Graue Witwen - Heike Köhler-Oswald - E-Book

Graue Witwen E-Book

Heike Köhler-Oswald

4,6

Beschreibung

Marga, Annelise und Gudrun leben in einer Senioren-Wohngemeinschaft in Weimar. Als Gustav Schütz mit einzieht, ist die Harmonie gestört. Nach dem Verzehr eines Schokopuddings, den die Damen mit einigen Herztabletten bestückt haben, stirbt Gustav. Die Obduktion bringt eine erhöhte Dosis Digitalis ans Tageslicht. Der junge Kriminalkommissar Lukas Schröder und seine mit den Wechseljahren kämpfende Kollegin Veronika Vogel nehmen die Ermittlungen auf. Lukas befragt die WG-Damen und verliebt sich kopfüber in die junge hübsche Susanna. Sie ist in das frei gewordene Zimmer eingegezogen. Da der Hausarzt des Toten dessen unsachgemäßen Gebrauch eines Herzmedikaments bestätigt, wird der Todesfall ad acta gelegt. Einige Tage später klingelt ein alter Mann bei der WG. Er behauptet, Gustavs Bruder zu sein, und erpresst die Damen. Außerdem ist Margas Ehemann Bruno, ein grober Mensch, mit dem Arrangement seiner besseren Hälfte nicht einverstanden … Vor der historischen Kulisse Weimars ist Heike Köhler-Oswald mit Graue Witwen ein tragikomischer Krimi voll schwarzen Humors und makabren Witzes gelungen!

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Heike Köhler-Oswald

Graue Witwen

Ein Weimar-Krimi

Bild und Heimat

Von Heike Köhler-Oswald liegt bei Bild und Heimat außerdem vor:

Mörder lauf Galopp. Ein Thüringen-Krimi (2016)

eISBN 978-3-95958-739-6

© 2017 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: fotolia / Bernd Kröger

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Warnung

Eine graue Witwe ist eine scheue Spinne, die jeglichen Kontakt mit Menschen vermeidet. Sie neigt dazu, sich zurückzuziehen und ruhig zu warten, bis die Gefahr vorüber ist. Provoziert man eine graue Witwe jedoch, wird sie vermutlich beißen.

Prolog

Laut dröhnte das Ticken der alten Kuckucksuhr durch die Küche. Annelise starrte abwechselnd auf die Uhr, den Pudding auf dem Tisch und die Tabletten in ihrer Hand. Er hat es verdient, dachte sie immer wieder. Ihr Blick glitt zur Uhr, und jedes Ticken klang ein wenig lauter in ihrem Kopf. Es würde ihm eine Lektion sein. Sollte er ruhig einmal spüren, wie es war zu leiden, so wie ihre Katzen gelitten hatten. Wütend sah sie die drei Tabletten in ihrer Hand an. Wie hatte man sich nur so in diesem Mann täuschen können? Ihren Mitbewohnerinnen und inzwischen besten Freundinnen hatte Gustav auch schon übel mitgespielt, aber sie hatte es am ärgsten getroffen. Gustav Schütz hatte ihre beiden Katzen vergiftet mit seinen Herztabletten. Absichtlich hatte er die kleinen weißen Kügelchen durch die Küche geschnippt und sich halbtot gelacht, wenn die Katzen sie fingen und an ihnen schleckten. Gustav hasste Katzen, und Annelise hasste Gustav.

Als Marga die Küche betrat, schrak Annelise heftig zusammen und versuchte, die Tabletten in ihrer Hand zu verstecken. Aber Marga hatte Adleraugen. Sie hatte genau gesehen, wie Annelise die Tabletten vor ihr verbergen wollte. Da die Packung noch auf dem Küchentisch lag, griff sie danach. Sie las das Etikett und zog die Augenbrauen hoch. Annelise zupfte nervös an der Tischdecke und gestand, den Pudding für Gustav in den Kühlschrank stellen zu wollen. Natürlich würde sie ihn deutlich darauf hinweisen, dass die Süßspeise nicht für ihn gedacht sei, aber da Gustav noch nie die Finger von den Sachen seiner Mitbewohnerinnen gelassen habe, würde er sich wohl auch dieses Mal am Pudding bedienen.

Als der Kuckuck laut schreiend zum Leben erwachte, ließ Anne­lise vor Schreck die kleinen weißen Kügelchen in den Pudding fallen. Marga blickte ihre Freundin grübelnd an, und ihre ein wenig zu weißen und zu groß geratenen neuen Zähne knabberten an ihrer Unterlippe. Dann zog ein kurzes böses Grinsen über ihr pausbäckiges Gesicht. Sie zwickte ebenfalls eine Tablette aus der Packung und ließ sie zu den anderen in den Pudding gleiten. So standen sie noch um die Schüssel, als Gud­run, die Dritte im Bunde ihrer Seniorenwohngemeinschaft, in die Küche stürmte. Thea­tralisch wedelte sie mit den Armen in der Luft und verkündete, dass sie jetzt aber losmüssten, wenn sie noch pünktlich ins Theater kommen wollten. Erst als die Freundinnen sich nicht rührten, trat sie näher und blickte nun ebenfalls auf die vier weißen Kügelchen, die sich deutlich auf dem dunklen Schokopudding abhoben. Die eben noch so quirlige Gud­run stand nun stocksteif in der Küche, und plötzlich dröhnte auch ihr das Ticken der alten Kuckucksuhr in den Ohren. Sie brauchte nicht zu fragen, für wen der Pudding bestimmt war. Auch ihr hatte Gustav Schütz übel mitgespielt, aber das wussten die Freundinnen nicht.

»Für Gustav?«, krächzte sie. Die beiden alten Damen nickten. Bedächtig nahm Gud­run die Tablettenpackung aus Margas Hand, las das Etikett, blickte noch einmal auf ihre Freundinnen und drückte sich ein Kügelchen in ihre Hand.

»Eine für alle und alle für Gustav«, murmelte sie und ließ die Tablette im Pudding landen.

Erschrocken blickten sich die Damen an, dann rührte Annelise die Süßspeise um. Marga nahm die Schüssel, stellte sie in den Kühlschrank und zog Annelise aus der Küche.

Sie riefen Gustav, der die Tür seines Zimmers weit offen stehen hatte, zu, dass sie nun ins Theater aufbrechen würden und er bitte nicht den Pudding aus dem Kühlschrank essen solle, da sie später noch etwas zum Naschen haben wollten. Dann zog Gud­run die Tür geräuschvoll ins Schloss. Wortlos machten sie sich auf den Weg ins Nationaltheater Weimar. Heute wurde Der Rosenkavalier gespielt, und die Damen hatten sich schon sehr auf die »Komödie für Musik« gefreut, aber als sie später auf ihren Plätzen im Theatersaal saßen, blickten sie mit weit aufgerissenen Augen ins Leere.

1. Kapitel

Gustav Schütz hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, und ein hinterlistiges Lächeln schlich sich auf sein knittriges Gesicht. Endlich waren die alten Schachteln aus dem Haus. Behäbig stand er aus seinem alten, schon recht abgewetzten Sessel auf und schlurfte durch den Flur in die Küche. Er machte den Kühlschrank auf und suchte nach dem verbotenen Pudding. Was dachten sich die Weiber eigentlich dabei, ihm etwas vorschreiben zu wollen? Genüsslich nahm er den ersten Löffel und wanderte mit dem Pudding in der Hand durch die Wohnung. Er hatte mindestens zwei Stunden Zeit, ehe die drei vom Theater zurückkommen würden. Heute hatte er sich vorgenommen, in Margas Zimmer ein wenig herumzuschnüffeln.

Vielleicht hatte die Dorftante ja einen Sparstrumpf unter dem Kopfkissen versteckt, an dem er sich bedienen konnte. Oder vielleicht fand er auch pikante Details aus ihrem Leben, mit denen er sie ein wenig erpressen können würde. Gutgelaunt wegen der günstigen Gelegenheit nahm er noch einen großen Löffel voll Pudding und drückte die Klinke zu Margas Zimmer herunter. Abgesperrt. Das dämliche Weib hatte doch tatsächlich das Zimmer verschlossen. Als ob ihn das aufhalten könnte! Beinahe beschwingt ging er in sein Zimmer, holte den Ersatzschlüssel, den er sich schon vor ein paar Tagen heimlich hatte anfertigen lassen, und öffnete damit Margas Tür. Marga war die Misstrau­ischste ihm gegenüber in der Weiber-WG. Ständig beobachtete sie ihn und nörgelte an ihm herum, deshalb hatte er sie sich auch bis zum Schluss aufgehoben. Sie ein wenig zu quälen war ihm ein inneres Bedürfnis geworden.

Langsam drehte er sich im Kreis und überlegte, wo er anfangen soll zu suchen. Bei Gud­run war es einfach gewesen. Nachdem er sie im Internet auf einer Dating-Plattform kennengelernt und ein paar Wochen umgarnt hatte, war sie doch tatsächlich mit ihm in die Kiste gesprungen. Natürlich hatte er vorgesorgt. Die kleine Kamera hatte wirklich gute Arbeit geleistet, und als er Gud­run mit dem Filmchen überrascht hatte, war sie sofort bereit gewesen zu zahlen. Aber Gustav hatte andere Pläne. Er wollte in die Senioren-WG einziehen, und so hatte Gud­run ihm das freie Zimmer verschaffen müssen. Nur durch ihr Zureden hatten die beiden Mitbewohnerinnen eingewilligt, einen Mann in die Wohngemeinschaft einziehen zu lassen. Er hatte sich genau überlegt, wie er seine letzten Jahre verbringen wollte. Eine Weiber-WG war ihm wie sein persönliches Paradies erschienen. Natürlich war ihm klar, dass die Frauen ihn nur umsorgen würden, wenn er mit ein wenig Druck nachhälfe, aber da hatte er ja reichlich Erfahrungen. Nachdem er in die WG eingezogen war, hatte er die erste Gelegenheit genutzt und Gud­runs Zimmer durchsucht. Dabei war ihm ihr Laptop in die Hände gefallen, und dort war er fündig geworden: Er hatte sich die folgenden Wochen sein Wissen um die alten Nacktaufnahmen gut bezahlen lassen.

Annelise hingegen war eine echte Enttäuschung gewesen. Nur langweilige Sachen aus ihrer Zeit als Lehrerin und Fotos über Fotos von ihrem toten Mann und ihrem Sohn. Auch auf seine Avancen war sie nicht eingegangen. Keine Verfehlungen oder schmutzigen Geheimnisse hatte er finden können, also hatte er damit begonnen, ihre blöden Katzen mit seinen Herztabletten zu füttern. Ständig hatte er Haare von diesen Drecksviechern an seiner Kleidung, und einmal lag so ein Vieh doch tatsächlich auf seinem Kopfkissen. Das war zu viel, die Katzen mussten weg. Gespannt hatte er zugesehen, wie viele von den kleinen weißen Kügelchen die Katzen fressen mussten, bis sie endlich verreckten. Er musste grienen, als er daran dachte, wie hysterisch die Alte durch die Wohnung gerannt und die toten Viecher herumgeschleppt hatte.

Nun war also Marga an der Reihe. Sie war immer dagegen gewesen, dass er in die Wohngemeinschaft zieht, aber da die Miete recht hoch war, hatte sie sich schließlich überreden lassen. Großzügig hatte er mit Geld um sich geworfen und sie alle um den Finger gewickelt. Er hatte sich erhofft, hier gemütlich seinen Lebensabend verbringen zu können, umsorgt von drei Weibern. Aber Pustekuchen! Nicht einmal regelmäßig das Mittagessen wurde ihm hier gekocht, und dann bestanden die drei Alten auch noch auf einem Putzplan. Das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Mit Gud­run war es beinahe zu einfach gewesen. Sie hatte ihm im Laufe der letzten Monate fast fünfzehntausend Euro für sein Schweigen bezahlt. Nun allerdings war sie ausgemolken, und er musste sich nach einer neuen Einnahmequelle umsehen.

Er sah sich im Zimmer um, und sein Blick blieb an einem großen, in einem reich verzierten Rahmen steckenden Spiegel hängen. Eitel fuhr er sich über sein noch immer üppiges, inzwischen schneeweißes Haar, dann zog er den Bauch ein und zwinkerte seinem Spiegelbild zu. Auch mit seinen achtundsechzig Jahren war er noch ein Bild von einem Mann, fand er. Umso ärgerlicher war es, dass er bei Annelise mit seinen Avancen so gar nicht hatte punkten können. Aber aus einer seit Jahren vertrockneten Pflaume bekam selbst er keinen Saft mehr heraus, tröstete er sich. Bei Marga hatte er seinen Charme erst gar nicht versprüht. Sie fiel so gar nicht in sein Beuteschema. Marga kam vom Dorf, und das sah man ihr auch an. Ständig verhüllte sie ihre mehr als ausladende Figur in diesen fürchterlichen Kittelschürzen. Bei ihr musste er sich etwas anderes einfallen lassen, um sie gefügig zu machen. Sein Blick glitt vom Spiegel zu einer Kommode. Zielsicher griff er in eine der Schubladen und holte einen Stapel Bankauszüge daraus hervor. Seine Enttäuschung war gewaltig. Dreihundertzwanzig Euro befanden sich auf dem Konto. Ungläubig starrte er die Zahlen an. So ein verdammter Mist! Er hatte gedacht, bei ihr wäre etwas zu holen, schließlich musste er sich unentwegt Geschichten über den Bauernhof in diesem Kuhkaff anhören, aus dem sie stammte. Der war doch bestimmt eine Menge wert. Wieso saß sie dann hier mit nur dreihundertzwanzig Euro? Ob sie das Geld im Zimmer versteckt hatte? Mittlerweile schlechtgelaunt stöberte er in ihren Schränken, unter dem Bett und in ihrer Wäsche, bevor er sich frustriert auf den großen Sessel am Fenster warf. Er griff zum restlichen Pudding und schaufelte ihn sich wütend in den Mund. Wenigstens diese kleine Rache war ihm geblieben. Keinen Bissen würde er den alten Schreckschrauben übrig lassen. Plötzlich grummelte es in seinem Magen, und heftige Bauchschmerzen erinnerten ihn daran, dass er seit Tagen Probleme mit dem Stuhlgang hatte. Sein Blick fiel auf Margas Nachttisch und auf die Abführtabletten darauf. Ohne Skrupel, sich an fremdem Eigentum zu vergreifen, drückte er sich zwei Tabletten aus der Folie und schluckte sie hinunter. Die restliche Packung wanderte in seine Hosentasche. Da ihm ein wenig schwindlig war, schlurfte er zurück in sein Zimmer, fläzte sich in seinen alten, abgewetzten Sessel und machte die Glotze an.

Gerade dudelte der Abspann der Volksmusiksendung, die er sich angeschaut hatte, über den Bildschirm, als er die Augen öffnete und sich ans Herz griff. Er musste wohl eingeschlafen sein, und das Pochen in seiner Brust hatte ihn geweckt. Er griff sich seine Herztabletten und wankte über den Flur ins Badezimmer. Auch sein Darm spielte plötzlich verrückt. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig auf die Toilette. Kalter Schweiß brach ihm aus. Er versuchte mit zittrigen Fingern, eine Herztablette aus der Folie zu drücken, und als er es endlich geschafft hatte, zwang ihn ein erneuter Darmkrampf, die Tabletten fallen zu lassen und sich an der Badewanne abzustützen. Nach ein paar Minuten wurden die Krämpfe ein wenig besser, nun tobte sein Herz in der Brust. Mit heruntergelassener Hose versuchte er aufzustehen. Er wankte zwei Schritte auf die Tabletten zu, als ihn ein heftiger Schmerz zu Boden stürzen ließ. Noch im Fallen sah er die Kante der Badewanne auf sich zurasen, dann wurde alles schwarz.

Eine Stunde später schloss Marga zögernd die Wohnungstür auf und lauschte ins Innere. Auch Gud­run und Annelise hielten die Luft an und guckten verunsichert auf Margas breiten Rücken. Was würde sie jetzt erwarten? Hatte Gustav den Pudding gegessen, und war ihm womöglich schlecht geworden? Hatte er einen Arzt geholt oder vielleicht sogar die Polizei, oder lag er friedlich schnarchend in seinem Bett? Eng aneinandergedrängt tippelten die Damen in den Flur. Alle paar Schritte blieben sie stehen und lauschten. Kein Geräusch störte die Stille, nicht einmal Gustavs Schnarchen. In der Küche öffnete Marga den Kühlschrank, und Annelise schnappte nach Luft. Alle sahen auf die Stelle, wo vor drei Stunden noch die Schüssel mit dem Schokopudding gestanden hatte. Annelise begann zu keuchen, wurde leichenblass und schwankte bedenklich. Gud­run zog schnell einen Stuhl heran, und Annelise plumpste kraftlos darauf.

»Bleib du hier sitzen, wir schauen mal in Gustavs Zimmer«, flüsterte Marga und blickte Gud­run auffordernd an. Gud­run schluckte hart, und man sah ihr an, dass sie lieber in der Küche geblieben wäre, aber dann gab sie sich einen Ruck und folgte Marga. Im Schneckentempo schlichen sie den Flur entlang bis vor Gustavs Zimmer. Marga klopfte leise an, dann lauschten die Damen mit dem Ohr an der Tür. Mucksmäuschenstill war es im Zimmer. Die Freundinnen schauten sich ratlos an, dann legte Marga ihre Hand auf die Klinke und drückte die Tür auf. Ein erleichtertes Prusten in ihrem Nacken ließ sie zusammenfahren. Sie rollte mit den Augen und schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Vielleicht ist er ja ins Krankenhaus gefahren?«, überlegte Gud­run gerade, als ein gellender Schrei durch die Wohnung hallte.

Blitzschnell drehten sich die Damen um und stürmten den Flur entlang ins Badezimmer. Dort erwartete sie ein Bild des Grauens. Annelise saß am Fuße der Badewanne und zitterte wie Espenlaub. Keinen Meter vor ihr lag Gustav in einer riesigen Blutlache. Marga stand starr vor Entsetzen da und konnte ihren Blick nicht von dem bizarren Bild abwenden. Zusammengekrümmt, mit heruntergelassener Hose und einem Loch im Kopf, lag Gustav reglos auf dem Boden. Das Blut um ihn herum hob sich deutlich von den blitzblanken weißen Fliesen ab. Nachdem Marga den ersten Schock überwunden hatte, dachte sie daran, wer diese Schweinerei wohl würde aufwischen müssen. Sofort schämte sie sich ihrer Gedanken und beugte sich schnell über die immer noch auf dem Boden kauernde Annelise. Auch Gud­run kam nun wieder zur Besinnung und kramte ihr Handy heraus. Marga sah sie einen Augenblick an, dann nickte sie kurz.

Was danach folgte, bekamen die Damen nur noch wie durch einen Schleier mit. Während der Notarzt und die Polizei ihre Arbeit verrichteten, saßen die Damen in der Küche vor ihrem Tee, der längst kalt geworden war. Erst Stunden später, als es in der Wohnung wieder still war, standen sie ächzend auf und legten sich mit weit aufgerissenen Augen in ihre Betten.

2. Kapitel

Weimar. Ein 68-jähriger Mann ist nach einem Sturz in seinem Badezimmer gestorben, wie die Polizei in Weimar am Dienstagmorgen mitteilte. Der Mann stürzte aus bislang ungeklärter Ursache und erlitt schwere Kopfverletzungen. Trotz Rettungsversuchen konnte der Mann nicht wiederbelebt werden.

Da stand es, schwarz auf weiß. Annelise, die in der Nacht vom Notarzt eine Beruhigungsspritze bekommen und dann noch den ganzen folgenden Tag krank im Bett gelegen hatte, begann wieder zu zittern.

»Jetzt ist es aber genug.« Energisch schob Gud­run ihren Stuhl von sich und stand auf. »Seit gestern versuchen wir dir jetzt zu erklären, dass du nicht schuld bist. Gustav ist einfach unglücklich gestürzt, es war ein Unfall.«

Annelise starrte auf die Polizeimitteilung, nickte gequält und legte zitternd die Zeitung auf den Küchentisch.

»Außerdem hat die Polizei doch gesagt, dass es ein Unfall war«, sagte nun auch Marga leise und streichelte Annelise beruhigend über den Arm.

»Ich wollte ihm doch nur eine Lektion erteilen. Ich wollte ihn nicht umbringen«, schluchzte Annelise auf.

»Das wissen wir doch«, sagte Marga und blickte Gud­run hilfe­suchend an.

»Und wenn die Polizei herausbekommt, dass wir ihm die Tabletten in den Pudding getan haben? Vielleicht sollten wir doch lieber alles zugeben?« Annelise blickte ihre Freundinnen mit tränenverschleierten Augen an.

»Vergiss es! Ich gehe wegen diesem Arsch nicht ins Gefängnis«, sagte Gud­run aufgebracht. »Und außerdem ist er schließlich nicht an den Tabletten gestorben, niemand muss davon erfahren.« Sie blickte Annelise flehend an, bis diese schließlich zaghaft nickte.

»Na siehst du, keiner hat was gemerkt, und jetzt leg endlich diese blöde Zeitung weg.« Energisch faltete Gud­run die Zeitung und klatschte sie auf den Küchentisch. Annelise zuckte zusammen und ließ prompt die Kaffeetasse fallen. Klirrend landete diese auf dem Frühstücksteller, und nun zuckte auch Gud­run zusammen. Marga seufzte auf und begann, den verschütteten Kaffee mit einem Küchentuch aufzuwischen. Dabei kam ihr wieder die Erinnerung an das blutige Badezimmer hoch. Noch bevor die Polizei einen Reinigungsdienst organisieren konnte, hatte Marga schweigend damit angefangen, die Fliesen zu säubern. Erschrocken hatte der junge Kriminalbeamte die Augen aufgerissen, aber Marga hatte ihm versichert, dass das schon in Ordnung gehe. Schließlich wohnten hier alte Damen, und die brauchten schließlich ihr Badezimmer. Marga war mit ihren zweiundsiebzig Jahren die Älteste in ihrer Wohngemeinschaft, bei weitem aber nicht die Hinfälligste. Ein Leben lang an schwere Stallarbeit gewöhnt, hatte sie noch immer einen kräftigen, recht fülligen Körperbau. Gegen die kränkliche und zierliche Annelise wirkte sie wie ein Fels, allerdings nicht steingrau, sondern meist kribbelbunt, wie auch jetzt, in eine ihrer blumigen Schürzen gekleidet. Sie konnte einfach nicht von ihren Dederon-Kittelschürzen lassen, und mittlerweile wurde es immer schwerer, ihren ausgefallenen Geschmack zu befriedigen. Freunde und Bekannte brachten ihr regelmäßig Schürzen aus dem Urlaub mit, und so füllte bereits eine beachtliche Anzahl mit den unterschiedlichsten Motiven ihren Kleiderschrank.

»Es war ein Unfall«, sagte Marga energisch. »Er ist ausgerutscht und auf die Badewanne geknallt, basta!«

Sie nickte Gud­run und der kreidebleichen Annelise resolut zu. Annelise nickte zaghaft. Sie war nicht nur von der Gestalt her die Zierlichste in ihrer Damenrunde, sie litt auch seit dem Tod ihres Mannes und ihres einzigen Sohnes, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, unter Angst und Depressionen. Wenn sie vor zwei Jahren nicht Gud­run und Marga kennengelernt und sich für diese Wohngemeinschaft entschieden hätte, wer weiß, ob sie dann noch leben würde. Selbstmord war ihr in ihren schwersten Stunden als einzige Möglichkeit erschienen, der Trauer und dem Schmerz zu entfliehen. Doch dann waren die beiden in ihr Leben gefegt und hatten sie mit ihrem Lebensmut mitgerissen. Annelise lächelte gequält auf und nickte, als plötzlich das Kreischen des Kuckucks die Frauen erneut zusammenfahren ließ. Dieses Mal war es Marga, die den Kaffee verschüttete.

»Wann wollen wir endlich dieses grässliche Ding entsorgen?«, fragte Gud­run mit Blick auf Annelises alte Kuckucksuhr. »Der Vogel hört sich mittlerweile an, als würde ihm jemand die Gurgel umdrehen.« Kaum hatte sie die Worte hinausposaunt, als ihr klarwurde, was sie da gerade gesagt hatte. Sie verzog das Gesicht und hob entschuldigend die Schultern. Marga verdrehte die Augen und wischte dann erneut den Tisch sauber.

»Ich mach uns besser einen Tee zur Beruhigung«, sagte sie.

»Die Uhr hat mir mein Sohn geschenkt, kurz bevor er …« Annelise schluchzte erneut auf. »Die Uhr bleibt«, sagte sie leise und wickelte sich dann fester in ihre Strickjacke ein. Annelise trug beinahe immer eine Kombination aus Pullover und Strickjacke in unscheinbaren Pastelltönen, und auch der Rest von Annelise war eher unscheinbar. Nur ihr halblanges, zu einem Bob geschnittenes Haar glänzte seidig in einem hellen Silbergrau.

»Für mich keinen Tee, ich geh jetzt zum Pilates«, sagte Gud­run energisch. Sie konnte nicht ewig untätig herumsitzen, auch nicht, wenn Gustav nun tot war.

Gud­run war die Agilste und die Jüngste mit ihren knackigen dreiundsechzig. Kaum ein Tag verging, an dem sie nicht irgendeinen Kurs besuchte. Vor ihrem Ruhestand war sie über dreißig Jahre lang am Nationaltheater Weimar als Operettensängerin engagiert und immer auf Achse gewesen. Nun genoss sie ihre freie Zeit mit Kursen an der Volkshochschule, als Gasthörerin an den Universitäten in Weimar und Jena oder im Internet auf der Suche nach einem passablen Mann. Allerdings hatte sie sich geschworen, in Zukunft die Finger von Kontaktbörsen zu lassen, hatten diese ihr doch Gustav beschert. Sie wischte den Gedanken an Gustav ärgerlich beiseite und griff zur Sporttasche. Gud­run war immer elegant gekleidet, auch für den Weg zum Fitnessstudio hatte sie sich sorgfältig zurechtgemacht. Eine weiche Lederjacke schmiegte sich über einen kuscheligen Kaschmirpullover, und ihre freche, mit Strähnchen durchsetzte Kurzhaarfrisur ergänzte ihr elegantes Auftreten. Obwohl die drei Frauen so unterschiedlich waren, funktionierte ihr Zusammenleben doch erstaunlich gut.

Natürlich gingen sie sich manchmal auch auf den Kranz. Wenn zum Beispiel Marga beim Essen mit ihren falschen Zähnen klapperte, verzog Annelise leidend das Gesicht. Im Gegenzug regte Marga sich regelmäßig über Gud­runs Unterwäsche in ihrem gemeinsamen Badezimmer auf. Als Marga das erste Mal die filigranen Slips aus dem Waschbecken gezogen und sie mit spitzen Fingern verwundert betrachtet hatte, war Gud­run ins Bad gekommen und hatte ihr kichernd die Spitzenteile aus der Hand gezogen. »So was ziehst du an?«, hatte Marga gefragt. »Warum denn nicht?«, hatte Gud­run erstaunt wissen wollen. »Nur weil wir alt sind, müssen wir doch nicht in Zeltschlüpfern rumrennen.« Sie hatte Marga den winzigen Slip an deren üppigen Po gehalten, und beide hatten lauthals angefangen zu lachen. »Bei mir sähe das aus wie Arsch frisst Schlüpfer«, hatte Marga erwidert, und ihr riesiger Busen war beim Lachen auf und ab gehüpft.

Gerade als Gud­run in ihre Schuhe geschlüpft war, klingelte es an der Haustür. Dieses Mal zuckten alle drei zusammen.

»Mädels, wir müssen echt damit aufhören!«, schimpfte Gud­run.

»Und wenn es wieder die Polizei ist?«, fragte Annelise und blickte panisch zum Flur.

»Jetzt hör aber auf! Und selbst wenn, dann werden sie vielleicht noch ein, zwei Fragen haben, und das war’s dann aber auch.« Ärgerlich riss Gud­run die Tür auf und wollte gerade den Beamten unfreundlich kundtun, dass sie sich durch diese ständige Fragerei belästigt fühlten, als ihr Blick auf ein junges Mädchen fiel. Mit offenem Mund sah sie die Fremde an.

»Ja?«, blaffte Gud­run. Erschrocken trat die junge Frau einen Schritt zurück.

»Also, ich …«, stotterte sie, dann verließ sie offenbar der Mut. Ungeduldig klapperte Gud­run mit dem Schlüsselbund in ihrer Hand und forderte die Unbekannte durch heftiges Händewedeln auf, ihr Anliegen vorzutragen.

»Also, ich …«, versuchte die junge Frau es erneut, »… suche ein Zimmer«, presste sie schließlich hervor. »Es tut mir leid, dass ich Sie damit jetzt schon belästige, aber es ist ein Notfall.« Händeringend stand sie wie ein Bittsteller vor Gud­run. Entsetzt starrte diese sie an. Nach ein paar Sekunden schüttelte sie den Kopf und wollte die Fremde gerade wegschicken, als Marga sie am Ärmel zupfte.

»Lass sie rein, wir können das Zimmer nicht ewig leerstehen lassen, und außerdem brauchen wir das Geld«, flüsterte sie.

Gud­run überlegte kurz, dann bedeutete sie der jungen Frau hereinzukommen.

»Mein Name ist Susanna Albar. Ich studiere Architektur an der Bauhaus-Uni und ich suche wirklich dringend ein Zimmer.«

Die Damen schauten sich unsicher an.

»Bitte …«, bettelte Susanna mit großen blauen Augen.

Annelise knickte als Erste ein. Schönheit war ihr schon immer nahegegangen, und dieses Mädchen war wirklich schön, mit ihren langen roten, sanft gewellten Haaren, ihren lustigen Sommersprossen und den großen blauen Augen. Auch Marga konnte dem Bitten der Fremden nicht widerstehen, und schließlich nickte auch Gud­run.

»Woher wissen Sie denn, dass hier ein Zimmer frei geworden ist?«, wollte sie aber wissen, misstrauisch wie sie war.

»Ich war unten auf der Straße, als man den Sarg rausgetragen hat«, flüsterte Susanna.

»Ach, und da haben Sie sich gedacht, ehe ein anderer Ihnen das Zimmer wegschnappt, kommen Sie lieber gleich vorbei?«

Verlegen zuckte die junge Frau mit den Schultern.

»Gud­run, jetzt ist genug gemeckert. Du siehst doch, dass das ein ganz nettes Mädel ist«, beendete Marga das Verhör. »Es ist zwar noch ein wenig früh, und Gustavs Sachen sind auch noch da, aber ich denke, Sie können das Zimmer haben. Die Sachen räumen wir in den Keller, bis jemand sie abholen will, einverstanden?« Die Damen nickten, die junge Frau strahlte. »Na, dann kommen Sie mal mit, junges Fräulein. Ich zeige Ihnen erst einmal das Zimmer«, sagte Marga. »Und du wolltest doch zum Pilates gehen?«, erinnerte sie Gud­run.

Eilig verließ Gud­run die Wohnung, und Marga und Susanna Albar gingen in Gustavs Zimmer. Susanna zog die Nase kraus, als sie ins Zimmer trat. Schnell öffnete Marga ein Fenster und entschuldigte sich wegen des muffigen Geruchs.

»Riecht nach altem Mann, gelle? Nichts für Jungmädchen­nasen, aber wenn die ganzen stinkigen Klamotten erst einmal hier raus sind, dann wird das schon. Wir haben den Gustav ständig gebeten, hier drin nicht zu rauchen, aber der hat sich ja von uns nichts sagen lassen.«

Ein wenig unbehaglich standen sie dann noch eine Weile im Zimmer, da klingelte es erneut an der Haustür.

»Ist ja heute wie im Taubenschlag«, murmelte Marga und watschelte zur Tür.

»Wer ist denn da?«, kam Annelises ängstliche Stimme aus der Küche.

»Da müsste ich erst einmal die Türe öffnen«, rief Marga ungehalten. »Eine alte Frau ist ja kein D-Zug«, grummelte sie noch, während sie schon den jungen Mann betrachtete, der vor ihrer Tür stand.

»Mein Name ist Lukas Engel von der Kripo Weimar«, stellte dieser sich vor und zückte seinen Dienstausweis.

»Ich erinnere mich an Sie, junger Mann, aber wir haben doch schon ausgesagt, was wollen Sie denn jetzt noch?«, fragte Marga unfreundlich.

»Na ja, es gibt da schon noch ein, zwei Fragen. Wenn Sie mich hereinlassen würden, dann könnten wir in Ruhe …«

»Warum nicht. Kommen Sie rein, ich mach uns frischen Tee.« Marga drehte sich um und schlurfte zurück in die Küche. »Annelise, da ist dieser junge Mann von der Polizei, und ehe du dich wieder aufregst, legst du dich jetzt in deinem Zimmer ein wenig hin. Ich regle das hier schon.« Mit diesen Worten schob sie Annelise am Kripobeamten vorbei in ihr Zimmer.

»Ihr geht es nicht gut, und alle Fragen, die Sie haben, kann ich Ihnen beantworten. Setzen Sie sich!« Flink räumte sie das Frühstücksgeschirr in die Spüle. Gerade wollte Kriminalkommissar Lukas Engel mit seiner Befragung beginnen, als er von Margas kräftiger Stimme aufgehalten wurde. »Wollen Sie auch einen Tee, junges Fräulein?«, rief sie in den Flur.

»Ja, gerne«, kam es zurück.