Goldköpfchens Backfischzeit - Magda Trott - E-Book

Goldköpfchens Backfischzeit E-Book

Magda Trott

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Beschreibung

"Goldköpfchens Backfischzeit" ist der dritte Band der dreizehnteiligen Kinderbuchreihe "Goldköpfchen" von Magda Trott, erschienen 1929.

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Goldköpfchens Backfischzeit

1. Kapitel. Von Dichtern und Denkern2. Kapitel. Doktor Rollmops3. Kapitel. Von Räubern, Zigaretten und Schlagsahne4. Kapitel. Weihnachtsvorbereitungen5. Kapitel. Allerlei vom W und vom Weh6. Kapitel. Blaublümelein7. Kapitel. Bärbel will etwas erleben8. Kapitel. NachdenklichesImpressum

1. Kapitel. Von Dichtern und Denkern

Seit einem halben Jahre trug Goldköpfchen die grüne Mütze der Obertertia. Mit einem stolzen Gefühl hatte sich der kleine Backfisch diese Kopfbedeckung auf die goldblonden Locken gedrückt. Die grüne Mütze war das erste gewesen, was sich Goldköpfchen in Dresden gekauft hatte, was ihm auch ein klein wenig über die Trennung aus dem Elternhause hinweghalf.

Es hatte ein Weilchen gedauert, bis sich Bärbel Wagner, die Tochter des Apothekers Wagner in Dillstadt, damit abgefunden hatte, daß sie von nun ab nicht mehr in Dillstadt die Privatschule des Fräulein Greger besuchen durfte, daß sie vielmehr zur weiteren Fortbildung nach Dresden auf das Realgymnasium kam. Es war ein Glück, daß sie nicht in Pension brauchte, daß sich die gute Großmama sogleich bereit erklärt hatte, den frischen Backfisch zu sich zu nehmen, Bärbel weiter zu überwachen und zu emsiger Arbeit anzuhalten.

Es war dem Apothekenbesitzer Wagner nicht leicht geworden, die Fünfzehnjährige aus dem Hause zu geben, aber er und auch seine Gattin hatten eingesehen, daß Bärbel in der heutigen Zeit eine gute Schulbildung brauchte, denn beide Eltern waren sich einig, Bärbel später einmal einen Beruf ergreifen zu lassen, der es auf eigene Füße stellte. Dafür war aber eine gute Gymnasialbildung unbedingt notwendig, die Bärbel hier in Dillstadt nicht erhalten konnte.

Da die Mutter Frau Wagners in Dresden wohnte, war es ganz natürlich, daß man den Backfisch zu ihr gab. Eine Aufnahmeprüfung fiel ziemlich gut aus, Bärbel war zu Ostern dieses Jahres in die Obertertia gekommen und hatte sich dort auch verhältnismäßig rasch eingelebt.

Anfangs fühlte sich das junge Mädchen allerdings durch die Großstadt etwas bedrückt, aber Bärbel ließ es sich nicht merken, denn sie wollte nicht als Kleinstädterin gelten vor allen denen, die hier in Dresden aufgewachsen waren und jetzt neben ihr auf den Schulbänken saßen.

Bei Frau Lindberg, der treusorgenden Großmutter, fand Bärbel immer Verständnis und Rat. Sie hatte unbegrenztes Vertrauen zu der gütigen Dame, die bemüht war, die Regungen eines Backfischherzens zu verstehen, die hin und wieder mit vorsichtiger Hand alles das aus dem Herzen des Kindes ausrottete, was dort Wurzel schlagen wollte und nicht keimen durfte. Der Einfluß schlechter Elemente war bei Bärbel nicht groß. Das unverdorbene Kleinstadtmädchen hatte einen prächtigen, gesunden Instinkt für alles Unschöne, und wenn man Bärbel auch anfangs öfters einmal wegen ihrer Unwissenheit verspottet hatte, war es dem energischen jungen Mädchen doch bald gelungen, sich Respekt zu verschaffen.

Heute spielte Bärbel bereits in der Obertertia eine Rolle und wurde von verschiedenen Mitschülerinnen ganz auffällig angeschwärmt. Aber auch unter den Lehrern hatte Bärbel, ohne daß sie es wußte, manchen Freund. Das junge Mädchen mit dem offenen Gesicht, mit den großen, treuen Augen und der goldenen Lockenfülle, schmeichelte sich unbewußt in die Herzen der Pädagogen, die sofort erkannten, daß hier eine unverdorbene Mädchenseele vor ihnen lag, die gehütet werden mußte, die sich aber auch instinktiv selbst vor Häßlichem schützte. Wenn Bärbel im Übermut ihrer fünfzehn Jahre einen tollen Streich beging, wenn ihr dann das Herz bis zum Halse hinauf schlug, dann hatte sie aber auch den Mut, für ihre Unarten offen einzutreten, und auch das trug ihr die Sympathien der Lehrerschaft ein.

Frau Lindberg hatte an der Ehrlichkeit ihrer Enkelin die allergrößte Freude. Wohl machte ihr Bärbel mitunter recht viel zu schaffen, denn das junge Mädchen war durchaus kein Tugendbold, aber bei einer Unwahrheit hatte Frau Lindberg ihre Enkelin noch nie ertappt. Sie brauchte Bärbel nur fest in die Blauaugen zu sehen, um zu wissen, ob irgendein Schatten auf ihrer Seele lag.

Daß sich die kluge Frau mitunter taub und blind stellte, trug nur dazu bei, das zärtliche Verhältnis zwischen Großmutter und Enkelin zu festigen. Frau Lindberg dachte gar nicht daran, dem lebensfrohen Backfischchen irgendeine Freude zu nehmen. Sie wußte selbst aus Eigenem, daß das Backfischalter seine Geheimnisse, seine Leiden und Freuden hat, und das alles sollte auch Bärbel erleben. Wurde sie mit sich selbst nicht fertig, dann kam das bedrückte Kind ohnehin zur Großmutter, um sich von ihr Rat zu holen.

Auch heute wartete Frau Lindberg ungeduldig auf die Obertertianerin, die eigentlich schon längst hätte daheim sein müssen. Das Mädchen hatte bereits zum zweiten Male gefragt, ob es das Mittagessen auftragen dürfe. Da aber Bärbel noch nicht aus der Schule zurückgekehrt war, mußte man warten.

Erst mit halbstündiger Verspätung ertönte die Flurglocke. An dem stürmischen Läuten erkannte die Großmutter sofort, daß es Bärbel war.

Mit hastigen Schritten eilte das junge Mädchen in sein Zimmer, um kurz darauf mit noch glühenden Wangen vor Frau Lindberg zu erscheinen, die im Eßzimmer wartete.

»Ach, Großchen, nun ist es mal wieder etwas später geworden, bist du böse, Großchen? – Ach nein, du bist nicht böse, das sehe ich! Ach, Großchen, – wir sind hinter ihm hergegangen; und dann hat er sich umgedreht. – Denke dir doch, Großchen, er hat mich angesehen und gelächelt.«

»Eine halbe Stunde wartete ich nun schon auf dich, Bärbel – –«

»Das ist freilich sehr schlimm, Großchen. Aber denke doch an unser Glück. Seit vierzehn Tagen haben wir ihn nicht gesehen, und heute, als wir gerade aus der Schule kommen, geht er drüben auf der anderen Straßenseite. Ein Glücksgefühl durchsauste mich! – Ach, Großchen, wenn du ihn gesehen hättest! Er ist doch zu herrlich!«

»Du meinst natürlich wieder deinen angeschwärmten Armin Rabes!«

»Ja,« sagte Bärbel und verdrehte schwärmerisch die Augen, »denke dir, Großchen, er spielt nächstens in den ›Räubern‹! Liebes, allerliebstes Großchen, ich kaufe mir auch keine neuen Handschuhe, ich flicke die alten wunderbar aus, sollst mal sehen, wie ich das kann. Aber laß mich auf den Olymp!«

»Wir sind doch gerade erst im ›Tell‹ gewesen, liebes Bärbel.«

»Ach der ›Tell‹, Großchen, da hat er doch nicht mitgespielt. Aber als Räuberhauptmann – –! Ach Großchen, ich könnte für ihn auch zu den Räubern gehen.«

»Jetzt setze dich lieber nieder, mein Kind, wir wollen essen. Es ist wirklich spät genug.«

»Du mutest mir viel zu, Großchen. – Das Glück steckt mir wie ein Kloß in der Kehle!«

»Sage mir lieber, was du für eine Zensur im deutschen Aufsatz bekommen hast.«

»Eine Zwei, Großchen.«

»Das ist brav, Bärbel.«

»Und dafür darf ich auf den Olymp? Edith will auch mit. – Großchen, Edith hat mich heute furchtbar beneidet. Er hat mich angelächelt, wirklich mich! – Ich war nahe daran, meine Mütze vor ihm zu ziehen.«

»Die laß nur auf dem Kopfe sitzen, mein Kind.«

»Geglüht habe ich, Großchen, – ach, das Blut rast einem durch die Adern, wenn man ihn lächeln sieht. – Großchen, hast du jemals einen Künstler geliebt?«

»Geschwärmt habe ich für manchen!«

»Geschwärmt,« sagte Bärbel verächtlich, »ich meine, ob du ihn mit allen Fasern deines Herzens geliebt hast?«

»Nein, mein Kind, das nicht. Das ist ja auch keine Liebe, Bärbel; man verehrt den Künstler, erfreut sich an seiner Kunst, man sieht ihn gern auf der Bühne –«

»Ach, mir geht es ganz anders, Großchen. Ich könnte für ihn sterben! – Ach, wenn du nur wüßtest, wie er gelächelt hat!«

Das Essen war aufgetragen: aber obwohl Bärbel sonst sehr rasch ihre Portionen verschlang, heute ruhten Messer und Gabel gar oft, denn es gab viel zu erzählen.

»Wie glücklich müssen die Leute sein, bei denen er wohnt. Großchen, könnten wir denn nicht auch ein Zimmer vermieten? Wir würden es an einen Künstler ganz billig abgeben. Ach, überlege dir das doch einmal, Großchen.«

»Wir brauchen unser Fremdenzimmer, mein Kind. Wo sollen wir denn deine Mutti hinlegen, wenn sie zu uns kommt?«

»In mein Zimmer, Großchen. – Ich würde für einen Schauspieler alles opfern. – Ach, Großchen, er wohnt bei einer Kaufmannswitwe. Wir sind schon so oft an seinen Fenstern vorbeigegangen. Edith hat ihm neulich eine Rose vor die Korridortür gelegt.«

»Hat er denn gewußt, daß die Rose für ihn bestimmt war?«

»Er muß es geahnt haben.«

So ging es noch ein Weilchen weiter. Bärbel konnte heute nicht genug von dem ersten Liebhaber des Stadttheaters erzählen, der auf das junge Mädchen einen starken Eindruck gemacht hatte. Seit Bärbel den Schauspieler Rabes zum ersten Male in der »Maria Stuart« gesehen hatte, schlug ihr Herz leidenschaftlich für den Künstler. Alles Taschengeld war für Postkarten, die sein Bild zeigten, ausgegeben worden, alle Löschblätter trugen verschnörkelt seinen Namen, und in stillen Stunden dichtete Bärbel den verehrten Künstler an. Sie bedauerte es unendlich, daß sie nicht mit der gleichen Begabung versehen war, die der Unterprimaner Gerhard Wiese sein eigen nannte. Gerhard Wiese schickte fast jede Woche an Bärbel ein Gedicht, und jedesmal bewunderte sie aufs neue seine große Kunst. In ihren Augen würde Wiese ein zweiter Schiller werden; er hatte ihr verraten, daß er jetzt an einem achtaktigen Schauspiel arbeite, das zum Helden den Cheruskerfürsten Hermann habe und das wahrscheinlich im Dresdener Theater zur Aufführung kommen werde. Bärbel hatte sich lebhaft nach diesem Stück erkundigt und gefragt, ob darin auch für Armin Rabes eine schöne Rolle enthalten sei. Und da ihr der Primaner bestätigte, daß Hermann geradezu eine Bombenrolle sei, ersehnte Bärbel den Augenblick, wo das Schauspiel vollendet sein würde.

Auch die Großmama wußte von diesem Stück, nur mochte sie nicht daran glauben, daß der Cheruskerfürst demnächst in Dresden aufgeführt werde. Bärbel konnte Frau Lindberg nicht davon überzeugen, daß Gerhard Wiese das größte Dichtertalent sei, das gegenwärtig in Deutschland lebe.

»Großchen, ich habe heute übrigens von Gerhard wieder ein Gedicht bekommen. Ich habe es Edith gezeigt, und sie meint, es sei das schönste Gedicht, das sie jemals gelesen habe.«

»So, so, hat er mein Bärbel angedichtet?«

»Ja, Großchen, in den wunderschönsten Ausdrücken!«

»Darf ich das Gedicht nicht einmal sehen, mein Kind?«

Bärbel würgte erst einige Male an einem Bissen, dann sagte sie kleinlaut: »Großchen – – es handelt ein wenig von der Liebe.«

»Das kann ich mir denken, Bärbel, aber ein schönes Liebesgedicht hört dein Großchen auch ganz gern.«

»Ich trage es auf dem Herzen.«

»Dann kannst du es mir ja nach Tisch gleich vorlesen.«

»Ich habe schon daran gedacht, Großchen, daß ich es schön abschreibe, auf Elfenbeinpapier. Dann werde ich es Armin Rabes zuschicken.«

»Er könnte dann aber denken, daß du es gedichtet hast, Bärbel.«

»Ach,« sagte der Backfisch schwärmerisch, »wenn er es doch denken wollte! – – Großchen, du mußt das Gedicht gleich jetzt hören.«

Bärbel griff in den Halsausschnitt ihres Kleides und zog ein Blatt Papier hervor.

»Also höre, Großchen, was ein bedeutender Dichter zu sagen hat.«

Großchen lehnte sich erwartungsvoll im Stuhl zurück. Bärbel begann mit Pathos:

»Mein Herz, ich will dich fragen: Was ist die Liebe, – sag? Zwei Seelen und ein Gedanke, Zwei Herzen und ein Schlag.

Und sprich, woher kommt Liebe? – –«

Da fiel die Großmama plötzlich ein:

»Sie kommt, und sie ist da. Und sprich, wie schwindet Liebe? Die war's nicht, der's geschah.«

»Großchen,« rief Bärbel mit weit geöffneten Augen.

»Wer soll der Dichter sein, Bärbel?«

»Gerhard Wiese, Großchen!«

»In meiner Zeit hieß der Dichter Friedrich Halm.«

Eine Weile war Bärbel starr. Dann sagte sie fragend:

»Abgeschrieben? – – Gestohlen?«

»Ich will dir nachher einen Band Gedichte geben, mein liebes Kind, in dem das ganze Gedicht zu finden ist.«

»So ein Schurke!« rief Bärbel entrüstet. »Dabei hat er mir zugeflüstert, er hätte es heute nacht gedichtet.«

»Da hat er dich freilich ein wenig bemogelt. Hoffentlich schreibt er seinen Cheruskerfürsten nicht auch irgendwo ab.«

»Großchen, du treibst mir einen Pfeil ins Herz, – ich finde das empörend. Ich habe bereits siebzehn andere Gedichte von ihm. – Ob er die auch alle abgeschrieben hat?«

»Nun, vielleicht hat er einige davon selbst gedichtet.«

»Und ich habe an sein Genie geglaubt. – Großchen, kennst du alle Gedichte?«

»Nein, Bärbel, das ist ganz unmöglich!«

»Wehe ihm, wenn er die anderen auch abgeschrieben hat! – Großchen, es ist eines darunter, das habe ich auswendig gelernt, weil es so wundervoll ist.«

»Sage es einmal her, vielleicht ist es mir bekannt.«

Und Bärbel begann:

»Du schönes Dillstädter Mädchen, Treibe den Kahn ans Land, Komm zu mir und setze dich nieder. Wir kosen Hand in Hand.«

»Freilich, kenne ich das, Bärbel. Das Gedicht ist von Heinrich Heine. Nur heißt es bei ihm nicht Dillstädter Mädchen, sondern Fischermädchen.«

»Das ist doch arg! Dann hat er die anderen auch gemopst, denn sie sind in Form und Sprache alle so wunderschön. Na, den will ich blamieren. Vor der ganzen Prima kriegt er sein Fett! Der darf mich nicht mehr andichten. – Ach, Großchen, es gibt doch heute zu viel Betrug auf der Welt!«

»Er hat es gewiß gut gemeint. Nett ist es natürlich nicht von ihm, daß er sich mit fremden Federn schmückt.«

»Ich verachte ihn,« sagte Bärbel hoheitsvoll, »wir beide sind fertig! Wenn er jetzt vor mir die Mütze zieht, bekommt er nur einen durchbohrenden Blick.«

Als Bärbel nach dem Essen in ihrem Zimmer saß, um sich zunächst den Schulaufgaben zu widmen, kamen ihr wieder die Gedanken an den betrügerischen Dichter. Sie eilte zur Kommode und nahm daraus ein Päckchen, das sorgsam mit einem roten und einem blauen Bändchen umwickelt war.

Dann las sie nochmals die Gedichte durch, die Gerhard Wiese für sie geschrieben haben wollte. Manche waren ihr allerdings schon früher ein wenig bekannt erschienen. Jetzt stand es für sie felsenfest, daß alle abgeschrieben waren.

Sie wickelte die Gedichte wieder zusammen, aber das rote Bändchen ließ sie fort.

»Rot ist die Liebe,« sagte sie vor sich hin, »du hast es nicht verdient, daß mein Herz auch nur ein klein wenig für dich schlägt.«

Ihre Blicke glitten weiter über den Inhalt des Schubfaches. Wohlgeordnet lagen hier verschiedenfarbig zusammengebundene Päckchen. Eines fiel besonders auf. Ein breites rotes Band war kreuzweise über einige Postkarten gebunden.

Andächtig nahm Bärbel dieses Päckchen zur Hand.

»Armin Rabes,« flüsterte der niedliche Backfisch, »du bist doch der Herrlichste von allen!«

Dann wurde ein schneller Kuß auf das breite rote Band gedrückt, das Päckchen wanderte auf seinen Platz zurück. Nachdenklich schweiften die blauen Mädchenaugen über ein anderes Paket. Bärbels Hände strichen über das rosa Bändchen.

»Er hat mich einst geliebt, – aber das Rot seiner Liebe ist heute verblaßt. – Weißt du es noch, Carlos Schilling, wie du mir das Stück Blutwurst schenktest, und wie ich es daheim in der Blechbüchse verschloß, bis es so stank, daß ich es fortwerfen mußte? Ach, es waren selige Zeiten, als du damals auf dem Gute warst! Aber andere Männer sind nun in mein Leben getreten, und doch, Carlos, du bist noch nicht vergessen.«

Bei diesen Gedanken an den einstigen Eleven des Gutes Körtenau kam auch die Erinnerung an jene übermütigen Stunden daheim. Was hatte sie mit den Brüdern, den Zwillingen, nicht alles angestellt! Erst gestern hatte sie eine Karte von den beiden Buben erhalten, man hatte angefragt, ob sie nicht bald wieder heimkäme.

Bärbel schüttelte traurig den Kopf.

»Noch nicht,« murmelte sie, »die Pflichten halten mich hier fest. Aber in zehn Wochen ist Weihnachten, dann geht es heim!«

Neben all diesen Päckchen lag ihr Tagebuch. Die Mutter hatte es ihr zu ihrem vierzehnten Geburtstage geschenkt, und die erste Eintragung hatte dem Freunde Carlos gegolten, von dem überhaupt auf den ersten Tagebuchseiten fast ausschließlich die Rede war. Oh, Bärbel erinnerte sich noch sehr genau an den Tag, an dem sie mit ihrer Freundin Lore nach Körtenau hinausradeln wollte. Die Mutter hatte es sanft mahnend verwehrt. Man war nicht zu Carlos gefahren, aber in dem Tagebuch prangte dafür die Eintragung:

Wenn auch das Herz vor Sehnsucht bricht. Mein süßer Freund, ich komme nicht. Ich bin aus festem, starkem Holz, Es sagte Nein mein Mädchenstolz!

Die schlanke Mädchengestalt straffte sich. »Richtig, Bärbel,« sagte der goldlockige Backfisch vor sich hin, »es ist sehr zweckmäßig, wenn der Mädchenstolz zeitweise Nein sagt. Und Gerhard Wiese soll meinen Mädchenstolz zu fühlen bekommen. Ich lasse mich doch von solch einem Affen nicht dumm machen!«

Bärbel schlug die letztbeschriebene Seite des Tagebuches auf.

»Ach, daß ich ihm wieder in die Augen sehen könnte! Diese Augen sind wie zwei Sonnen. Sie können glühen wie der Krater des Vesuv!«

Sie drückte das Tagebuch leidenschaftlich an sich und tanzte damit durch das Zimmer.

»Ich habe ihn gesehen, er hat mich angelächelt! Oh, seit ich ihn gesehen, glaub' ich blind zu sein! – Wenn ich doch schon die verflixte Mathematikaufgabe beendet hätte, damit ich von ihm schwärmen kann!«

Bärbel legte das Tagebuch wieder zur Seite, nahm erneut das Schulheft zur Hand, kaute dann eine Weile an dem Federhalter; aber die Zahlen, die vor ihr standen, wollten heute keinen festen Fuß in ihren Gedanken fassen.

»O Armin – Armin, welch ein Blick, Der Teufel hole die Mathematik!«

Nein, heute ging es wahrhaftig nicht. Ein Seufzer nach dem anderen war zu vernehmen. Immer tiefer und schwerer entrangen sie sich Bärbels Lippen. Die Augen wunderten ununterbrochen zum Fenster hinaus. Und wenn sie auch nur auf den Hof schauten, es gab dort doch allerlei, was die Gedanken von der Arbeit ablenkte. Die Uhr rückte unerbittlich vorwärts, und noch immer saß das junge Mädchen vor den Heften, ohne die Lösung der Ausgabe zu finden.

Jetzt rief das Hausmädchen zum Kaffeetrinken. Frau Lindberg sah den unglücklichen Ausdruck in dem frischen Gesicht der Enkelin und fragte teilnehmend, was wieder einmal los sei.

»Ach, Großchen, es ist heute wahrhaftig zuviel auf mich eingestürmt. Ich werde mit meinen Schularbeiten nicht fertig. Ich muß immerfort an den seelenvollen Blick aus einem feurigen Auge denken.«

»Das ist aber ganz verkehrt, mein liebes Bärbel. Nimm dich zusammen, mein liebes Kind. Heute abend kannst du mir dann mehr von deiner Schwärmerei erzählen.«

»Und dann dieser Schurke, Großchen!«

Frau Lindberg lachte belustigt auf.

»Da siehst du nun wieder einmal, Bärbel, daß alles einmal ans Licht der Sonne kommt, und daß es das beste ist, stets ehrlich zu sein. – Mache dem armen Jungen die Hölle nur nicht gar zu heiß. Sage ihm, daß du seine Gedichte bereits in gedruckten Büchern hättest. Ich habe dir dort einen Gedichtband hingelegt. Es ist Heines »Buch der Lieder«, in dem auch das »schöne Fischermädchen« steht.

»Das Buch nehme ich morgen mit und halte es ihm unter die Nase. Dann bin ich wirklich neugierig, was er für ein dummes Gesicht dazu machen wird.«

Als Bärbel dann mit dem Buche in ihr Zimmer zurückkehrte und flüchtig darin blätterte, entdeckte sie plötzlich, daß noch drei andere Gedichte darin enthalten waren, die Gerhard Wiese als sein geistiges Eigentum ausgegeben hatte.

Hastig riß sie aus ihrem Schulhefte eine Seite heraus, überlegte wenige Minuten, dann schrieb sie den folgenden Vers:

»Ich will nichts mehr von deiner Liebe, Du wurdest zum elenden Diebe! Nimm deine Gedichte alle wieder. Ich fand sie in Heines »Buch der Lieder«! Die Neigung zu dir ist verpufft. Von nun an bist du für mich Luft.«

Der Backfisch war mit dieser Leistung vollauf zufrieden. Wenn Bärbel auch fühlte, daß ihre Dichtkunst nicht hervorragend war, ersah Gerhard doch daraus, daß sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Sie nahm sich vor, von jetzt an den langen Hans Herwig freundlicher anzusehen als bisher. Man hatte ihr schon immer gesagt, daß Herwig sie verehre. Edith hatte ihr berichtet, daß er erst kürzlich zu seinen Mitschülern gesagt habe: wenn ich Bärbel ansehe, dann ist es mir, als sähe ich ein goldenes Ährenfeld und eine grüne Wiese. Auf goldenem Haupte die grüne Mütze. Dieser Ausspruch hatte Bärbel ganz gewaltig imponiert. Hans Herwig saß zwar trotz seiner siebzehn Jahre noch in Untersekunda, aber er erschien allen Backfischen ziemlich interessant, weil man auf seiner Oberlippe schon dunkle Härchen bemerkte, die die anderen Sekundaner nicht aufzuweisen hatten.

Es war doch zu herrlich, daß das Kant-Gymnasium in derselben Straße lag, in der sich auch das Mädchengymnasium befand. Auf diese Weise hatte man immer Gelegenheit, nach Schulschluß ein paar zärtliche Blicke tauschen zu können. Mitunter glückte es auch, daß man in der Papierhandlung vom alten Papa Rippelmann einen oder den anderen der Kant-Schüler traf, wenn man schnell in der Pause ein Heft oder einen Bleistift besorgte.

Nun, auf jeden Fall kam Hans Herwig, der lange Schwarze, nach Schulschluß als einer der Ersten am Mädchengymnasium vorbei und blieb dann stets gegenüber vor der Konditorei so lange stehen, bis die Tertianerinnen erschienen. Gleich morgen sollte Hans Herwig einen besonders freundlichen Blick von ihr erhalten. Er war bestimmt kein Dieb, dazu hatte er viel zu ehrliche Augen.