Goldene Berge - Shokhan Kamil - E-Book

Goldene Berge E-Book

Shokhan Kamil

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Beschreibung

Autobiographie von Shokhan Kamil Shokhan kommt 1980 als ältestes von fünf Kindern in der kurdisch-irakischen Stadt Sulaimaniya zur Welt. Nach dem Tod des Großvaters reisen die Eltern mit den Geschwistern überstürzt nach Europa und lassen die Erstgeborene bei Großmutter Daya zurück. Das Mädchen betrachtet oft den im Abendlicht golden leuchtenden Gebirgskamm im Norden der Stadt. Wo dahinter mochte ihre Familie jetzt wohl leben? Ihre Onkel kämpfen mit den Peshmerga in den Bergen für ein autonomes Kurdistan und sind Zielscheibe des irakischen Regimes. Nach Giftgasangriffen flüchtet Daya mit Shokhan in den benachbarten Iran, wo sich die beiden vor der Sittenpolizei in Acht nehmen müssen, aber zum Glück Zuflucht bei Verwandten finden. Mit den Golfkriegen verschärft sich die Situation der Kurden und demzufolge auch die Existenznot von Großmutter und Enkelin. Der Vater steht eines Nachts plötzlich vor der Tür. Die Dreizehnjährige muss sich innerhalb von Stunden zwischen einem sicheren Leben im unbekannten Österreich und dem bedrohlichen Alltag bei der geliebten, aber betagten Daya entscheiden. Niemand wartet in der neuen Welt auf Shokhan. Die Kluft zwischen ihr und den Eltern ist zu groß, um in der eigenen Familie eine neue Heimat zu finden. Als hätte die Jugendliche nicht schon genug Baustellen mit ihrer körperlichen Veränderung und dem familiären Bruch, muss sie sich als Fremde mit einer neuen Sprache, mit Rivalitäten, mit einem anderen Schulsystem und der Berufswahl auseinandersetzen. Es erstaunt wenig, dass sie in schlechte Gesellschaft und an Substanzen gerät, die ihr helfen, der nackten Realität zu entfliehen. Shokhan wird heroinabhängig und landet tief verschuldet am Rand des Abgrunds. Dank eisernem Willen, Musik, spirituellen Erfahrungen und der Hilfe von Freundinnen schafft es Shokhan schließlich über einen langen, steinigen Weg zurück ins Leben.

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WIDMUNG

FÜR MALEKH DAYA

„Ich möchte Menschen

mit meiner Stimme berühren.“

Shokhan Kamil

INHALTSVERZEICHNIS

Babas Tod

1984

Die Sirenen

1985

Die Pellkartoffel

1991

Das Leben einer Muslima

1993

Das Gebet

1994

Den Weg alleine gehen

1994

Im Drogensumpf

1997

Nicht von dieser Welt

2001

Kein Zuckerschlecken

2004

Schnitzel & Nudeln

2006

Ein Kurde

2008

Der Preis der Autonomie

2011

Die erste Reise zurück in den Irak

2011

Wiener Lifestyle

2014

Geopolitik, Krieg und Leid ohne Ende

Sternenkind

2019

Music was my first love

Das zweite Gebet

2020

Die goldenen Berge

2021

Nachgedanken – Was mich das Leben lehrte

2022

Epilog – Der Vertrag

2022

Dank

BABAS TOD

Ich hörte Männerstimmen im Hof, rannte auf die Dachterrasse und stellte mich mit meinen vier Jahren auf die Zehenspitzen, um zu erspähen, was sich jenseits der Mauer unten abspielte. Ich durfte nicht hinuntergehen. Sonst nicht und auch an diesem Tag nicht. Die Männer legten den dünnen, langen Körper auf ein Brett, streiften ihm die traditionellen Kleider ab und wuschen seine mit Altersflecken übersäte Haut mit Lappen, die sie in metallenen Schüsseln tränkten und auswrangen. Ich sah gebannt zu, wie Baba Jalal erst entblößt und danach in einem schlichten weißen Gewand auf dem gepflasterten Hof lag, bevor er von den Männern mit dem Holz angehoben, geschultert und zur letzten Ruhestätte getragen wurde.

Sowohl gefasst als auch ängstlich, wusste ich, dass mit Babas Tod nun der Tag gekommen war. Ich hatte die Erwachsenen reden hören. Als Kurden waren wir ein ungeliebtes Volk im Land und da Vater, Onkel und Tanten als Peschmerga gegen das Regime kämpften, waren wir gleichermaßen dessen Feind. Vater hatte wiederholt gesagt: «Wenn Jalal stirbt, fahren wir nach Europa. Der Irak ist für uns nicht sicher.» Ich konnte mir unter Europa nichts vorstellen, außer dass sich mit diesem Stichwort unser Leben verändern würde.

Als Älteste lebte ich mit Großmutter Daya Malekh und Großvater Baba Jalal im zweiten Geschoss. Mein frühkindliches Universum bestand aus einem Wohnzimmer, einem Schlafzimmer, einer Küche und einer ausladenden Dachterrasse. Auf dieser schliefen wir in den warmen Jahreszeiten, auf, mit bunten Stoffen überzogenen dünnen, mit Kamelhaar gestopften Matratzen unter freiem Sternenhimmel. Die Terrasse war mein Spielplatz und der Nabel meiner kleinen Welt. Ich verbrachte Stunden alleine mit meinen Puppen, versunken in meinen Bilderbüchern oder mit Rollenspielen. Dazu benutzte ich Kleider und Schmuck aus meiner Garderobe oder aus Dayas Fundus. Großvater ließ es gewähren, dass ich ihm meine goldenen Clips an die Ohrläppchen steckte und ich um ihn herumtanzte.

Baba Jalal betrieb einen kleinen Laden in der Straße. Es war mehr eine fensterlose Höhle, in denen Stoffsäcke mit Reis, Couscous, Kichererbsen und Weizen lagerten. Frauen und Männer kamen mit großen Taschen, in die Jalal das Getreide mit einer Holzschaufel abfüllte und auf einer Waage mit Gewichtsteinen abwog. Wenn ich bei Baba war, steckte ich meine Hände in die Körner und ließ sie durch die Finger rieseln. Am Abend zurrte er den metallenen Rollladen im Eingang hinunter, verriegelte ihn mit einem Schloss am Boden und ließ den Schlüssel in die Westentasche gleiten.

Jalal machte mir die größte Freude, wenn er mit mir zur Bushaltestelle spazierte, ein Ticket löste und sich neben mich auf einen Plastiksitz in einen der großen, bunten Wagen setzte und mit mir alle Strecken der städtischen Linie abfuhr. Wir hatten viel Spaß dabei.

Vater Rashid, Mutter Fatima, meine jüngeren Schwestern und zwei von Vaters Geschwistern wohnten im unteren Geschoss des alten Backsteinhauses, das in einem lebhaften Viertel von Sulaimaniya zwischen zwei ähnlich verwitterten Gebäuden eingeklemmt war. Aus Gründen, die sich mir als Kleinkind nicht erschlossen, durfte ich nicht mit meinen Geschwistern spielen. Oft reckte ich mich über die Terrassenmauer und schaute dem fröhlichen Spiel im kargen Hof von oben zu. Einzig Dayas und Babas Zuwendung trösteten mich darüber hinweg, dass ich nicht zu den anderen gehörte. Und auch der Bergkamm, der sich am Horizont hinter der riesigen Stadt erhob, war mir Zuversicht und Sicherheit. Er wechselte durch den Tagesablauf und die Launen des Himmels seine Farbe. Er war in seinem Ruhen verlässlich und bezauberte mich immer, wenn er im Abendlicht golden leuchtete.

Von der großelterlichen Liebe wie in Watte gepackt, bekam ich die Zwietracht in der Familie nur gedämpft mit. Erst später erfuhr ich, dass der dreißigjährige Baba Jalal seine erste Frau verlassen und die knapp vierzehnjährige Malekh geheiratet hatte. Die Heranwachsende hatte mit einem Schlag fünf Kinder ihres neuen Gatten zu erziehen und schenkte selbst noch drei eigenen das Leben. Erst als Erwachsene verstand ich, dass Mutter und Großmutter einander verachtet hatten. Malekh hatte neben sich keine andere Königin geduldet, Fatima hatte in der Hierarchie des Hauses nichts zu sagen und musste sich von ihr alles gefallen lassen. So gab es die Anordnung, die erstgeborene Tochter den ungeliebten Schwiegereltern zur Erziehung zu überlassen. Ich glaubte lange, dass Großmutter meine richtige Mutter wäre und mein Vater mein Bruder, weshalb ich Malekh Daya nannte, was auf Kurdisch Mutter heißt.

Baba hatte mich jeweils aus klaren, blauen Augen angeschaut. Güte und Stolz lagen in seinem Blick, in dem ich mich gerne sonnte. Streckte er seine schlanke Hand aus, um über mein helles Haar zu streichen, reckte ich ihm mein Köpfchen entgegen. Gerne verweilte ich in seiner Nähe und bezeugte ihm mit kleinen Dienstleistungen meine Liebe. Als er kränklich wurde, wachte ich über Baba mit kindlicher Sorge. Wegen Europa. Wenn er um Gleichgewicht bemüht taumelte, geleitete ich ihn an eine sichere Wand oder zu seiner Schlafstätte. Fünfmal am Tag holte ich ihm eine Schüssel Wasser und sah zu, wie er sich vor dem Gebet Ohren, Hände und Füße wusch.

Wenn es ihm nach Süßem gelüstete, schickte mich Baba mit Daya zum Basar, um Äpfel und Datteln zu kaufen. Auch an seinem letzten Tag. Als Großmutter und ich zurückkehrten, trafen wir ihn betend an. Ich reichte Großvater einen Apfel. Als er die Frucht zum Mund führte, brach er vor unseren Augen zusammen. Daya schrie markerschütternd laut, was sofort die Verwandtschaft vom unteren Stock und ebenso Geschäftsbetreiber von der Straße herbeirief.

Während der unmittelbaren Tage nach Babas Tod geschah nichts und ich schöpfte leise Hoffnung, dass sich meine Angst vor Europa in Luft auflöste. Daya erlaubte mir, sie zu Babas Grab zu begleiten. Endlose Grabstätten standen wie eng zusammengepferchte Häuschen eines Zwergendorfs zusammen. Es tröstete mich, Baba Jalal in Gesellschaft zu wissen. Auf allen Grabsteinen waren arabische Zeichen eingraviert, Verse aus dem Koran, wie mir Großmutter erklärte. Wenn ich sie bald lernte, würde ich diese auch verstehen, schwor ich mir. Ich weinte oft am Grab um Großväterchen, aber es tröstete mich, zu wissen, dass Baba mich geliebt hatte und es auch im Jenseits noch tat. Den Beweis dafür fand ich in den Steinen. Mir wurde erzählt, dass man kleine Kiesel an den Grabstein drücken sollte. Blieben sie kleben, war es ein Zeichen, dass man dem Verstorbenen viel bedeutete. Meine Steine blieben immer kleben.

Monate nach Babas Tod saßen Daya Malekh und ich auf dem Boden und löffelten wie fast jeden Tag Reis und eine Sauce aus Tomaten und Zucchini aus unseren Tellern. Sie hielt inne und sagte: «Heute Nacht ist mir Baba Jalal erschienen. Er drückte mir ein Goldstück in die Hand und mahnte mich, gut darauf aufzupassen.»

Kurz darauf begleitete ich Daya zu einem Besuch bei Verwandten. Als wir am nächsten Morgen zurückkehrten, die Stiegen zum Eingang nahmen und eintraten, fanden wir das Haus leer vor. Großmutter sagte mit erstickter Stimme: «Deine Eltern sind weg und kommen nicht wieder.» Sie sackte zusammen und brach in Tränen aus. Ich begriff auf der Stelle: «Jetzt sind wir alleine. Ich darf jetzt kein Kind mehr sein, denn ich muss mich um Daya kümmern.» An diesem Tag und an den folgenden hockte ich mich zu Großmutter auf den blanken Boden, schmiegte mich dicht an sie, schlang meine Ärmchen um ihren vom Weinen und den Klageliedern bebenden Leib. Dann und wann holte ich uns Wasser, Maulbeeren und kalten Reis. In der Nacht stand ich immer wieder auf, um nachzusehen, ob Großmutter noch atmete.

Wir wussten nicht, wohin Vater, Mutter mit dem Baby im Bauch, meine Schwestern, mein Bruder und die Tante abgereist waren. Und ich wusste nicht, warum sie uns beide zurückgelassen hatten. Malekhs Klagelieder webten sich durch meine ganze Kindheit. Auch wenn mich der traurige Gesang durchdrang und ich ihm nicht entkommen konnte, verstand ich, dass es das Einzige war, das Trost spendete. Ich begann in den Singsang einzustimmen, meine Stimme zu entdecken und für das Unsagbare einen Ausdruck zu finden. Wir sangen die Lieder der kurdischen Sänger Hasan Zirak, Nasri Razazi und Haydeh im Radio mit. Bald tanzten wir wieder und Daya erwachte aus ihrem Taumel. Musik wurde unsere Medizin für alles und besiegelte unsere sowieso schon enge Verbundenheit.

Alles, was mir von der Familie geblieben war, waren drei Fotos; eines meiner Mutter und zwei meiner Geschwister, die ich in meiner Spielzeugkiste unter den Puppenkleidern, Malsachen, Spielschmuck und Büchern versteckte. Klammheimlich, wenn Daya beschäftigt war oder sie zum Basar ging, kramte ich die Fotos unter der Schicht von Kinderzeichnungen hervor und studierte ihre Gesichter, um mir jedes kleinste Detail einzuprägen. Die Schwarzweißbilder waren von meinen Tränen fleckig und an den gezackten, weißen Rändern voller Eselsohren. Vollkommen versunken bemerkte ich eines Tages nicht, wie Großmutter hinzugetreten war. Erst als ihre Hand nach den Fotos griff, drehte ich mich erschrocken um und sah zu, wie sie in aller Entschiedenheit meine letzte Erinnerung an Mutter in den Schlitz ihres Kaftans steckte und mit fester Stimme, die keinen Widerspruch duldete, sagte: «Es ist besser für dich.»

Es tobten in mir Kämpfe zwischen Wut, Ohnmacht, Traurigkeit und Fragen. Die Gefühle waren mit dem Herumsitzen nicht auszuhalten und so rannte ich los durch die Straßen zum Basar. Daya suchte nach mir und ging der Spur der Händler nach, die mich zwischen den Ständen davonstieben sahen. Nachts oder wenn kein Wegrennen möglich war, erleichterte ich mich, indem ich mit meinen Fingernägeln meine Beine blutig kratzte. Das Brennen der Haut lenkte vom inneren Höllenfeuer ab. Daya schleppte mich zu einem Heiler. Er legte mir Pflanzen, Hände und Gebete auf die Wunden. Ein wenig vermochte es, die inneren zu lindern.

Mir wird nachgesagt, dass ich nicht nur Dayas Ausstrahlung, sondern auch ihre Willensstärke geerbt habe. Diese war es am Ende, die uns half, uns aufzuraffen und mit dem Unabänderlichen weiterzugehen. Daya war mir ein tief verwurzelter Baum, der mich nährte und in dessen Schatten ich mich ausruhen konnte. Mit Jalals Tod verstand ich jedoch auch, dass selbst die stärksten Wurzeln irgendwann absterben und ich mich mit dem Erwachsenwerden beeilen musste. Ich hatte keine Angst um mich, dafür aber um Großmutter, die, seit wir das leere Haus vorfanden, sich nie mehr von den Herz- und Magenschmerzen erholte. Ich wollte für sie sorgen. Und dafür wollte und musste ich lernen. Daya, die nicht lesen und schreiben konnte, befeuerte meinen Wunsch, mir alles Wissen anzueignen, das einem Mädchen zu dieser Zeit zugänglich war.

Obwohl ich lernen wollte, lähmte mich die Angst vor dem Unbekannten und meine ständige Sorge um Daya. Ich schrie bei der Einschulung auf dem Schulweg bis ins Klassenzimmer, sobald Daya nur ein wenig Anstalten machte, sich zu entfernen. Es dauerte, bis ich den vielen neuen Eindrücken und den fremden Lehrern vertraute und ich auf den harten Holzstühlen still sitzen konnte. Und es brauchte seine Zeit, bis mich der Schulstoff mehr in den Bann zog als die Befürchtung, dass Daya mir tagsüber wegsterben könnte.

Schließlich streifte ich mir eines Morgens selbständig die strahlend weiße Bluse und das blaue Röckchen über, trat vor Großmutter und sagte selbstbewusst: «Jetzt kann ich alleine zur Schule.» Die Schuluniform trug ich ab dem Moment mit stolzem Gang. Mit den Kleidern wechselte ich die Rolle. Zu Hause trugen wir immer diese bodenlangen Baumwollgewänder, deren Farben vom vielen Tragen und Waschen schnell verblichen. Der Maxi, wie wir das formlose Kleid nannten, schenkte mir Bewegungsfreiheit beim Herumturnen, beim Sitzen auf dem Boden und beim Schlafen. Mit der Schuluniform und der roten Schultasche war ich für das Leben der Großen und für das Reich des Lernens gerüstet.

Der kurze Schulweg führte zwischen Reihen von Backsteinhäusern über belebte Straßen, die von Teehäusern, Obstverkäufern und Händlern von allerlei Waren für den alltäglichen Bedarf gesäumt waren. Mit Schülern aus dem Quartier war der Weg kurzweilig. Daya mochte Kinder schon immer sehr. Da ich mit meiner sonnigen Art in der Schule schnell beliebt war, gingen die neuen Kameraden bald bei uns ein und aus. Und mit ihnen kehrte Fröhlichkeit ins Haus zurück. Ich liebte das Spiel mit ihnen. Aber mehr noch das Lernen. Bald brachte ich Einser nach Hause. Die Höchstnoten waren insofern aber nur der äußere Ausdruck meiner unbändigen Freude, Nahrung für meinen Wissenshunger bekommen zu haben. Dass ich jedes Jahr von den Mädchen und Jungen der Klasse zur Sprecherin gewählt wurde, bedeutete mir viel. Denn ich wollte in allem Lernfeuer nie eine langweilige Streberin sein.

Die neuen Bücher mit den geheimnisvollen Zeichen entschlüsselte ich bald. Ich fuhr sie mit den Fingern nach und formte mit den Lippen die Laute. Wir lernten die kurdische Sprache Sorani, die arabische und die lateinische Schrift. Die Aufgaben schrieben wir mit Bleistift und blauem Kugelschreiber in unsere Hefte. Auf der Terrasse standen zwei große Tanks, die sich in der Sonne erhitzten und uns mit warmem Wasser versorgten. Daya fand mich nach der Schule im Schatten der Metallfässer über den Hausaufgaben versunken, brachte mir einen Teller mit Wassermelonen-Schnitzen und Granatapfelkernen und lächelte. Manchmal lernte ich bis tief in die Nacht im Schein der verbeulten Petroleumlampe, während Großmutter neben mir auf ihrem Lager selig schlief.

Die Frage nach dem Verbleib meiner Familie verblasste. Nur dann und wann, wenn ich den Blick von meinen Schulbüchern hob und ihn in der Abenddämmerung zu den goldenen Bergen schweifen ließ, malte ich mir aus, dass meine Verwandten wahrscheinlich auf der anderen Seite waren. Ich erlaubte mir zuweilen die Hoffnung, dass sie mich und Daya vielleicht doch noch nachholten.

DIE SIRENEN

Saddam Hussein kam als Anführer der Baath-Partei 1979 an die Macht. Von Anbeginn statuierte er ein Exempel, säuberte seine eigenen Reihen von mutmaßlichen Verrätern, indem er die Männer im Anschluss der Parteitagung vor laufender Kamera aufrief, sie hinausführen und vor dem Gebäude exekutieren ließ. Unter seiner Diktatur verkam der Irak, einst eine Wiege der Kultur und ein liberales Nebeneinander verschiedener Ethnien und Religionen, zu einer Republik der Angst. Nur ein Jahr nach der Machtübernahme griff er den Nachbarstaat Iran an, der mit dem Sturz des prowestlichen Schahs und der neuen Regierung unter dem schiitischen Geistlichen Ajatollah Khomeini politisch geschwächt war. Khomeini erklärte den Iran zum Gottesstaat und sagte dem Kapitalismus im Allgemeinen und dem Westen im Besonderen als erklärter Erzfeind den Kampf an. Khomeini diffamierte die USA als Saat des Satans. Demzufolge kam den Westmächten die Angriffe von Saddam sehr gelegen. Sie unterstützten den Irak beim Angriffskrieg gegen den Iran.

Dieser erste Golfkrieg führte mitten durch kurdisches Gebiet. Die Kurden bilden eines der ältesten und größten Völker der Welt. Der Lebensraum der einstigen Nomaden zieht sich über die gebirgigen und rohstoffreichen Grenzgebiete des heutigen Syrien, der Türkei, des Iran und des Irak. Ein Sprichwort besagt:

«Die Kurden haben keine Freunde, sie haben die Berge.»

Geschätzte fünfunddreißig Millionen Kurden, die in den verschiedenen Ländern verteilt leben, wünschen sich eine Heimat, ein autonomes Kurdistan. Da das Volk über Jahrhunderte von den jeweiligen Staatsmächten unterdrückt und gedemütigt wurde, bildeten sich immer wieder rebellische Gruppen, die sich gegen die repressiven Staatsoberhäupter erhoben.

In Kurdistan/Irak lehnten sich die Freiheitskämpfer Peschmerga gegen Saddams brutale Diktatur auf. Im ersten Golfkrieg verbündeten sich die Rebellen mit dem iranischen Militär. Khomeini belieferte die kurdischen Unabhängigkeitskämpfer mit Waffen und Geldern im Krieg gegen den gemeinsamen Feind. Jash, eine andere kurdische Gruppierung, kämpfte für Saddam, um ihre Haut zu retten. Und so kam es, dass sich selbst Brüder gegenseitig bespitzelten und verrieten.

Sulaimaniya liegt im kurdischen Gebirgsland an der iranischen Grenze. Somit befanden sich unser Haus, meine Schule und mein Schulweg mitten im Krisengebiet. Ich wurde im Krieg geboren und kannte nichts anderes, als auf der Hut zu sein. Weil der Fernseher den ganzen Tag lief, wuchs ich mit Bildern von Männern in Schützengräben und von Rebellen mit Kopftüchern auf. Nur sehr selten verbannten Comicfilme die omnipräsenten Panzer, Bombenflugzeuge und brennenden Häuser. Der große Schatten, der meine Familie in die Flucht getrieben hatte, blieb und hatte ein Gesicht. Es war der Mann mit Schnurrbart in olivfarbener Militäruniform. Er zeigte sich siegessicher und lächelnd, omnipräsent im Fernseher und auf Plakaten.

Daya bläute mir ein: «Präsident Saddam Hussein ist ein Held und unser lieber Landesvater. Du musst ihn verehren. Er setzt sich für unsere Freiheit und unser Wohlergehen ein. Wenn du etwas Böses über ihn hörst, glaube es nicht!»

Erst viele Jahre später begriff ich, dass mich Großmutter mit ihrer Taktik schützte, um mich, sie und meinen Onkel, der für die Peschmerga in den Bergen kämpfte, nicht in Todesgefahr zu bringen.

Donnerstags versammelten wir uns im Schulgarten und mussten für Saddam ein Lied singen, während die irakische Flagge gehisst wurde. Einer der Mitschüler sagte beiläufig, dass sein Vater vor der Fahne auf den Boden gespuckt hatte. Einen Tag später wurde er aus dem Unterricht abgeholt und er kehrte nicht mehr wieder zurück. Man erzählte sich Geschichten von Vätern, die in den Krieg zogen und nicht zu ihren Kindern heimkehrten. Ich weiß von Frauen, die jahrelang auf ihre Ehemänner warteten. Gerüchte, dass kurdische Schulkinder in Busse gepfercht und diese in der Wüste angezündet wurden, lähmten mich.

Wenn der Alarm losging, wussten wir, was zu tun war. Schon das erste Anschwellen drang durch Mark und Bein und ließ einen das Blut in den Adern gefrieren. Jeder senkte unmittelbar Zeitung, Schreibstift, Kochlöffel oder Handwerk, machte sich gefasst und sprungbereit, mit dem dritten Sirenenton, ohne Zeit zu verlieren, in den nächsten Schutzkeller zu rennen.

Daya packte mich an der Hand und führte mich in den Keller des Hauses. Die untere Wohnung war inzwischen vermietet, sicherte Großmutter und mir ein Einkommen. So teilten wir den mit Matratzen und Vorräten ausgestatteten Schutzraum mit den neuen Mietern und anderen Nachbarn aus der Straße. Wir hockten uns auf die Matten und lehnten uns an die gemauerte Wand. Eine Handvoll Menschen füllte den dunklen Raum mit Körpern und Angstschweiß. Doch in der Schicksalsgemeinschaft waren die klammen Stunden bis zur Entwarnung leichter auszusitzen. Ich drückte mich eng an Dayas Bauch, hielt mir Ohren und Augen zu, wenn es oben krachte. Ich betete, dass die Detonationen nicht unser Haus mitrissen. Wenn sich das Warten im Bombenhagel in den Abend hinauszog, begann Malekh Daya ihre Klagelieder anzustimmen, in die Vereinzelte einstimmten, während sich andere unruhig im Schlaf wälzten. Immer noch schrecke ich mitten in der Nacht auf. Noch heute reagiert meine Blase auf Stress. Wenn wir aus den Kellern krochen, waren die Straßen leergefegt, die Luft mit bissigem schwarzem Rauch geschwängert. Jedes Mal brachen wir in Tränen aus, wenn wir die Häuser im Quartier unbeschädigt vorfanden.

Als die Sirenen während des Unterrichts losheulten, rannte ich schleunigst heim und knallte in der Panik alle Schulbücher auf die Schulgasse, um nur ja in Sicherheit zu kommen. Zu Daya.

Die Iraner beschossen unsere Stadt und Saddam die umliegenden Dörfer der Peschmerga. Nein, der Präsident war kein guter Mann. Es häufte sich, dass junge Männer aus der Straße gerade noch mit dem Gemüsehändler feilschten, beim Fußballspiel oder in der Verwandtschaft Tee tranken und am Folgetag zu Grabe getragen wurden. Eines Nachmittags hörte ich Schüsse auf der Straße. Tante und ich rannten als Erste raus. Da lag mein Nachbar erschossen, sein Gehirn lag neben ihm auf der Straße. Dann sind viele andere Leute dazugekommen, manche sind umgefallen. Das war sehr schlimm. Ich bringe die Bilder bis heute nicht aus meinem Kopf. Der einzige Trost ist, dass das junge Leben mit dem Schuss schon aus dem Körper getreten war. Es war der große Bruder meines Schulfreundes, gerade mal achtzehn mit der Matura in der Tasche. Mir brach es das Herz, als ich Zeugin wurde, wie der noch warme Körper eines Burschen, der nur wenige Jahre älter als ich war, in der Hauptallee von seinen Eltern vom Ast genommen wurde und die nicht unter dem Gewicht des Sohnes, sondern an ihrem Leid einknickten.

Wie immer im März, wurde zur Sonnenwende das persische Frühlingsfest Nouruz begangen. Auch die Bewohner von Halabdscha schmückten ihre Stadt, als die ersten Flieger am Himmel erschienen und die Menschen ihre Schutzräume aufsuchen mussten. Dass die Keller zu ihren Todesfallen wurden, konnten sie nicht wissen. Saddams Flugzeuge ließen Giftgas über die Stadt fallen, das durch jede Ritze drang.