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"Goldköpfchens großer Entschluß" ist der neunte Band der dreizehnteiligen Kinderbuchreihe "Goldköpfchen" von Magda Trott, erschienen 1936.
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Seitenzahl: 185
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Frau Bärbel Wendelin faßte noch einmal nach den Händen ihres kranken Töchterchens, streichelte sie und schaute dann zu dem Arzt auf, der die Kleine nochmals untersucht hatte.
»Wann kommen Sie wieder, Herr Doktor?«
»Heute abend, gegen acht Uhr. Ich glaube, meine liebe Frau Wendelin, Sie brauchen sich Ihrer Erna wegen nicht mehr große Sorgen zu machen. Das Fieber ist gefallen, Erna wird wieder Appetit bekommen; ich denke, unser Kleinchen springt in acht Tagen wieder im Zimmer umher.«
»Ich bin Ihnen unendlich viel Dank schuldig, Herr Doktor. Ich glaube, ich habe Sie übermäßig belästigt. Mitunter mache ich mir Vorwürfe. Doch Sie wissen ja, meine drei Kinder sind mein Alles, seit ich meinen guten Mann verlieren mußte. – Wie geht es bei Ihnen daheim?«
Dr. Kirschner, ein Mann von vierzig Jahren, mit einem sympathischen Gesicht, stieß einen schweren Seufzer aus. »Heute hat wieder das Kinderfräulein gekündigt, und die Amme, die ich für Klein-Ulla brauche, ist anscheinend auch nicht ganz zuverlässig. Ja, liebe Frau Wendelin, man muß die Zähne zusammenbeißen, sonst meistert man das Leben nicht.«
Bärbel Wendelin, in ganz Heidenau »Frau Goldköpfchen« genannt, da ihr Haar auch heute noch den goldigen Schimmer hatte, schaute mit trübem Blick auf die schwarze Binde, die Dr. Kirschner am Arm trug. Vor mehr als einem Jahr hatte sie ihren geliebten Harald hergeben müssen, für andere hatte er sein Leben geopfert. Als junge Witwe von dreiunddreißig Jahren blieb sie mit ihren drei Kindern, Hermann, Jürgen und der fünfjährigen Erna, zurück. Damals glaubte sie, es gäbe auf der ganzen Erde nicht noch einmal solch großes Leid wie das ihre. Wenn sie jedoch an das Schicksal Dr. Kirschners dachte, des Arztes, der Nachfolger des alten Sanitätsrates in Heidenau geworden war, so wollte es Goldköpfchen doch bedünken, als habe Dr. Kirschner nicht minder schwer zu tragen. Vier gesunde Kinder nannte er sein eigen, lebte in glücklicher Ehe. In diesem Frühjahr schenkte ihm seine Gattin ein fünftes Kind; doch seit der Geburt Ullas siechte die junge Mutter dahin und schloß bald die Augen für immer. Das traurige Schicksal Dr. Kirschners erregte in ganz Heidenau große Anteilnahme.
Bärbel Wendelin kannte die Kinder des Arztes genau. Da war vor allem der Älteste, der mit ihrem Jürgen in die gleiche Klasse ging, dann der sechsjährige Fritz; er kam oft ins photographische Atelier, das Goldköpfchen nach dem Tode des Gatten in Heidenau eingerichtet hatte, denn sie war seitdem gezwungen, für sich und die Kinder zu arbeiten. Sie wollte nicht nur auf die Unterstützung der Eltern angewiesen sein. Gewiß, der Vater besaß in Dillstadt eine gutgehende Apotheke, doch der Stolz Bärbels ließ es nicht zu, sich von ihm ernähren zu lassen, zumal sie ehedem als Photographin ausgebildet worden war.
»Ich kann mich wenig um meine fünf kümmern«, sagte der Arzt sorgenvoll, »mir fehlt eine zuverlässige Hausdame. Ich besitze keine Verwandte, die abkömmlich wäre. Ich glaube auch nicht, daß eine die schwere Aufgabe übernehmen würde, fünf unmündige Kinder zu betreuen. So muß ich sie fremden Händen überlassen. Was das heißt, meine liebe Frau Wendelin, brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen.«
»Es ist recht schade, daß Erna gerade jetzt krank werden mußte. Ich kann mich augenblicklich meinen Knaben leider auch nicht so widmen, wie ich es möchte. Da ist das Atelier und die kleine Patientin. Ein Glück, daß ich noch meine alte, gute Frau Leuschner habe.«
»Ja, Frau Wendelin, das ist ein Glück! Eine treuere Seele finden Sie kaum.«
»Sie ist seit fast zwölf Jahren in meinem Hause. Es wird ihr freilich schon ein wenig schwer, denn die Kinder machen ihr viel zu schaffen. Wäre sie jünger, würde ich sie Ihnen gern abtreten, Herr Doktor. Ich habe mir auch schon die größte Mühe gegeben, Ihnen eine gutempfohlene Kraft zuzuschanzen. Leider fand ich noch keine.«
»Ich weiß, wie gern Sie mir helfen würden. In ganz Heidenau sind Ihre Hilfsbereitschaft, Ihre Güte bekannt, Frau Wendelin. Laden Sie sich aber nicht noch meine Sorgen auf; Sie haben wirklich selbst genug davon. – Doch nun will ich gehen, ich bin schon lange von daheim fort und werde die Unruhe nicht los, daß dort wieder etwas nicht klappt.«
»Trotzdem haben Sie meine kleine Erna so gründlich untersucht. Ich danke Ihnen herzlich, Herr Doktor.«
Der Arzt drückte Bärbel die Hand. Von dieser Frau ging ein so süßer Frieden aus, daß er sich auf ein kurzes Plauderstündchen mit ihr stets freute. Auch er nannte die immer schwarzgekleidete junge Witwe oft in Gedanken »Goldköpfchen«. Seine verstorbene Frau hatte Bärbel geradezu verehrt. Nun ruhte Frau Kirschner bald drei Monate in der Erde, und Bärbel Wendelin nahm tapfer den Kampf mit dem Leben auf.
Dieser Kampf war nicht leicht. Das noch junge photographische Atelier war vielen Anfeindungen ausgesetzt. Die Konkurrenten Hampel und Rotmühl hatten Frau Wendelin anfangs viel zu schaffen gemacht. Erst im Winter war ein Umschwung eingetreten, als Hermann Wendelin, ihr Ältester, den Photographen Hampel und dessen Tochter vom Tode des Ertrinkens errettet hatte. Seit dieser Stunde sah man die Familie Wendelin mit anderen Augen an. Auch über zu wenig Arbeit konnte Frau Bärbel nicht mehr klagen. Im Gegenteil! Die Kundschaft nahm ständig zu, denn das Atelier lieferte gute Arbeit. So war es notwendig geworden, daß Bärbel eine andere Photographin, Fräulein Karla Schilling, anstellte, mit der es sich vortrefflich arbeiten ließ. Durch Karla Schilling wurde Goldköpfchen stark entlastet und konnte sich wieder mehr den Kindern widmen.
Nun lag die fünfjährige Erna seit acht Tagen an einer schweren Grippe zu Bett und bereitete der Mutter viele Sorgen. Heute war endlich der erste Tag, da die besorgte Mutter wieder hoffnungsvoller in die Zukunft sehen konnte, denn Dr. Kirschner hatte gemeint, die Gefahr sei vorüber. Bärbel wartete, bis Erna eingeschlafen war, dann huschte sie hinüber, um nach den beiden Knaben zu sehen, die ihre Schularbeiten machten. Als sie noch im Flur stand, vernahm sie das schallende Lachen ihres Ältesten.
»Mir tut schon der Bauch weh vom Lachen – hahaha! Was steht denn in deinem Buch, Jürgen?«
»Es steht so hier!«
Goldköpfchen öffnete die Tür. Hermann saß am Tisch, kaute am Federhalter und lachte über das ganze Gesicht.
»Mutti, hast du gehört? Der Jürgen liest biblische Geschichte. Er soll lernen und lernt lauter Quatsch!«
»Ich lerne keinen Quatsch!« ereiferte sich Jürgen. »Hier steht es. Mutti, komm und guck auch mal ins Buch, und sage dem Hermann, daß es wirklich so dasteht.«
»So lies einmal vor.«
Der Achtjährige steckte die Nase ins Buch und begann: »Adam und Eva waren im Paradiese. Adam«, dann wandte Jürgen die Seite um und las weiter, »vernagelte sie und verschmierte sie von innen und außen mit Pech.«
Wieder ließ Hermann ein brüllendes Gelächter hören. »Hast du gehört, Mutti? Der Adam vernagelt die Eva!«
Jürgen griff nach dem Buch. Er wollte es nach dem Bruder werfen. Doch Goldköpfchen legte begütigend die Hand auf den Arm des Erregten.
»Komm, kleiner Jürgen, wir wollen uns das Buch nochmals ansehen.«
»Hier steht es doch«, rief Jürgen weinerlich: »Adam und Eva waren im Paradiese. Adam – –«
»Schmiert die Eva mit Pech zu«, brüllte Hermann. »Ich kugle mich vor Lachen!«
Goldköpfchen nahm das Buch zur Hand. Da waren zwei Blätter ein wenig zusammengeklebt und von Jürgen überschlagen worden. Sie löste die Seiten, die einige Marmeladenflecke aufwiesen, vorsichtig auseinander.
»So, Jürgen, nun lies noch einmal. Du hast zwei Seiten überschlagen, und das Vernageln und mit Pech Beschmieren bezieht sich auf die Arche Noah.«
Hermann lachte noch immer. Er brachte den jüngeren Bruder dadurch erneut in Zorn.
»Aber Hermann«, mahnte Goldköpfchen, »hat dich der Väti jemals so ausgelacht, wie du es tust? Wolltest du nicht Vätis Stelle an den jüngeren Geschwistern übernehmen? Du hast es mir doch versprochen, recht lieb zu sein.«
Sofort erhob sich der Knabe, reichte Jürgen die Hand und sagte herzlich: »Ich bin ein alter Dussel, nicht wahr? Und jetzt ist alles wieder gut. Ich helfe dir nachher beim Rechnen.«
Jürgen verzog zwar noch den Mund, als er aber der Mutter Hand auf seinem Scheitel fühlte, schlug er in die dargebotene Rechte des Bruders ein. Die beiden Knaben, die das große Leid der Mutter kannten, die selber den Vater sehr vermißten, hielten es für ihre schönste Pflicht, der immer traurigen Mutter jeden Ärger zu ersparen. Da beide selten gute Charaktäre hatten, kam es wohl oftmals zu Reibereien, wenn jedoch Goldköpfchen dazwischentrat, wurde der Frieden, freilich manchmal mit größter Überwindung, schnell wieder geschlossen. Goldköpfchen wußte das, und so beglückte sie das Verhalten der Knaben immer aufs neue.
Sie konnte sich glücklich preisen, drei so wohlerzogene Kinder zu besitzen. Wie anders waren dagegen die Sprößlinge Dr. Kirschners! Wilde, ungebärdige, kleine Menschlein. Es kam wohl daher, daß der Vater durch seinen Beruf übermäßig in Anspruch genommen wurde und die Mutter das rechte Erziehungstalent nicht besessen hatte. Zwischen Stefan, Fritz und Marlene gab es dauernd Schlägereien, auch die anderthalbjährige Adele war schon jetzt so eigensinnig, daß kein Kinderfräulein mit ihr fertigwerden konnte. Trotzdem erlaubte Goldköpfchen, daß die Kirschnerschen Kinder in ihre Wohnung kamen, besonders jetzt, da die Mutter unter der Erde ruhte.
»Es geht Erna wieder besser, ihr könnt euch daher am Sonntag die drei ältesten Kirschners herholen. Denkt euch einige nette ruhige Spiele aus.«
»Ach, Mutti, mit denen können wir nicht ruhig spielen. Das ist 'ne Rasselbande.«
»Es ist gut, daß der Fritz so dünn ist«, sagte Jürgen. »Wenn er frech wird, dann drücke ich ihn an die Wand und flach wie eine Flunder.«
»Aber Jürgen! Du wirst doch einen so schwächlichen Knaben nicht an die Wand drücken?«
Wieder lachte Hermann auf: »Die Erna hat gesagt, seine Mutti hat den Fritz, als er klein war, wohl mal durch die Mangel gedreht. So dünn sieht er aus. – Mutti, kriegt er denn nichts zu essen?«
»Gewiß, Hermann.«
»Mutti«, sagte der Knabe betrübt, »er wird schon nichts Richtiges bekommen. Sie haben doch seine Mutter begraben, da ist es aus. – Uns haben sie auch den Väti begraben, doch du bist da und oft bei uns, auch wenn du für uns Brot verdienst. Doktor Kirschner aber ist fast immer weg. Dort muß eine fürchterliche Wirtschaft sein. Oh, Mutti, was uns der Stefan alles erzählt!«
»Es ist furchtbar traurig, daß diesen Kindern die Mutter sterben mußte. Dafür sollt ihr immer doppelt lieb zu ihnen sein.«
»Na, manchmal wird man aber wütend, wenn die losrackern.«
»Immer geduldig sein, Hermann! Denke stets daran, daß es fünf bedauernswerte Geschöpfchen sind, denen ihr Freude bereiten müßt.«
»Mutti, ich weiß noch das schöne Gedicht, das ich dir einmal sagte. Erinnerst du dich daran?«
Goldköpfchen legte den Arm um ihren Ältesten: »Freilich, Hermann, wie sollte ich den Tag vergessen!«
»Nicht allen auf dem Erdenrund, ist dieses hohe Glück beschieden«, sagte der Knabe innig. »So hieß es. Wir haben eine Mutter. Wir sind zufrieden.« –
Frau Leuschner, die alte, brave Kinderfrau, saß im Nebenzimmer und stopfte Strümpfe. Goldköpfchen stattete auch ihr rasch einen kurzen Besuch ab, ehe sie zurück ins Atelier ging.
»Erna schläft, liebe Frau Leuschner. Herr Doktor Kirschner kommt heute abend wieder.«
»Ich gehe gleich hinüber, Frau Wendelin. Sie können sich ruhig Ihrer Arbeit widmen. Ich wollte nur nicht stören, solange der Arzt anwesend war. Wie geht es denn bei Kirschners?«
»Es muß recht traurig sein. Gestern hörte ich, daß der Stefan wieder dummes Zeug angestellt hat. Das Kinderfräulein kündigte abermals – –«
»Zwei sind schon fortgelaufen, seitdem ihm die Frau starb.«
»Es muß für den armen Mann schrecklich sein, Frau Leuschner. Und nun noch das Neugeborene. Solch armes Würmchen! Es wird nie Mutterliebe kennenlernen.«
»Es bleibt Herrn Doktor nichts anderes übrig, als sich sehr bald wieder zu verheiraten. – Fünf kleine Kinder!«
»Gewiß, Frau Leuschner. Es ist schwer für ihn. Er hat seine verstorbene Frau heiß geliebt. Wer weiß, ob er die rechte Mutter für seine Kinder findet.«
»Leicht hat es die Frau nicht, die diese Rangen übernimmt.«
Als Frau Leuschner ihre Arbeit zusammenpackte, um damit hinüber ins Krankenzimmer zu gehen, ging Bärbel zurück ins Atelier. Wenn auch im Juni weniger zu tun war als im Winter und in den Frühlingsmonaten, riß die Arbeit doch nicht ab, und oftmals mußte Goldköpfchen bis spät in die Nacht hinein tätig sein, um allen Wünschen gerecht zu werden. Daß sie damals die am Leben verzweifelnde junge Photographin aufgenommen hatte, bereute sie nicht. Karla Schilling war äußerst geschickt und erfreute sich bei der Kundschaft größter Beliebtheit.
Im Atelier wurde soeben eine Aufnahme gemacht. Im Vorzimmer saßen noch zwei Kunden. Bärbel sprach freundlich mit ihnen. Eine der Damen kam bald auf Dr. Kirschner zu sprechen, den sie ebenfalls kannte.
»Heute ist es wieder böse hergegangen. Stefan hat mit einem Stück Holz nach der Köchin geworfen und sie ziemlich kräftig im Gesicht verletzt. Man hat vergeblich nach Doktor Kirschner gesucht, doch war er nirgends zu finden. So mußte sich die Köchin anderweitig in Behandlung geben. Ach, Frau Wendelin, es ist dort zu traurig.«
Immer wieder kamen Klagen über den ungebärdigen achtjährigen Stefan. Vielleicht wäre es das Richtigste gewesen, den Knaben aus dem Hause zu geben. Doch würde das Kind nicht schwer unter der Trennung von den Geschwistern leiden? – Ob sie Stefan zu sich ins Haus nehmen konnte? Oder würde er schlechten Einfluß auf Hermann und Jürgen haben? Nein, im Gegenteil, er konnte manches von ihren Knaben lernen.
Goldköpfchen beschloß, Dr. Kirschner heute noch ihren Vorschlag zu machen. Mit dem sechsjährigen Fritz und der vierjährigen Marlene würde das Kinderfräulein dann leichter fertig werden. Freilich, es war eine gewagte Sache, an einem solch unartigen Kinde Mutterstelle zu vertreten. Sie hatte auch nicht immer Zeit, den Knaben zu überwachen. Da er aber Schulkamerad ihres Jürgen war, ging es vielleicht doch. Sie mußte dem armen, unglücklichen Arzt ein wenig helfen. Vor allem durfte man die Kinder nicht sich selbst überlassen.
Wieder gingen Goldköpfchens Blicke hinüber zu dem Hügel, unter dem der geliebte Gatte schlief. – Was hatte er ihr noch in den letzten Tagen seines Lebens gesagt? »Wir sind dazu da, mein Goldköpfchen, um anderen zu helfen, wir müssen nicht immer zuerst an uns denken. Dort, wo Hilfe nötig ist, muß man sie gewähren.«
»Häschen, mein Häschen«, klang es weich und innig von Bärbels Lippen, »du würdest in dieser Stunde meinen Plan billigen. Du hättest längst einen Ausweg gefunden, wie man Doktor Kirschner helfen kann, der mir ja auch so treu zur Seite steht. Soll ich es ihm heute abend sagen, mein Häschen? Soll ich dem wilden Stefan in deinem Haus, wenigstens fürs erste, eine friedvolle Heimat geben?«
Goldköpfchen schloß die Augen. Nach solchen Fragen, die sie an einen Toten stellte, lauschte sie in ihr Inneres hinein. Und immer wurde ihr eine Antwort.
Als Dr. Kirschner am Abend wiederkam, als Goldköpfchen in sein sorgenvolles Gesicht blickte, sprach sie ihre Bitte aus.
»Wie könnte ich Ihnen das aufbürden, liebe Frau Wendelin! Stefan ist ein schwieriges Kind.«
»Stefan prügelt sich wohl des öfteren mit Jürgen, doch glaube ich, er mag ihn gern. Mein Hermann ist außerdem ein vernünftiger Junge. – Ich habe mir die Anfrage lange überlegt, Herr Doktor.«
»Nein, Frau Wendelin, Sie würden nicht mehr froh werden, denn Stefan denkt sich täglich einen neuen Streich aus. Er würde den Frieden Ihres Hauses stören. Ich habe mich heute nach einer Hausdame umgetan. Es wird doch aus der großen, weiten Welt einen Menschen geben, der in mein Haus hineinpaßt. Vielleicht gibt es irgendwo ein zweites Goldköpfchen.«
Ein trübes Lächeln huschte über Bärbels Gesicht. »Ich verstehe auch nicht viel von Kindererziehung. Doch es sind meines Haralds Kinder; sie haben sein gutes Herz, seinen prächtigen Charakter geerbt. Da ist es nicht schwer, zu erziehen.«
Obwohl Frau Wendelin nochmals bat, ihr Stefan ins Haus zu geben, lehnte Dr. Kirschner erneut ab. Es schien ihm einfach undenkbar, seinen wilden Knaben hierherzubringen. Freilich, es wäre ein Glück für Stefan und auch für die anderen Kinder. Doch wollte er Goldköpfchens Güte nicht ausnützen. Es mußte ein anderer Ausweg gefunden werden.
»Vielleicht versuchen Sie es auf einige Tage«, sagte Bärbel, als sich der Arzt verabschiedete. »Wenn es bei Ihnen einmal gar zu bunt wird, bringen Sie mir den Knaben her. Ich hoffe, daß ich mit ihm fertig werde.«
Sorgenschwer trat der Arzt den Heimweg an. Er wußte genau, daß man ihn daheim wieder mit Klagen entgegenkommen würde und er die Kinder bestrafen mußte. Doch seine Ermahnungen und Strafen nützten kaum. Hier fehlte die Mutter.
»Wenn der Vater den Kindern genommen wird«, sagte er düster, »ist es sehr traurig; wenn aber die Mutter von fünf Kindern geht, versinkt die Sonne für immer. – Was soll noch werden?«
Die großen Ferien kamen immer näher. Seit Tagen überlegte Frau Goldköpfchen, ob es ratsam und möglich sei, mit den drei Kindern eine kleine Ferienreise zu machen. Obwohl sie eine sparsame Hausfrau war, kostete doch das Atelier mit all seinen Anschaffungen eine Menge Geld, und drei Kinder wollten versorgt sein. Hinzu kam noch, daß Frau Wendelin immer eine offene Hand hatte und Bedürftige niemals zurückwies, ohne ihnen mit einem kleinen Geldbetrag ausgeholfen zu haben. Freilich, wenn sie an den Vater oder an Bruder Kuno schrieb, der jetzt die väterliche Apotheke übernommen hatte, würden sie ihr ohne weiteres einen Reisezuschuß schicken. Doch es war schließlich nicht einmal nötig, daß man eine Reise unternahm, denn daheim in Dillstadt sehnte man sich danach, Goldköpfchen und die Kinder wieder für einige Wochen zu haben. Frau Leuschner, die treue Alte, wurde auch stets herzlich willkommen geheißen; auch ihr tat eine Ausspannung not.
Wenn auch die Kinder volle fünf Wochen in Dillstadt bei den Großeltern verbringen konnten, war es für Goldköpfchen unmöglich, das Atelier so lange zu schließen oder ihrer tüchtigen Hilfe, Fräulein Schilling, allein zu überlassen. Das ging nicht an. Wenn auch in den heißen Sommermonaten Juli und August in Heidenau nicht viel zu tun war, konnte sie doch an völlige Stillegung für mehrere Wochen nicht denken. So überlegte Goldköpfchen hin und her, wie alles wohl am zweckmäßigsten einzurichten wäre.
Als sie den Kindern sagte, daß die großen Ferien wahrscheinlich bei den Großeltern verlebt werden würden, brachen alle drei in laute Freudenrufe aus. Das große Apothekenhaus mit den vielen Kellern und dem langen, dunklen Gang, den drei mit Kisten angefüllten Schuppen, war für Hermann und Jürgen das Interessanteste, was es auf der Erde gab. Was konnten sie dort an seltsamen Spielen unternehmen! Nirgends konnten sie sich so gut verstecken, nirgends so gut Indianer auf Schleichpfaden spielen.
»Du kommst doch mit, Mutti?« fragte Hermann.
»Für einige Tage ganz gewiß. Dann muß ich wieder zurück.«
»Arme, liebe Mutti«, sagte der Knabe, »du mußt nun der Brotverdiener sein, mußt uns alle ernähren und immer arbeiten, auch wenn wir Ferien haben.«
»Frau Leuschner fährt mit euch.«
»Könnte Frau Leuschner nicht lieber in dein Atelier gehen?« fragte die kleine Erna. »Knipsen kann sie doch auch.«
»Nein, Mäuschen, das geht nicht. Aber wir wollen noch überlegen, wie wir alles am zweckmäßigsten einrichten.«
Natürlich dachte Goldköpfchen auch daran, daß Karla Schilling eine Erholungszeit bekam. Da sie wußte, daß Bruder Kuno an dem jungen Mädchen Gefallen gefunden hatte, wollte es Bärbel so einrichten, daß Karla die Kinder aus Dillstadt abholte, dort aber zuvor einige Tage blieb. Warum sollte sie zwei jungen Menschenkindern, die vortrefflich zueinander paßten, nicht ein wenig helfen, ihr Glück zu gründen?
Bei der heutigen Mittagsmahlzeit wurde sehr eingehend von der Reise nach Dillstadt gesprochen. Hermann meinte, es sei die höchste Zeit, die Großeltern zu benachrichtigen.
»Wir haben vierzehn Tage Zeit. Erst wird noch gelernt«, mahnte Goldköpfchen. »Auch muß Erna wieder frische, rote Bäckchen haben.«
»Die streichen wir an«, sagte Hermann gelassen. »Weißt du, wie Fräulein Brodowin es machte, die mich mitnehmen wollte. – Mutti, es ist ein Glück, daß ich mit der nicht mitgegangen bin.«
Mit Unbehagen dachte Bärbel an den Besuch vor fast zwei Jahren. Die Schulfreundin, Hella Brodowin, war Goldköpfchen niemals angenehm gewesen. Später war Hella zum Theater und zum Film gegangen und hatte sich eines Tages, ganz unerwartet, in Heidenau als Besuch angesagt. Vergeblich hatte sie damals versucht, Zwietracht in die glückliche Ehe zu bringen. Und als es nicht gelang, wollte Hella den aufgeweckten Knaben Hermann an sich ziehen, redete ihm vor, er würde als Filmschauspieler Unsummen verdienen. Dadurch wollte sie den Knaben veranlassen, mit ihr heimlich Heidenau zu verlassen. Wäre damals der gute Forstrat Schmeling nicht dazwischengekommen, es hätte ein großes Unglück geben können.
Erna plauderte lustig von den Großeltern; Hermann jedoch betrachtete aufmerksam eine Fliege, die an der Lampe auf und ab spazierte.
»Mutti, ich muß dich etwas fragen.«
»Ich auch«, rief Jürgen.
»Still bist du, erst frage ich!«
»Was willst du wissen, Hermann?« Goldköpfchen wußte genau, daß die Kinder, wenn sie ihre Fragen derartig einleiteten, etwas Besonderes auf dem Herzen hatten. Die unglaublichsten Fragen waren schon gestellt worden, oft, sehr oft, fand sie keine Antwort darauf.
»Mutti, ich möchte gerne wissen, was der Teufel frißt, wenn er nicht in Not ist.«
»Was willst du wissen?«
»Heute sagte einer in der Schule: wenn der Teufel in Not ist, frißt er Fliegen. Der Teufel ist aber nicht immer in Not. – Was frißt er dann?«
»Menschen!« schrie Jürgen.
»Sei still, erst will ich wissen, was er frißt. – Also, Mutti, was frißt er?«
Frau Leuschner unterdrückte ein Lächeln, und auch um Goldköpfchens Lippen zuckte es verräterisch.
»Das ist eine Redensart, Hermann. Du weißt doch, daß es gar viele derartige Redensarten gibt, die nur als Gleichnis dienen. Man sagt doch auch: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, und das bedeutet – –«
»Ich weiß, Mutti! Manchmal ist es sehr gut, wenn man spricht, aber es ist mitunter noch viel besser, wenn man den Mund hält und hübsch zuhört.«
»Sehr brav, Hermann!«
»Wie ist es nun aber mit dem Fliegen fressenden Teufel?«
»Es bedeutet, mein lieber Junge, daß der Mensch, wenn er in Not ist oder wenn er kaum einen guten Ausweg sieht, auch etwas Unangenehmes auf sich nimmt, um sich weiter zu helfen. Ist dir das klar?«
»Also, – wenn ich großen Hunger habe und lange nichts zu essen bekomme, weil ich kein Geld habe, esse ich sogar Kohlrüben.«
»Sehr richtig, Hermann, so ist es gemeint. Du wirst im Leben die Wahrheit dieser Redensart auch erkennen müssen.«
»Ich möchte jetzt auch was fragen!«
»Nun bist du an der Reihe, kleiner Jürgen.«
»Mutti, – gibt es ein Totes Meer?«
»Jawohl.«
»Was hat denn dem Toten Meer gefehlt, daß es tot wurde? Woran ist es gestorben?«
»Ein Meer kann niemals sterben, Jürgen. Es hat seinen Namen daher, daß in seinem Wasser keine Tiere leben können. Das Wasser ist so salzhaltig, enthält außerdem noch viele andere Stoffe, die Lebewesen nicht vertragen können. Und weil in ihm und um das Meer alles tot ist, heißt es das Tote Meer.«
»Ein komisches Meer!«
»Ich möchte auch was wissen«, sagte Erna. »Im Auto vom Onkel Doktor ist vorn ein Thermometer drin. – Hat das Auto auch Fieber, wie ich?«
Jetzt mußte Goldköpfchen hell auflachen. Doch ehe sie Erna eine Antwort erteilen konnte, kam Hermann mit einer neuen Frage.
»Nur noch eins möchte ich wissen, Mutti, davon haben sie heute in der Schule gesprochen. – Auf dem Lindenplatz steht neben dem Karussell eine Bude. Dort drin ist ein – – ein – – Fakir zu sehen. – Was ist denn ein Fakir, Mutti?«
»Ein Inder, mein Junge, der allerlei Kunststücke zum Besten gibt. Durch eiserne Willenskraft haben es diese Fakire dahin gebracht, daß sie sich Nadeln oder Nägel ins Fleisch stechen können, ohne Schmerzen zu empfinden.«
»Muß schön sein, solch ein Fakir zu sein«, meinte Hermann. »Wenn man ein Junge ist, und, wie der Stefan Kirschner, oft Prügel bekommt, wäre es fein, wenn er auch so ein Fakir wäre. Wenigstens hinten und im Gesicht. – Mutti, Kirschners Köchin hat ihn gehörig verhauen, als er sie mit dem Stück Holz geworfen hatte. Und das Fräulein, das sie jetzt haben, verkeilt ihn auch jeden Tag. Der Stefan möchte gewiß gern ein Fakir sein.«
»Wie geht es denn bei Kirschners?«
»Schlimm, Mutti, sehr schlimm. – Na, dort muß eine Wirtschaft sein! Der Stefan hat gestern, als ich aus der Schule kam, von einem Mann auf der Straße Prügel bekommen.«