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Das Ende wird kommen – nur für wen? »Die beste Crime-Serie, die ich dieses Jahr gelesen habe. Fesselnd, düster und sympathisch – Kaldan und Schäfer sind mein neues Lieblings-Ermittlerduo.« Harlan Coben Eigentlich wollte Journalistin Heloise Kaldan nur einen Artikel über Sterbebegleitung schreiben. Doch als sie sich mit dem todkranken Jan Fischhof anfreundet, beginnt ihr die Sache nahezugehen. Jan scheint etwas auf dem Gewissen zu haben. Seine Hinweise führen Heloise nach Jütland, an die Flensburger Förde, zu einem lange zurückliegenden Fall. Heloises guter Freund Kommissar Erik Schäfer ist misstrauisch: Was weiß sie wirklich über Jan Fischhof? Heloise stößt in ein gefährliches Wespennest. Kann sie ihrer Intuition trauen? Ein schmerzhaft persönlicher Thriller über ein Netz aus Schuld – mit erschütternden Verstrickungen bis zur letzten Seite. »Unglaublich stark komponiert, man kann es nicht weglegen. Ein Teil der Handlung spielt im südlichen Jütland, der Heimat der Autorin, und man merkt, wie gut sie die Gegend und ihre Bewohner kennt.« KulturXpressen Der dritte Fall für Heloise Kaldan und Erik Schäfer Die Platz 1-Bestseller-Serie aus Dänemark
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Seitenzahl: 404
Anne Mette Hancock
Grabesstern
Thriller
Aus dem Dänischen von Karoline Hippe
FISCHER E-Books
Für meine Heimat
Schlafende Hunde soll man nicht wecken.
Sonntag, 14. Juli
»Bist du zum ersten Mal bei einer Exhumierung dabei?«
Hauptkommissar Erik Schäfer schob sich eine filterlose King’s zwischen die Lippen und sah dem Kran bei der Arbeit zu. Die Seilwinde ratterte und quietschte; langsam hob das rostrote Monstrum eine lehmige Kiste aus dem Erdloch vor ihnen.
Heloise Kaldan verscheuchte eine Fliege vor ihrem Gesicht und nickte.
»Das ist kein Kindergeburtstag, so viel ist sicher.«
»Schlimmer kann es wohl kaum werden«, sagte Heloise und blickte zum Grabstein. Die Behörden hatten den schwarz melierten Marmorblock vor Beginn der Aushebung vom Grab entfernen lassen. Der Stein lag mit der Vorderseite nach unten auf dem gelben, sonnenverbrannten Gras. Schäfer wiegte den Kopf hin und her, als wolle er sagen: Ja und nein.
»Es kommt drauf an«, sagte er. »Leichen halten sich in Särgen verblüffend gut.«
Heloise warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Nach so vielen Jahren?«
Er wölbte die Hand vor dem Gesicht und zündete die Zigarette an. Der Qualm paffte ihm beim Sprechen aus Mund und Nase.
»In der freien Natur werden Leichen relativ schnell zersetzt. Ein paar Monate, vielleicht sogar nur Wochen, wenn das Wetter so ist wie jetzt, und sie sind bis auf die Knochen verwest.«
Schäfer ließ den Blick über die Flensburger Förde schweifen. Die gleißende Sonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche, weiße Segel ragten in den Himmel.
Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Kran zu.
»In einem Sarg kann eine Leiche über mehrere Jahre gut erhalten bleiben. Versteh mich nicht falsch: Ein schöner Anblick ist das nicht, aber wir können davon ausgehen, dass der Inhalt dieser Kiste einem Menschen ähneln wird.« Mit dem Kinn deutete er Richtung Sarg, der in diesem Moment die letzten Zentimeter aus dem Grab gehoben wurde.
Die salzige Fördeluft vermischte sich mit dem Duft von Grillkohle, der vom Campingplatz unten am Strand heraufzog, und mit dem herben Geruch von Verwesung. Der Gestank ließ Heloise einen Schritt zurücktreten.
»Und jetzt?«, fragte sie.
»Jetzt bringen wir den Leichnam in die Rechtsmedizin und nehmen ihn unter die Lupe.«
Mit einem dumpfen Klong wurde der Sarg auf die Metallbahre vor dem Kühltransporter gestellt.
»Sollen wir den nach Aabenraa oder nach Sønderborg bringen?«, fragte ein uniformierter Beamter, der neben dem Fahrer des Transporters stand.
»Nichts da«, sagte Schäfer und gestikulierte mit erhobenem Zeigefinger in Richtung der Männer. »Zur Teufelsinsel, Jungs.«
Er ging zu ihnen und erklärte, dass der Sarg nach Kopenhagen verfrachtet werden solle. Heloise sah, wie er den richterlichen Beschluss aus seiner Hosentasche fischte und dem Beamten vor die Nase hielt.
Heloises Handy vibrierte. Sie befanden sich so dicht an der Grenze, dass sie immer wieder im deutschen Netz landete. Auf dem Display wurde keine Nummer angezeigt.
»Hallo?«
»Guten Tag, spreche ich mit Heloise Kaldan?«, fragte die Stimme am anderen Ende leise, fast schon im Flüsterton.
»Ja, am Apparat.«
»Mein Name ist Markus Senger, ich arbeite als Sterbebegleiter. Ich rufe wegen Jan Fischhof an.«
Heloise wurde das Herz schwer, und sie ließ den Kopf hängen.
»Ist er tot?«, fragte sie und legte die Hand in den Nacken.
»Nein, aber es wird nicht mehr lange dauern. Er hat starke Schmerzen und verliert immer wieder das Bewusstsein, also … Wir glauben, dass es sich nur noch um Stunden handeln kann.«
»Aber als ich gestern Abend mit einer ihrer Kolleginnen gesprochen habe, klang es so, als ginge es ihm einigermaßen gut.«
»Ja, aber sein Zustand hat sich über Nacht verschlechtert. Er hat mehrfach nach Ihnen gefragt, deswegen rufe ich an.«
Heloise nickte und sah hinüber zum deutschen Ufer auf der anderen Seite der Förde.
»Ich bin gerade nicht in Kopenhagen, aber ich …« Sie schaute auf die Uhr. Der nächsten Flieger ging erst in mehr als zwei Stunden. »Ich kann am späten Nachmittag da sein.«
»Vielen Dank. Dann drücken wir die Daumen, dass Sie rechtzeitig ankommen.«
»Ist jetzt gerade jemand bei ihm?«
»Ja, wir haben Kollegen vor Ort, aber er will nicht, dass jemand von uns in sein Schlafzimmer kommt. Er möchte nur Sie sehen.«
»Okay.« Heloise nickte. »Sagen Sie ihm, dass ich unterwegs bin.«
»Danke, das werde ich ausrichten.«
»Und Markus – war das Ihr Name?«
»Ja.«
»Sagen Sie ihm …« Heloise schaute hinauf in das wolkenlose Nichts über sich und suchte nach Worten. »Sagen Sie ihm, er muss keine Angst haben … und …« Sie musste mehrmals schlucken. »Sagen Sie ihm, dass er auf mich warten soll.«
Heloise beendete das Gespräch und sah auf. Schäfer stand vor ihr und musterte sie mit gerunzelter Stirn.
»Fischhof?«, fragte er.
Sie nickte und steckte das Telefon ein.
»Ich muss nach Hause. Sie rechnen damit, dass er im Laufe des Tages stirbt.«
Schäfer nahm einen langen Zug von seiner Zigarette und betrachtete sie eindringlich.
»Gut.« Er nickte und pulte ein Fitzelchen Tabak von seiner Unterlippe.
»Aber mach dich nicht fertig, okay?«
»Was meinst du damit?«
»Er ist kein Teil deiner Familie. Er ist nicht dein Vater, also … lass das nicht zu nah an dich ran.«
Heloise sah ihm fest in die Augen. »Er liegt im Sterben, kapierst du das? Er stirbt, und er ist ganz allein.«
Schäfer nickte. »Ja, das versteh ich. Aber jeden Tag sterben Menschen. Du kannst nicht allen die Hand halten.«
Heloise schüttelte den Kopf. Sie war zu müde, um sich aufzuregen.
»Ich habe auch nicht vor, allen die Hand zu halten. Ich rede hier von einem Menschen. Ein Mensch, für den ich da sein kann. Jetzt. Heute. Ist das nicht der Sinn von Sterbebegleitung?«
»Ja, das ist eine sehr schöne Geste«, sagte er und nickte. »Aber man muss auch in der geistigen Verfassung dazu sein.«
»Ja, ganz deiner Meinung. Worauf willst du hinaus?«
Schäfer zuckte mit den Schultern.
»Du wirkst, als würde dich das ganz schön mitnehmen.«
Heloises Blick wanderte von den Blutungen unter Schäfers Auge zu dem Sarg und wieder zurück.
»Natürlich nimmt es mich mit«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, aber die letzten Tage waren echt heftig. Und jetzt liegt Fischhof im Sterben, und ich habe ihm versprochen, bei ihm zu sein. Ich habe ihm versprochen, ihm dabei zu helfen, mit dieser ganzen Scheiße hier abzuschließen.« Sie deutete auf den Sarg.
»Ach, Heloise, verdammt …« Schäfer schüttelte nachsichtig den Kopf. »Du müsstest es doch nun wirklich besser wissen, statt –«
»Ich muss los!« Heloise kehrte ihm den Rücken zu und ging zu ihrem Wagen. »Ich habe es versprochen.«
Schäfer warf den Zigarettenstummel auf den Boden und trat ihn aus.
»Das hättest du besser nicht tun sollen«, murmelte er.
Vier Tage zuvor | Mittwoch, 10. Juli
Heloise schloss die Tür mit dem Generalschlüssel auf, den das Rote Kreuz ihr ausgehändigt hatte, und betrat den dunklen Flur. Seit dem ersten Treffen vor drei Monaten waren die Abstände zwischen ihren Besuchen in dem kleinen Fachwerkhaus in Dragør immer kürzer geworden, und heute schaute sie bereits zum dritten Mal in nur einer Woche vorbei.
Sie hängte ihre Tasche an den Haken im Flur und ging in die Küche, um einer der Pflegerinnen, die sie dort herumhantieren hörte, hallo zu sagen.
»Hej, Ruth«, begrüßte sie die kleine stämmige Frau, die mit dem Rücken zu ihr stand und den Küchentisch abwischte. Demonstrativ machte die Frau weiter, ohne aufzublicken, und fuhr unbeirrt mit ihrer Arbeit fort. Ihre Haare trug sie zu einem kurzen Herrenschnitt gestutzt, und Heloise konnte helle Streifen in den Falten des vornübergebeugten Nackens erkennen, wo keine Sonne hingelangt war.
Heloise spähte den Flur hinunter Richtung Schlafzimmer, dessen Tür nur angelehnt war.
»Schläft er?«
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete Ruth. »Ich habe ihn raus in den Garten geschoben, damit er an die frische Luft kommt.« Sie wrang den Lappen aus und legte ihn zum Trocknen über den Wasserhahn. »Hier drinnen ist es so schummerig und trist, er hat den ganzen Tag den Kopf hängen lassen, also dachte ich, es täte ihm gut, wenn er mal vor die Tür kommt. Aber der alte Sturkopf hält davon ja nicht so viel. Er hat sich so gesträubt, als hätte ich ihm gerade verkündet, ihm ein Bein amputieren zu müssen.«
Heloise lächelte. Sie konnte es sich bildlich vorstellen, wie Jan Fischhof wegen etwas so Harmlosem wie ein paar Sonnenstrahlen in Rage geriet.
Ihr Blick fiel auf einen Teller, der auf dem Küchentisch stand. Das Stück falscher Hase und die paar bräunlichen Kartoffeln waren nicht angerührt worden.
»Und gegessen hat er heute auch wieder nichts?«
»Nicht einen Bissen.« Ruth trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Ich hab ihm gesagt, dass er auch kein Bier bekommt, wenn er nicht wenigstens ein paar Happen isst, aber selbst das konnte ihn nicht umstimmen.«
»Aber hat er sein Bier schon bekommen?«
»Wer nichts isst …« Mit ausdrucksloser Miene spannte sie ein Stück Frischhaltefolie über das Mittagessen.
»Ach, komm schon, Ruth«, sagte Heloise und legte den Kopf schräg. »Der Herr wünscht nun mal, dass ihm seine letzte Mahlzeit in einer Flasche serviert wird, dann erfüllen wir ihm diesen Wunsch doch.«
Ruth kniff die Lippen zusammen.
»Ist das die Schlagzeile, die du über deinem Artikel lesen willst? Im Suff gestorben?«
Die Worte trafen sie hart, und Heloise hatte den Eindruck, dass sie schon lange in Ruth rumort und nur auf die Gelegenheit gewartet hatten, aus ihr hervorzuplatzen. Heloise hob die Augenbrauen und lächelte verwundert.
»Passt es dir nicht, dass ich hier bin, Ruth?«
»Nein, das passt mir nicht.« Endlich drehte Ruth sich um und erwiderte Heloises Blick mit vorgeschobenem Kinn, die Arme in die Seiten gestemmt. Ihr dicker Hals färbte sich dunkelrot. »Ein alter Mann, der im Sterben liegt, sollte nicht für die Unterhaltungsseiten irgendeiner Zeitung herhalten müssen. Das hier ist kein Spiel!«
»Das ist mir völlig bewusst.«
»Unsere Aufgabe als Sterbebegleiterinnen ist es, den Sterbenden in ihren letzten schweren Stunden mit Trost und Fürsorge beizustehen und bei ihnen zu sein. Wir hören zu und tun, was wir können, um ihnen den schweren Abschied vom Leben leichter zu machen.«
»Genau deswegen bin ich doch hier.« Heloise trat Ruth gegenüber und legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Ich verstehe sehr gut, dass du dir Sorgen machst. Aber du musst wissen, dass mir das hier mehr bedeutet als irgendein Arbeitsauftrag. Ich bin nicht mehr nur als Journalistin hier. Ich bin hier, weil ich hier sein will und weil Jan und ich … uns verbindet etwas. Verstehst du?«
Ruth betrachtete Heloise mit stummer Skepsis.
»Es geht mir nicht mehr nur um den Job«, fuhr Heloise fort.
Ruth nickte widerwillig. »Dann willst du also doch nicht über ihn schreiben?«
Heloise biss sich auf die Unterlippe, während sie nach den richtigen Worten suchte.
»Zumindest nicht jetzt und nicht auf die Art, wie du es befürchtest. Das verspreche ich.«
Die Runzeln um Ruths Mund verrieten, dass sie mit dieser Erklärung erst einmal zufrieden war. Sie stellte den Teller mit dem Mittagessen in den Kühlschrank und zog sich die Schürze mit einem Ruck vom Leib.
»Na gut, wenn du noch einem Moment bei ihm sitzen willst, wird das heute schon noch gehen.«
Heloise nickte. »Ich passe gut auf ihn auf.«
Ruth verließ die Küche. Heloise wartete noch, bis sie die Haustür ins Schloss fallen hörte, dann trat sie an die offene Terrassentür und schaute hinaus in den Garten. Dort saß Jan Fischhof in seinem Rollstuhl unter einem großen, limettenfarbenen Sonnenschirm. Das gleißende Sonnenlicht fiel durch den giftgrünen Stoff und legte ein Schimmern auf Jan Fischhofs knochiges Gesicht, das seine Haut noch kränker aussehen ließ, als sie es ohnehin schon war. Sein Kopf war kahl, weder Brauen noch Wimpern rahmten seine eingesunkenen Augen ein, die Zähne wirkten daher umso riesiger. Der Mann war nicht älter als siebenundsechzig Jahre, doch der Lungenkrebs hatte ihn innerhalb kürzester Zeit in jemanden verwandelt, der auf die neunzig zuzugehen schien. Neben seinem Rollstuhl stand ein Beatmungsgerät. Jans Augen waren geschlossen, der Mund offen, seine Lippen schlaff, und die grobschlächtigen Hände lagen, die Handflächen nach oben, in seinem Schoß.
Er sah aus, als wäre er bereits tot, dachte Heloise.
»Jan?«, rief sie.
Jan Fischhof blinzelte, öffnete die Augen einen Spalt, und sein Blick glitt hinüber zu Heloise, ohne sie wirklich zu registrieren.
»Ach, du bist ja wach.« Sie lächelte.
Er schloss die Augen wieder.
Heloise schirmte mit der Hand die Sonne ab und ging auf ihn zu. Schon seit drei Wochen lag sengende Hitze über dem Land. Die Strände der gesamten Ostseeküste stanken bereits nach verrottetem Tang, auf Feldern und Wiesen herrschte staubige Dürre.
Auch Jan Fischhof hatte mit den hohen Temperaturen zu kämpfen. Die Venen unter der pergamentdünnen Haut waren angeschwollen, und am Kragen seines Hemdes und an der Brust zeichneten sich Schweißflecken ab. Mit jedem Schritt, den Heloise näher an ihn herantrat, klang sein pfeifender, rasselnder Atem gequälter.
»Du siehst aus, als wär dir zu warm«, sagte sie und setzte sich vor ihm in die Hocke. Sie legte eine Hand auf sein Bein und drückte es sanft. »Brauchst du etwas zu trinken?«
Seine Augenlider glitten auf, diesmal sah er sie aufmerksamer an. Langsam nickte er.
»Ja, gern«, antwortete er. »Ein Pils wäre nicht schlecht.«
Heloise lächelte. »Bin gleich wieder da.«
Sie stand auf und ging durch die Terrassentür hinein. In dem kleinen Haus war es kühl und dunkel. Heloises Blick wanderte über die Möbel im Wohnzimmer. Der Raum schien von einer Frau eingerichtet worden zu sein. Auf dem geblümten Sofa waren bestickte Kissen drapiert, und auf den staubigen Regalen standen Kristallvasen und Porzellanfiguren von Eisbären und kleinen Mädchen, die Hände zum Gebet gefaltet. Auf dem Schreibtisch in der hinteren Ecke des Zimmers stand ein Strauß Heidekraut in einer geschwungenen Aalto-Vase. Die Blüten hatten schon längst ihre Farbe verloren, und Heloise fragte sich, ob wohl Fischhofs verstorbene Frau Alice diesen Strauß vor langer Zeit gebunden hatte. Vielleicht hatte er sich deshalb noch nicht davon trennen können?
Ihr Blick wanderte weiter über die vielen gerahmten Familienfotos, die neben dem Strauß auf dem Schreibtisch standen. Einige von ihnen hatten einen leichten Sepiaton und schienen demnach schon etwas älter zu sein, andere sahen moderner aus. Heloises Blick blieb an einer der Fotografien hängen, auf der Fischhofs Frau und Tochter abgelichtet waren. Das Bild sah aus, als wäre es im Hinterzimmer eines Provinzfotografen aufgenommen worden. Das Mädchen, an dessen Namen Heloise sich nicht erinnern konnte, trug eine karamellfarbene Wildlederjacke und eine ausgeblichene Jeans; die Gläser in ihrem Brillengestell im Schildplattdesign bedeckten das halbe Gesicht. Alice stand neben ihrer Tochter, sie trug einen kreischgrünen Pullover von Marco Polo mit enormen Schulterpolstern, und auf ihrem Kopf lockte sich eine gewaltige Dauerwelle. Dieser Look konnte nicht typischer für die Zeit sein, in der das Bild entstanden war, dachte Heloise lächelnd und ging in die Küche.
Sie öffnete den Kühlschrank. Das mittlere Fach war mit Medikamentenschachteln in unterschiedlichen Farben und Größen gefüllt. Präparate, deren Aufgabe es war, das Unvermeidliche um Tage, Stunden, Minuten hinauszuzögern. Fischhof hatte vor drei Wochen damit aufgehört, seine Medikamente einzunehmen. Alle lebenserhaltenden Maßnahmen hatten eine Vielzahl von Nebenwirkungen zur Folge, und Fischhof war an dem Punkt angekommen, an dem er alles ablehnte – außer einem kalten Bier.
Heloise nahm ein Carlsberg aus der Kühlschranktür und ging wieder hinaus in den Garten. Sie stellte die Flasche vor Jan Fischhof auf den Gartentisch und setzte sich neben ihn in einen Korbstuhl.
Er zog eine nervöse Grimasse, zeigte aber sonst keinerlei Reaktion.
»Jan, ich bin’s.« Sie trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Heloise.«
»Heloise«, wiederholte er langsam. Dann nickte er, erst ganz sachte, dann schneller, so dass der Plastikschlauch des Beatmungsgeräts in seinen Nasenlöchern auf und ab hüpfte.
Er wandte den Kopf und fokussierte seinen Blick auf sie.
»Heloise?«, wiederholte er verwundert, als wäre es lange her, dass sie einander das letzte Mal gesehen hatten.
Sie lächelte ihm zu und nickte. »Wie geht es dir heute?«
Der Alte verzog das Gesicht. »Gedanken, Gedanken«, murmelte er und winkte ab.
Heloise stützte einen Ellenbogen auf die Tischplatte, legte ihr Kinn in die Hand und betrachtete Jan.
»Woran denkst du gerade?«, fragte sie.
»An dies und jenes und an den Tod. An dies und jenes und an den Tod.« Das sagte er zweimal hintereinander, als handele es sich dabei um einen alten Kinderreim, der ihm gerade wieder eingefallen war. Er summte die Silben vor sich hin. Seine hervorstehenden Kiefer klapperten im Takt.
Heloise schob die Flasche dichter an ihn heran.
»Hier, trink. Heute ist es wirklich heiß, dein Körper braucht Flüssigkeit.«
Jan Fischhof griff nach dem Bier, steckte einen Finger in die Flaschenöffnung und ließ ihn sogleich wieder hervorploppen. Dann setzte er sich die Flasche an den Mund und trank vorsichtig einen Schluck.
Die geflochtene Rückenlehne des Korbstuhls knirschte, als Heloise sich zurücklehnte und ihren Blick durch den Garten schweifen ließ. Jenseits des weißen Zauns verlief die Von Ostensgade, eine geschwungene, gepflasterte Gasse mit alten reetgedeckten Häusern, vor denen Lupinen und Bauernrosen wuchsen. Am Ende der Gasse konnte sie den Øresund sehen. Die Altstadt von Dragør war so idyllisch, dass sie fast wie eine Karikatur wirkte, und doch war für viele Einwohner dieser Ort der Nabel der Welt.
Für Jan Fischhof war es mehr als das.
Diesen Ort hatte er sich ausgesucht, um hier seinen Lebensabend zu verbringen.
»Ruth hat mir erzählt, dass du heute den Kopf hängengelassen hast«, sagte Heloise und beobachtete ihn mit mildem Blick. »Gibt es etwas, worauf du Lust hast? Etwas, das deine Laune verbessert?«
Er senkte den Blick, hob die Flasche erneut an den Mund. Kurz bevor sie seine geschürzten Lippen berührte, zögerte einen Augenblick. Dann schüttelte er den Kopf und trank einen Schluck.
»Wollen wir Karten spielen? Dein Arzt sagt, das sei gut für deinen Kopf.«
Sie legte die Hände auf die Lehnen des Korbstuhls und machte sich bereit, aufzustehen und die Karten zu holen.
Jan sah zum Øresund. Er schwieg.
»Ich habe mal ein Mädchen gekannt, das am anderen Ufer gewohnt hat«, sagte er dann. »Claudia hieß sie.«
Heloise lächelte und ließ sich wieder in den Stuhl sinken. »Warst du etwa in eine Schwedin verliebt?«
»Nein, sie war aus Glücksburg, von der anderen Seite, hab ich doch gesagt. Eine Deutsche!« Er zeigte Richtung Sund. »Sie hat einen Sommer lang hier gearbeitet … ich glaube, bei irgendeinem Sommerfest, das veranstaltet wurde, als ich noch auf dem Benniksgaard gearbeitet habe.«
»Aber wir sind doch jetzt in Dragør, Jan. Am anderen Ufer liegt Schweden. Nicht Deutschland.«
Der alte Mann kniff die Augen zusammen und fixierte Heloise mit seinem Blick, als wäre er kurz davor, sie anzufahren. Dann glitt ein Schatten über sein Gesicht, und sein Blick verschwamm.
Langsam nickte er. »Ach ja. Stimmt. Schweden.«
»Ich weiß, dass du in Südjütland aufgewachsen bist, aber jetzt wohnst du in Dragør, schon seit vielen Jahren.«
Heloise konnte sehen, dass er kurz davor war, wieder im Demenzsumpf zu versinken.
»Willst du mir nicht von Rinkenæs erzählen?«, fragte sie, um ihn bei der Stange zu halten. »Wann seid ihr noch mal weggezogen, du und Alice?«
Ein unbestimmbarer Ausdruck lag plötzlich auf Jan Fischhofs Gesicht, als er Heloises Blick erwiderte.
»Und deine Tochter?«, fragte sie. »Wie hieß sie noch gleich?«
Mit einem überraschend kräftigen Griff, der Heloise zusammenfahren ließ, packte Jan Fischhof Heloises Handgelenk. Seine Augen waren plötzlich weit aufgerissen und angsterfüllt.
»Glaubst du an Gott?«, flüsterte er.
»Gott?«, wiederholte Heloise mit ruhiger Stimme. Vorsichtig befreite sie sich aus seinem Griff, legte stattdessen ihre Hand in seine und versuchte, ihn zu beruhigen, indem sie ihm mit dem Daumen sanft über den knorrigen Handrücken strich. »Das ist ja mal eine große Frage.«
Heloise war seit ihrer Kindheit regelmäßig in die große Marmorkirche gegangen. Seit jeher war dies ihr Lieblingsplatz, ihr heiliger Ort. Sie ging jedoch nie zu den Gottesdiensten, besuchte die Kirche lieber allein, mehrmals im Monat, und ihre Füße fanden stets den Weg die schmale Wendeltreppe hinauf in den Turm, als wäre er ihr zweites Zuhause. Dort oben fühlte sie sich sicher und heimisch, und wenn sie dort saß, drängten sich ihr eine Unmenge existenzieller Fragen auf.
Aber Gott?
»Ich glaube schon an irgendetwas. Da ist mehr zwischen Himmel und Erde, als wir uns vorstellen können. Ein tieferer Sinn«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. »Und du? Glaubst du an Gott?«
Der alte Mann hob den Kopf und atmete schwer, als hätte er Schmerzen. Er kniff die Augen fest zusammen und schüttelte leicht den Kopf, antwortete jedoch nicht.
»Ich glaube schon, dass wir weiterreisen, wenn unsere Zeit hier auf Erden vorüber ist. Nenn es das Himmelreich, wenn du willst, und ich glaube, dass wir –«
»Und die … Hölle?«
Heloise legte den Kopf schief und schenkte ihm ein liebevolles Lächeln.
»Darüber musst du dir keine Sorgen machen, Jan. Du bist vielleicht ein knurriger alter Bandit, aber schlimmer als das ist es nicht. Wenn du da oben an die Himmelspforte klopfst, werden sie dich schon reinlassen.«
»Aber es heißt doch, dass man …« Seine Stimme brach, und die feine Haut um seine Augen zog sich zusammen. Sein ganzer Körper schien zu schmerzen. »… dass man zur Verantwortung gezogen wird.«
Heloise sah plötzlich das Gesicht ihres Vaters vor sich, und eine Unruhe machte sich in ihrer Brust breit.
»Gibt es etwas, was dir Sorgen bereitet?«, fragte sie und lehnte sich instinktiv von Fischhof weg, jedoch ohne seine Hand loszulassen.
Er nickte und ähnelte plötzlich einem Kind, das sich vor dem wütenden Vater fürchtet.
Heloise runzelte die Stirn. »Warum? Wofür solltest du zur Verantwortung gezogen werden?«
Der alte Mann wandte sein Gesicht gen Himmel und holte in schnellen, flachen Atemzügen Luft. Als er sprach, fielen die Worte wie gutturale Brocken aus seinem Mund, als kämen sie von irgendwo ganz tief hervor und als bereitete ihm jede einzelne Silbe Schmerzen.
»Mats … Orek.«
Heloise beugte sich wieder vor, um ihn besser verstehen zu können.
»Mats Orek? Wer ist das?«
Jan Fischhof schüttelte den Kopf. »Nein, Mats Orek … Mats Orek.«
Seine Augen weiteten sich, als würde ihm etwas vor seinem inneren Auge erscheinen, was ihm Angst machte. Die Falten in seinem Gesicht schienen sich für einen Moment zu glätten. Er hob einen warnenden Zeigefinger.
»Es steht geschrieben im dritten Buch Mose, 24.20.«
Heloise schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten –«
»Auge um Auge, Heloise. Zahn um Zahn. Der Schaden, den man anderen zufügt, wird einem selbst zugefügt werden.«
Die Worte blieben wie elektrisiert zwischen ihnen in der Luft hängen.
»Jan, du musst mir erklären, was du –«
»Das Blut!« Er schlug die Hand vor den Mund und wisperte zwischen den Fingern hervor »So viel Blut, Heloise. Und ich … ich kann nicht …«
»Wovon sprichst du? Wo hast du Blut gesehen?«
»An meinen Händen … an meiner Kleidung … überall!« Tränen quollen aus seinen Augen hervor. »Ich hatte gedacht, es wäre vorbei, aber … es hört einfach nicht auf! Du musst mir helfen, ich … ich kann den anderen nicht vertrauen. Sie lassen mich nie aus den Augen, und ich habe Angst, Heloise. Ich brauche deine Hilfe. Du wirst mir doch helfen?«
»Ich bin hier, Jan«, sagte Heloise. »Atme ganz ruhig, und dann versuch mal, mir zu erklären, wovor du Angst hast.«
»Diese Pforte, von der du sprichst …« Er hob den Zeigefinger gen Himmel. »Da oben!«
Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und sofort schien die Temperatur um ein paar Grad zu sinken.
»Ich bin mir nicht sicher, dass sie mir aufmachen werden.«
Heloise parkte vor Erik Schäfers kleinem roten Backsteinhaus in Valby und ging den zugewachsenen Gartenweg hinauf zur Eingangstür. Sie klingelte und lauschte auf Schritte im Flur, doch das Einzige, was sie hörte, war das Brummen des Motors unter der Kühlerhaube, das von der Straße her zu ihr herüberwehte. Sie drückte ein weiteres Mal auf den Klingelknopf und klopfte ein paarmal an die Tür. Dann schaute sie stirnrunzelnd auf das Display ihres Handys.
Vor zwanzig Minuten hatte sie ihm eine Nachricht geschrieben und gefragt, ob sie kurz vorbeikommen könne, und Schäfer hatte wie immer, so knapp wie möglich, mit einem Daumen-nach-oben-Emoji geantwortet.
Heloise schaute nach, ob sein Wagen im Carport stand, dann ging sie um das Haus herum und spähte in alle Fenster, bis sie den Kommissar schließlich im Garten antraf. Er sonnte sich in einem Gartenstuhl aus sandfarbenem, geflochtenem Plastik und trug nichts weiter als rote Badeshorts und eine Cap. Sein Bauch war rund und behaart, die Beine hatte er leicht gespreizt von sich gestreckt.
Er hatte Heloise nicht kommen hören, also räusperte sie sich, um auf sich aufmerksam zu machen.
Schäfer drehte sich zu ihr um.
»Hej, Kaldan!«, sagte er.
»Sorry, dass ich hier so von hinten durch die kalte Küche komme, aber eure Klingel scheint kaputt zu sein.«
»Kein Problem, komm!« Schäfer winkte sie zu sich und bot ihr einen der anderen Stühle an. »Setz dich her.«
Heloise setzte sich Schäfer gegenüber mit dem Rücken zur Sonne. Ihr Blick fiel auf das dünne Goldkettchen, dass er um den Hals trug. Sie war schon immer der Auffassung gewesen, dass er mehr Ähnlichkeiten mit einem Mafiaboss aus New Jersey als mit einem Kriminalkommissar aus Kopenhagen hatte, und heute kehrte er seinen inneren Tony Soprano ganz nach außen.
»Kaffee?« Schäfer kniff, von der Sonne geblendet, die Augen zusammen und zeigte zur Kanne auf dem Gartentisch. »Oder willst du lieber ein Glas Weißwein? Wir haben noch eine Flasche da, aber ich weiß nicht, ob die kalt steht …«
»Nein, danke, ich brauche nichts.« Heloise musterte seinen Körper von oben bis unten, bis sich ihre Blicke schließlich trafen und Heloise ein Grinsen unterdrücken musste.
»Hast du noch nie zuvor ein bisschen Speck auf den Rippen gesehen?«, fragte Schäfer und klatschte sich auf den Bauch.
»Nein, ich … ich kenne dich halt nur in Arbeitsklamotten, und jetzt sitzt du hier plötzlich in Badehose und siehst aus wie ein Gangster. Fehlen nur noch die heißen Frauen und ’ne Zigarre.«
In diesem Moment kam Schäfers Frau Connie mit einem Wäschekorb unterm Arm die Kellertreppe herauf. Ihr voluminöses, krauses Haar trug sie offen, und der schwarze Badeanzug aus Nylon ließ einen Blick auf ihr wohlgeformtes Dekolleté zu. Um die Hüfte hatte sie sich ein rosafarbenes Tuch gebunden.
Beim Anblick seiner Frau grinste Schäfer zufrieden. Dann drehte er sich wieder zu Heloise um und hob die Brauen.
»Jetzt noch Zigarren, sagst du?«
Connie setzte ein begeistertes, breites Lächeln auf, als sie Heloise entdeckte. Sie stellte den Wäschekorb ins Gras.
»Heloise«, rief sie freudig überrascht. »Erik hat mir gar nicht erzählt, dass du heute vorbeikommen wolltest.«
Heloise erhob sich aus dem Gartenstuhl und umarmte sie zur Begrüßung.
»Das war auch ein eher spontaner Einfall«, erwiderte sie. »Ich wollte mit deinem Kommissargatten mal über ein, zwei Dinge sprechen.«
»Bleibst du etwa nicht zum Essen? Erik hat Entrecôte und Maiskolben gekauft und wollte noch den Grill anschmeißen.«
Heloise sah Schäfer an, der einladend nickte.
»Musst du nicht zur Arbeit?«, fragte sie ihn. »Du hast doch mittwochs immer Spätschicht.«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht mehr.«
»Na, wenn das so ist …« Heloise schaute auf ihre Uhr. Es war kurz vor sechs, und sie hatte keine anderen Pläne. »Wenn es euch keine Umstände macht …«
Connie lachte laut auf, als wäre es das Verrückteste, das sie je gehört hatte, und ehe Heloise es sich versah, stand sie auch schon mit einem Glas Chardonnay in der Hand neben Schäfer und sah ihm dabei zu, wie er die Steaks auf dem Grill wendete. Er hatte die Badeshorts mit einem Paar dunkelblauer Jeans vertauscht, sich ein graues T-Shirt übergezogen und eine Schürze mit der Aufschrift FBI’S MOST WANTED umgebunden, auf der neun Fahndungsfotos von finster dreinblickenden Frauen und Männern abgebildet waren. Auf dem Bild oben links erkannte Heloise Osama Bin Laden.
»Das scheint schon eine ältere Fahndungsliste zu sein«, stellte sie fest und pikste Schäfer mit dem Zeigefinger in den Bauch.
»Was, die hier?« Er sah an sich herunter und strich mit der Hand über die Schürze. »Die habe ich vor hundert Jahren mal bei einem Weihnachtsbingo mit den Kollegen auf dem Präsidium gewonnen. Ich geh mal davon aus, dass diese Leute inzwischen alle tot sind. Also die Terroristen. Nicht die Kollegen.«
»Wie läuft’s denn so?«, fragte Heloise und trank einen Schluck von ihrem Wein. »Auf dem Präsidium?«
»Das Präsidium ist ja in einen neuen Stadtteil umgezogen. Nach Teglholmen«, erklärte Schäfer und wendete die Maiskolben.
»Ach ja, stimmt. Wie ist es dort?«
Schäfer verzog die Mundwinkel und zuckte mit den Schultern.
»Schon okay. Augustin wurde in eine neue Einheit versetzt, Bandenkriminalität«, erzählte er. »Ich bekomme sie also nicht mehr so oft zu Gesicht, aber sonst ist alles mehr oder weniger wie immer.«
»Und die Fälle? Arbeitest du gerade an etwas Spannendem?«
»Wie definierst du ›spannend‹?« Schäfer erwiderte Heloises Blick. »Die Grenzen zum Bestialischen haben sich in den letzten Jahren deutlich verschoben. Aber in der Mordkommission ist es in letzter Zeit erstaunlich ruhig.«
»Das ist doch gut, oder? Weniger Fälle, also weniger Morde?«
»Ja, so kann man es auch sehen, aber ich habe irgendwie so ein Ruhe-vor-dem-Sturm-Gefühl. Immer wenn man glaubt, dass die Statistiken gerade ganz nett aussehen, kommt plötzlich irgendetwas Grauenvolles aus einer Ecke gekrochen.« Er stellte den Gasgrill eine Stufe runter.
Connie trat aus dem Haus auf die Terrasse und begann, den Tisch zu decken.
»Wie sieht’s mit den Entrecôtes aus, Baby?«, fragte sie.
»Heloise bevorzugt ihr Fleisch verkohlt, also dauert es noch ein paar Minuten, aber unsere sind fertig«, sagte er und reichte ihr den Teller mit in Alufolie eingewickelten Steaks. Dann nahm er die Maiskolben vom Grill, ließ das letzte Stück Entrecôte noch auf dem heißen Rost liegen und drückte mit der Grillzange darauf herum, dass es nur so zischte. Dann wandte er sich wieder Heloise zu.
»Worüber wolltest du eigentlich mit mir sprechen?«
»Ach, ich glaube, es ist nichts«, sagte sie und schwenkte den Wein in ihrem Glas. »Aber ich … wie hast du es eben ausgedrückt? Ich habe auch das Gefühl, dass demnächst etwas Grauenvolles aus irgendeiner Ecke gekrochen kommt.«
»Wie geht es Jan Fischhof?«, fragte Connie und reichte Heloise die Salatschüssel. »Du besuchst ihn immer noch, nicht wahr?«
Connie hatte für Derartiges einen sechsten Sinn, dachte Heloise. Als schienen ihre Instinkte ihr zu verraten, dass Heloise seinetwegen vorbeigekommen war. Oder sie hatte einfach schon so viele Jahre an Schäfers Seite verbracht, dass seine Gabe, Menschen zu durchschauen, auf sie abgefärbt hatte.
»Ja, ich besuche ihn immer noch«, antwortete Heloise. »Aber so langsam bereue ich, ehrlich gesagt, die Zeitung in die Sache reingebracht zu haben.«
»Warum?«
»Ich habe irgendwie doch keine Lust, über ihn zu schreiben. Das fühlt sich zu intim an.«
»Oh, das tut mir leid.« Eine senkrechte Falte bildete sich zwischen Connies Augenbrauen, sie klang enttäuscht. »Also hätte ich dich lieber nicht –«
»Doch, das war eine gute Idee, Connie. Und ich finde es immer noch eine gute Idee, über Sterbebegleitung zu schreiben. Unsere Leser sollten mehr über die Arbeit des Roten Kreuzes erfahren. Aber ich kann nicht über Jan schreiben. Ich will es einfach nicht.«
»Um wen geht’s?«, fragte Schäfer.
»Jan Fischhof«, antwortete Connie.
»Wen?«
»Er hier!« Heloise nahm ihr Handy aus der Tasche, suchte ein Selfie, das sie und Jan am vergangenen Wochenende gemacht hatten, und hielt Schäfer das Telefon vor die Nase.
»Connie hat den Kontakt zwischen uns hergestellt«, erklärte sie.
Schäfer warf einen Blick auf das Bild und nickte.
»Es ist wichtig, in solchen Beziehungen einen professionellen Abstand zu wahren«, sagte er und schnitt mit dem Steakmesser in das Fleisch, das vor ihm auf dem Teller lag. »Das sage ich Connie auch immer wieder.«
»Bau ein gutes Verhältnis auf, aber kein zu nahes.« Connie nickte bestätigend.
Seit zwölf Jahren arbeitete Connie als Freiwillige in der Sterbebegleitung. Sie hatte mehr im Sterben liegenden Menschen die Hand gehalten, als sie zählen konnte, und sie war es gewesen, die Heloise erzählt hatte, dass immer mehr Menschen die Welt in totaler Einsamkeit verließen. Ohne Familie, die sich an ihrem Sterbebett versammelte, ohne einen einzigen Freund. Sie hatte Heloise dazu ermuntert, sich als Freiwillige zu melden, auch mit dem Hintergedanken, über ihre Erlebnisse als Sterbebegleiterin zu schreiben und somit für die Dienste des Roten Kreuzes zu werben.
Heloise stocherte an ihrem Entrecôte herum. Es war für ihren Geschmack immer noch zu blutig, und die weißgelbe Speckschwarte, die Schäfer genüsslich in sich hineinschaufelte, ließ sie an Seifenproduktion und Fettabsaugung denken.
»Professioneller Abstand hin oder her, ich finde es wirklich bemerkenswert, dass du schon so viele Jahre dabei bist«, sagte Heloise mit bewunderndem Blick. »Schließlich baut man immer eine enge Verbindung zu den Menschen auf, die man begleitet.«
Connie schüttelte den Kopf. »Das kommt dir nur so vor, weil dich und Jan wirklich irgendetwas verbindet. Zum Tango gehören immer zwei.«
»Wie meinst du das?«
»Viele der älteren Herrschaften kriegen erst einmal einen Schock, wenn sie mich zur Tür hereinkommen sehen.« Connie sperrte die Augen weit auf. »Um Himmels willen! Eine Schwarze?!«
Schäfer schüttelte den Kopf. »Es wird immer welche geben, bei denen die Bildung versagt, Schatz. Das weiß du.«
»Ja, aber trotzdem überrascht es mich jedes Mal. Denn wir sprechen hier von Menschen, die am Ende ihres Lebens angekommen sind. Sie sind einsam und haben Angst und sehnen sich nach jemandem, der an ihrer Seite ist. Aber eine Schwarze Frau? Nein, das geht zu weit. Aber ich gebe ihnen einfach ein bisschen Zeit, sich an mich zu gewöhnen, und die meisten von ihnen wissen es irgendwann zu schätzen, dass ich bei ihnen bin. Der Tod entwaffnet alle – so ist das nun mal! Aber wir bauen niemals diese enge Verbindung auf, die du schilderst, Heloise. So weit kommt es nie.«
Heloise legte ihr Besteck mit lautem Klappern ab.
»Entschuldige bitte, aber warum hilfst du solchen Arschlöchern?«
Connie lächelte und zuckte mit den Schultern. »Weil … weil sie eben im Sterben liegen.«
Heloise lehnte sich auf ihrem Gartenstuhl zurück. »Du bist ein besserer Mensch als ich.«
»Quatsch. Jan Fischhof ist auch nicht gerade ein einfacher Typ«, sagte Connie. »Trotzdem besuchst du ihn regelmäßig. Ich glaube, du bist großzügiger, als du denkst.«
»Nein, Jan ist immerhin nicht so wie diese Typen, die du beschreibst. Er ist ein bisschen reserviert und trotzig, und nicht alle Sterbebegleiterinnen haben einen guten Draht zu ihm, aber wenn man ihn erst einmal kennenlernt –«
»Ja, das weiß ich nur zu gut«, warf Connie ein. »Er wirkt sehr angenehm. Ich war eine der Ersten, die zu ihm rausgefahren ist, und er war wirklich sehr höflich, aber er wollte nicht mit mir reden. Zumindest nicht wirklich. Aber ich glaube, das lag nicht an meiner Hautfarbe.«
»Was könnte es gewesen sein?«
Connie zuckte mit den Schultern und beträufelte ihren Maiskolben mit geschmolzener Butter.
»Er wirkte einfach nur so … wie sagt man? Zugeknöpft. Zurückhaltend. Als hätte er Angst, jemanden zu nah an sich ranzulassen. Ich glaube, er hatte es sehr schwer, nachdem seine Frau gestorben war, und seitdem hatte er nie wieder jemanden –«
»Was ist mit seiner Tochter, weißt du etwas über sie?«, fragte Heloise und erklärte: »Er war heute total von der Rolle, als ich ihn nach ihr gefragt habe, und dann hat er plötzlich allerhand merkwürdiges Zeug gesagt. Er schien vor irgendetwas Angst zu haben.«
»Inwiefern?«
»Er redete eine ganze Menge unzusammenhängendes Zeug, faselte von biblischer Vergeltung und Blut und noch so einigen anderen gruseligen Sachen.«
»Blut?« Schäfer spitzte die Ohren.
»Ja, es war schon ein bisschen unheimlich«, räumte Heloise ein. Sie erzählte den beiden, was Fischhof gesagt hatte. Als sie ihre Ausführungen beendet hatte, waren die Teller auf dem Tisch fast leer gegessen. Nur Heloises Entrecôte lag unberührt vor ihr.
»Glaubst du, er hat von einem Verbrechen gesprochen?«, fragte Schäfer. Er angelte eine Zigarette aus der Brusttasche seines T-Shirts.
»Keine Ahnung«, sagte Heloise. »Aber er war zumindest in irgendeine Sache verwickelt, für die er jetzt von Gott bestraft werden könnte, so seine Befürchtung. Er bezog sich auf das Dritte Buch Mose. Darin geht es um … ja, worum eigentlich? Karma? Alles, was du tust, wird irgendwann zu dir zurückkommen.«
»Auge um Auge.« Connie nickte zustimmend und füllte Heloises Weinglas auf. »Die Strafe für ein Verbrechen soll vom gleichen Umfang sein wie das begangene Verbrechen. Aber das ist ja so eine alttestamentliche Ansicht. Du kannst ihn dran erinnern, dass es ein Update gibt. Man soll jetzt die andere Wange hinhalten.«
Schäfer zündete sich die Zigarette an und lehnte sich im Stuhl zurück, während er aufmerksam zuhörte.
»Fischhofs Zusammenbruch schien aus heiterem Himmel zu kommen, aber ich glaube, es hing damit zusammen, dass ich die Tochter erwähnt habe«, sagte Heloise nachdenklich. »Wir haben nie richtig über sie gesprochen, und jedes Mal wenn ich versucht habe, nach ihr zu fragen, hat er einfach das Thema gewechselt. Aber heute habe ich anscheinend einen Nerv getroffen.«
»Ich kann mich gut an die Tochter erinnern«, sagte Connie und starrte vor sich hin, als würde sie versuchen, die Details in ihrem Gedächtnis hervorzukramen. »Ich habe sie nur kurz getroffen, als ich zum ersten Mal nach Dragør rausgefahren bin. Ich glaube, sie wohnt in Stockholm oder so. Deswegen kommt ihn außer uns auch niemand besuchen. Sie hat keine Möglichkeit vorbeizukommen, weil sie so weit weg wohnt, und deshalb hat sie die Sterbebegleitung kontaktiert, damit Jan in seinen letzten Momenten nicht einsam ist. Sie hat einen Schweden geheiratet und so einen ABBA-Namen, wenn ich mich recht erinnere.«
»Agneta?«, fragte Heloise. »Oder Anni-Frid?«
»Nein, ich meine den Nachnamen, den sie angenommen hat, ich glaube, einer von ABBA heißt auch so. Irgendwas mit U, kann das sein?«
»Ulvaeus«, sagte Schäfer. »Björn Ulvaeus.«
»Ja, genau!« Connie deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. »Ulvaeus!«
»Aber wie sie mit Vornamen hieß, weißt du nicht mehr?«, hakte Heloise nach.
»Steht das nicht in den Unterlagen, die du vom Roten Kreuz bekommen hast?«
Heloise schüttelte den Kopf.
»Ich kann ja mal bei den anderen Sterbebegleiterinnen nachfragen, ob die was wissen«, schlug Connie vor.
»Ja, danke, sehr gern«, sagte Heloise und wandte sich dann an Schäfer. »Glaubst du, ich könnte dich um einen Gefallen bitten?«
Er schob das Kinn vor und sah sie skeptisch an. »Was willst du?«
»Fischhof hat einen Namen genannt: Mats Orek. Könntest du mal nachsehen, ob diese Person irgendwo verzeichnet ist?«
Schäfer nahm einen Zug von seiner Zigarette. Er betrachtete Heloise durch den Rauch, den er langsam wieder ausblies.
»Also, du hast mir doch selbst erzählt, dass dieser Fischhof dement ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass er im Delirium irgendetwas vor sich hinbrabbelt, ist also relativ hoch. Das ist dir klar, oder?«
»Ich bitte dich ja auch nur darum, einen kurzen Suchlauf zu starten. Nur um nachzuschauen, ob ihr mal jemanden mit diesem Namen auf dem Radar hattet. Ich muss der Sache nur auf die Spur gehen, damit ich ihn beruhigen kann.«
»Damit du ihn beruhigen kannst oder eher dich selbst?«
»Ja«, gab Heloise zu, »ich will auch sicher sein. Nach der Sache mit meinem Vater damals …« Sie warf Schäfer einen eindringlichen Blick zu. »Wenn ich diejenige sein soll, die bis zum bitteren Ende an seiner Seite bleibt und ihm die Hand hält … Im Moment macht sich in mir so eine Unsicherheit breit, die ich nicht abschütteln kann. Ich muss einfach wissen, welche Leichen er im Keller hat.«
Schäfer kniff die Lippen zusammen und nickte.
»Ich verstehe, dass du gern alle Karten auf dem Tisch hättest. Aber ich kann mich nicht einfach in unser System einloggen und nach einer Person suchen, die aus ermittlungstechnischen Gründen für mich irrelevant ist. Oder, doch, ich kann schon, aber ich darf es nicht.«
»Warum nicht?«
»So sind nun mal die Regeln. Sonst würden die Kollegen ständig ihren Nachbarn und dem neuen Freund der Ex hinterherschnüffeln. Das ist ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht, und das ist verboten.«
Heloise legte den Kopf schräg und hob die Augenbrauen. »Willst du mir damit sagen, dass du diese Regeln noch nie gebrochen hast?«
»Doch, früher ab und zu. Aber damals wurde die Privatsphäre auch noch nicht so pingelig beschützt. Wenn man heutzutage eine Suchanfrage in unseren Registern stellt, hinterlässt man eine elektronische Spur, und wenn dann jemand Fragen stellt und ich keine gute Erklärung parat habe, kriege ich ein Disziplinarverfahren an den Hals.«
»Aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Fragen stellt?«
Schäfer antwortete nicht. Stattdessen fuhr er sich mit der Hand über die Bartstoppeln, dass es nur so kratzte.
Er und Heloise starrten einander an, als warteten sie nur darauf, wer zuerst blinzelte.
Schließlich kapitulierte Heloise und lehnte sich in ihrem Gartenstuhl zurück.
»Komm schon, Schäfer. Für die Freundschaft.«
»Um welche Freundschaft geht es hier?«, fragte er trocken und drückte die Zigarette auf dem Teller aus. »Deine mit dem alten Zottel? Oder deine und meine?«
Heloise grinste.
»Wo ist da der Unterschied?«
Donnerstag, 11. Juli
Schäfer ließ den Helikopter nicht aus den Augen, während er den Wagen durch den Verkehr lenkte. Es war ein AS550 Fennec der Kopenhagener Polizei, der irgendwo hinter der ikonischen Neonleuchtenhenne und anderen Werbetafeln über einem Wohngebiet kreiste. Der Bandenkonflikt war nach ein paar ruhigen Monaten wieder ausgebrochen, und in der Nacht war es zu Schießereien mit insgesamt drei Toten gekommen. Unter den Opfern waren keine Unbeteiligten – drei kriminelle Arschlöcher waren zu Tode gekommen, nichts, was Schäfers Herzfrequenz unnötig erhöhte. Aber seine ehemalige Partnerin war jetzt Teil des Sondereinsatzkommandos, und er wusste, dass sie dort oben in dem eisernen Vogel saß. Er konnte sie vor sich sehen: schwarzer SEK-Anzug über sehnigen Muskeln, Schweißband im Haar, echter Rambo-Stil. Lisa Fucking Augustin.
Bei der Vorstellung musste Schäfer grinsen. Er war kurz davor, sie ernsthaft zu vermissen.
»Wissen wir, nach wem sie suchen?«, fragte er und deutete mit einem Kopfnicken gen Himmel. »Gibt es einen Verdächtigen?«
Kommissar Nils Petter Bertelsen, der auf dem Beifahrersitz saß, blickte auf und sah durch die Windschutzscheibe zum Helikopter.
»Irgendeinen Drogenhändler, der heute Nacht in einer Pizzeria ein paar Konkurrenten liquidiert hat. Dimitri … irgendwas.«
Bertelsen schnipste mit den Fingern, während er versuchte, sich an den Nachnamen zu erinnern. Dann sah er Schäfer an und hob die Augenbrauen. »Zeit für Mittagessen, oder?«
Schäfer sah auf die Uhr auf dem Armaturenbrett. »Es ist Viertel nach zehn.«
»Ja, aber wir sind schon seit halb fünf unterwegs. Mein Magen knurrt. In der Dronningens Tværgade ist ein Dönerladen – wenn du sowieso in die Richtung fährst, kann ich kurz reinspringen und uns was holen.«
»Ich bin in anderthalb Stunden mit Michala Friis zum Mittagessen verabredet, ich brauch jetzt nix«, erwiderte Schäfer.
Die Verabredung stand seit anderthalb Wochen in seinem Kalender: Lunch mit der ehemaligen Polizeipsychologin Michala Friis. Sie wollten zusammen die Details in einem Mordfall durchgehen, für dessen Strafverhandlung sie beide als Zeugen einberufen worden waren. Er als Ermittler, sie als Expertin für die Klägerseite.
»Ach was?!« Bertelsen sah Schäfer mit wissendem Blick an und ließ seine Augenbrauen vielsagend auf und ab hüpfen. »Da freut sie sich sicherlich gewaltig drauf.«
Fragend sah Schäfer kurz zu Bertelsen, bevor er wieder auf die Straße schaute.
»Was willst du damit sagen?«
»Das Gespür des Ermittlers, Schäfer.« Bertelsen tippte sich mit dem Finger an die Nasenspitze. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass du den Braten nicht gerochen hast?«
Schäfer hielt an einer roten Ampel und starrte Bertelsen ausdruckslos an, bis die Ampel wieder auf Grün sprang und ein schwarzer Tesla hinter ihnen auf die Hupe drückte.
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.«
»Nicht dein Ernst!« Bertelsen gluckste vor Lachen. »Wenn du wirklich nicht weißt, wovon ich rede, dann hast du ja echt gar nichts geschnallt, Alter! Das gibt’s doch nicht!«
»Ich darf doch sehr bitten«, schnaubte Schäfer. Er drückte aufs Gaspedal und bog links in die Dronningens Tværgade ein. »Ich habe –«
»Deswegen hat Michala doch überhaupt erst gekündigt. Hast du das nicht gewusst? Ist dir nie aufgefallen, wie sie – hey, nicht so schnell, hier ist es schon!« Bertelsen zeigte aus dem Autofenster auf ein Schild mit der Aufschrift Bazaar.
Schäfer stoppte den Wagen an der Bordsteinkante und betrachtete die Fassade des Geschäftes. Das Bazaar war kein kleiner, schmuddeliger Dönerladen mit einer nackten Glühbirne in der Decke, wie er es sich vorgestellt hatte, sondern ein großes Restaurant mit Designermöbeln und Platz für mehr als hundert Gäste.
Bertelsen stieg aus dem Wagen und schlug die Autotür hinter sich zu. Schäfer sah ihn ins Restaurant gehen, wo er von einem jungen, tätowierten Hipster-Typen begrüßt wurde.
Schäfer schaltete das Radio ein und zappte ein wenig zwischen den Sendern hin und her, aber es lief nichts außer Teenagerlärm, plattem Rap und nervigen Radiomoderatoren, die über ihre eigenen Witze lachten. Er schaltete das Radio wieder aus und saß schweigend da, schaute auf den Verkehr und dachte darüber nach, was Bertelsen gesagt hatte.
Dass er den Braten nicht gerochen hatte.
Schäfer gefiel das ganz und gar nicht. Wenn er sich auf eines wirklich verlassen konnte, war es sein Bauchgefühl. Das Gespür des Ermittlers. Er nahm den Zettel aus seiner Innentasche und strich ihn mit den Fingern glatt. Es war der pinke Post-it, auf den Heloise den Namen geschrieben hatte, bevor sie gestern Abend nach Hause gefahren war. Er hatte den Post-it zusammengeknüllt, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, war aber um drei Uhr nachts aus einem unruhigen Schlaf erwacht und hatte im Dunkeln dagelegen und Connies Atem gelauscht, während er an Heloise und Jan Fischhofs kryptische Geständnisse dachte.
Um vier war er aufgestanden und die Treppe hinuntergeschlichen in die Küche, wo er den Zettel aus dem Müll gefischt hatte.
Heloises Worte hatten sich in ihm festgebissen und nagten nun an seinen Gedanken.
Auge um Auge … Zahn um Zahn … Alles, was du tust, wird irgendwann zu dir zurückkommen.
Was hatte Jan Fischhof versucht, Heloise mitzuteilen?
Connie brachte immer wieder die absurdesten Geschichten von ihrer Arbeit als Sterbebegleiterin mit nach Hause: Geständnisse von Menschen, die auf dem Sterbebett Untreue und finanziellen Betrug einräumten. Menschen, die in den letzten Stunden ihres Lebens von Missbrauch und Gräueltaten erzählten, die sie zuvor nicht zu erwähnen gewagt hatten.
Erinnerungen, die sie in dieser Welt hinterlassen mussten, bevor sie sich auf ihre letzte Reise begaben.
Schäfer holte sein Handy hervor und tippte mit steifen Fingern einen Namen in das Personenregister der Polizei.
Das Handy klingelte irgendwo unter dem Stapel Papier. Heloise Kaldans Schreibtisch in der Redaktion des Demokratisk Dagblad war wie immer mit Notizbüchern, Zeitungsausschnitten und Dokumenten überflutet. Post-its, benutzte Kaffeetassen und Kugelschreiber, von denen nur die Hälfte funktionierte.
Unter all diesen Dingen fand sie ihr Handy noch rechtzeitig, bevor es aufhörte zu klingeln.
»Hallo?«
»Tach!« Schäfers Stimme knisterte gut gelaunt in der Leitung. »Hast du einen Augenblick?«
»Ja, wenn es schnell geht?« Heloise nahm das Telefon in die andere Hand, um an ihren Notizen weiterschreiben zu können, die sie gerade vorbereitete. »Ich muss in drei Minuten in die Redaktionssitzung.«
»Gut. Ich wollte dir auch nur mitteilen, dass ich mir den Namen, den du mir gestern dagelassen hast, mal genauer angesehen habe.«
»Hast du?« Heloise hielt mit dem Schreiben inne. »Danke, Schäfer, das ist wirklich lieb von –«
»Ja, aber ich habe niemanden unter dem Namen gefunden. Weder im Polizeiregister noch sonst irgendwo.«
Heloise ließ die Schultern hängen.
»Aber du hattest erwähnt, dass dein Freund da aus Jütland kommt«, fuhr Schäfer fort. »Also habe ich bei einem Bekannten aus der Polizeischule angerufen, Peter Zøllner. Er ist auch bei der Kriminalpolizei und wohnt in Gråsten. Bis Mitte der nuller Jahre gab es in der Stadt noch ein großes Präsidium, das inzwischen verlegt wurde. Ich glaube nicht mal, dass sie dort überhaupt noch einen Beamten stationiert haben. Das nächste Revier ist in Sønderborg, da sitzt auch Zøllner, und –«
»Ich hab nur ein paar Minuten, Schäfer.«
»Jedenfalls habe ich ihn gefragt, ob er jemanden mit Namen Mats Orek kennt – also, ob ihm der Name schon mal untergekommen war. Und das war er, allerdings hieß derjenige Mázoreck. Nicht Mats Orek.«
Schäfer buchstabierte den Namen, sie kritzelte ihn auf einen Zettel.
»Das muss Polnisch oder so was in der Art sein. Ich glaube, dass du Fischhof vielleicht missverstanden und deswegen nichts in den Archiven gefunden hast.«
»Sieht ganz so aus.« Heloise biss sich auf die Unterlippe und dachte nach. »Und das ist ein Nachname, sagst du? Mázoreck – mit Betonung auf der ersten Silbe?«
»Mázoreck, ja. Tom Mázoreck. Aus Rinkenæs.«
»Okay, der Ort stimmt schon mal. Dort ist auch Jan Fischhof geboren und aufgewachsen. Kannst du mir noch etwas über ihn erzählen?«
»Nichts Besonderes. Ich habe mich in den Fall noch nicht eingelesen, nur gesehen, dass er 1998 ums Leben gekommen ist und dass er –«
»Also gibt es einen Fall?« Heloise richtete sich in ihrem Stuhl auf.
»Nein, es war wohl ein Unfall. Sieht nicht so aus, als ob’s da was zu holen gäbe.«
»Aber wer war er? Habt ihr irgendwelche Infos über ihn?«
»Nur einen alten Strafeintrag. Prügelei in einem Gasthaus, auf der Straße, unbezahlte Strafzettel fürs Falschparken – Peanuts. Mein Kamerad aus dem Süden erzählte mir, dass er nicht der Typ war, den sie jemals für schwerere Vergehen auf dem Kieker haben mussten.«
Mogens Bøttger, Heloises Kollege, klopfte im Vorbeigehen auf ihren Schreibtisch und zeigte auf die Tür des Besprechungszimmers. Sie musste Schluss machen.
»Schäfer, ich muss jetzt auflegen, aber dieses Strafregister – darf ich mir das ansehen?«