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Lange hätte sie es nicht mehr verstecken können: Dr. June Hudson ist schwanger. Und so strahlt sie mit der Sonne um die Wette, die warm auf die schneebedeckten Berge von Grace Valley scheint. Bald schon wird ihr Traum von einer gemeinsamen Familie mit ihrer großen Liebe Jim wahr werden. Aber das ist nicht das einzige aufregende Thema. Im Tal wird wild darüber spekuliert, wer der heimliche Romeo ist, den Junes Tante Myrna verbirgt. Und was hat es mit dem Poker spielenden Pastor der Gemeinde auf sich? All diese Fragen sind jedoch schnell vergessen, als Jims Vergangenheit sein neues Leben mit June bedroht - denn für die Dorfbewohner steht das Glück ihrer geliebten Ärztin immer an erster Stelle.
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Seitenzahl: 422
Robyn Carr
Grace Valley – Im Glanz des Abendsterns
Roman
Aus dem Amerikanischen von Gisela Schmitt
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright dieses eBooks © 2014 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Down By The River
Copyright © 2003 by Robyn Carr
erschienen bei: MIRA Books, Toronto
Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Covergestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Mareike Müller
Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München; Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
ISBN eBook 978-3-95649-360-7
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder
auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich
der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Dr. June Hudson erwachte, weil das Telefon klingelte. Es war stockdunkel draußen, und als sie sich auf die Seite drehte und auf den Wecker sah, war es Viertel nach sechs. Sie hatte wohl verschlafen. „June Hudson“, meldete sie sich.
„Wer war dieser Mann?“, fragte ihre vierundachtzigjährige Tante Myrna.
June schaute neben sich. Da lag er. Jim. Der gerade ausgiebig gähnte und sich den Oberkörper rieb. Es war also kein Traum gewesen. Er war hier, bei ihr, leibhaftig, nachdem er so lange fort gewesen war.
Tante Myrna war nicht die Einzige, die keinen Schimmer von Junes geheimem Freund gehabt hatte. Bis auf wenige Eingeweihte hatte niemand in der Stadt etwas geahnt. June bereitete sich auf einen Erklärungsmarathon vor.
„Sein Name ist Jim, und ich stelle ihn dir vor, sobald sich die Gelegenheit bietet, Tante Myrna. Vielleicht schon heute Vormittag. Du wirst ihn mögen.“
„Wo kommt er her? Was macht er?“
Das weiß ich auch nicht so genau, dachte June. „Später, meine Liebe. Zu viele Details. Und jetzt muss ich erst mal aufstehen und zur Arbeit fahren. Bis dann.“
Sie legte das Telefon zurück auf den Nachttisch, blickte zu Jim hinüber, schüttelte den Kopf und seufzte lächelnd. Erneut schrillte das Telefon. „Ich habe keinen Notdienst“, erklärte sie. „Soll der Anrufbeantworter drangehen.“
Amüsiert zog Jim eine Augenbraue hoch. „Zu viele Details?“, zitierte er sie.
„Ja, und vermutlich müssen wir sie alle erfinden.“ June sprang aus dem Bett. Sie war nackt. „Ich dusche jetzt. Würdest du bitte den Anrufbeantworter abhören? Falls ein Kollege einen medizinischen Rat benötigt, bring mir das Telefon rüber. In Ordnung?“
Aus der Küche ertönte die Stimme von Junes Vater. Instinktiv griff June nach dem Bettlaken und schlang es um sich. Elmer Hudson war einer der wenigen, den sie von Jim erzählt hatte, allerdings auch nicht alles. „Damit hast du wohl in ein Wespennest gestochen“, sagte Elmer und lachte keuchend. „Ich glaube, ich trinke heute Morgen meinen Kaffee bei George im Café. Mal gucken, was ich da zu hören bekomme.“
„Er ist schon ein Original“, bemerkte Jim.
„Ein Lacher pro Minute.“ June schnitt eine Grimasse. „Vielleicht fällt dir ja eine gute Geschichte ein, während ich unter der Dusche bin.“
Sie wartete, bis das Wasser warm geworden war, und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Taille verschwand bereits langsam.
Noch vor einem Jahr war sie Single gewesen und weit und breit kein Mann in Sicht. Vor sechs Monaten hatte sie Jim kennengelernt und dennoch weiterhin geglaubt, sie würde kinderlos bleiben. Doch dann war es mit Jim ernst geworden, und während einer emotionalen Verabschiedung hatten sie sich ihre Liebe geschworen. Und vor zwei Wochen war ihr Bauch noch ziemlich flach gewesen, aber ab dem Moment, als sie erfuhr, dass sie schon im vierten, fünften Monat war, schien sie auseinanderzugehen wie ein Hefeteig. Mittlerweile war Jim zurückgekehrt – hoffentlich, um endgültig zu bleiben –, und ihre Schwangerschaft war nicht mehr zu übersehen. Sie hatte bereits ein kleines Bäuchlein.
Am Abend zuvor war sie auf dem großen Herbstfest in der Stadt gewesen, und während sie sich auf der Feier amüsierte, stand er plötzlich vor ihr. Ab da hatte es nur noch sie beide gegeben. Die anderen Leute, das Fest – alles um sie herum war vergessen, sobald sie einander in die Arme fielen und sich küssten. Und anschließend waren sie schnell verschwunden, ohne sich zu verabschieden. Doch natürlich war Jims Auftauchen nicht unbemerkt geblieben – halb Grace Valley hatte sie bei ihrer stürmischen Begrüßung beobachtet.
Schon wieder klingelte das Telefon. June hätte klar sein müssen, dass die halbe Stadt heute versuchen würde, sie zu erreichen, um herauszufinden, wer der mysteriöse Fremde an ihrer Seite war. Wahrscheinlich konnte sie froh sein, dass sich nicht noch am Abend die ersten neugierigen Anrufer gemeldet hatten.
Die Wahrheit – die sie allerdings niemandem verraten wollten – war die, dass June Jim im letzten Frühjahr kennengelernt hatte, als er mitten in der Nacht einen Verletzten zu ihr in die Praxis brachte. Er war maskiert gewesen und hatte sie mit einer Waffe bedroht, während sie seinem Kumpel eine Kugel aus der Schulter herausoperierte. Allerdings hatte sie von Anfang an gespürt, dass dieser große, attraktive Mann mit den schönen blauen Augen kein Krimineller war – obwohl er sich sehr bemühte, so auszusehen. Kurz darauf, nachdem sie sich bereits in ihn verliebt hatte, erzählte er ihr, was er in Wirklichkeit machte – er war Undercover-Agent bei der Drogenbehörde. Damals ermittelte er verdeckt in den Bergen nahe Grace Valley; es ging um eine illegale Cannabis-Farm, die gestürmt werden sollte. Nach der Razzia wurde Jim zu einem letzten Einsatz geschickt, nachdem er den Job an den Nagel hängen würde. Weder June noch Jim hatten zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass sie in naher Zukunft Eltern werden würden.
June war von ihrem Vater großgezogen worden, der vor ihr als Arzt in Grace Valley tätig gewesen war. Sie war immer sehr fokussiert auf ihre Arbeit, und auch als sie unerwartet mit Übelkeit, Müdigkeit und Gefühlsschwankungen zu kämpfen hatte – was bei ihr absolut unüblich war –, war sie nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie schwanger sein könnte. Sowie sie endlich wegen ihrer rätselhaften Symptome ihren Kollegen John Stone aufsuchte, stellte sich heraus, dass ihre Schwangerschaft schon weit fortgeschritten war.
June kam aus der Dusche und trocknete sich ab, wobei sie ins Schlafzimmer lief. Sie wickelte sich in ihr Handtuch, das nasse Haar fiel ihr auf die Schultern. „Weißt du noch? Bevor du zu deiner letzten Mission aufgebrochen bist, habe ich noch zu dir gesagt, ich könnte wahrscheinlich gar keine Kinder kriegen …“
„Ja, ich erinnere mich“, antwortete Jim nickend. Er saß im Bett, das Laken bis zur Hüfte hochgezogen, und hatte bereits eine Tasse Kaffee in der Hand. Junes Collie Sadie, der eigentlich nicht auf die Möbel durfte, lag zusammengerollt zu seinen Füßen. Sadie hob den Kopf und schaute June hoheitsvoll an. „Da sieht man mal, wie gut du dich selbst kennst“, meinte Jim.
„Und das Beste ist: Da war ich schon schwanger!“
„Für eine Ärztin hast du nicht gerade gut auf die körperlichen Anzeichen geachtet.“
„Na ja, bei anderen Menschen schon“, wandte June ein. „Ah, du hast schon Kaffee gekocht?“
„Ja. Und ich habe Sadie gefüttert und rausgelassen.“
„Ich sehe schon: Es ist sehr praktisch, dass ich dich habe. Kommst du heute mit mir in die Stadt? Ich würde dich gerne mit ein paar Leuten bekannt machen. Viel länger sollten wir damit nämlich nicht warten.“
„Wieso?“
Sie löste das Handtuch. Die Wölbung ihres Bauches war deutlich zu erkennen. Liebevoll schaute Jim sie an. „Ich möchte dich gerne so bald wie möglich meiner Familie und meinen Freunden vorstellen.“
„Nimm dir heute doch am besten frei“, schlug er vor. „Wir könnten nach Reno oder Lake Tahoe fahren und heiraten, ehe ich sie treffe.“
Ihr wurde ganz heiß. Heiraten? Jetzt schon? Was wusste sie denn über diesen Mann, außer dass er schnarchte und sie ihn heiß und innig liebte? Im Grunde war er ein Unbekannter, und sie würde ihn sicher nicht heiraten, solange sie sich nicht besser kennengelernt hatten.
Aber sie wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, wo er doch einen so romantischen Vorschlag gemacht hatte. Also beugte sie sich zu ihm und küsste ihn rasch. „Zu spät, sich zu zieren, Jim. Was meinst du? Wie sollte unsere … Geschichte lauten?“
Er streichelte mit dem Zeigefinger ihre Wange. „Je weniger Lügen, desto unkomplizierter die Tarnung. Mein Vorschlag wäre der: Ich habe im Osten des Landes bei der Polizei gearbeitet und lasse mich nun hier, im Westen, nieder. Ich habe dich letztes Frühjahr kennengelernt, während ich zufällig in der Gegend war und einen Freund zu einem Arztbesuch begleitete.“
„Dieser Mann war ein Krimineller! Ein Drogenfarmer!“
Jim zuckte mit den Schultern. „Ja, aber wir waren dennoch Freunde. Dachte er zumindest.“
„Ach, so funktioniert das!“, erwiderte sie. Sie setzte sich aufs Bett und wartete wie ein kleines Mädchen darauf, dass er weitererzählte. Doch in diesem Moment ging erneut das Telefon, und sie lauschten beide der Stimme auf dem Anrufbeantworter. Es war Dr. John Stone. „Hallo, June. Ich wollte nur fragen, ob du dir den Tag heute vielleicht freinehmen möchtest, oder zumindest den Vormittag. Ich schaffe das heute in der Praxis auch gut alleine, falls du … nun ja … andere Dinge zu tun hast. Hihi.“
„Besserwisser“, murmelte sie. „Also, Mr Post, was für ein Cop bist du?“
„In meinen zwanzig Dienstjahren habe ich fast alle Abteilungen durch. Und in den letzten Jahren war ich überwiegend mit Papierkram beschäftigt.“
„Stimmt das nicht sogar?“, entgegnete sie.
Er nickte. „Leider ja.“
„Aber was hast du dann hier gemacht?“
„Ich habe mich nach einem hübschen Ort umgesehen, an dem ich mich niederlassen könnte. Und Grace Valley wäre sogar in Betracht gekommen, selbst wenn ich mich nicht in die hiesige Ärztin verliebt hätte.“
„Ich bin sehr beeindruckt“, lobte June ihn. „Geschichten erzählen kannst du wirklich gut.“
Er beugte sich zu ihr. „Na ja. Ich bin Profi. Oder besser gesagt, ich war Profi.“
„Also könntest du mich jederzeit anlügen.“
Er legte seine große Hand auf ihren Nacken unter ihr nasses Haar und zog sie an sich, um sie sanft zu küssen. „Ich habe keine Ahnung, wieso, doch du hast mich von Anfang an durchschaut und wusstest die Wahrheit über mich. Der einzige andere Mensch, dem das gelingt, ist meine Schwester Annie.“ Er lächelte. „Allerdings sind meine Gefühle für dich ganz anderer Natur.“
„Da bin ich aber erleichtert.“ June sprang auf. „Jetzt darfst du unter die Dusche. Und beeil dich. Lass uns den Tratschtanten in der Stadt zuvorkommen!“
June und Jim fuhren in ihrem kleinen Pick-up in die Stadt. Normalerweise hockte Sadie auf dem Beifahrersitz neben June, doch jetzt saß Jim dort. Also quetschte sich der Hund kurzerhand zwischen die beiden.
June rief John per Handy an. „Ich wollte nur kurz Bescheid geben, dass ich jetzt auf dem Weg in die Stadt bin, zusammen mit meinem … Also, ich bringe Jim mit, damit ihr ihn alle kennenlernen und ihm euren Genehmigungsstempel aufdrücken könnt.“
„Nein, June“, antwortete John mit gespieltem Entsetzen, „ich finde, der Mann an deiner Seite ist ganz allein deine Sache.“
„Das wäre mir neu“, meinte sie und musste lachen.
Als sie um die nächste Kurve bogen, entdeckten sie auf dem Seitenstreifen einen liegen gebliebenen Pick-up, der schon aufgebockt war. Der linke Hinterreifen war abmontiert. June bremste. Der Wagen war eine alte Karre, völlig überladen mit Paketen, Kisten und Kinderbettmatratzen. Zwei kleine Kinder, die offensichtlich zum Friseur mussten, standen neben dem Auto. Sie waren schmutzig und wirkten reichlich verwahrlost. Beide hatten keine Jacke an, obwohl der Morgen kühl war. Sie waren nicht nur nicht warm genug anzogen, sondern schienen auch unterernährt zu sein.
Die Sachen auf dem Pick-up waren nicht mit einer Plane abgedeckt, und der Himmel verdunkelte sich zusehends. Es war Oktober, was in diesen Breiten den Winter einläutete. Bald würde es bis zum Frühjahr nicht mehr aufhören zu regnen.
Wahrscheinlich war die Familie mit ihrem bescheidenen Hab und Gut unterwegs, um irgendwo einen Neuanfang zu wagen. Das kam oft vor in der Umgebung von Grace Valley. Sobald das Wetter schlechter wurde, gab es für die Holzarbeiter und Bauarbeiter keine Arbeit mehr. Die Farmer brauchten ihre Saisonarbeiter nicht mehr, und so waren diese Leute auf staatliche Unterstützung angewiesen.
„So ein Mist“, murmelte June. „Wir müssen wohl mal anhalten. Die Leute scheinen Hilfe zu brauchen.“
„Kein Problem. Wir haben doch alle Zeit der Welt. Die Ballons sind noch nicht aufgeblasen.“
„Wenn du glaubst …“
„June, schnell! Halt an!“, rief Jim. „Ich glaube, der Frau geht es schlecht!“
June fuhr rechts ran und sprang aus dem Wagen. Jetzt sah sie, was los war. Fahrer- und Beifahrertür des anderen Wagens waren offen. Eine hochschwangere Frau auf dem Beifahrersitz hielt sich den Unterleib und lehnte, das Gesicht schmerzverzerrt, in ihrem nach hinten gestellten Sitz, einen Fuß stemmte sie gegen das Armaturenbrett. Neben ihr stand ein junger Mann, vermutlich ihr Ehemann.
Sofort holte June ihren Arztkoffer. „Jim, du musst mir helfen!“, meinte sie, während sie zu der Frau rannte. „Ich bin Ärztin“, sagte sie zur Begrüßung und schob den Mann zur Seite, der ohnehin tatenlos zusah. Schon tropften Blut und andere Flüssigkeiten auf den Boden, und June hob kurz das geblümte Kleid der Frau an, um sich zu vergewissern: Ja, das Baby kam.
„Holen Sie eine Matratze von der Ladefläche und legen Sie sie in meinen Wagen. Beeilung!“, instruierte sie den Mann. „Jim, kannst du bitte die Patientin aus dem Auto heben und sie auf die Matratze betten. Es muss jetzt alles sehr schnell gehen!“
Der Mann schaute sie verwirrt an, befolgte dann aber ihre Anweisung – allerdings ließ er sich viel zu viel Zeit. Jim war viel größer und stärker als dieser schmächtige Kerl. Seine Wangen waren eingefallen, die Hose schlabberte ihm um die Beine. Unterbewusst hatte June die Familie schon als arm und halb verhungert abgespeichert – vielleicht war der Typ auch deshalb so langsam –, doch jetzt ging es erst einmal um die Geburt.
Kaum lag die Matratze auf dem Boden, setzte Jim die Frau darauf ab. June drückte ihm ihr Handy in die Hand und sagte: „Drück auf Wiederwahl und ruf John an. Er soll mit dem Notarztwagen kommen.“ Danach nahm sie ein Paar Handschuhe aus ihrer Arzttasche.
„Wir haben kein Geld für einen Krankenwagen“, mischte sich der Mann ein. „Ich habe unser letztes Kind auch selbst geholt, ich kann das.“
„Nein, können Sie nicht. Das Kind liegt falsch herum, ich muss es drehen. Jetzt holen Sie mir bitte ein paar Handtücher oder von mir aus auch Kleidungsstücke, zum Aufwischen und zum Zudecken Ihrer Frau und des Babys.“ Rasch zog sie die Handschuhe an. „Wie heißen Sie?“, fragte sie. Mit einer Hand hielt sie den Kopf des Kindes, mit der anderen drückte sie sanft auf den Uterus der jungen Mutter.
„Er… Erline. Davis.“
„Ist das Ihr drittes Kind?“
„Das vierte. Eins kam tot zur Welt.“
„Hatten Sie schon mal Probleme bei Ihren Geburten?“, erkundigte sich June.
„Nur bei der Totgeburt.“ Plötzlich schrie sie auf. Laut. Grauenvoll. Bis auf June erschraken alle.
„Waren Sie damals im Krankenhaus?“
„Ja. Ja. Mit den anderen zu Hause lief alles gut.“
„Das kann man bei einer Geburt nie voraussagen. Und jetzt atmen Sie bitte kurz und flach und versuchen Sie, nicht zu pressen, während ich das Kind wende. Das wird wehtun, doch es geht ganz schnell.“
„Ich … Ich werd’s probieren.“
„Mehr müssen Sie nicht tun.“ June drehte vorsichtig das Kind, und die Mutter stöhnte und keuchte vor Schmerz. „So, Erline, das war’s schon.“ June hob den Kopf und rief laut: „Wo bleibt das Handtuch?“
Im Hintergrund hörte sie Jim reden. Offensichtlich erklärte er John gerade, wer er war und was er brauchte. Dann vernahm sie über Erlines Stöhnen den Vater, der seine Kinder anfuhr, woraufhin eins zu weinen anfing.
Kurzerhand zog June ihre Jacke und den weißen Pullover aus, den sie über einem dünnen Top trug. Sie legte ihn neben die junge Frau. „Okay, es kann losgehen. Wenn Sie so weit sind.“
Es folgte eine kurze Stille und ein Moment des Stillstands, als sammle die Mutter noch einmal all ihre Kraft. Danach presste sie laut keuchend, und der Kopf des Babys war zu sehen. June benutzte einen Nasensauger, um Nase und Mund des Babys frei zu machen, obwohl das kaum nötig war. Trotz der widrigen Umstände stieß das Kind einen schrillen Schrei aus. Mit einem Finger half June bei einer kleinen Schulter nach, und schon war Erlines Sohn auf der Welt.
„Erline, das haben Sie gemacht wie ein Profi. Es ist ein Junge! Etwa dreitausendfünfhundert Gramm, würde ich schätzen, vielleicht etwas weniger.“ Sie wickelte das Baby in ihren Pullover, schlang die langen Ärmel um das kleine Bündel und legte das Kind seiner Mutter auf den Bauch. Anschließend streifte sie die Handschuhe ab und suchte in ihrem Arztkoffer nach einer Klemme, die sie an der Nabelschnur befestigte. Sie trennte sie noch nicht durch, denn es war besser, wenn John und die Kollegen von der Notfallaufnahme alles unversehrt zu sehen bekamen. Hoffentlich tauchte er auf. Sie breitete ihre Jacke über Mutter und Kind. Erline zitterte vor Kälte.
„Hab kein Handtuch gefunden“, berichtete der Mann hinter ihr.
June drehte sich zu ihm um. „Sie haben einen Sohn, Sir. Er scheint gesund zu sein, doch er muss sicherheitshalber im Krankenhaus durchgecheckt werden.“
„Dafür haben wir erst recht kein Geld“, erwiderte der Mann, ohne sie anzuschauen. Er wühlte in seinen Hosentaschen und förderte ein paar Scheine zutage. Kein dickes Geldbündel, aber sowie er die Zwanziger auseinanderrollte, begann es sofort nach Marihuana zu riechen. Es war der typische Geruch, der den Händen, der Kleidung und dem Geld derjenigen anhaftete, die die Cannabispflanzen ernteten.
Der Mann versuchte, June vierzig Dollar in die Hand zu drücken. Erst jetzt blickte er sie an. Seine Pupillen waren erweitert, und jetzt wusste sie auch, warum er so lethargisch wirkte. Alle möglichen Typen bauten in den Bergen Marihuana an. Leute, die nur auf das Geld aus waren und die Pflanzen daher als nützliches Grünzeug betrachteten. Das waren die, die meist in einer Ecke ihres Gartens ein paar Pflänzchen zogen. Dann gab es diejenigen, die den Anbau professionell betrieben und deren Siedlungen so groß wie Städte waren und deren Felder so riesig waren wie die der Sojafarmer im Mittleren Westen. Auf einer solchen Farm hatte Jim als Undercover-Agent gearbeitet. Und nicht zu vergessen solche Idioten wie Erlines Mann, kleine Drogenabhängige, die das Zeug für den Eigenbedarf anbauten und das bisschen, was sie verdienten, für noch mehr Gras verschleuderten.
„Ich brauche Ihr Geld nicht“, erklärte June ihm. „Ich bin mir sicher, dass Ihnen die Kosten erstattet werden. Und ich will ganz sicher kein Geld, das nach Marihuana stinkt. Stecken Sie das lieber weg, bevor Sie sich Ärger einhandeln. Raucht Ihre Frau das Zeug auch?“
„Nein. Nicht, solange sie schwanger war“, antwortete er.
„Ich rauche überhaupt nicht“, mischte sich Erline ein.
„Ich hab dich aber schon ein, zwei Mal dabei beobachtet“, erwiderte er.
„Ich bin lediglich aus medizinischen Gründen daran interessiert, wissen Sie“, meinte June.
Jim gesellte sich zu ihnen. Er hielt die beiden kleinen Mädchen auf dem Arm, die zwischen zwei und drei Jahre alt waren. Sie hatten alle beide strähniges, blondes Haar, trugen Baumwollhosen und T-Shirts, die zu dünn für dieses Wetter waren. An den Füßen hatten sie Sandalen ohne Strümpfe. Jims Miene war undurchdringlich. Das ältere der beiden Kinder hatte einen hellroten Fleck auf der Wange, als hätte es sich gerade eine Ohrfeige eingefangen, und es versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
Der Mann packte das Geld wieder weg und streckte die Arme nach seiner Tochter aus. „Möchten Sie Ihren Sohn denn gar nicht sehen?“, fragte June. Sanft bugsierte sie ihn zum Auto, wo seine Frau und das Baby auf der Matratze lagen.
Zum Glück traf in diesem Moment John mit dem Rettungswagen ein. Erline und das Neugeborene waren schnell im Krankenauto untergebracht. June setzte die beiden Mädchen auf den Vordersitz des Krankenwagens und sagte zu Jim: „Ich muss fahren, damit John sich um Erline kümmern kann. Wir treffen uns dann später in der Stadt. Ist das in Ordnung für dich?“
„Habe ich eine andere Wahl?“
„Klar. Du kannst mit Sadie auch bei mir mitfahren.“
„Und was wird mit ihm?“, fragte Jim und deutete mit dem Kopf auf den Mann mit den stinkenden Geldscheinen.
„Um den mache ich mir keine Gedanken, sondern um die beiden“, entgegnete June und deutete auf den Rettungswagen.
„Wir treffen uns nachher im Café“, entgegnete Jim. „Ich stelle mich schon mal der Meute, während du arbeitest.“
June lächelte, denn ihr war klar, dass ihr Vater und einige andere Leute in der Stadt auf sie warteten. „Mein mutiger Mann.“
Jim schlüpfte aus seiner Jacke, deren Ärmel dreckverschmiert waren, und legte sie ihr um. „Wird unser Leben in Zukunft etwa so aussehen?“
„Ich glaube nicht. So was passiert nicht jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit.“
„Aber spannend wird es trotzdem, oder?“
Sie küsste ihn. „Für einen flexiblen Menschen wie dich sollte das kein Problem sein.“ Danach rannte sie zum Krankenwagen, stieg auf der Fahrerseite ein und raste mit Blaulicht davon.
Jim schaute den Vater des Neugeborenen an, der nur dastand und dümmlich seinen aufgebockten Wagen anglotzte. „Sollen wir den kaputten Reifen in den Kofferraum packen, und anschließend bringe ich Sie in die Stadt? Vielleicht können Sie ihn flicken lassen, danach den Wagen wieder flottmachen und ins Krankenhaus fahren.“
Der Mann zuckte die Achseln. „Ich glaube, ich lasse einfach den Reifen reparieren und verschwinde dann. Ich fand es eh nie gut, so viele Kinder zu haben.“
„Und Sie meinen nicht, dass man Sie vermisst?“, fragte Jim und zog eine Augenbraue hoch.
Der Mann blickte finster drein, begann jedoch langsam und ohne jede Begeisterung, den schweren Reifen zum Pick-up zu rollen. Jim nahm ihn ihm ungeduldig ab und wuchtete ihn in den Kofferraum. Als der Mann auf die Beifahrertür zuging, entdeckte er Sadie und beschloss: „Ich setze mich lieber nach hinten. Ich hab’s nicht so mit Hunden.“
Von mir aus gern, dachte Jim. Sadie hat’s nämlich nicht so mit Vollidioten. Laut sagte er: „Wie Sie wollen.“
Obwohl die Einwohnerzahl von Grace Valley in den letzten zehn Jahren von etwa neunhundert auf über eintausendfünfhundert Gemeindemitglieder angewachsen war, hatte sich ansonsten nicht viel verändert. Der Valley Drive, der mitten durch die Stadt führte, war nur unwesentlich modernisiert worden. Es gab ein halbes Dutzend Geschäfte, dazu die Polizeistation, die Kirche und die Arztpraxis.
Am westlichen Ende der Hauptstraße lag Sam Cusslers Tankstelle und Autowerkstatt, die er seit fünfundvierzig Jahren betrieb. Schon als er die Kaufurkunde unterzeichnet hatte, war das Gebäude nicht mehr neu gewesen, und er selbst hatte auch nie einen Anlass gesehen, es zu verschönern. Inzwischen war Sam zweimal verwitwet und ging lieber angeln, als an der Zapfsäule zu stehen. In einer kleinen Stadt wie Grace Valley schraubten die meisten Leute selbst an ihren Autos herum, also musste Sam auch nicht allzu häufig als Mechaniker ran. Er schaltete daher für gewöhnlich einfach die Zapfsäulen ein, und wer bei ihm tankte, hinterließ auf einem Zettel, welchen Betrag er ihm schuldig war. Wenn die Fische mal nicht bissen, drehte Sam seine Runde durch die Stadt und sammelte das Geld ein.
Einen Block weiter war die Polizeistation, die sich in einem Einfamilienhaus befand. Der Sheriff hieß Tom Toopeek, unterstützt wurde er von seinen jungen Deputys Lee Stafford und Ricky Rios, die beide aus Grace Valley stammten. Tom war als kleiner Junge mit seinen Eltern hierhergezogen und war seit Kindertagen June Hudsons bester Freund. Seine Geschwister hatten mittlerweile alle die Stadt verlassen und lebten nun in der ganzen Welt verstreut. Doch Tom war geblieben und hatte das Haus seiner Eltern um einen Anbau erweitert, in dem er nun mit seiner Frau und den fünf gemeinsamen Kindern wohnte. Lee und Ricky hatte Tom persönlich als seine Deputys ausgewählt, sobald ihm die zwei Stellen bewilligt worden waren. Die jungen Männer besuchten die Polizeiakademie und lernten anschließend von Tom alles Wissenswerte über die Arbeit eines Gesetzeshüters in einer Kleinstadt.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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