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Spirituell gelangweilt, von Hierarchien frustriert: Nina Achminow hatte von der Kirche die Nase voll und ist ausgetreten, wie so viele. Aber anders als die meisten gibt sie sich nicht damit zufrieden. Sie begibt sich auf eine religiöse Suche und findet dabei immer mehr ihren eigenen Weg. Dieser führt sie zu einem tieferen und authentischen Glauben und am Ende schließlich zum Wiedereintritt in die Kirche. Achminow erzählt zutiefst persönlich, manchmal provokant, ohne Friede-Freude-Trivialität, aber auch ohne plumpe Polemik. Ein ehrliches Buch über Zweifel, Kämpfe und den Mut, sich auf den Glauben und seine Fragen einzulassen. »Im Lauf der Jahre vor meinem Austritt ist mir meine Unbefangenheit abhanden gekommen. Mein Vertrauen zur Kirche ebenfalls. Ich diskutierte auch nicht mehr.Wenn sich ein Gespräch ergab, zog ich es vor, sehr allgemein zu bleiben. Die Kirche, zumindest die in Rom, war für mich zu einer Kirche der alten Männer geworden, denen ich nichts sagen durfte und die mir nichts zu sagen hatten.« (Nina Achminow)
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Seitenzahl: 210
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Nina Achminow
Gott – glaube ich
Mein Weg raus aus der Kirche und wieder zurück
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand
Umschlagmotiv: © veleknez – shutterstock
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN Print 978-3-451-37524-8
ISBN E-Book 978-3-451-81002-2
Für meine Mutter und für meine Tochter
Inhalt
Prolog
Gültig, aber unerlaubt
Kinderglaube
Das Ding mit der Beichte
Ausgeschlossen
Unauflöslich
Schule machen
Worum geht es denn: eigentlich Gott?
Helle Träume
Frauenkörper
Gott – glaube ich
Ewige Verdammnis
Er ist wahrhaftig auferstanden
Mein katholisches Kind
Das Gute behaltet
ALS ICH MICH dazu durchgerungen hatte, aus der Kirche auszutreten, und im Amtsgericht Charlottenburg die Mitteilung unterschrieb, reichte mir die Sachbearbeiterin eine Kopie des Formulars mit dem Worten: »Damit können Sie jetzt Ihre Steuerkarte ändern lassen.« Als ob es mir ums Geld gegangen wäre. Ich war ein wenig enttäuscht, dass sie mich nicht nach meinen Gründen fragte. Dass diese Frau nur für den Verwaltungsakt zuständig war und mit der Kirche selbst nichts zu tun hatte – so weit habe ich damals nicht gedacht.
Es gab mehr, was ich damals nicht durchdacht hatte. Gutes und Schlechtes.
Dreizehn Jahre später, als ich wieder eintrat, war mir vieles klarer. Die Kirche, in der ich um meine Wiederaufnahme gebeten habe, liegt nur zweihundert Meter vom Amtsgericht Charlottenburg entfernt. Der innere Weg war deutlich länger.
Die äußeren Umstände sind schnell erzählt. Ich bin in München als Katholikin aufgewachsen, als Tochter eines russischen Emigranten und einer in Deutschland groß gewordenen Niederländerin, er Soziologe, sie Journalistin. Als nicht mehr ganz junge Erwachsene, mittlerweile beruflich in Berlin, bin ich aus der Kirche ausgetreten, nach längerem Hadern und in großem Zorn. Gott blieb mir; ganz vom Glauben abgefallen bin ich nie. Aber mit der Kirche, der römisch-katholischen Kirche, so wie ich sie noch wahrnahm, hatte ich nichts mehr zu tun.
Als ich Mutter wurde, wollte ich meiner Tochter die Chance geben, den Glauben meiner Kindheit selbst zu erleben. Sie wurde getauft, obwohl für mich ein Wiedereintritt damals nicht in Frage kam. Mein Kind begleitend, habe ich mich dann der Institution Kirche vorsichtig wieder angenähert. Gleichzeitig habe ich im persönlichen Umfeld miterlebt, was der Ausschluss vom Empfang der Sakramente bedeuten kann, wenn man die Lehre der Kirche ernster nimmt als ich. Das führte zu einer lebhaften Auseinandersetzung mit der Kirche, ihrer Lehre, ihren Vertretern – und mit meinem Glauben. Es führte zu meinem Wiedereintritt in die römischkatholische Kirche. Und es führte dazu, dass ich heute spreche, anstatt zu schweigen.
In diesem Buch erzähle ich Geschichten. In ihrer Summe sind sie die Geschichte einer, meiner Auseinandersetzung mit der Kirche, mit der römisch-katholischen Kirche, meiner Kirche; die Geschichte einer Auseinandersetzung, die mit dem formalen Akt der Rekoziliation noch lange nicht beendet war. Und das ist alles so geschehen? Ja. So, oder ähnlich. All diese Dinge, die ich hier erzähle, sind passiert. So, oder auch nicht ganz genau so. Oder etwas anders. Oder es war noch mehr, noch schwieriger, noch leichter, aber es ist mir nicht gelungen, das gut zu erzählen. Was ich nicht in Worte fassen konnte, fehlt. Was sich nicht spannend erzählen ließ, fehlt auch. Ich bin Theatermensch. Und ich bin Geschichtensammler.
Ähnlichkeiten mit toten oder lebenden Personen sind kein reiner Zufall, aber auch nicht wichtig. Wer wer gewesen ist, ist völlig unerheblich. Es geht mir nicht um einzelne Menschen. Es geht um Phänomene. Es geht mir um den Widerhall des Glaubens, der Lehre, der Theologie im Leben. In Lebensläufen. Im gelebten Leben, das manchmal glückt und manchmal scheitert, manchmal verdient und manchmal unverdient, und allermeistens irgendwo dazwischen. Was hat der Glaube, und was hat die Kirche mit dem Leben zu tun? Vielleicht ist das meine eigentliche Frage.
Suchet und ihr werdet finden, klopfet, und euch wird aufgetan. Mein Dank gilt allen Kirchlichen, den Geweihten und den Laien, denen ich begegnet bin im Lauf der Jahre. Nicht immer habe ich geklopft, manchmal habe ich einen Bogen ums Haus gemacht, manchmal bin ich draußen stehen geblieben und manchmal mit der Tür ins Haus gefallen. Aber die Türe stand mir immer offen, auch wenn ich sie gerade erst wieder einmal hinter mir zugeknallt hatte. Danken möchte ich auch meinen Freunden – und meinen Feinden – auf Facebook und in anderen Internetforen. Viele engagierte Diskussionen über Glaubensthemen mit vielen sehr unterschiedlichen Menschen, mit Gläubigen, Ungläubigen, Kirchlichen und Antikirchlichen, in vielen Städten, Ländern, sogar Kontinenten wären analog nicht möglich gewesen, manchmal auch nicht erträglich, haben aber hoffentlich nicht nur meinen Horizont erweitert. Danken möchte ich meinem Verlagslektor Simon Biallowons, der mir, nachdem er einen ersten Text gelesen hatte, dieses Buch zugetraut und vorgeschlagen hat. Besonders und von ganzem Herzen danken möchte ich Pater Christoph Soyer SJ, der da war, als ich Anlauf nahm, um mit der Kirche zu sprechen statt über sie. Er hat meinen langen Weg der Versöhnung weit über den Wiedereintritt hinaus geistlich begleitet.
Nina Achminow, Berlin
MEINE BESTE FREUNDIN war evangelisch. Als Kinder war das für uns kein großes Thema. Wir hatten getrennten Religionsunterricht, aber im normalen Unterricht durften wir ja auch nicht nebeneinander sitzen, weil wir zu viel quasselten. Die beiden Kirchen lagen nicht weit voneinander entfernt. Wir gingen sonntags meistens zur Kirche, ihre Familie seltener. Ob es bei ihnen auch die Kommunion gab, darüber machte ich mir keine Gedanken. In der Schulzeit meiner älteren Schwester hatte es noch Diskussionen über Koedukation gegeben. Damit war nicht etwa der gemeinsame Schulbesuch von Buben und Mädchen gemeint, sondern der von Katholiken und Protestanten. Aber ich bin mitten in der Zeit des Konzils zur Welt gekommen. In der Zeit, in der ich in den katholischen Glauben hineinwuchs, herrschte in der Kirche Aufbruchsstimmung. Einmal, das muss in der vierten Klasse gewesen sein, ist meine Freundin mit mir in unsere Messe gegangen. Wir saßen mit den anderen Kindern in den vordersten Reihen. Nach der Messe sprach meine Mutter mich an. Sie wunderte sich, dass meine Freundin mitgekommen war. Die Messe einmal zu besuchen sei ja in Ordnung, aber dass meine Freundin mit nach vorne gekommen sei, zur Kommunion? Zum Sakrament?
Ich verstand damals nicht, was meine Mutter irritierte. Mein Bruder und ich waren mit vier Jahren zur Frühkommunion gegangen, und unsere ältere Schwester, russisch-orthodox getauft, hatte Kommunion und Firmung mit der Taufe empfangen – als Baby. Warum sollte meine Freundin nicht mit mir zur Kommunion gehen? Sie ging doch auch zur Kirche, nur halt zur anderen! Meine Mutter insistierte nicht. Es blieb ja auch nur bei diesem einen Mal.
Jahrzehnte später, nachdem ich ausgetreten und wieder eingetreten war, nachdem ich gelernt hatte, fröhlich auszusprechen, was ich glauben konnte und was nicht, begegnete ich in meinen Forendiskussionen Katholiken, die den unerlaubten Kommunionsempfang – wörtlich! – als Kapitalverbrechen bezeichneten. Einer schrieb in einer Diskussion über ein konfessionsverschiedenes Ehepaar, das erwog, gemeinsam hinzuzutreten, dass er sich gefürchtet hätte, vor Gott nicht zu bestehen, wenn er einen solchen Vorfall auf sich hätte beruhen lassen. Ein anderer, ebenfalls ein Laie, verkündete, man müsse einem solchen Verhalten schlimmstenfalls persönlich entgegentreten.
Er glaubt, er habe Recht. Kirchenrecht. Immerhin zieht sich, wer die eucharistischen Gestalten wegwirft oder sie in sakrilegischer Absicht entwendet, die Tatstrafe der Exkommunikation zu. Die Tatstrafe heißt so, weil es ausreicht, dass man eine Tat begeht. Ob das jemand bemerkt, ist unerheblich. In der Kirche gibt es einen Richter auch ohne Kläger. Ob freilich meine Beihilfe zum unerlaubte Kommunionsempfang damals mit etwas bösem Willen auch als Sakrileg deutbar gewesen wäre, weiß ich nicht. Allerdings war ich erst zehn und, wie ich mittlerweile weiß, zu jung, um exkommuniziert zu werden. Immerhin.
Was für eine angstvolle Art des Glaubens. Diese Art der Gottesfurcht ist und bleibt mir vollkommen fremd. Ich habe mich bemüht, diesen Glauben zu verstehen. Ich habe versucht, zu verstehen, ob das der wahre Katholizismus ist, dem ich dann halt nicht angehöre. Zu einem richtigen Ergebnis bin ich nicht gekommen. Stattdessen ging ich auf die Suche.
»Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.« Dieses Gebet hat mich immer berührt. Es war das, was mir in den Sinn kam und kommt, wenn ich das Gefühl habe, mich in eine Sackgasse manövriert zu haben, und es war der Kulminationspunkt hitziger Diskussionen, wenn ich mit Freunden stritt, die aus der Kirche ausgetreten waren und sie rundheraus ablehnten. Typisch katholisch, diese Selbstdemütigung, schimpften sie. Aber erstaunlicherweise empfand ich an diesem Punkt der Liturgie genau das Gegenteil. Unter meinem Dach mochte Chaos herrschen, und hätte der Herr auf einmal vor der Tür gestanden, ich wäre vielleicht ins Stottern gekommen und hätte mich geniert, ihn hereinzubitten. Aber dass Gott das eine Wort sprach, das meine Seele würde gesunden lassen, daran zweifelte ich nicht. »Kostet und seht, wie gut der Herr ist!« Mit diesen Worten lädt der Priester die Gemeinde ein, hinzuzutreten. Oder: »Selig, die zum Tisch des Herrn geladen sind!« Ich wusste, dass ich zum Tisch des Herrn geladen war. Insofern war ich selig, keine Frage. Die Frage war für mich wohl eher, ob und wann und wie es mir gelingen würde, das eine Wort, das Gott mir zusprach, auch zu hören.
Im Lauf der Jahre vor meinem Austritt ist mir meine Unbefangenheit abhanden gekommen. Mein Vertrauen zur Kirche ebenfalls. Ich diskutierte auch nicht mehr. Wenn sich ein Gespräch ergab, zog ich es vor, sehr allgemein zu bleiben. Die Kirche, zumindest die in Rom, war für mich zu einer Kirche der alten Männer geworden, denen ich nichts sagen durfte und die mir nichts zu sagen hatten. Auszutreten aus dem römischen Verein, das war nur konsequent. Der Abstand beruhigte mich halbwegs. Ich hatte es nicht mehr nötig, zu reagieren, wenn jemand über die Kirche schimpfte. Ich brauchte auch keine Rechtfertigung mehr zu suchen für das, was ich von der Kirche mal hier, mal da so hörte und oft unerträglich fand.
Unser Kind veränderte die Situation. Meiner Tochter wollte ich den vertrauensvollen Glauben meiner Kindheit nicht vorenthalten. Die Grundgeborgenheit in Gott. Ja, aber: in welcher Kirche? Wäre es für die Taufe nötig gewesen, dass ich mich in aller Form zu einer Kirche bekenne, dann wäre es die Alt-Katholische gewesen. Katholisch wie ich, aber die Priesterinnen dürfen heiraten – so brachte ich es auf den Punkt, wenn das Gespräch auf das Thema kam. Aber das Thema kam nur selten zur Sprache. Ich wurde nicht gezwungen, mich zu entscheiden. Mein Kind wurde römisch-katholisch, ich blieb irgendwie katholisch und mein Mann ungetauft. Die Messe besuchte ich gelegentlich; meine Tochter wuchs heran, und wenn sie mit dem Kindergarten oder mit der Schulklasse zur Kirche ging, schloss ich mich gerne als Begleitung an. Ich wollte wissen, was mein Kind zu hören bekam.
In der Zeit, in der ich mein katholisches Kind begleitete, wusste ich noch nicht, in welchem Ausmaß diese, meine Kirche vom Empfang der Sakramente ausschließt. Ich war tatsächlich katholisch groß geworden, ohne jemals über dieses Thema zu stolpern. Ein Armutszeugnis für die heutige katholische Bildung, würde mancher meiner Diskussionspartner vermutlich sagen. Wirklich bewusst wurde mir das Thema erst, als in meinem Umfeld eine Geschichte geschah, die ich nicht habe fassen können, und die sich wie ein roter Faden immer wieder durch meine Fragen gezogen hat, eine Geschichte, die ich so oder ähnlich in der Zeit danach immer wieder in verschiedenen Familien mitbekommen habe, kaum dass ich sensibler für das Thema geworden war.
Überraschend starb einer unserer katholischen Bekannten. Er hinterließ seine Frau und zwei kleine Kinder. Erst nach seinem Tod reimte ich mir zusammen, warum er sich in der letzten Zeit bei mir nach der Gemeinde erkundigt hatte, in der mein Kind heranwuchs. Denn auch für seine Kinder rückte die Zeit der Erstkommunion näher. Er glaubte wohl, dass er und seine Frau in ihrer eigenen Gemeinde nicht mit ihren Kindern würden hinzutreten können, um die Kommunion zu empfangen. Es war seine zweite Ehe. Sie wagten es nicht, Ärgernis zu erregen. Sie litten an der Situation, aber sie schwiegen. Wollten das Gespräch suchen und taten es nicht. Bis er verstorben war. Beim Requiem für ihn sahen die Kinder ihre Mutter zum ersten Mal vor dem Altar. Kirchenrechtlich gesehen war der Kommunionsempfang nun wieder möglich; so erklärte mir das ein Theologe, mit dem ich auf einem Gemeindefest ins Gespräch kam. Das Ärgernis der irregulären Ehe bestünde ja nun nicht mehr.
Ich war schlichtweg entsetzt, als ich sah, was der Ausschluss von den Sakramenten für die junge Frau bedeutet hatte. Wie sprachlos er die beiden gemacht hatte. Und was er bedeutet, wenn man ihn weiter denkt. Hätten diese zweiten Familien also alle nicht gegründet werden dürfen, aus katholischer Sicht? Ist das die Botschaft? Und was bedeutet diese Sicht für Kinder, die in diesen Familien geboren wurden und in den Glauben hineinwuchsen? Wie soll man diesen Kindern die Beichte und die Kommunion erklären, wenn ihre Eltern davon ausgeschlossen sind, weil sie ihre Eltern wurden? Ist das eine Kirche, der Eltern diese Kinder anvertrauen können?
Ich zweifelte – an diesen Freunden, und an dieser Kirche, der ich gerade wieder etwas näher gekommen war. Und an mir selbst, die ich kein Mitglied war. Darf ich hier sein? Will ich das denn überhaupt? Sieht Gott in die Herzen? Kommt es darauf an? Auf Gott? Oder auf die Kirche? Oder auf die Kommunion?
Mit einem Schlag kam ich mir selbst fremd vor. Unwillkommen. Auch unaufrichtig. Unklar. Selig, die zum Tisch des Herrn geladen sind! Die ausgeschlossenen Eltern waren beides nicht mehr. Und ich? Im Internet stöberte ich durch Glaubenserklärungen und Forendispute, stolperte über Begriffe wie Ärgernis und Stand der Gnade. Den Zusammenhang von Kommunion und Beichte. Klarer wurde ich mir davon nicht. War denn nicht der höchste, der wichtigste Indikator das Gewissen? Zumindest meinte ich mich daran zu erinnern, dass wir das so gelernt hatten, damals, in der Grundschule. War es nicht das, was ich immer verteidigte an meiner katholischen Sozialisation?
Ja, das Gewissen! Das recht geschulte, allerdings. Auf der Internetseite des Vatikans stieß ich auf eine Homilie von Papst Johannes Paul II. In dieser Homilie sprach er von den Gläubigen, deren Gewissen ihnen sagt, sie dürften hinzutreten. Der Papst empfahl, diese Gläubigen zwar keinesfalls zu brüskieren, aber das Gespräch zu suchen und ihnen, falls sie sich nicht einsichtig zeigten, gegebenenfalls dann halt doch die Kommunion zu verweigern. Soviel also zum Respekt vor dem Gewissen als Wert. Anscheinend hatte ich da etwas falsch verstanden. Die katholische Gewissensfreiheit, die ich von klein auf als hohen Wert internalisiert hatte, schien nichts anderes zu sein als die Freiheit der Einsicht in die amtlicherseits verkündete Notwendigkeit, wie ich sie von Hegel kannte und im Marxismus verorten konnte. Die Partei hat immer Recht, die Kirche also auch. Sieh einer an.
Ein Religionslehrer aus dem Gymnasium, den ich bei einem Klassentreffen wiedersah, schüttelte den Kopf, als ich von meinen Freunden erzählte, die sich gefürchtet hatten, zurückgewiesen zu werden, und nicht hinzugetreten waren. Niemals dürfe man jemanden an der Kommunionsbank abweisen; das habe er schon vor vierzig Jahren im Priesterseminar gelernt. Ich verstand gut, was er meinte. In einer orthodoxen Kirche hatte ich einmal beobachtet, wie einer jungen Frau die Kommunion vom Priester verweigert worden war. Was auch immer dahintergestanden haben mochte – die Peinlichkeit der Situation hat sich mir tief ins Gedächtnis eingebrannt. Die Frau wandte sich schließlich ab und verließ die Kirche. An ihrer Stelle hätte ich sie wahrscheinlich nie wieder betreten. Jetzt verkniff ich es mir, meinem alten Lehrer gegenüber den heute heiligen Papst zu zitieren. Ich hätte dann nicht an mich halten können. Und das hätte den freundlichen Gesprächsrahmen gesprengt.
Als ich viel später in einer Diskussion auf dieses Thema zurückkam, belehrten mich die Internetkatholiken, der Sinn der Regel »keine Diskussion am Kelch« sei, deutlich zu machen, dass die schwere Sünde des unerlaubten Kommunionsempfangs allein auf dem Empfänger lasten würde. Der Kommunionsspender sei nicht verpflichtet, die Kommunion zu verweigern, er sei nicht verantwortlich zu machen und stünde rein vor Gott. Als sei es das, worum es eigentlich geht.
Was ist das denn eigentlich, ein Sakrament? Sieben Sakramente gibt es im Katholizismus; die Taufe und die Firmung, beides Initiationssakramente, ebenso wie das Altarsakrament, die Eucharistie, die man immer wieder empfangen kann, während Taufe und Firmung nur ein einziges Mal empfangen werden können. Dann die Beichte und die Krankensalbung, beides Sakramente der Heilung; und die beiden Sakramente der Lebensweise: das Sakrament der Ehe, das die Eheleute sich gegenseitig spenden, und die Weihe, diese in drei Stufen – Diakonweihe, Priesterweihe und Bischofsweihe, die die römisch-katholische Tradition Männern vorbehält. Nur Geweihte dürfen Beichten hören und die Absolution zusprechen, nur Geweihte dürfen Kranke salben, die Eucharistie zelebrieren und taufen. Ausnahme ist die Taufe in Situationen der Lebensgefahr.
Ein Sakrament, so erklärt es die Deutsche Bischofskonferenz auf ihrer Webseite, ist das sichtbare Zeichen einer unsichtbaren Wirklichkeit. Christus ist in den Sakramenten der eigentlich Handelnde. Da Gott jedoch immer und überall gnädig gegenwärtig ist, kann der Empfang eines Sakraments kein Mehr an Gnade zur Folge haben, sondern nur die persönliche Beziehung zu Gott verbessern. Sakramente sind Kommunikationsmittel, die die Gnade Gottes greifbarer werden lassen und den Empfänger im Glauben und im Leben stärken.
Kommunikationsmittel, die die Gnade Gottes greifbarer werden lassen. Wie schön! Eine Geschichte kommt mir in den Sinn, die meine Mutter aus ihrer Kindheit aufgeschrieben hat. Ein nasskalter, trüber Morgen. Sie ist auf dem Weg zur Schule. Ein Priester in bodenlanger Soutane kommt ihr entgegen, auf dem Kopf ein Birett, er trägt die Verseh-Patene vor sich her wie eine Monstranz, vor ihm ein Ministrant, der ein Glockenbündel schwingt. Die Passanten knien nieder, machen das Kreuzzeichen. Fenster öffnen sich, ernste Gesichter dahinter. Auch sie kniet nieder, die Schultasche auf dem Buckel, mit klopfendem Herzen. Sie weiß: Das ist ein Versehgang. Da verlangt jemand nach der »Letzten Ölung«. Das Bild hat sich ihr eingebrannt, über viele Jahrzehnte, und das Gefühl auch: Der Schauder, zu wissen, da ist jemand, der stirbt, jemand, der auf seine letzte Wegzehrung wartet. Der vielleicht auch ihr Gebet braucht: Herr, gib ihm die ewige Ruhe. Im Raum von Gottes Zärtlichkeit – so hat meine Mutter ihren Artikel überschrieben, in dem sie das Sakrament der Krankensalbung erläutert hat. Und als ihre eigene Mutter starb, hat meine Mutter erwähnt, dass die Oma versehen gestorben ist.
Birett, Verseh-Patene, sogar Soutane oder auch Monstranz: All das sind Begriffe, die heute vielleicht erklärt werden müssten. Und dass jemand »versehen gestorben« ist – auch das dürfte vielleicht nicht mehr so einfach verstanden werden. Aber was für eine liebevolle Tradition. Versehen mit dem Sakrament der Krankensalbung, versehen mit der fühlbaren Zuwendung Gottes; Gott, der – auch ohne Sakramente, auch wenn wir ihn nicht greifen können – immer und überall gegenwärtig ist, in all den Lebenssituationen, die der Raum der Sakramente umfasst. Wer oder was auch immer das sein mag. Gott, und Gottes Gnade. Und wie auch immer so ein Leben verläuft. Ich beginne zu ahnen, was das Katholische ausmacht. Zugleich wirft mich die Frage nach den Sakramenten mitten hinein in den inneren Aufruhr, der mich einige Zeit beschäftigen wird. Und mitten hinein in das, was an der Lehre der katholischen Kirche von außen vielleicht am wenigsten verständlich scheint.
In einem hellen Gesprächsraum, weit weg von allen, die mich kennen, fand ich mich einem Pater gegenüber, dem ich meinen Namen nicht gesagt hatte und dem ich meine Geschichte, meinen Zorn und meinen Zweifel auf den Tisch legte, ein freundlicher, zugewandter Mensch, jünger als ich, der auf mein Insistieren bestätigte: Das stimmt, Sie dürfen nicht hinzutreten, wenn Sie ausgetreten sind. Er blieb sachlich, ich nicht. Für mich verdunkelte sich das Licht in meinen Augen. Junge, geht’s noch, schoss mir durch den Kopf, spinnt ihr? Hat ein Mensch, und sei’s der Papst persönlich, darüber zu befinden, ob Gott meine Bitte erhört?
Und, nebenbei bemerkt, was soll denn sein, wenn ich einfach hingehe? Der Pater blieb gelassen. Um mir die Bezeichnung »unerlaubt, aber gültig« zu erläutern, erzählte er mir ein Beispiel. Jemand bittet um ein Beichtgespräch, man vereinbart einen Termin, trifft sich in einem Beichtraum, der Priester hört die Beichte und spricht die Absolution zu, und danach gehen beide, Beichtvater und Pönitent – auch das zwei Wörter, die man heutzutage wahrscheinlich oft erklären müsste – aus dem Haus, und auf der Straße angekommen, sagt der Mann: »Ach, übrigens, das habe ich ganz vergessen, Ihnen zu erzählen: Ich bin evangelisch, aber schon vor Jahren ausgetreten.« Wollte man einen Vorfall wie diesen kirchenrechtlich deuten, erklärte mir der Pater, dann könne man fragen, ob die empfangene Absolution unerlaubt gewesen sei, aber gültig, oder nicht. Ebenso wie die Kommunion, die ich als getaufte Christin gültig empfange, obwohl es mir nicht zusteht, hinzuzutreten. Ich merkte mir diese Formulierung, weil ich mir darunter nichts vorstellen konnte. Was soll das denn heißen? Kirchlich gesehen nein, vor Gott dann aber irgendwie doch?
Die Geschichte hat mich lange beschäftigt. Ich hatte den Pater nicht gefragt, ob er das selbst erlebt habe, und überlegte, ob diese Geschichte nur dazu diente, einen kirchenrechtlichen Aspekt zu illustrieren, oder ob er mir deutlich machen wollte, was ich tat. Ich meinte aber wahrzunehmen, dass ihn die Geschichte ärgerte. Warum? Weil ihm diese Tüftelei selbst wesensfremd war? Oder weil er sich durch den Mann veräppelt fühlte? Von Freunden, ehrenamtlichen Seelsorgern, wusste ich, dass Inszenierungen nicht selten vorkamen. Gut fand das keiner, aber auch wer sich mit einer erfundenen Geschichte meldet, hat doch ein Anliegen, ein Bedürfnis, das er, wie schräg auch immer, äußert – und sei es das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit. Und wer einen Priester darum bittet, Gottes Vergebung erfahren zu dürfen, ahnt doch wohl immerhin, dass er sie nötig haben könnte.
Genauso sehr beschäftigte mich die Frage, was derjenige, der sich so benommen hatte, wenn diese Geschichte denn wirklich so geschehen war, damit erreichen wollte. Wozu hat jemand es nötig, so eine Nummer abzuziehen? Warum bittet er nicht einfach um ein Gespräch mit einem Geistlichen? Und wenn es ihm ein Bedürfnis ist, die Beichte abzulegen, das Ritual zu erfahren, das Sakrament zu fühlen, wozu hat er es dann nötig, dem Priester hinterher noch mitzuteilen, dass er gar nicht zur Kirche gehört? Was soll denn das: Reaktionen austesten? Eine Show abziehen? Oder war der Mann schlicht nicht sensibel genug, sich darüber Gedanken zu machen, was sein Verhalten bedeutete, dem Priester gegenüber, und auch sich selbst gegenüber? Oder gegenüber Gott?
Und ich selbst benahm mich ja genauso. Ich trat hinzu zur Kommunion, obwohl mir mittlerweile bewusst war, dass ich mich durch meinen Austritt selbst aus der Kommunionsgemeinschaft ausgeschlossen hatte. Bisher hatte ich mir keine großen Gedanken über dieses Thema gemacht. Es schien mir eine Sache zwischen Gott und mir, und was die Kirche betraf, die sollte sich doch freuen, wenn ich überhaupt noch manchmal kam. Ohnedies blieb ich auf Abstand, fast ganz draußen, ganz hinten, in der letzten Reihe. Der Weg zur Kommunion, wenn ich denn mal da war, war ein Weg aus meinem Schneckenhaus hinaus. Insofern mutig. Und keiner, mit dem ich über das Thema meiner Nicht–Mitgliedschaft sprach, kam auf die Idee, mich zu ermahnen, ich hätte der Kommunion fernzubleiben. Zugegeben: Ich sprach auch nicht besonders oft darüber. Eigentlich nie.
In der Heimatgemeinde sah ich, wie eine Frau dem Pfarrer mit vor der Brust gekreuzten Armen gegenübertrat, die Hände auf den Schultern. Ich kannte diese Geste aus den Schülermessen, die kleinen Kinder kamen so nach vorne, die Zeit der Frühkommunion, wie ich sie selbst erlebt hatte, war längst vorbei. Von einem Erwachsenen allerdings hatte ich die Geste nie gesehen. Der Pfarrer bot der Frau die Kommunion an, aber sie öffnete die Arme nicht. Er ließ ihr Zeit, ihre Entscheidung zu überdenken. Dann legte er die Hostie in den Kelch zurück und segnete die Frau. Als schließlich ich herantrat, griff er tiefer in den Kelch und holte eine Hostie heraus, die er in seinen Händen zerbrach. Mich irritierte das, denn ich verstand nicht, was die Geste bedeutete: Ganz einfach, dass die Hostien nicht reichten und für die letzten, die hinzutraten, geteilt werden mussten. Macht nichts, das gilt genauso, sagte mir der Blick des Priesters. Gütig. Gültig, aber unerlaubt – inzwischen kannte ich die Unterscheidung. Ob er eigentlich von meinem Status wusste?
Mittlerweile hatte ich den Gedanken hinter dem Kommunionsausschluss verstanden. Wer unbereute Sünde mit sich herumträgt, kann den Leib Christi nicht fruchtbringend empfangen, katholisch gedacht. Und wer nicht im Verein ist, kann nicht in der Liga spielen. Lag die Wahrheit irgendwo dazwischen? Und konnte, wollte ich sie annehmen? Die Wahrheit Gottes, oder die Wahrheit der Institution? Was sprach denn dagegen, im Geist zu kommunizieren, aus Respekt vor der Lehre, und nicht hinzuzutreten, wie es ein Bischof im Gespräch auf seiner Facebookseite den Gläubigen, die in zweiter Ehe leben, nahelegte? Was sprach dagegen, hinzuzutreten und um einen Segen zu bitten? Was sprach dagegen, in der Bank zu bleiben, als Beobachter? Was sprach dagegen, die Regeln der Institution um Gottes Willen zu ignorieren? Oder zu respektieren? Wozu hatte ich diese Gedanken nötig? Und was würde der Priester tun, wenn er um meinen Status wüsste?
Auf dem Gemeindeplan sah ich, wann der Pater, der mir das Beispiel von der gültig, aber unerlaubt empfangenen Absolution erzählt hatte, in der Gemeinde seines Ordens die Sonntagsmesse las. Der Tag war sonnig, die Kirche lichtdurchflutet, ich war viel zu früh da, der Pater sah mich, als er den Text der Predigt bereitlegte, und kam auf mich zu, um mich zu begrüßen. Er wirkte überrascht, ich empfand mich als distanziert und verkroch mich in der Marienkapelle, um der Beklemmung nachzuspüren, die mich in dem kleinen Raum beschlichen hatte. Dann begann die Messe.