an aufzuräumen, während Gemmas Freundinnen in die Suite zurückkommen und die Vorbereitungen weitergehen. Ihre Mom kann ich glücklicherweise nirgendwo entdecken, denn auch wenn Carol und ich vor Holdens Verschwinden ein gutes Verhältnis hatten, möchte ich ihr im Moment lieber aus dem Weg gehen.

Also sammle ich leere Gläser und Teller, Servietten und Besteck ein und stelle sie zurück auf den Servierwagen, bis ich an der Reihe bin, mich von Visagistin und Friseurin aufhübschen zu lassen. Um mich herum erklingen Lachen und fröhliche Gespräche, und Gemma wirkt deutlich gelassener als bei meiner Ankunft. Aber meine Anspannung bleibt.

Etwa zwei Stunden später kommt Gemmas beste Freundin und Trauzeugin Nicki bereits perfekt geschminkt und frisiert mit wehendem Rock und einem Tablet in der Hand herein. »Ich habe mich um alles gekümmert. Wir kriegen die Sträuße von einem anderen Blumengeschäft, die Nanaimo-Bars werden rechtzeitig zur Afterparty nachgeliefert, die beiden Trauzeugen sind wieder ausgenüchtert, und ich habe meinen Mann darauf angesetzt, Peters Großonkel vom Alkohol und von seiner Ex-Frau fernzuhalten, um jegliche Krisen zu vermeiden.«

Gemma lächelt erleichtert. »Du bist ein Schatz, Nicki.«

»Ich weiß.« Sie zwinkert ihrer besten Freundin zu. »Draußen ist alles vorbereitet, und die Limousinen sind gleich da, um uns zur Kirche zu bringen. Wie sieht es hier drinnen aus?«

»Fast fertig«, ruft jemand, allerdings macht niemand Anstalten aufzustehen.

»Worauf wartet ihr dann noch? Los, los, los!« Nicki klatscht in die Hände und scheucht alle auf. Für eine Yogalehrerin hat sie einen erstaunlich militärischen Tonfall drauf. »Raus mit euch! Celine, vergiss deine Handtasche nicht! Ashley, wie viel Sekt hattest du schon? Wehe, du kannst nachher die Tanzschritte nicht mehr. Und Michelle, wo ist dein Ohrring? Du kannst nicht nur mit einem da rausspazieren!« Sie schnauft hörbar. »Muss ich wirklich alles selber machen?«

Als ihr prüfender Blick an mir hängen bleibt, zieht sie stumm die perfekt gezupften Brauen in die Höhe.

Mist. Ich war eine der Letzten, die zurechtgemacht wurden, und muss mich noch umziehen.

»Geht ruhig vor«, höre ich mich sagen und eile zu dem Kleid, das einsam an seinem Bügel am Kleiderschrank hängt. »Ich bin in zwei Minuten unten.«

»Keine Sekunde länger«, droht Nicki und notiert sich etwas auf ihrem Tablet. »Oder ich schicke jemanden, um dich zu holen.«

Sobald alle draußen sind, ziehe ich Jeans und Top aus und lege sie zu meinen Sachen am Fenster. Dann steige ich in das petrolfarbene Kleid. Alle Brautjungfern tragen dieselbe Farbe, doch der Schnitt ist unterschiedlich und an unsere jeweiligen Figuren angepasst. Mein Kleid hat zwei hauchdünne Träger und ein hübsches Dekolleté. An der Taille ist es leicht gerafft, was meinen Bauch flacher aussehen lässt, als er in Wahrheit ist; von dort fällt es fließend bis eine Handbreit über meinen Knien herab. Ich habe mich sofort in das Kleid verliebt, als ich es bei meinem letzten Besuch an Weihnachten anprobiert habe. Dazu trage ich wie die anderen Brautjungfern schlichte beigefarbene Riemchensandalen mit hohen Absätzen, in die ich meine frisch pedikürten Füße schiebe.

Ich richte mich wieder auf, puste mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus meinem lockeren Knoten gelöst hat, und taste nach dem Reißverschluss. Wer auch immer entschieden hat, dass diese Dinger hinten angebracht sein müssen, hatte einen Hass auf die Menschheit. Bis zu meinem unteren Rücken kann ich ihn zuziehen, doch dann wird es knifflig.

»Komm schon«, murmle ich und fluche innerlich, als mir das kleine Metallteil aus den Fingern rutscht. Ich gehe zum Standspiegel hinüber und versuche, mich zu drehen, damit ich wenigstens sehen kann, was ich da tue. »Das kann doch nicht so schwer sein …«

Aber das blöde Ding will einfach nicht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob es klemmt oder physikalisch einfach nicht möglich ist, den Reißverschluss allein zuzuziehen. Nickis zwei Minuten sind längst vorbei, aber ich kann schlecht mit halb offenem Kleid aus dem Zimmer rennen.

Wie auf Kommando klopft es an der Tür.

»Gleich, Nicki!«, rufe ich. »Gib mir noch eine Minute!«

Ich ziehe und zerre, obwohl sich bereits ein Krampf in meinem rechten Arm ankündigt, komme aber kaum einen Zentimeter weiter. Das Kleid ist mir definitiv nicht zu eng geworden. Wenn überhaupt, habe ich durch meine ungeplante Toast-und-Fertignudeln-Diät in den letzten Monaten ein paar Kilo abgenommen, also liegt es nur an diesem verdammten Reißverschluss. Argh!

Die Tür wird geöffnet. Kurz darauf höre ich Schritte auf dem Teppich.

»Warte«, sagt eine tiefe, viel zu vertraute Stimme. »Lass mich helfen.«

Alles in mir erstarrt. Jeder Muskel, jede Nervenzelle, jeder Gedanke. Alles bis auf mein Herz, das auf einmal lospoltert und heftiger schlägt als jemals zuvor.

Er ist es.

Holden.

2. Kapitel

Im ersten Moment bin ich zu perplex, um zu reagieren. Zu perplex, um zu begreifen, was auf einmal passiert. Ich wage es nicht, mich zu rühren. Ich atme nicht mal, bis er hinter mich tritt und unsere Blicke sich im Spiegel treffen. Erst dann entweicht mir die angehaltene Luft in einem erstickten Laut.

Er ist hier. Er ist wirklich hier.

Holden Thorne gehört zu meinen schönsten und schlimmsten Erinnerungen auf der Insel. Und während ich ihn als achtzehnjährigen Jungen im Kopf hatte, steht jetzt ein erwachsener Mann hinter mir.

Er ist größer als in meiner Erinnerung, seine Schultern wirken breiter, die Arme im dunkelblauen Smoking trainierter. Dazu trägt er ein weißes Hemd, dessen oberste Knöpfe geöffnet sind, und weiße Sneakers. Das ganze Outfit betont seine intensiven blauen Augen nur noch. Sein dunkelbraunes Haar ist kürzer als früher, nur wenige Millimeter an den Seiten, während es oben lässig in Form gebracht ist, ganz so, als wäre er sich heute Morgen nur mit den Fingern durchgefahren und hätte sich dann auf den Weg ins Hotel gemacht. Der Dreitagebart spricht ebenfalls dafür.

Es ist eine Ewigkeit her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen und seine Stimme gehört habe. Und nun steht er einfach in diesem Hotelzimmer, als wäre nichts gewesen? Ich sollte gar nicht darauf reagieren, dennoch hämmert mein Herz, und mein Magen ist völlig verknotet. Vor Wut, Anspannung, Verzweiflung. Sehnsucht. Ich kann die Gefühle nicht länger auseinanderhalten. Ich weiß nur, dass sie jeden klaren Gedanken auslöschen wie eine riesige Welle, die alles mit sich reißt.

Ich hole scharf Luft, als ich seine großen Hände plötzlich auf meinem Körper spüre. Schlimm genug, dass Holden auf einmal so dicht hinter mir steht, aber dann berührt er mich auch noch. Und ich … ich lasse es zu. Ich halte ihn nicht auf, obwohl ich es könnte. Obwohl ich es sollte.

Seine warmen Finger streichen über meine Haut, während er den Reißverschluss langsam zuzieht. Sie sind rauer als früher. Was er mittlerweile wohl macht? Arbeitet er mit den Händen? Hat er einen ganz anderen Job?

Am liebsten würde ich die Augen schließen, um alles auszublenden und mich nur auf seine Berührung zu konzentrieren, aber ich kann nicht. Nicht nach allem, was passiert ist. Was er getan hat. Also starre ich in den Spiegel und halte unwillkürlich den Atem an, als er den Kopf hebt – und unsere Blicke sich erneut darin begegnen.

Ich schlucke hart. Öffne leicht die Lippen. Bilde ich mir das ein, oder ist da wirklich Hitze in seinen Augen?

Bevor ich sicher sein kann, senkt er den Kopf und konzentriert sich wieder auf seine Aufgabe.

Wenn er mir so nahe ist wie jetzt, kann ich gar nicht anders, als seinen Geruch wahrzunehmen. Er riecht anders als früher, wahrscheinlich weil er ein neues Duschgel oder Aftershave benutzt, doch etwas Vertrautes ist geblieben. Neben dem erdigen Duft, der mich an Zeder und Sandelholz erinnert, und der warmen, feurigen Note, ist da etwas, das ganz und gar Holden ist. Der Junge von damals. Der Mann von heute.

Er riecht viel zu gut, was seltsame Dinge mit mir anstellt – genau wie seine Nähe. Seine Berührung. Sein warmer Atem in meinem Nacken. Plötzlich wünsche ich mir, ich würde das Haar offen tragen, um das nicht spüren zu müssen, und gleichzeitig ist ein masochistischer Teil von mir froh darüber.

Es kostet mich sämtliche Selbstbeherrschung, ihm nicht zu zeigen, was er in mir auslöst, doch gegen die prickelnde Gänsehaut bin ich machtlos. Ebenso gegen die Hitze, die er tief in meinem Bauch entfacht.

Ich hole Luft, um etwas zu sagen, um ihn wegzuschicken, bringe aber keinen Ton hervor.

Warum reagiere ich so auf ihn? Nach allem, was er mir angetan hat, sollte ich ihn hassen. Und das tue ich auch. Aus tiefstem Herzen. Aber da ist auch ein Teil von mir, der sich nach seiner Nähe sehnt. Nach seiner Stimme in meinem Ohr. Seinen Händen auf meiner Haut. Seinen Lippen auf meinem Mund.

Und dafür … für diese Gefühle, für diese Reaktionen hasse ich ihn nur noch mehr.

Ich habe so sehr gehofft, dass er nicht herkommt. Dass ihm die Hochzeit seiner Schwester genauso egal ist wie alles andere. Wie ich. Und für den Fall, dass er doch da sein sollte, hatte ich mir fest vorgenommen, ihm aus dem Weg zu gehen. Stattdessen bin ich jetzt mit ihm allein.

Auf einmal wünschte ich, Nicki würde wieder hereinmarschieren, um mich rauszuscheuchen, doch die Tür bleibt geschlossen. Niemand klopft an. Niemand reißt sie einfach auf. Niemand stört uns.

In einer geradezu quälend langsamen Bewegung zieht Holden den Reißverschluss ganz zu. Aber anstatt seine Hände wegzunehmen, lässt er sie etwas zu lange auf meinen Oberarmen liegen.

Ich atme nicht mehr. Ich weiß nicht, wie. Ich kann nicht mal richtig denken. Das Einzige, was ich tun kann, ist, Holden durch den Spiegel hindurch anzustarren und mir seiner Berührung überdeutlich bewusst zu sein.

Sein Blick lässt mich keine Sekunde lang los. Meine Reaktion auf ihn kann ihm unmöglich entgehen.

»Em …« Seine Stimme ist ganz leise. Rau. Bittend.

Nur meine engsten Freunde nennen mich Em. Niemand sonst. Nicht einmal meine Familie. Aber er hat es getan, seit ich denken kann.

Langsam schüttle ich den Kopf. »Du hast das Recht, mich so zu nennen, schon vor langer Zeit verloren.«

Meine Stimme zittert, doch das ist mir egal. Die Wut darin ist nicht zu überhören.

Seine Kiefermuskeln arbeiten. Dann räuspert er sich. »Es tut mir …«

»Danke«, unterbreche ich ihn, bevor er weiterreden kann. Bevor er Dinge sagen kann, die ich nicht hören will. Dinge, die nicht zu verzeihen sind. »Für die Hilfe mit dem Reißverschluss.«

Ich muss mich förmlich dazu zwingen, die Worte auszusprechen, aber seinem eindringlichen Blick kann ich nicht ausweichen.

Er schweigt so lange, dass ich jeden einzelnen meiner schnellen Herzschläge überdeutlich hinter meinen Rippen spüren kann. »Jederzeit.«

Keiner von uns bewegt sich. Keiner sieht weg. Auch wenn Holden nichts weiter sagt, erkenne ich die Schuldgefühle in seinen Augen – und das reicht, um mich schlagartig in die Gegenwart zurückzubefördern.

Denkt er wirklich, er kann nach all dieser Zeit ohne das geringste Lebenszeichen einfach hier aufkreuzen, mich auf diese Weise anschauen – und alles ist vergeben und vergessen? Oh nein. Nicht mit mir. Und wenn nicht in diesem Moment Nickis Stimme durch die geschlossene Tür dringen und uns unterbrechen würde, würde ich ihm genau das an den Kopf werfen.

»Deine zwei Minuten sind längst um, Ember! Wenn du nicht in zehn Sekunden vor mir stehst, fahren wir los und fangen ohne dich an!«

»Ich bin hier fertig«, rufe ich zurück, ohne mich vom Fleck zu rühren.

Irgendetwas an Holdens Anwesenheit, an seiner Nähe und dem Ausdruck in seinen Augen hält mich an Ort und Stelle gefesselt. Wie ein unsichtbares Band, das uns noch immer verbindet. Uns aneinanderkettet.

Schließlich ist er derjenige, der einen Schritt zurücktritt. Obwohl er meinen Blick im Spiegel nach wie vor festhält, habe ich auf einmal das Gefühl, wieder freier atmen zu können. Doch gleichzeitig … gleichzeitig beginne ich zu frösteln, weil er nicht mehr hinter mir steht.

Ich unterdrücke die Empfindung und drehe mich um. Im Vorbeigehen schnappe ich mir meine kleine Handtasche.

Holden lässt mir den Vortritt, und wir verlassen das Hotelzimmer. Draußen wartet Nicki bereits. Falls sie sich wundert, dass Holden und ich zusammen in der Suite waren, lässt sie es sich nicht anmerken. Ohne mit der Wimper zu zucken, führt sie uns zur letzten schwarzen Limousine, die Richtung Kirche fährt. Sie steigt vorne ein, was bedeutet, dass Holden und ich uns die Rückbank teilen müssen. Doch er macht keine Anstalten, ein Gespräch anzufangen. Was auch immer er mir vorhin sagen wollte, während der Fahrt geht es in seinem und meinem Schweigen verloren. Aber es ist kein einvernehmliches Schweigen, sondern eines voller Fragen, voller unausgesprochener Worte und Gefühle.

Viel zu vielen Gefühlen dafür, wie alles zwischen uns geendet hat.

3. Kapitel

Die Kirche ist bereits voller Gäste. Nicki führt mich in ein kleines Nebenzimmer zu Gemma und den anderen Brautjungfern.

Ich kenne Gemma schon fast mein ganzes Leben lang, aber sie hat nie schöner ausgesehen als heute. Oder glücklicher. Ihre dunkelbraunen Haare sind kunstvoll hochgesteckt, nur ein paar einzelne Strähnen fallen heraus und umschmeicheln ihr Gesicht. Sie hat die gleichen Augen wie Holden, nur dass ihre vor Freude und Aufregung leuchten. Als Tanzlehrerin hat sie sowieso eine fantastische Figur, aber das trägerlose elfenbeinfarbene Brautkleid mit dem herzförmigen Ausschnitt, das sich wie eine zweite Haut an ihren Oberkörper schmiegt und von ihrer Taille in einem Traum aus Tüll und Spitze bis zum Boden fällt, setzt sie besonders gut in Szene.

Als sie mich entdeckt, streckt sie mir die Hände entgegen.

Ich ergreife sie lächelnd. »Du siehst wunderschön aus, Gemma. Ich freue mich so für dich!«

Sie strahlt mich an. »Danke. Ich kann nicht glauben, dass es wirklich passiert. Und dass all die Menschen, die ich liebe, hier sind.«

Mein Lächeln verrutscht etwas, aber es gelingt mir, es beizubehalten.

All die Menschen, die sie liebt. Holden eingeschlossen.

Ich weigere mich, das Ziehen in meiner Brust, das Gemmas Worte in mir auslösen, näher unter die Lupe zu nehmen. Dafür bleibt glücklicherweise auch keine Zeit mehr.

Während die letzten Gäste ihre Plätze in der Kirche einnehmen, machen wir uns ebenfalls bereit. Ich kenne den Ablauf wie alle anderen dank Nickis detailliertem Plan in- und auswendig. Als die Musik einsetzt, gehen erst Peter und Jonathan, sein Bruder und Trauzeuge, den Mittelgang entlang, gefolgt von den anderen Begleitern des Bräutigams. Anschließend sind die Brautjungfern an der Reihe: erst Celine, Michelle und Ashley, dann ich. Ich folge ihnen mit dem kleinen Strauß in den Händen, während Nicki hinter den Kulissen dafür sorgt, dass mit Gemmas Kleid und Schleier alles in Ordnung ist.

Obwohl ich nicht diejenige bin, die heute heiratet, ist mir mulmig zumute, als ich auf den Altar zugehe. Die Gäste beobachten uns, dabei warten sie in Wahrheit nur auf den Auftritt der Braut. Sie lösen ihre Aufmerksamkeit schnell von mir und richten sie auf die verschlossenen Türen am anderen Ende der Kirche. Alle bis auf einer.

Holden sitzt auf der Bank links vom Altar, die für Familienangehörige reserviert ist, und starrt mich an. Ich spüre seinen Blick so intensiv auf mir, als wären es seine Hände, die über meinen Körper gleiten, weigere mich jedoch, auch nur in seine Richtung zu schauen.

Irgendwie schaffe ich es den Mittelgang entlang und nehme meine Position seitlich vom Altar neben den anderen Brautjungfern ein. Doch als ich den Kopf hebe, treffen sich unsere Blicke sofort.

Holden sieht mich genauso eindringlich an wie vorhin, nur dass wir jetzt nicht mehr allein in einem Hotelzimmer, sondern mitten in einer Kirche sind. Doch nicht einmal das ändert etwas an der Intensität, mit der er mich mustert. Oder an meiner Reaktion darauf.

Die Orgelklänge reißen mich aus diesem seltsamen, tranceartigen Zustand und erinnern mich an meine Aufgabe. Gleich darauf erscheint die Braut am Ende des Gangs am Arm ihrer Mutter. Gemma und Carol auf diese Weise zusammen zu sehen entlockt mir ein wehmütiges Lächeln. Seite an Seite schreiten sie an den Bänken vorbei, wobei Gemma nur Augen für ihren zukünftigen Ehemann hat. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, zu dem ihre Mutter ihre Hand an Peter übergibt und sich mit einem Kuss auf die Wange und ein paar leise gemurmelten Worten von ihr verabschiedet.

Ich blinzle gegen die Tränen an, bevor sie mein Make-up ruinieren können, doch gegen den Kloß in meinem Hals kann ich nichts ausrichten. Gemma kann froh sein, ihre Mom noch zu haben und diesen besonderen Moment gemeinsam mit ihr zu erleben.

Die Zeremonie ist wunderschön und vergeht wie im Flug. Gemma und Peter schwören sich ewige Liebe und Treue, streifen einander die Ringe über, dann küsst er sie, und die ganze Kirche bricht in Jubel aus. Ich klatsche und freue mich mit allen anderen.

Das Brautpaar verlässt die Kirche Hand in Hand, und die Gäste folgen den beiden in einer Art Prozession, angeführt von Nicki und ihrem Ehemann. Mein zugewiesener Partner für die Zeremonie ist ein alter Schulfreund des Bräutigams – Sebastien. Wir haben im Vorfeld ein paarmal gemailt, um Details zu klären, aber erst heute lerne ich ihn persönlich kennen. Auf den ersten Blick scheint er nett zu sein; außerdem sieht er gut aus, hat ein charmantes Lächeln und bietet mir höflich seinen Arm an. Ich hake mich bei ihm unter, und wir folgen dem frisch vermählten Ehepaar und den anderen Brautjungfern und Trauzeugen den Mittelgang hinunter zum Ausgang, wo Applaus, Fotos und Jubelrufe warten.

Als wir nach draußen treten, bin ich dankbar dafür, dass wir kurz stehen bleiben, weil ich gegen die grellen Sonnenstrahlen anblinzeln und mich etwas sammeln muss. Doch dann spüre ich ein leichtes Schwanken neben mir und werfe Sebastien einen alarmierten Blick zu.

»Alles okay?«, frage ich leise genug, sodass nur er mich hören kann.

Er nickt und setzt ein Lächeln auf, dennoch könnte ich schwören, dass er plötzlich blasser aussieht. »Kopfschmerzen«, erklärt er und verzieht das Gesicht. »Die hoffentlich nicht zu einer Migräne ausarten. Entschuldige mich kurz.«

Ich nicke nur und sehe ihm nach, als er sich ein paar Meter entfernt.

Vor der Kirche parken die schwarzen Limousinen, bereit, uns für die Party ins Hotel zurückzufahren. Zuerst stehen jedoch Fotos für das frisch vermählte Paar, ihre Familien, die Brautjungfern und Trauzeugen an.

Ich posiere zusammen mit Nicki und den anderen neben einer strahlenden Gemma und suche mir für das große Gruppenbild einen Platz so weit weg von Holden wie möglich.

Dennoch spüre ich seinen Blick auf mir, spüre, wie er mir folgt und etwas sagen will, als sich die Gruppe langsam auflöst. Aber statt mich ihm erneut zu stellen, steuere ich rasch eine der wartenden Limousinen an und steige ein.

4. Kapitel

Sieben Jahre zuvor

Es geht wieder los.

Das war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, als ich mitten in der Nacht aufwachte und mich hastig aufsetzte. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich krallte die Finger in die Bettdecke. Obwohl es draußen noch dunkel und nur das sanfte Rauschen der Wellen durch das halb offene Fenster zu hören war, wusste ich sofort, was mich geweckt hatte.

Es geht wieder los. Es geht wieder los. Es …

Laute Stimmen schallten durch das Haus. Erst die helle, fast schon schrille von Mom, die mir die Tränen in die Augen trieb, dann donnerte Dad los.

Mein Magen verkrampfte sich. Instinktiv presste ich mir die Hände auf die Ohren, um ihren Streit und Moms Schluchzen auszublenden. Vergeblich.

»… versuche es …«

»Du kannst nicht … du bist nie …«

»… was ich noch tun soll, Manon …«

Ich verstand nicht jedes Wort, doch das war auch nicht nötig. Es war immer dasselbe. Dieselben Themen. Dieselben Vorwürfe. Dieselben Streitereien. In dieser Woche schon zum dritten Mal.

Ich zwang mich dazu, die Hände runterzunehmen und nach meinem Handy auf dem Nachttisch zu greifen. Zwei Uhr fünfunddreißig. Ich hatte keine drei Stunden geschlafen, trotzdem war ich nicht müde. Mein ganzer Körper war in Alarmbereitschaft. Bereit, aufzuspringen und loszurennen, auch wenn ich nicht wusste, wohin.

Kurz dachte ich darüber nach, Shae zu texten. Wenn sich jemand mit Familienproblemen auskannte, war es meine beste Freundin. Aber dann fiel mir ein, dass ihr Vater ihr wieder mal für eine Woche Handyverbot erteilt und ihr das Smartphone weggenommen hatte.

Seufzend kniff ich die Augen zusammen. Ganz toll.

Die kurze Stille im Haus konnte mich schon lange nicht mehr in Sicherheit wiegen. Sie war wie die Ruhe vor dem Sturm, wie das kurze Innehalten und Luftholen, bevor die Hölle losbrach. Und obwohl ich das wusste, obwohl ich das schon oft erlebt hatte, zuckte ich trotzdem zusammen, als es wieder losging. Als Dads Stimme so laut durch das Haus krachte wie ein Donnerschlag und die Wände zu beben schienen.

Ich biss mir fest auf die Unterlippe in der Hoffnung, der Schmerz könnte mich wenigstens für kurze Zeit ablenken, und öffnete einen anderen Chatverlauf. Ich bezweifelte, dass Holden noch wach war, aber ich musste mit jemandem reden. Ich musste wissen, dass ich nicht ganz allein war, auch wenn es sich so anfühlte. Außerdem hatte Holden in letzter Zeit einige Nächte lang durchgezockt, statt zu schlafen, also hatte ich vielleicht Glück.

Ember, 02:39 Uhr

Sie streiten wieder …

Mehr musste ich nicht sagen, ich hatte ihm oft genug davon erzählt. Vor allem wenn ich bei ihm zu Hause zu Besuch war. Seine Mom Carol und seine Schwester Gemma gehörten zu den nettesten Menschen, die ich kannte. Ich hatte sie noch nie streiten gehört, und Holden hatte auch nie etwas in die Richtung erwähnt. Nur dank ihm und Shae wusste ich, dass das, was bei mir daheim passierte, nicht normal war. Dass die Stimmung nicht ständig brodeln und wie eine tickende Zeitbombe irgendwann explodieren sollte, wenn meine Eltern im selben Raum waren.

»Du bist doch derjenige, der nie da ist!« Moms schrille Stimme trug jedes Wort bis zu mir in den ersten Stock, auch wenn sie unten waren. Wahrscheinlich im Wohnzimmer oder …

Ein lautes Klirren. Mit einem Satz war ich aus dem Bett und stand mit heftig hämmerndem Puls mitten in meinem Zimmer. Zu ängstlich, um nachzusehen, was passiert war, und gleichzeitig zu besorgt, um mir die Kopfhörer aufzusetzen, laute Musik einzuschalten und zu versuchen weiterzuschlafen.

Sie sind in der Küche.

Irgendwie schaffte es diese Schlussfolgerung durch meine rasenden Gedanken.

Wahrscheinlich ist ein Glas kaputtgegangen. Oder ein Teller. Wäre nicht das erste Mal …

Meine Augen begannen zu brennen. Ich umklammerte mein Handy so fest, dass sich die Ränder schmerzhaft in meine Haut bohrten.

»Nicht weinen«, flüsterte ich mir selbst zu. »Bloß nicht weinen.«

Sobald ich einmal damit anfing, würde ich so schnell nicht mehr aufhören können. Und dann würde es noch mehr wehtun als jetzt. Gefühle zuzulassen war schlimmer, als sie wegzusperren. Denn wenn ich sie wegsperrte, waren sie wenigstens für eine Weile nicht mehr da, und ich musste nicht mehr daran denken. Ich musste nicht mehr …

»Das ist deine eigene Schuld, Manon!«, brüllte Dad. »Dass es dazu gekommen ist, hat nichts mit meiner Arbeit zu tun!«

Verärgert wischte ich mir über die feuchten Wangen. Wenn sie doch nur aufhören würden … Wenn sie einfach … nicht mehr miteinander reden würden. Daran, dass sie sich vertragen würden, glaubte ich schon lange nicht mehr. Der Frieden zwischen ihren Streits war nie von Dauer.

Unvermittelt leuchtete mein Handy auf, und mein Herz begann aus einem ganz anderen Grund schneller zu pochen.

Holden, 02:44 Uhr

Brauchst du Ablenkung? Soll ich dich abholen?

Trotz der ganzen beschissenen Situation musste ich lächeln. Das war typisch Holden. Aber im Gegensatz zu Shae konnte er auch kommen und gehen, wie er wollte, da seine Mom nicht streng war und er seit seinem fünfzehnten Geburtstag im Mai den Führerschein hatte. Zumindest einen, mit dem er offiziell fahren durfte, wenn eine Begleitperson über achtzehn dabei war. Inoffiziell riskierte Holden ziemlich häufig, erwischt zu werden.

Ich kannte diesen Jungen mein halbes Leben lang, trotzdem zögerte ich jetzt. Obwohl ich nichts lieber getan hätte, als von zu Hause zu verschwinden, konnte ich mich nicht einfach mitten in der Nacht rausschleichen.

Oder …?

»Wie kannst du das sagen, Jeff?!«, drang die verzweifelte Stimme meiner Mutter zu mir hoch. »Ich habe alles für diese Familie getan! Alles für dich und Ember geopfert! Und du … du …«

Ihre Worte wurden leiser, dafür war ihr Schluchzen auf einmal so laut, dass es mir erneut Tränen in die Augen trieb.

Ich habe alles für diese Familie getan! Alles für dich und Ember geopfert!

Gott, ich musste hier raus.

Schnell textete ich Holden, dann holte ich ein Shirt und eine Jeans aus meinem Schrank und zog mich leise an. Währenddessen versuchte ich das Geschrei aus der Küche, so gut es ging, auszublenden und mir einen Plan zurechtzulegen. Ich konnte nicht einfach nach unten gehen, das würden Mom und Dad trotz ihres Streits bemerken. Aber hinterm Haus stand ein großer Ahornbaum, dessen dicke Äste bis an die Fenster im ersten Stock reichten. Bis zu meinem Fenster.

Sollte ich das wirklich durchziehen? Ich war definitiv kein Sport-Ass, aber als kleines Kind war ich ständig auf Bäume geklettert. Wie schwer konnte das jetzt als Dreizehnjährige sein?

Bevor ich zu lange darüber nachdenken und mich dagegen entscheiden konnte, zog ich meine Sneakers an und riss das Bogenfenster ganz auf.

Warme Nachtluft streifte mein Gesicht und meine nackten Arme, aber es wehte fast kein Wind. Das war meine Chance. Vorsichtig schwang ich erst das eine Bein über den Fensterrand, dann das andere. Der Mond und die Lichter aus dem Erdgeschoss sorgten dafür, dass ich keine Taschenlampe brauchte. Nacheinander setzte ich die Füße auf den dicksten Ast, stützte mich mit beiden Händen ab und robbte nach vorne, bis ich den Stamm erreichte und daran hinunterklettern konnte.

Kurz fuhr ein heißer Schmerz durch meine Hand, als ich an der rauen Rinde abrutschte, aber ich fing mich rechtzeitig. Trotzdem raste mein Puls, und mein Körper war schweißgebadet. Ich rechnete fest damit, dass sich die Haustür öffnen und meine Eltern herauskommen würden, aber es passierte nichts. Hier draußen hörte ich sie noch lauter streiten, so laut, dass sie sogar das Grillenzirpen und Wellenrauschen übertönten.

Ächzend ließ ich mich von einem niedrig hängenden Ast herabbaumeln – und von dort ins Gras fallen. Ich landete tatsächlich auf den Füßen und sah überrascht, aber auch irgendwie stolz auf meinen Fluchtweg zurück. Mein Fenster stand offen, ich würde mich also auf demselben Weg wieder hineinschleichen können. Später. Wenn Mom und Dad endlich aufgehört hatten, sich anzuschreien …

Ein leises Brummen riss mich aus meinen Gedanken. Ich wandte mich um und rannte los, weg von unserem Haus, die Auffahrt hinunter bis zur Straße, wo ein bekannter grauer Pick-up ohne Licht anhielt.

Beim Einsteigen warf Holden mir einen prüfenden Seitenblick zu, fragte aber nicht, wie es mir ging, sondern fuhr sofort los. Ich ließ mich in den Sitz zurücksinken, erleichtert darüber, dem Chaos zu entfliehen. Aber vor allem erleichtert darüber, dass Holden bei mir war. Dass ich mich auf ihn verlassen konnte, selbst wenn ich ihm mitten in der Nacht textete, obwohl wir am nächsten Tag Schule hatten.

Sobald wir von meinem Elternhaus aus nicht mehr gesehen werden konnten, schaltete er die Scheinwerfer ein und trat aufs Gas. Ich fragte nicht, wohin wir fuhren, weil es mir egal war, solange ich dadurch den Streitereien daheim entkommen konnte.

Früher waren Mom und Dad nett zueinander gewesen. Liebevoll. Zärtlich. Aber das war dermaßen lange her, dass ich mich kaum daran erinnern konnte. Genauso wenig daran, wann oder warum alles begonnen hatte, so schrecklich schiefzugehen.

Als ich eine warme Hand auf meiner spürte, drehte ich den Kopf zur Seite. Holden sah konzentriert auf die Straße, drückte jedoch tröstend meine Finger.

Ich schluckte schwer und kämpfte erneut gegen die aufsteigenden Tränen an. Auf keinen Fall würde ich jetzt losheulen, aber in dieser Nacht fiel es mir besonders schwer, mich zusammenzureißen. Also sagte ich kein Wort, sondern verschränkte nur meine Finger mit denen von Holden und hielt sie die restliche Fahrt über fest.

Nach einer Weile wurde der Wagen langsamer, und ich erkannte im Licht der Scheinwerfer, wo Holden uns hingefahren hatte: auf die andere Seite der Insel zum Sunrise Point.

Normalerweise kamen Touristen und Einheimische her, um sich den Sonnenaufgang anzuschauen, abgesehen davon ließ sich hier jedoch in der Regel kaum jemand blicken. Erst recht nicht mitten in der Nacht. Irgendwann war der Sunrise Point zu Holdens und meinem geheimen Treffpunkt geworden. Niemand sonst wusste davon, nicht einmal Shae, obwohl ich ihr sonst alles erzählte. Sogar, wie sich meine Gefühle für Holden in den letzten Monaten verändert hatten … Nicht, dass ich es ihm je sagen würde. Aber bei Shae war mein Geheimnis sicher.

Als ich ausstieg, erfasste mich sofort ein heftiger Wind. Tosend brachen sich die Wellen an den Klippen unter uns, nur um sich Sekunden später in den Atlantik zurückzuziehen, bevor das Spiel von Neuem begann. Über uns funkelte ein Meer aus Sternen, und der Mond warf sein Licht auf den endlosen Ozean.

Holden setzte sich neben mich ins Gras. »Dass sie sich streiten, hat nichts mit dir zu tun oder damit, dass sie dich nicht lieben. Das ist dir klar, oder?«

Ich starrte weiter aufs Wasser hinaus, nickte jedoch zögerlich. Wahrscheinlich hatte er recht, aber in Nächten wie diesen fiel es mir schwer, das zu glauben. Besonders wenn sie doch wissen mussten, dass ich sie hören konnte. Aber das war ihnen offensichtlich egal. Auch ob es mir gut ging und ich noch schlafend in meinem Bett lag oder irgendwo auf der Insel herumwanderte. Wenn sie sich so zofften wie heute, schienen sie mich völlig auszublenden. Als wäre ich ihnen gleichgültig. Als würde ich nicht mehr existieren …

Holden musterte mich stumm von der Seite, dann seufzte er leise. »Komm her …«

Ich lehnte mich an ihn, bettete den Kopf auf seine Schulter und ließ mich von ihm festhalten.

Lange Zeit sagte keiner von uns ein Wort. Wir saßen einfach nur da, lauschten dem Kommen und Gehen der Wellen, während wir auf das dunkle Meer hinaussahen und Holden tröstend über meinen Arm strich.

»Ich kann’s echt nicht erwarten, meinen Führerschein zu machen und mir ein Auto zu besorgen«, murmelte ich schließlich. »Dann kann ich jederzeit abhauen, wenn sie sich wieder bekriegen.«

»Und bringst mich damit um meine Aufgabe, dich abzulenken und nachts über die Insel zu kutschieren? Nahh, keine Chance.«

Seine Worte entlockten mir ein winziges Lächeln. »Hast du es nicht langsam satt, dass ich dich mitten in der Nacht wecke?«

Denn heute war nicht das erste Mal gewesen, dass ich ihm getextet hatte – und es würde auch nicht das letzte Mal gewesen sein.

Einen Moment lang sah er mich nur von der Seite an, dann beugte er sich zu mir hinunter. Mir blieb fast das Herz stehen, als sein warmer Atem über meinen Hals strich. »Niemals«, raunte er mir ins Ohr. »Das ist und bleibt mein Job.«

Bevor ich reagieren oder mir darüber klar werden konnte, was passierte, knuffte er mich spielerisch in die Seite.

Ich zuckte zusammen und lachte auf, schob seine Hände aber schnell beiseite, damit er ja nicht auf die Idee kam, das noch mal zu tun.

»Außerdem«, sprach er weiter, griff neben sich und hielt eine kleine Plastiktüte in die Höhe. »Mit wem sollte ich sonst meine Gummibärchen teilen?«

Ich kam nicht gegen mein Lächeln an, genauso wenig wie gegen das wehmütige Ziehen in meinem Brustkorb. Das war unser Ding, unsere Tradition. Ich konnte mich an keine Zeit zurückerinnern, in der wir nicht eine Packung Gummibärchen unter uns aufgeteilt hatten. Holden behauptete immer, er würde mir die besten überlassen, aber ich hatte schon vor langer Zeit herausgefunden, dass er nur die grünen mochte. Umso besser für mich, da ich nur die gelben, orangefarbenen und roten liebte. Die weißen brauchte niemand.

Schweigend aßen wir die Bärchen, dabei saßen wir so nahe nebeneinander, dass sich unsere Arme immer wieder streiften. Früher hätte ich keinen zweiten Gedanken daran verschwendet, aber mittlerweile fielen mir solche Details auf. Und was sie in mir auslösten …

»Hey, schau mal!« Holden stieß mich leicht mit dem Ellbogen an und deutete nach oben.

Eine Sternschnuppe flog über den Nachthimmel, dicht gefolgt von einer zweiten.

»Hast du dir etwas gewünscht?«, fragte er.

»Na klar. Ich verschwende doch keine Sternschnuppe.«

»Und was ist dein Wunsch?«

»Nope. Keine Chance. Das verrate ich dir nicht.« Entschieden schüttelte ich den Kopf und schob mir die letzten Gummibärchen in den Mund. »Wenn man seinen Wunsch laut ausspricht, wird er nicht wahr.«

»Meiner ist schon wahr geworden«, wisperte er so leise neben mir, dass ich nicht sicher war, ihn richtig verstanden zu haben. Doch als ich den Kopf zur Seite drehte, sah er mich statt den Sternenhimmel an.

Mit einem Mal hämmerte es viel zu heftig in meiner Brust. Ich hatte keine Ahnung, wann sich etwas zwischen uns geändert, wann es sich verschoben hatte, aber ich wusste, dass es mir gefiel. Dass ich es wollte.

Die Wahrheit war: Ich hatte mir gewünscht, einen Moment wie heute Nacht auch noch in vielen Jahren mit Holden zu erleben. Dass er für immer ein so wichtiger Teil meines Lebens sein würde.

Vielleicht war es naiv, aber das war das Erste, was mir eingefallen war. Momente wie diese mit Holden waren mein Safe Space. Das wollte ich niemals verlieren. Genauso wenig wie ihn.

5. Kapitel

Zurück im Hotel geht die Feier erst richtig los. Die Trauzeugen Nicki und Jonathan halten überschwängliche Reden, Peters Vater heißt Gemma in der Familie willkommen, genau wie Carol es mit Peter tut. Es gibt Spiele, ein großes Büfett, Musik, lebhafte Gespräche und fröhliches Gelächter.

Stunden später ist mir beinahe schwindlig vor Müdigkeit und Anspannung. Vergangenheits-Ember hat es für eine gute Idee gehalten, erst vormittags in Montréal in einen Bus zu steigen und die letzte Fähre zu verpassen, wodurch sie die Nacht kaum geschlafen hat und auch noch unpünktlich war. Gegenwarts-Ember findet diese Idee absolut beschissen und bräuchte dringend eine Tasse Kaffee.

Alkohol wäre auch eine akzeptable Lösung, doch damit halte ich mich lieber zurück. Uns steht noch eine Tanzeinlage bevor, außerdem traue ich mir zu, Holden etwas davon ins Gesicht zu schütten, wenn er mich noch mal anspricht. Und das Letzte, was ich will, ist, eine Szene zu machen und Gemmas Hochzeit zu ruinieren. Na gut, das ist das Vorletzte. Das Letzte, was ich will, ist, mich weiterhin mit Holden Thorne beschäftigen zu müssen. Schlimm genug, ihn gesehen und mit ihm geredet zu haben. Aber dass er mir so nahe gekommen ist, als er meinen Reißverschluss zugezogen hat?

Allein bei der Erinnerung daran läuft ein heißes Kribbeln durch meinen Körper – eine Reaktion, für die ich mich innerlich verfluche. Es bedeutet nichts. Er bedeutet mir nichts. Nicht mehr. Diese Zeiten sind längst vorbei. Und je schneller das auch mein übermüdeter Körper begreift, desto besser.

So unauffällig wie möglich werfe ich einen Blick auf mein Handy. Ich muss nur noch ein bisschen länger durchhalten. Eine, maximal zwei Stunden, dann kann ich mich beim Brautpaar entschuldigen und nach Hause zu Dad und Grandma fahren.

Seufzend schiebe ich das Handy zurück in meine Tasche und mache mich auf den Weg zum Büfett am Rande des Saals. Ich schlängle mich an den weiß gedeckten Tischen mit den rosafarbenen Blumen vorbei und greife nach einem Teller. Mir bleiben exakt elf Minuten, bis die Show beginnt.

Gemma und Peter haben sich nur eine einzige Sache von uns zu ihrer Hochzeit gewünscht: ein Dance-off. Gemma mit ihren Brautjungfern gegen Peter und seine Begleiter, und am Ende tanzen wir alle gemeinsam und bringen die Gäste mit einem Flashmob dazu, ebenfalls mitzumachen. Dafür haben wir monatelang geübt. Ich hätte nicht gedacht, dass es möglich ist, einer Gruppe von Leuten, die über ganz Kanada und die USA verstreut sind, online dermaßen viel beizubringen, aber Gemma ist eine fantastische Lehrerin. Sie hat uns so lange gedrillt, korrigiert, aber auch gelobt und motiviert, bis wir jeden einzelnen Schritt im Schlaf konnten.

Allerdings ist es ein himmelweiter Unterschied, das in Sweatpants in seiner winzigen Einzimmerwohnung zu tun – oder vor einhundert Leuten.

Als plötzlich jemand neben mich tritt, verspanne ich mich unwillkürlich.

»Hi.«

»Sebastien.« Meine Schultern sacken vor Erleichterung herab. Ich werfe ihm ein kurzes Lächeln zu. »Was machen die Kopfschmerzen?«

Er winkt ab und lockert seine Krawatte. »Alles gut. Das lasse ich mir auf keinen Fall entgehen.« Mit dem Kinn deutet er auf die Tanzfläche, und ich folge seinem Blick.

Plötzlich werde ich doch nervös und schnappe mir das nächstbeste Glas Champagner, um es hinunterzustürzen, auch wenn ich später noch Auto fahren muss. Es brennt kurz in meiner Kehle, und der Alkohol steigt mir sofort zu Kopf, hat aber den angenehmen Nebeneffekt, meine angespannten Nerven etwas zu beruhigen. Ich sehe in die Gesichter der anderen Brautjungfern. Von Nervosität bis Vorfreude ist alles dabei. Gemma schuldet uns etwas dafür …

Als die ersten Klänge von »Crazy in Love« aus den Lautsprechern an der Decke ertönen, stelle ich hastig mein Glas ab und bringe mich nach Ashley und Celine in der Mitte der Tanzfläche in Position. Nicki und Michelle stoßen als Nächstes zu uns. Und sobald die Braut sich zu uns gesellt und wir mit dem einstudierten Tanz loslegen, kann ich gar nicht anders, als zu lächeln.

Obwohl die Proben bis zu diesem Wochenende hauptsächlich online stattgefunden haben, bewegen wir uns völlig synchron. Drei von uns stolzieren an den anderen vorbei nach vorne, strecken die Arme nach oben aus, machen eine Drehung und gehen wieder zurück, sodass Gemma im Fokus bleibt. Vor dem Dance-off hat sie einen Teil ihres Rocks abgenommen, sodass ihr Hochzeitskleid kürzer ist und sie mehr Beinfreiheit hat. Und die braucht sie auch, als der Song nahtlos in »Show Me How You Burlesque« von Christina Aguilera übergeht.

Die Menge tobt. Die Hochzeitsfotografin läuft um uns herum, um Schnappschüsse zu machen. Einige der Gäste zücken ihre Handys. Irgendwo in der Menge muss auch Holden sein, aber ich weigere mich, mich davon aus dem Konzept bringen zu lassen. Vor allem, weil ich mich bei dem schnellen Takt wirklich auf meine Schritte konzentrieren muss.

Gemma strahlt. Von der Panik und Nervosität von heute Morgen ist nichts mehr übrig. Hier und jetzt ist sie ganz in ihrem Element.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich die Männer um Peter scharen und bereit machen. Der eine reibt sich vorfreudig die Hände, ein anderer springt sogar auf und ab. Sebastien dehnt seinen Nacken wie vor einem wichtigen Spiel. Als sich unsere Blicke kreuzen, zwinkert er mir kurz zu.

Unser Part endet, und wir ziehen uns zurück. Die Gäste brechen in Jubel und Gelächter aus, als Peter und seine Freunde zu Beyoncés »Single Ladies« auf die Tanzfläche stürmen. Sie haben ihre Jacketts ausgezogen, manche auch die obersten Knöpfe ihres Hemds geöffnet. Doch alle tragen noch Krawatte oder Fliege um den Hals.

Ich nutze die Pause, um schnell ein paar Schlucke Wasser zu trinken, bevor wir wieder an der Reihe sind.

Wie es aussieht, geht Gemmas und Peters Plan auf. Die Leute sind begeistert – und auch mir macht es Spaß. Aber vor allem hält es mich davon ab, zu viel nachzudenken …

Ohne Vorwarnung reißt Nicki mir das Glas aus der Hand und schiebt mich zur Tanzfläche. Beinahe hätte ich unseren nächsten Einsatz verpasst.

Diesmal begegnen sich die beiden Teams in der Mitte des Raumes; unser Job ist es, unseren Partner mit einer Hand auf der Brust wegzuschieben, sodass wir die Tanzfläche wieder für uns haben. In den nächsten Sekunden tanzen wir noch allein, die Frauen gegen die Männer, dann beginnt der Teil, bei dem jede von uns einen Partner hat.

Ich drehe mich um, mache mich bereit und …

Wo ist Sebastien? Ich habe nur einmal kurz weggeschaut, und plötzlich ist er fort.

Mein Magen verkrampft sich vor Anspannung. Wo ist er? Ich kann den letzten Part nicht allein tanzen – und ich will die anderen auch nicht auflaufen lassen, indem ich die Einzige ohne Tanzpartner bin und die ganze Choreografie durcheinanderbringe.

Pünktlich zum Refrain von Jennifer Lopez’ »On The Floor« finden die Paare wieder zusammen. Ich will mich so unauffällig wie möglich zurückziehen, als plötzlich jemand vor mir auftaucht, wie selbstverständlich nach meiner Hand greift und die Führung übernimmt.

Als ich den Kopf hebe, starre ich in intensive blaue Augen.

Nein …

Irgendwo ganz weit hinten in meinem Bewusstsein lacht ein Teil von mir hysterisch auf. Das geschieht nicht wirklich. Es kann nur einer dieser abgedrehten Träume sein, bei denen zuerst alles normal und harmlos wirkt, nur um dann ins Surreale zu kippen. Es muss ein Traum sein. Ein Albtraum. Denn es ist einfach nicht möglich, dass ich gerade ausgerechnet mit Holden Thorne tanze. Und dass er auch noch alle Schritte kennt. Was passiert hier?

Wie selbstverständlich wirbelt er mich herum, führt mich gleichzeitig wie die anderen Paare in die Drehung und zieht mich wieder an sich, als hätte er nie etwas anderes getan. Als mein Oberkörper für einen Moment gegen seinen gepresst ist, bleibt mir schier das Herz stehen.

»Was soll das?!«, zische ich.

Sebastien sollte besser kurz vor dem Migränetod stehen oder eine andere verdammt gute Erklärung für seine Abwesenheit haben.

»Dein Tanzpartner ist ausgefallen.« Holden zuckt unmerklich mit den Schultern. »Ich springe für ihn ein.«

»Ach was … Und wann hast du die Schritte gelernt?«, frage ich atemlos.

»Peter hatte vor Kurzem eine Zerrung im Rücken.«

Ich erinnere mich. Das muss drei, vier Wochen her sein. Gemma hat trotzdem alle zusammengetrommelt, um die Schritte durchzugehen, auch wenn Peter eine Weile gefehlt hat.

Holden führt mich in eine neue Drehung. Das Lied ist so schnell, dass ein richtiges Gespräch kaum möglich ist. »Ich habe an seiner Stelle mit Gemma geübt.«

Also ist er schon vor mir auf die Insel zurückgekehrt. Wann? Warum hat Gemma mir nichts erzählt? Wie kann es sein, dass ich nichts davon mitbekommen habe?

Bei der nächsten gemeinsamen Drehung fange ich Gemmas besorgten Blick auf, aber vielleicht ist sie auch nur überrascht, mich in den Armen ihres Bruders zu sehen. Ich bin es definitiv.

»Bereit?«, fragt Holden unvermittelt.

Bereit wofür?!

Doch bevor ich fragen kann, greift er nach meinen Händen, wirbelt mich herum, bis ich seitlich von ihm stehe, und dann … lasse ich mich Richtung Boden gleiten, während er mich an den Händen festhält.

»Ich hab dich«, raunt er und sieht mir dabei unentwegt in die Augen.

Mein Herz hämmert, und auf einmal scheinen die Musik und die anderen Leute ganz weit weg zu sein. Einen Wimpernschlag lang steht die Welt vollkommen still. Bis Holden mich wieder schwungvoll hochzieht und wir weitertanzen. Erst nebeneinander wie alle anderen, dann erneut zusammen.