Gott - Luis Antonio Gokim Tagle - E-Book

Beschreibung

Tagle spricht über persönliche Erfahrungen oder auch biblische Geschichten und ihre Bedeutung für den Glauben heute. Die biblische Geschichte der Begegnung am Brunnen Sicar ist dabei exemplarisch: Tagle erzählt, dass Jesus keine Angst vor dem Anderen hatte. Er zeigt, wo in unserem Leben die "Brunnen" sind. Und vor allem geht es Tagle um die Frage, wie man heute von Gott erzählen kann. Er erzählt zum Beispiel, wie er einem Landstreicher hilft, der ein Baby hat und fast verhungert ist und der ihn nur fragt: "Sind Sie Priester?" "Ja." "Wo ist Gott?" Und Tagle zeigt in diesem Buch, wo Gott ist.

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LUIS ANTONIO GOKIM KARDINAL TAGLE
Gott
Vom Wagnis der Hoffnung
Titel der zugrunde liegenden Ausgabe:
Il rischio della speranza
Come raccontare Dio ai nostri giorni
© 2017 EMI, Bologna
Titel der Originalausgabe:
The Risk of Hope. How to Talk about God in the World Today
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Als deutsche Bibelübersetzung ist zugrunde gelegt:
Die Bibel. Die Heilige Schrift
des Alten und Neuen Bundes.
Vollständige deutschsprachige Ausgabe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005
Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand
Umschlagmotiv:© tunart/iStock
E-Book-Konvertierung: de·te·pe, Aalen
ISBN E-Book  978-3-451-81278-1
ISBN Print  978-3-451-38028-0
Inhaltsverzeichnis
I. Das Wagnis, Gott zu sagen
II. Am Brunnen von Sychar
III. Die Herzen entzünden
IV. Zu Aposteln berufen
V. Das Antlitz Jesu
VI. Die Isolation aufbrechen
VII. Den »Minderheiten« dienen
VIII. Ein inklusives Wachstum
IX. Eine neue Hoffnung
Redaktionelle Hinweise
Über den Autor
I.
Das Wagnis, Gott zu sagen
Wir befinden uns auf der Zeugnisvergabefeier einer Schule für Theologie. Aber was genau habt ihr eigentlich studiert? Was ist Theologie? Was haben wir euch auf dieser Schule beigebracht? Und worin besteht die Aufgabe dieser Einrichtung, die sich Schule für Theologie nennt?
Mich hat der Artikel eines kanadischen Dominikaners beeindruckt, Jacques Lison, der schreibt: »La préoccupation essentielle de la théologie est de dire Dieu«; das wesentliche Anliegen der Theologie besteht darin, »Gott« zu sagen. Diese Aussage beeindruckt mich, weil wir normalerweise zu hören bekommen, dass die TheologievonGott spricht oder dass sieüberGott forscht. Lison dagegen erklärt: »Nein, die Aufgabe der Theologie, das Grundanliegen der Theologie besteht darin, ›Gott‹ zu sagen.« Ich frage mich, ob es das ist, was ihr gelernt habt, was wir euch beigebracht haben. Besteht die Aufgabe derLoyola School of Theology (LST) und anderer Schulen für Theologie wirklich darin, »Gott« zu sagen?
Die Theologie ist kein Sprechenvon Gott. Sie ist auch Doxologie. Sie ist eine mystische Wirklichkeit. Sie ist Einsicht. Sie ist Kontemplation. Sie ist Teilhabe an Gott. »Keiner«, erklärt der heilige Paulus, »kann sagen: Jesus ist der Herr!, außer im heiligen Geist« (1 Kor 12,3), und: »Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der ruft: Abba, Vater.« (Gal 4,6) Wenn also die Theologie etwas damit zu tun hat, »Gott« zu sagen, dann muss sie in erster Linie ein Handeln des Geistes sein – und ein Handeln der Menschen, die bereit sind, sich dem Geist so zu öffnen, dass sie Gott sagen können.
Ich denke doch, dass ihr – die Absolventen, die derzeitigen und die zukünftigen Studenten der LST – vielerlei Arten des »Gott-Sagens« gehört habt. Nicht nur, weil jeder Theologieprofessor eine bestimmte Theologie anwendet, sich auf einen bestimmten Denkhorizont bezieht oder seine ganz eigene Art hat, Gott zu sagen, sondern auch, weil ihr durch die verschiedenen Lehrveranstaltungen in die große Tradition der Kirche eingeführt worden seid – der Kirche, die ihr eigenes Leben weitergibt. Die Theologie steht immer im Dienst der Kirche.
Ihr habt ganz sicher unzählige Arten des Gott-Sagens gehört und gesehen, die im Laufe der Kirchengeschichte eine Rolle gespielt haben. Ich selbst schöpfe noch immer aus dem großen Reichtum dessen, was ich als Student hier vor etwa 25 Jahren von meinen Professoren gelernt habe. Jetzt aber möchte ich selbst hier und da etwas hinzufügen – neue Arten, Gott zu sagen. Ich möchte euch auf einige Etappen in der Kirchengeschichte aufmerksam machen, wie sie in einer Untersuchung von Peter Schineller SJ dargestellt werden.
Wer sagt Gott? Wo? Für wen? Mit wem? Und wie?
Früher waren es an den Seminaren ausschließlich männliche Professoren in ihren schwarzen Talaren, die Gott gesagt haben. Dann durften nach und nach auch die Dozenten und Dozentinnen Gott sagen. Ich habe ein Foto von der ersten Studierendengruppe der LST gesehen: Eine einzige Frau war dabei, Vicky Palanca, eine freundliche junge Schwester vom Unbefleckten Herzen Mariens. Heute gibt es neue Stimmen, die Gott zu sagen wagen. Diese neuen Stimmen bringen Gott von ihren Welten, ihren Erfahrungen und ihren je besonderen Sensibilitäten aus zum Ausdruck; und sie entwickeln vielfältige Arten, Gott zu sagen.
In der Urkirche waren die Bischöfe, war der Episkopat dafür zuständig, Gott zu sagen. In der Folgezeit wurde die monastische Welt der Ort, wo man Gott sagte. Noch später wurden die großen Universitäten und, nach dem Konzil von Trient, die Seminare zu den Orten, an denen man Gott sagte. Alle diese historischen Etappen haben sich größtenteils in Europa abgespielt; Gott musste in Europa gesagt werden. Heute sind es viele Orte, die Gott sagen. In jedem Land kann man Gott sagen. Selbst in kleinen Dörfern und in kirchlichen Basisgemeinschaften wird Gott gesagt.
In der Urkirche sagte man Gott, um die Heiden und die Irrlehrer zu bekehren, damit sie Gott anerkannten und dem wahren Glauben folgten. Später betrieb man an den Seminaren Theologie für die zukünftigen Kleriker. Heute sagen wir Gott für die Opfer der Gesellschaft, für die Unpersonen, für die Vergessenen. Für sie sagen wir Gott: um ihnen die Gewissheit zu geben, dass da einer ist, der sie nicht vergisst. Laut David Tracy wendet die Theologie sich heute an viele Zielgruppen und somit an unterschiedliche Hörerschaften: Man sagt Gott und wendet sich an die Kirche. Man sagt Gott und wendet sich an die Universität. Man sagt Gott und wendet sich an die Gesellschaft.
Früher trieb man Theologie mithilfe der Philosophie. Heute ist es interdisziplinärer angelegt. Heute müssen wir – und das gilt auf allen Ebenen: sowohl innerhalb der Kirche, um unsere Tradition und unsere Geschichte besser zu verstehen, als auchad extra – mit den Humanwissenschaften Gott sagen. Vor allem müssen wir so Gott sagen, dass die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Le­bens­wirklichkeiten der Völker einbezogen werden. Mit alledem sagen wir Gott.
Früher sagte man Gott mit der sogenannten Denzinger-Methode: Du hattest eine These. Du wusstest Bescheid über die biblischen Grundlagen. Du kanntest die Lehren der Konzilien und der Väter und fügtest hier und da eine Kleinigkeit hinzu. Und hattest so Gott gesagt. Seither ist die Art, Gott zu sagen, immer mehr historisiert worden. Man versucht kritische Korrelationen herzustellen. Einige engagieren sich nicht nur in der Orthodoxie, sondern auch in der Orthopraxie. Heute gibt es viele verschiedene Arten, Gott zu sagen.
Ihr habt eine Einführung in diese vielfältigen Arten erhalten. Unsere Schule für Theologie ermutigt uns natürlich, zu dieser lebendigen Vielfalt von Arten in Kontakt zu treten, die sämtlich im Dienst der Kirche, ihres Lebens und Sendungsauftrags stehen. Zum Teil besteht das Ziel der LST darin, Männer und Frauen darauf vorzubereiten, dass sie auf eine Weise Gott sagen können, die für ihr jeweiliges Umfeld Bedeutung hat und ihren Charismen und Berufungen entspricht.
In unserer Zeit dieses Wagnis eingehen
Wir sind sicher, dass das, was wir euch Studenten geboten haben, nicht erschöpfend ist, doch kostbar ist es allemal. Es mag sogar geschehen, dass ihr dieLoyola School of Theology und die Arten, wie eure Professoren Gott sagen, vergesst – doch das Gott-Sagen selbst vergesst bitte nicht, denn sonst wird es auch die Welt vergessen und denken, Gott sei überflüssig. Wichtiger, als sich an die jeweiligen Arten des Gott-Sagens zu erinnern, ist vielleicht, dass man es tut: dass man Gott sagt, weil man davon überzeugt ist, dieses Wagnis in unserer Zeit eingehen zu müssen. Gott zu sagen ist nicht leicht. Es ist ein großes Risiko. Erlaubt mir, euch einige wenige Anhaltspunkte zu geben:
Die heutige Welt befindet sich in einem Globalisierungsprozess, bei dem es sich genaugenommen um eine elitäre Globalisierung handelt. Nicanor Perlas1sagt, diese elitäre Globalisierung sei de facto ein gnadenloses Wachstum:paglago na walang puso, ein »Wachstum ohne Herz«. Es ist ein Wachstum ohne Zukunft, weil es keine Arbeitsplätze bietet. Es ist ein Wachstum ohne Wurzeln, weil es uns von den Wurzeln unserer Werte und unserer Traditionen abschneidet. Und es ist ein Wachstum ohne Sinn, weil die Menschen oft seinetwegen die Orientierung im Leben verlieren. Angesichts dieser Probleme versucht die Welt uns davon zu überzeugen, dass wir – im Namen des Profits und der Wettbewerbsfähigkeit – unseren Nächsten, ja Gott vergessen sollen. Es ist nicht leicht, in einer Welt, die den Nächsten vergessen will, Gott zu sagen. Wenn wir die ­Menschen um uns herum vergessen, sind wir nicht mehr imstande, Gott zu bekennen. Wir hoffen jedoch, dass euch eure Ausbildung an dieser Schule für Theologie gelehrt hat, wie man auf eine Art Gott sagt, die Bedeutung hat.
Ich bitte euch, weiterzumachen, wie ihr es von uns gelernt habt, und mit den Kleinen dieser Welt Gott zu sagen, mit jenen, die die Globalisierung vergessen und verleugnen will. Lernt von den Vergessenen. Lernt von den Unpersonen. Lasst euch von ihnen zeigen, wie man Gott sagt.
Als ich zum Bischof geweiht wurde, hatte die besondere Messnovene, dieSimbang Gabi2genannt wird, bereits begonnen. Nach der Eucharistiefeier in der Kathedrale begrüßte ich die Menschen am Ausgang der Kirche. Da sah ich, dass einige Kinder, die Blumen verkauften, den Menschen im Weg standen, die die Kathedrale verlassen wollten.»Bulaklak po! Bulaklak! Bulaklak!«(Blumen! Blumen! Blumen!). Laut rufend und in vollem Ornat lief ich hinter ihnen her, bis wir an die Straße kamen. Ich rief diesen Kindern zu: »Hört doch, wir wollen euch nicht daran hindern, Blumen zu verkaufen, aber wir müssen ein bisschen für Ordnung sorgen! Ihr könnt die Blumen hier am Gitter verkaufen, die Leute, die in die Kirche hinein- und hinausgehen, kommen auf jeden Fall dort vorbei.«
Die Kinder standen vor mir und zitterten vor Angst. Ich wandte mich an das größte Mädchen: »Du! Wie alt bist du?« »Vierzehn«, antwortete sie scheu. Ich erwiderte: »Also, du bist vierzehn Jahre alt! Ist das, was ich sage, schwierig zu verstehen? Was könnt ihr hier verkaufen und drüben nicht?« Und sie antwortete: »Nein, ich hab’s verstanden.«
Dann wandte ich mich an den kleinsten Jungen, der wirklich sehr schmutzig aussah. »Du! Wie alt bist du?« Er sah zu mir hoch, lächelte und antwortete: »Sieben.« Ich sagte zu ihm: »Du bist sieben Jahre alt! Verstehst du, was ich sage?« Und da umarmte er mich. Er war so klein, dass seine Hände kaum bis zu meiner Taille hinaufreichten. Er umarmte mich, und dann lächelte er wieder, es war das süßeste Lächeln, das man sich vorstellen kann. Er fing an, mir den Rücken zu streicheln, und sagte freundlich: »Father,Obispo ka na. Obispo ka na!« (Father, jetzt bist du Bischof!). Ich stand still und sagte: »Ja.« Gott rief mich von Neuem und trug mir auf, diesen Kindern auf mitfühlende Weise Gott zu verkünden.
Ich habe als Kind nie Blumen verkauft und es hat mir an nichts gefehlt. Ich musste einfach nur zur Schule gehen. Diese Kinder müssen jeden Tag, auch sonntags, arbeiten, damit sie überhaupt etwas haben. Ich war hingegangen und hatte Gesetze und Regeln aufstellen, für Ordnung und Sauberkeit sorgen wollen. Und dieser kleine Junge sprach ein Wort, das mich mitten ins Herz getroffen hat, mitten in meine Identität.
Ich blieb noch eine halbe Stunde in meinen feierlichen Messgewändern bei den Kindern am Gitter stehen, und es war wunderschön, mit ihnen zu reden. Sie brachten mir bei, Gott zuzuhören und Gott zu sagen.
Am darauffolgenden Samstag war ich nach Mendez in Cavite eingeladen, um in der Gemeinde, in der ich meine erste Kaplan- und später auch Pfarrstelle gehabt hatte, eine Kapelle zu segnen. Father Reddy Corpuz, der mir in der Leitung der Pfarrei nachgefolgt war, schlug mir vor, die Gelegenheit zu einem Pastoralbesuch zu nutzen: keiner amtlichen Visitation, bei der der Bischof die Bücher und Konten einsieht, sondern nur einem freundschaftlichen Besuch. Ich sagte zu, denn für mich war das auch eine Gelegenheit, meine ehemaligen Gemeindemitglieder wiederzusehen.
Als ich am Standort der neuen Kapelle ankam, spielte eine Musikgruppe und man überreichte mir einen großen Schlüssel der Stadt. Beim Betreten der Kapelle entdeckte ich die ältere Frau, die 1982 für uns gesorgt hatte. Nach der Messe hatte sie uns immer Kaffee undPan de sal3serviert. Ich ging auf sie zu und scherzte: »Lola Juana! Buhay pa pala kayo!«(Oma Juana! Du lebst ja noch!). Sie ergriff meine Hand und sagte: »Dass Sie sich noch an mich erinnern! Dass Sie meinen Namen noch wissen!« Dann sagte sie: »Ich sterbe an Krebs. Ich lebe seit Jahren nicht mehr hier, ich wohne jetzt in Manila, da habe ich das Krankenhaus in der Nähe. Aber als ich gehört habe, dass Sie Bischof geworden sind und hierherkommen würden, habe ich meine Enkel gezwungen, mich herzubringen.« Und sie fügte hinzu: »Das war es wert, die Reise und die ganzen Schmerzen. Sie haben mich wiedererkannt, sie wissen noch, wie ich heiße.« Noch immer hielt sie meine Hand, sie drückte sie an ihre Brust und sagte: »Beten Sie zu Gott, beten Sie, dass er mich heilt.« Innerlich protestierte ich: »Ich kann dich nicht heilen. Ich kann es nicht!« Doch Oma Juana sah mich so voller Glauben an, in der unerschütterlichen Überzeugung, dass Gott sie durch diesen schwachen Bischof auf irgendeine Weise erhören würde.
Am Ende der Messe war es mir unmöglich, die Kapelle zu verlassen. Die Menschen drängten sich um mich: von vorne, von hinten, von rechts, von links, sogar von oben. Selbst unter mir war ein kleines Kind zwischen all die Beine geraten. Ich bat die Gläubigen: »Bitte, macht doch Platz für dieses Kind!« Da sagte eine ältere Frau: »Verzeihen Sie, Herr Bischof! Aber Sie sind der erste Bischof, den ich je gesehen habe, und wahrscheinlich auch der letzte. Halten Sie mich bitte nicht davon ab, diese Chance zu nutzen.«
Auf diese einfachen Arten sagten die Leute Gott. Und ich konnte es fast nicht glauben.
Die Theologie sagt, dass der Bischof die volle Weihegewalt besitzt. Auf der Bischofssynode des Jahres 2001 über den »Bischof als Diener des Evangeliums« ist mehrmals vom Bischof als einerApparitio Dei(Erscheinung Gottes) undVisitatio Dei(Besuch Gottes) die Rede gewesen. Das ist ein Prinzip, das die Menschen sozusagen dazu auffordert, auf mich zu blicken, sich auf mich zu konzentrieren. Ganz sicher werde ich darüber nie eine Vorlesung halten! Wenn ich das in meinen Lehrveranstaltungen behandeln wollte, müsste ich zuerst zurücktreten! Aber ich muss auch hören, wie das Volk Gott sagt: Es sagt Gott, wenn es mir auf die Schulter klopft oder meine Hand ergreift. Es verkündet ihn, wenn es sagt: »Jetzt bist du Bischof« oder: »Dir zu begegnen, ist ein einmaliges Erlebnis, das wird sich nicht wiederholen.«
Lernt von den Leuten, von den Vergessenen, von eurem Nächsten. Denkt daran, dassunsereArt, Gott zu sagen, nichtdie einzige ist. Lernt von den anderen. Lernt von den Opfern sinnloser Gewaltakte und Leiden. Lernt, wie sie Gott sagen und hoffen. Lernt von dem, den das Paradox, Gott zu sagen, an seine Grenzen bringt und dem es auch nicht immer gelingen will, der es aber niemals vergisst. Lernt von ihnen.
Eines der kostbarsten Geschenke, das ich zu meiner Priesterweihe erhalten habe, ist eine Sammlung von Briefen, die Pawel Florenski an seine Frau und andere Angehörige geschrieben hat. Florenski war ein russisch-orthodoxer Priester, Mathematiker, Philosoph, Künstler, Theologe, Patriarch. Er starb den Märtyrertod. Er war jahrelang in den sowjetischen Arbeitslagern inhaftiert und wurde am 8. Dezember 1937 in der Nähe von Leningrad getötet. In seinen Briefen sagt Vater Pawel Gott im Namen der vielen Opfer der Gesellschaft. Erlaubt mir, euch zum Abschluss dieses meines Beitrags einige Abschnitte von Florenski vorzulesen.
Am 3. Oktober 1933 schreibt er an seine Frau: »Ich denke immer an dich und allein dafür lebe ich. Ich mache mir entsetzliche Sorgen, weil ich nicht eine Zeile von dir erhalten habe. Ich weiß nicht, wie du lebst und wovon. Wie geht es deiner Mutter? Und meiner? Erinnern sich unsere Kinder noch an mich? Oder haben sie begonnen, mich zu vergessen?« Das ist ein Gebet. Dieser Mann weiß, dass er sein Leben verlieren wird, aber einen Moment lang sagt er Gott, indem er schreibt: »Vergiss mich nicht.«
Am 13. Mai 1937 schreibt er seiner Frau: »Ich küsse dich zärtlich. Nimm dir in diesem Sommer Zeit zum Ausruhen. Geh spazieren, wenn schon nicht im Wald, dann wenigstens über die Felder. Geh spazieren, besonders nachmittags, wenn die Sonne tief steht, und erinnere dich an mich.«
»Erinnere dich an mich« ist eine Art, Gott zu sagen. »Ich bin allein, ich fühle mich von Gott verlassen, vergiss mich nicht.« Daran erinnert uns jene große Persönlichkeit, die ihr ganzes Leben lang Gott gesagt hat, während die, die ihn hörten, daran Anstoß nahmen. Er hat in der Liebe Gott gesagt und ihnAbba genannt. Er hat im Schmerz Gott gesagt: »Warum hast du mich verlassen?« Er hat in der Hoffnung Gott gesagt: »In deine Hände lege ich meinen Geist.« Er hat in der Stille des Todes und in der Auferstehung zum Leben im Schoß des Vaters Gott gesagt. Er ist der, der uns wirklich lehrt, wie man Gott sagt.
Und jetzt, liebe Absolventen, macht weiter und sagt Gott mit all den Freuden, den Schmerzen und den Risiken, die zu diesem Unterfangen dazugehören. Macht weiter und sagt Gott mit all den Lobgesängen und all den Wehklagen, die unterwegs aufkommen. Macht weiter und sagt Gott mit all dem Stillschweigen, das dieses Mysterium erschafft und hervorruft. Macht weiter …
1   Nicanor Perlas (*1950) ist philippinischer Politiker, Aktivist und Um­weltschützer. 2003 wurde er mit dem Right Livelihood Award (auch als »Alternativer Nobelpreis« bekannt) geehrt und trat 2010 als Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen an.
2   Diese Messen, an denen die Filipinos scharenweise teilnehmen, werden in der Morgendämmerung gefeiert und dienen der Vorbereitung auf das Weihnachtsfest.
3   Das typische philippinische Brot: ein kleines, rundes, weiches, leichtes und trotz seines Namens eher süßes Brötchen. (A. d. R.)
II.
Am Brunnen von Sychar
Ich möchte über dieAusbildung nachdenken. Was bedeutet dieses Wort eigentlich? Was beinhaltet es? Was bedeutet Ausbilden für uns, die als Priester und/oder Ordensleute in der Ausbildung am Seminar oder in der Weiterbildung beschäftigt sind? Was bedeutet es, wenn man jemanden ausbildet oder ihm hilft, sich zu bilden, damit er eine Funktion, ein Dienstamt übernehmen kann?
Dieser Themenbereich ist sehr weit gefasst. Auf der außerordentlichen Bischofssynode, die im Oktober 2012 zu Ende gegangen ist, hat ein Bischof gesagt: »Wir verwenden neun bis zehn Jahre darauf, die Priester auszubilden, die Seminaristen darauf vorzubereiten, dass sie Geistliche werden. Und trotz dieser langen Zeit haben wir keinerlei Gewissheit, dass aus ihnen gute Seelsorger werden.« Und dann hat er gefragt: »Welche Ausbildung bieten wir den Menschen, die sich auf die Ehe vorbereiten?« Er ließ durchblicken, dass man sich ohne Ausbildung auch nicht wundern muss, dass so viele Ehen scheitern. Das ist eine Herausforderung für die Kirche. Wir wollen, dass die Ehe Erfolg hat, aber welche Ausbildung bieten wir an? Da ist es wieder, das Problem der Ausbildung. Was heißt ausbilden?
Auf einem seiner letzten Treffen mit einigen Bischöfen hat Papst Benedikt den Anwesenden sinngemäß folgende Frage gestellt: »Wer oder was sind die Kräfte, durch die die Kultur in euren Ländern in der Hauptsache gestaltet wird? Sie sind es, die unsere Jugendlichen bilden.« Wir müssen die wichtigsten Kräfte benennen, die die Kultur antreiben oder schmieden. Vielleicht können wir von ihnen lernen. Sie bilden oder, so sagen wir manchmal, verbilden die Jugendlichen. Sie besitzen die geheime Formel, um die Köpfe und die Herzen zu beeinflussen. Die Jugendlichen werden schon beeinflusst, ehe sie die Veränderungen, die sich in ihrem Denken und in ihren Wertesystemen abspielen, überhaupt wahrnehmen. Man muss sich bewusst machen, wie mächtig die Medien, die sozialen Kommunikationsmittel sind, wenn es darum geht, den Verstand und das Herz zu formen.
Wir müssen den gesamten Bereich der Bildung überdenken und überarbeiten. Wir müssen uns auch unbequeme Fragen stellen: »Sind unsere Seminare wirklich ›Bildungsstätten‹?« Und mit Blick auf die derzeitigen Strukturen müssen wir uns fragen: »Was für eine Art von Bildung bieten sie? Inwiefern verändern sie die Köpfe und die Herzen unserer Seminaristen? Und was für einen Typus von Priestern oder Ordensleuten bringt unser Bistum, bringt das Klima in unseren Gemeinden, bringt unserMilieu hervor?«
Ich möchte nun auf die Abschlussbotschaft der Bischofssynode des Jahres 2012 über die Neuevangelisierung eingehen. Die Botschaft verwendet die biblische Erzählung von der Begegnung zwischen Jesus und der Samariterin am Jakobsbrunnen in Sychar. Es ist eine sehr einfache Erzählung, die uns aber eine Gesamtschau dessen vermitteln kann, was wir unter Neuevangelisierung verstehen. Natürlich kann die Erzählung den Begriff der Neuevangelisierung nicht in all seinen Schattierungen erschöpfend darstellen, aber sie bietet uns eine diskrete und meiner Ansicht nach stichhaltige Orientierung zum Thema der Ausbildung der Priester und künftigen Priester.
Wir kennen die Geschichte, die in Johannes 4 erzählt wird. Jesus kommt zum Brunnen. Er war mit seinen Jüngern unterwegs. Am Brunnen hält er an. Die Samariterin kommt. Jesus bittet sie um Trinkwasser, und die Frau reagiert. Auf diese Weise beginnt ein Gespräch über das Wasser, das lebendige Wasser. Dann sagt Jesus zu der Frau: »Ruf deinen Mann«, woraufhin sie zugibt, dass da kein Mann ist, den sie rufen könnte. Die Samariterin fragt: »Wer bist du? Bist du ein Prophet?« Schließlich offenbart sich Jesus als der Messias. Die Frau vergisst den Wasserkrug und damit den eigentlichen Grund, weshalb sie zum Brunnen gegangen war. Sie eilt zu den Menschen von Sychar, ihrer Stadt. Sie ist zu einer Botin des Evangeliums geworden.
Sehen wir uns an, wie Jesus die Samariterin ausbildet: am Brunnen, nicht in einer Schule für Theologie. Die Ausbildung erfolgt am Brunnen. Die Frau läuft begeistert durch ihre Stadt und verkündet den Leuten: »Ich habe den Messias getroffen.« Und die Bevölkerung bittet Jesus zu bleiben. Er willigt ein, sich zwei Tage lang in Sychar aufzuhalten. Am Ende sagen die Leute zu der Frau: »Zuerst haben wir auf dein Wort hin geglaubt, dass er der Messias ist. Jetzt glauben wir, weil wir ihn gehört haben, weil wir ihn gesehen haben, weil wir ihm begegnet sind.« Sehr wahrscheinlich haben diese Menschen die Gute Nachricht weiterverbreitet.
Eine ganz einfache Geschichte, die wir alle kennen. Aber die Bischofssynode greift sie auf und nimmt sie als Folie für einige zentrale Gedanken über die Neuevangelisierung. Ich werde mich auf fünf Punkte beziehen, um über die Bildung zu sprechen.
Jesus wird als Reisender beschrieben
Er war mit seinen Jüngern unterwegs. Der Beschreibung zufolge war er müde und ausgedürstet. Jesus, der Gesandte Gottes, der Sohn Gottes, das fleischgewordene Wort wird dargestellt wie ein ganz normaler Reisender der damaligen Zeit. Wie so viele andere Brüder und Schwestern, die auf ihrer Lebensreise unterwegs sind, macht er die Erfahrung der Erschöpfung und der Müdigkeit. Der Gesandte des Vaters war kein Außerirdischer, die Seinsweise des Menschen, der müde ist und Durst leidet, war ihm nicht fremd. Jesus kommt – diese Tatsache ist von großer Bedeutung – an den Brunnen, ehe die Frau dort eintrifft. Als ob er sie erwarten würde. Als ob er sie an diesem Ort empfangen wollte. Im nächsten Augenblick wird er der Frau wie ein gewöhnlicher Reisender an einem gewöhnlichen Brunnen zu einer gewöhnlichen Tageszeit – der sechsten Stunde – begegnen. Dieses Bild von Jesus als einem Reisenden, der die Strapazen und Mühen der Reise spürt, ist eine sehr anschauliche Darstellung der Person oder der Gemeinschaft, die einen Sendungsauftrag hat. Es stellt uns den von Gott auserwählten Überbringer der Guten Nachricht vor Augen, der nicht wie ein Eroberer im Triumph, sondern wie ein normaler, unauffälliger Reisender einzieht. Mit dem Bild eines Evangelisierers, der in Triumph Einzug hält, hat dies wenig zu tun.
Die Synode lädt uns ein, die neue Ausdrucksweise und die neue Methode dieser erneuerten Evangelisierung von Jesus zu lernen. Das Unterwegssein mit den Menschen ist nichts Neues. Schon inGaudium et spesheißt es: »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.« Das Zweite Vatikanische Konzil vertritt die Auffassung, dass alle, die Christus nachfolgen, auf diese Weise handeln. Und, so dürfen wir hinzufügen, insbesondere die Geweihten, deren Funktion vorrangig darin besteht, zu evangelisieren – zu evangelisieren, indem sie an der Seite des Volkes gehen.