Mörder lauf Galopp - Heike Köhler-Oswald - E-Book

Mörder lauf Galopp E-Book

Heike Köhler-Oswald

3,8

Beschreibung

Leonie Ritter ist entsetzt: Jemand hat mit einer Armbrust auf ihre friedlich grasenden Pferde geschossen. Sie bittet ihre Freundin Paula Mälzer, die ihren Posten als Kriminaloberkommissarin bei der Kripo Jena gegen eine Stelle als Dorfpolizistin in Dornburg-Camburg eingetauscht hat, um Hilfe. Doch Paula schickt ihren jungen Kollegen Jan Weinreich. Der kann nicht verhindern, dass Leonie eine Bürgerwehr organisiert, die die Tiere in Kleinroda schützen soll. Die Schüsse auf ihre Pferde waren nicht die ersten Tierquälereien im Jenaer Umland. Schon in der ersten Nacht ereignet sich Dramatisches: Landwirt Horst Pfeifer wird tot aufgefunden, zwei Armbrustpfeile im Rücken. Nun muss Paula selbst aktiv werden. Andreas Pfeifer, der Sohn des Toten, und Holzdieb Steffan Ulrich geraten ins Visier der Kommissarin. Hat der Tod von Horst Pfeifer etwas mit den Holzdiebstählen zu tun? Schließlich finden die Ermittler den flüchtigen Andreas Pfeifer. Aufgehängt an einem Hochsitz … Bissige Hunde, schrullige Dorfbewohner und jede Menge Fettnäppchen behindern Paula Mälzer und ihr Ermittlerteam auf der Suche nach dem Armbrustmörder. Vor dem realen Hintergrund brutaler Angriffe auf Weidetiere und professionellen Holzdiebstahls inszeniert Heike Köhler-Oswald in Mörder lauf Galopp einen aufwühlenden Krimi in den nur scheinbar idyllischen Wäldern Thüringens.

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Heike Köhler-Oswald

Mörder lauf Galopp

Ein Thüringen-Krimi

Bild und Heimat

eISBN 978-3-95958-721-1

1. Auflage

© 2016 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: iStock / Kerstin Waurick

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Der grimmig Tod mit seinem PfeilTut nach dem Leben zielen,Sein Bogen schießt er ab mit EilUnd läßt mit sich nit spielen;Das Leben schwind’tWie Rauch im Wind,Kein Fleisch mag ihm entrinnen,Kein Gut noch SchatzBeim Tod find’t Platz:Du mußt mit ihm von hinnen.

Paderborner Gesangbuch, 1617

Prolog

Leise schleicht er durch die Nacht. Der Riemen der Armbrust schneidet tief in seine Schulter. Er genießt den Schmerz beinah, erinnert er ihn doch an seine Mission.

Er ist ein Schatten, keiner kann ihn stoppen. Ein böses Grinsen huscht über sein Gesicht, hier hat er die Kontrolle über Leben und Tod. Getötet hat er zwar noch nicht, aber wer weiß schon, was die Zukunft für ihn noch bereithält. Ein Ast zerbricht mit leisem Knacken unter seinen Stiefeln. Es dröhnt ihm wie ein Gewehrschuss in den Ohren. Verdammt, er muss besser aufpassen. Krampfhaft versucht er, seine Wut in den Griff zu bekommen. Er hält die Luft an und zählt bis zehn, dann atmet er ein paar Mal tief ein und aus. Er wird ruhiger, kann sich wieder auf seine Umgebung konzentrieren und schleicht vorsichtig weiter.

Minuten später stoppt er abrupt und verharrt regungslos. Er kann sie hören. Das Adrenalin schießt ihm heiß in die Glieder und lässt sein Herz rasen. Sich jetzt ganz langsam zu bewegen, kostet ihn unheimlich viel Kraft und Selbstbeherrschung. Seine Hand gleitet vorsichtig zur Waffe. Alles bleibt ruhig vor ihm. Er starrt in die Nacht, und langsam lösen sich einzelne Formen aus der Dunkelheit. Er findet sein Ziel und visiert es an. Ganz flach atmet er nun, Schweißperlen laufen ihm den Rücken hinunter. Er drückt ab.

1. Kapitel

Versunken in den Anblick der Natur ritt Leonie auf schmalen Pfaden durch den Tautenburger Wald. Für sie gab es kein schöneres Geräusch als die Tritte ihrer Stute auf dem Waldboden und das Knacken der Äste unter den Hufen. Es dämmerte schon, und sie mussten sich eigentlich sputen, um nicht erst im Dunklen nach Hause zu kommen, aber Leonie hatte die Zügel locker in den Händen und überließ das Tempo ganz ihrer Stute. Schon oft waren sie so durch den Wald gestreift, den Weg suchte sich das Pferd allein, und Leonie verließ sich mittlerweile blind auf den Instinkt des Tieres. Ein wenig nagte das schlechte Gewissen an ihr, so kreuz und quer durch den Wald zu reiten war eigentlich verboten, aber es war eben auch ein ganz besonderes Gefühl von Abenteuer und Freiheit, nicht immer nur auf den langweiligen Wegen zu bleiben. Ab und zu gönnte sie sich diesen kleinen Kitzel.

Der Waldpfad war zu Ende und mündete in einen frisch geschotterten Waldweg, sehr zu Leonies Leidwesen. Ohne Hufeisen war das Laufen auf diesen Wegen für jedes Pferd eine Tortur, und ausgerechnet die Reitwege waren mit diesem Schotter aufgefüllt worden. Wie oft schon hatte sie sich darüber geärgert, aber die Wege, die durch den Holzeinschlag verwüstet worden waren, mussten wieder hergerichtet werden, und Schotter war wohl eine billige Alternative.

Ausgerechnet ein riesiger Holzlaster versperrte ihnen nun den Weg. Rechts und links vom Laster war dichtes Gestrüpp, da war kein Durchkommen, und sie mussten wohl oder übel warten, bis die Holzladung verstaut und der Lkw wegfahren würde. Leonie zückte ihren Fotoapparat und knipste zum Zeitvertreib ein paar Fotos von einem besonders knorpeligen Baum. Auch der Lkw und sein Fahrer gerieten ihr ins Visier. Besonders freundlich schaute der allerdings nicht, als er bemerkte, dass Leonie ihn fotografierte. Schnell steckte sie die Kamera in ihre Tasche und gab das Warten frustriert auf. Sie würde wohl wieder den Pfad zurück durch den Wald nehmen, auch wenn es bereits stockdunkel sein würde, ehe sie zu Hause ankamen, aber ihr Pferd kannte den Weg ja. Nur weg von diesem grimmigen Gesellen, der nun auch noch sein Führerhaus verließ und wütend auf sie zu stampfte. Leonie wartete nicht, bis der Grimm bei ihr war, sie wendete ihr Pferd und verschwand eilig im Wald. Ein deftiger Fluch hinter ihr begleitete ihre Flucht.

Der nächste Morgen war kalt und neblig, richtiges Novemberwetter. Leonie zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Hals zu. Sie stapfte in ihren Gummistiefeln durchs feuchte Gras. Sie atmete tief durch. Wie fast jeden Morgen blieb sie kurz stehen und genoss die Stille und den Anblick der friedlich grasenden Pferde. Mit leisem Schnauben wurde sie von ihren Pferden begrüßt. Und wie so oft dachte sie, was für ein Glück sie doch hatte, dieses Leben führen zu können. Das feuchte Stupsen eines Pferdemauls holte sie aus ihren Träumereien. Sie tätschelte ihrer Stute Lena den Hals und ihre Hand glitt weich über das dichte Fell. Plötzlich spürte sie etwas Feuchtes, Klebriges. Ruckartig zog sie die Hand zurück und starrte auf ihre blutigen Finger. Wo zum Teufel kam das Blut her?

Hektisch untersuchte sie die Stute nach Verletzungen. Die Wunde am Hals war klein, aber offensichtlich recht tief. Ein blutiges Rinnsal zog sich über den Hals hinab zur breiten Brust und das komplette Vorderbein hinunter. Auf der Schimmelstute ein recht furchteinflößender Anblick. Leonies Blick huschte über die anderen Pferde. Und da, am großen braunen Wallach Bruno entdeckte sie ebenfalls etwas. Beim Näherkommen erkannte sie, dass es sich um zwei Pfeile handelte, die tief im Pferd steckten. Ein lautes Knacken ließ sie zusammenfahren. War der Attentäter etwa noch da? Schnell schmiegte sie sich an den großen warmen Körper von Bruno und starrte in den Nebel. Panik kroch in ihr hoch. Die anderen Pferde strebten nun auf Leonie zu, da sie immer ein paar Leckereien in den Taschen hatte. Sie blickte sich ängstlich um, aber außer dem wabernden Nebel und den großen Pferdekörpern konnte sie nichts erkennen. Wo steckte dieses Schwein, das wehrlose Tiere quälte? Sie schluckte hart und schüttelte ihre Angst ab, sie musste sich um ihre Pferde kümmern.

Sie ging nun reihum und untersuchte ihre Tiere. Gott sei Dank waren keine weiteren Pferde angeschossen worden. Sie schnappte sich die beiden verletzten Tiere und machte sich auf den Heimweg. Die Koppeln lagen nicht direkt beim Hof, sondern waren um den kleinen Ort herum verteilt.

Zehn Minuten später schloss sie die Türen der Pferdeboxen und benachrichtigte die Tierärztin. Dr. Ringel versprach sofort zu kommen.

Wütend stürmte Leonie durchs Haus und riss Paulas Zimmertür energisch auf.

»Jemand hat auf meine Pferde geschossen. Du musst unbedingt etwas unternehmen«, rief sie aufgeregt. Erschrocken fuhr Paula aus dem Bett hoch. Sie wischte sich den Schlaf aus den Augen und starrte auf den Wecker.

»Ich hab mich erst vor zwei Stunden hingelegt«, murmelte sie schlaftrunken.

»Los, zieh dich an und komm runter, dann wirst du es ja selber sehen!« Leonie wartete nicht, bis Paula endlich wach war, sie rannte wieder aus dem Zimmer, um nach ihrem Fotoapparat zu suchen. Bevor die Tierärztin die Wunden versorgte, musste sie unbedingt Beweisfotos von dieser Schweinerei machen.

Auch ihrer Schwiegermutter Marlis Ritter und Oma Eri war die Aufregung nicht entgangen. Entsetzt standen sie vor den verletzten Pferden. Wenig später kam die Tierärztin.

Paula hatte sich aus dem Bett gequält und stand nun betreten bei der kleinen Gruppe und beobachtete Leonie. Ihr Gesicht war kalkweiß, und Paula legte besorgt einen Arm um ihre beste Freundin.

»Du siehst ganz grün aus. Willst du nicht lieber reingehen und einen Tee trinken?«, fragte sie leise.

Leonie schüttelte nur mit dem Kopf und schaute fragend zur Tierärztin.

»Das sind Pfeile von einer Armbrust. Zum Glück haben sie keinen großen Schaden angerichtet, aber das hätte auch böse ausgehen können«, meinte die Tierärztin kopfschüttelnd und fuhr aufgebracht fort: »Da haben wir seit Monaten einen Tierquäler in unserer Gegend und nix wird dagegen unternommen.«

Paula fühlte sich unbehaglich. Bestimmt wollte ihr die Ärztin einen Wink geben. Schließlich wusste Dr. Ringel, dass sie Polizistin war.

»Wieso seit Monaten? Gab es schon mal so einen Angriff?«, fragte Leonie aufgeregt.

»Angefangen hat es vor einigen Monaten. Da hat ein Mopedfahrer einen Schafzaun umgelegt und dann die Schafe bis zur Erschöpfung mit seinem Moped gejagt. Am Morgen lagen dann drei tote Schafe auf der Koppel und zwei weitere hatten sich ein Bein gebrochen.«

Mit weit aufgerissenen Augen starrten die Frauen die Tierärztin an.

»Ein paar Wochen später fand ein Bauer eine Jungkuh auf seiner Weide, die mehrere Messerstiche in Hals und Brust hatte«, fuhr die Ärztin fort. »Sie konnte gerade noch so gerettet werden. Und jetzt das hier. Wie gesagt, es hätte noch viel schlimmer kommen können.«

Vorsichtig reinigte Dr. Ringel die letzte Wunde an Bruno und drückte eine antiseptische Salbe in das Loch, das der Pfeil hinterlassen hatte. Bruno drehte seinen großen Kopf und schnüffelte an der Salbe. Der Geruch gefiel ihm wohl nicht, mit einem lauten Schnauben schüttelte er den Kopf und nahm dann gnädig ein Stück Möhre aus Leonies Hand.

»Du musst was machen. Vielleicht kommt der Kerl ja wieder und will sein Werk vollenden«, murmelte Leonie.

»Ich hab doch seit gestern Abend diesen neuen Fall«, antwortete Paula zögerlich. »Das hier ist ein Sachschaden, da kann ich im Moment nicht viel machen.« Paula wich dem wütenden Blick ihrer Freundin aus, indem sie sich umdrehte und zum Haus zurückging. »Ich sag dem Jan Bescheid. Der soll kommen und das hier aufnehmen«, rief sie Leonie über die Schulter zu und war auch schon im Haus verschwunden.

»Die spinnt wohl! Das werden wir ja sehen, ob man da nichts machen kann. Ich werde heute Abend im Dorfkrug eine Versammlung einberufen.« Mit diesen Worten wandte sich Leonie an ihre Schwiegermutter Marlis und an Oma Eri.

»Helft ihr mir dabei, die Leute zusammenzutrommeln?«

Oma Eri und Marlis nickten bedrückt.

»Und Sie kommen auch heute Abend und berichten von den anderen Tierquälereien?«, fragte sie die Tierärztin.

Auch diese sagte ihr Kommen zu und verabschiedete sich dann.

2. Kapitel

Das schlechte Gewissen nagte an Paula, als sie in der großen Küche nach dem Frühstück Ausschau hielt. An Schlaf war jetzt eh nicht mehr zu denken, und so konnte sie ihr Schlafdefizit vielleicht mit jeder Menge Rührei und Schinken ausgleichen? Ihre Nase hatte sie nicht getrogen. Auf dem Herd stand eine große Pfanne gefüllt mit der begehrten Speise. Paula schaufelte sich einen ordentlichen Berg auf einen Teller. Wenn ihr nicht dieser neue Fall dazwischengekommen wäre, dann hätte natürlich sie sich um den Tierquäler gekümmert.

Vor ein paar Monaten war Paula aus Jena zu Leonie nach Kleinroda auf den Bauernhof gezogen. Die kleine Pferdepension hatte Leonie mit ihrem verstorbenen Mann Felix aufgebaut. Vor drei Jahren war Felix dann tödlich mit dem Auto verunglückt. Leonie war bei ihrer Schwiegermutter Marlis und Oma Eri auf dem Hof geblieben. Paula war nach der Trennung von ihrem Mann Gernot zu Leonie nach Kleinroda geflüchtet. Sie hatte ihre Stelle als Kriminaloberkommissarin bei der Kripo Jena hingeschmissen und die freie Stelle beim Polizeiposten der Verwaltungsgemeinschaft Dornburg-Camburg angenommen. Seit über einem halben Jahr kümmerte sie sich nun als Dorfpolizistin um kleinere Delikte wie Diebstahl, Lärmbelästigung oder eben auch Tierquälerei. Umso ärgerlicher, dass sie ausgerechnet jetzt abkommandiert worden war. Wochenlang war hier nichts, aber auch gar nichts passiert. Hätte sie vor einiger Zeit nicht Polizeimeister Jan Weinreich zugeteilt bekommen, wäre sie bestimmt schon vor Langeweile gestorben. So hatte sie sich wenigstens um den neuen Kollegen kümmern können, hatte mit ihm die umliegenden Polizeiposten besucht und Erfahrungsaustausch betrieben. Jan war ein netter junger Mann, der gerade seinen Polizeimeister in der Tasche hatte und nun von ihr in die Realität des Polizeidienstes eingeführt werden sollte.

»Welcher Polizeidienst?«, murmelte Paula mit vollem Mund vor sich hin. Aber nein, da war ja auch noch Bauer Opel, der tagelang auf der Lauer gelegen hatte, um endlich diese Apfeldiebe an der Kreisstraße zu erwischen. Ihrer habhaft geworden, hielt er sie mit einer Mistgabel davon ab, einfach ins Auto zu steigen und wegzufahren. Vor lauter Panik hatten die Apfeldiebe selbst bei Paula angerufen. Nur schwer hatte Paula den aufgebrachten Bauern beruhigen können. Erst als sie mit einer Anzeige wegen Behinderung der Polizeiarbeit gedroht hatte, hatte Bauer Opel die Forke sinken lassen und die Apfeldiebe in Paulas Gewahrsam gegeben.

Und dann war da natürlich in schönster Regelmäßigkeit Oma Alma, die sich über einen Wäschedieb beschwerte. Nur konnte sich Paula beim besten Willen nicht vorstellen, wer Oma Almas Schlüpfer hätte stehen wollen, aber sie nahm die Anzeige jedes Mal auf und beruhigte Oma Alma, den Kerl schon noch zu erwischen. Sie hatte mit der Tochter der Fünfundachtzigjährigen gesprochen und von der Altersdemenz erfahren.

Als Tom dann gestern angerufen hatte, wäre sie ihm am liebsten um den Hals gefallen. Richtige Polizeiarbeit, genau das, was sie jetzt brauchte. Da sie im Polizeiposten nur einen Halbtagsjob machte, wurde sie ab und zu von ihren alten Kollegen der Polizeiinspektion Jena um Mithilfe gebeten. Da musste sich der Jan eben besonders engagiert mit dieser Tierquälerei befassen, beschloss Paula. Sonst würde Leonie tagelang bockig sein.

Kriminalkommissar Tom Gerlach, der wegen Holzdiebstahls im großen Stil ermittelte, und die Aussicht, mal wieder wie in alten Zeiten mit ihm durch die Kneipen zu ziehen, hatten sie gestern nach Jena gelockt. Wegen der Holzdiebstähle wäre sie natürlich nicht die halbe Nacht aufgeblieben, aber es war einfach schön, mit ihrem alten Kollegen um die Häuser zu ziehen. Nun hatte sie einen mordsmäßigen Kater, und jedem anderen hätte es wahrscheinlich das Frühstück verdorben, aber nicht so Paula. Essen konnte sie einfach immer und in jeder Lebenslage.

Als die drei anderen Frauen des Hofes in die Küche kamen, wischte Paula ihren Teller gerade mit einer Scheibe Toaste blitzsauber. Pappesatt schob sie ihren Teller von sich weg. Ihre Lebensgeister wachten allmählich auf. Sie gähnte herzhaft und streckte sich.

»Ich muss los«, murmelte sie und schob sich schnell aus der Tür, um Leonies vorwurfsvollem Blick zu entgehen.

In ihrem Zimmer schlüpfte sie schnell in ihre übliche Dienstkleidung, Jeans, T-Shirt und Lederjacke. Energisch bürstete sie ihr langes braunes Haar und band es in einen strengen Pferdeschwanz. Als sie in ihre ausgelatschten Turnschuhe stieg, schlich ein Grinsen über ihr Gesicht. Erst gestern Abend wieder hatte Tom sich über ihr Schuhwerk aufgeregt. Tom ging nie ohne seine geliebten Cowboystiefel aus dem Haus, und manchmal dachte Paula, dass er sicher auch nicht ohne seine Lieblinge ins Bett ging. Tom hatte ihr mit großer Geste vor einigen Wochen ein Paar echte Cowboystiefel als verspätetes Geburtstagsgeschenk überreicht, aber sie hatte noch nicht den Mut gefunden, diese auch anzuziehen.

Als sie aus der Tür des Bauernhauses trat, kam ihr Jan Weinreich entgegen. Schnell gab sie ihm alle wichtigen Instruktionen zum Tierquäler-Fall. Er sollte die Ermittlungen wegen des Verdachts auf Sachbeschädigung in Verbindung mit dem Verstoß gegen das Tierschutzgesetz leiten, und Paula legte ihm diesen Fall ganz besonders ans Herz. Wobei sie sich ziemlich sicher war, dass Jan sich voll ins Zeug legen würde. Die Blicke, die er ihrer Freundin Leonie zuwarf, ließen für sie keine Zweifel offen, nur Leonie selbst schien die Verliebtheit des jungen Polizeimeisters nicht zu bemerken.

In ihrem ehemaligen Büro in der KPI Jena angekommen, begrüßte sie müde ihren Kollegen Hase. Der machte seinem Namen alle Ehre. Klein und drahtig, mit großen abstehenden Ohren konnte Paula die Ähnlichkeit mit einem Feldhasen nicht leugnen. Auch sein vorsichtiges, verhaltenes Wesen erinnerte sie an Meister Lampe.

»Hallo Hase, schön dass wir mal wieder zusammenarbeiten. Tom hat mir gestern Abend schon von den Holzdiebstählen berichtet, und ich weiß ja, dass du das Büro nicht so gerne verlässt.«

»Schon gar nicht, wenn es in den Wald geht«, murmelte Hase. »Was machst du eigentlich schon so früh hier?«, fragte er skeptisch.

»Auf Leonies Pferde wurde mit einer Armbrust geschossen, und da hat sie mich natürlich aus dem Bett geholt. Ich soll nun sofort den Übeltäter dingfest machen.« Ein herzhaftes Gähnen folgte Paulas Worten. »Wenn du mir einen Kaffee machst, erzähl ich dir alles.«

Hase sprang auf und flitzte zum Kaffeeautomaten. Als er mit Paulas Cappuccino zurückkam, seufzte diese:

»Du bist mein Held, Hase.«

Ein zartes Rot überzog Hases Wangen, dann lauschte er gespannt Paulas Bericht.

»So eine Schweinerei! Hoffentlich kann dein junger Kollege da helfen und erwischt diesen Kerl.« Hase war sichtlich aufgebracht.

So leidenschaftlich kannte Paula ihn gar nicht.

»Ich hatte als Kind mal einen kleinen Hund. Irgendein Schwein aus der Nachbarschaft hatte Rattengift ausgelegt und Bulli hat das gefressen«, berichtete Hase traurig.

Paula fühlte sich ein wenig unwohl, hatte sie früher vor allem dienstlich mit Hase gesprochen. Und nun rollte ihm doch fast eine Träne die Wange hinunter. Das war zu viel Gefühl am frühen Morgen für Paula. Sie schnappte sich ihren Kaffee und die Zigaretten und verzog sich schleunigst auf die Feuertreppe.

Hier würde sie in Ruhe auf Tom warten. In einer Stunde hatten sie ein Treffen mit dem Förster, der zuständig war für das Waldgebiet um Jena herum, wo erst vor ein paar Tagen ein riesiger Stapel Holz entwendet worden war.

Als Tom endlich zur Tür hereinschlurfte, war Paula schlechtgelaunt. Ihr Magen knurrte schon wieder, und Tom hatte ihr nichts aus der Bäckerei mitgebracht. Ohne Essen war Paula nur ein halber Mensch. Mitleidig reichte Hase ihr seine Frühstücksstulle, und Paula stopfte diese ohne große Umstände in sich hinein. Tom zog einen Prospekt über amerikanische Cowboystiefel aus der Tasche und glitt ab ins Reich der Träume. Mühsam schluckte Paula das trockene Leberwurstbrot hinunter und riss Tom den Prospekt aus den Händen.

»Los. Der Förster wartet, außerdem hast du genug Stiefel.«

»Davon kann man gar nicht genug haben«, maulte Tom und folgte Paula widerwillig. Er mochte Paula sehr gern, und die Gelegenheit, wieder mit ihr zu arbeiten, freute ihn sehr. Aber dass sie immer über seine Leidenschaft für Stiefel lästern musste, störte ihn dann doch ein wenig. Er hatte als Kind unheimlich gern die alten Cowboyfilme mit John Wayne geschaut, und vielleicht war er deshalb auch zur Polizei gegangen. Heimlich verglich er sich mit seinem Kindheitsidol. Er war ein großer, kräftiger Kerl mit einem verwegenen Dreitagebart und trug am liebsten Jeans und lässige Hemden. Seine Stiefel unterstrichen seine Wildheit, fand er. Es steckte einfach ein Sheriff in ihm und der konnte ja schlecht in ausgelatschten Turnschuhen auf Verbrecherjagd gehen. Wenn Paula das nur einmal einsehen wollte.

Als der Dienstwagen im Wald schmatzend in einer großen schlammigen Pfütze hielt, schaute Tom besorgt auf seine teuren Stiefel. »Hoffentlich ruiniere ich mir die nicht völlig in diesem Dschungel«, murmelte er.

»Ich denke, das sind Cowboystiefel, die sind doch extra für die Wildnis gemacht«, feixte Paula.

»Aber nicht diese hier! Weißt du, was die gekostet haben?«, empörte sich Tom über Paulas unsensible Art. »Kann ja nicht jeder auf Gesundheitslatschen abfahren«, grummelte er und stieg vorsichtig aus dem Auto.

»Wo finden wir denn deinen Förster? Konnte der nicht in die Dienststelle kommen?« Während Tom weiter vor sich hin schimpfte, erkundete Paula aufmerksam die Gegend. Seit Wochen war sie nicht mehr im Wald gewesen. Sie atmete tief ein und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande.

»Mhm … riech mal, wie das duftet. Ich glaube, ich gehe nun wieder öfter in den Wald«, rief sie Tom gutgelaunt zu. Der hatte seine Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben und starrte ihr missmutig nach. In diesem Moment kam ein Geländewagen den Waldweg entlanggefahren und hielt neben dem Polizeiwagen. Athletisch, gutgebaut und mit einem frechen Lächeln schwang sich ein Mann aus dem Wagen und winkte Paula zu.

»Hallo, Frau Kommissarin, ich hoffe, ich habe Sie nicht warten lassen. Mein Name ist Hannes König, ich bin der zuständige Revierförster, schön, dass Sie den Weg zu mir in den Wald gefunden haben.« Während er auf Paula einredete, tänzelte er geschmeidig wie ein Raubtier auf sie zu.

Paula klappte für einen kurzen Moment die Kinnlade herunter. Was für ein Bild von einem Mann, dachte sie. Ob das an der Landluft lag oder waren die Männer auf dem Land einfach ihr Ding? Wieso nur hatte Leonie sich dieses Sahneschnittchen nicht längst geangelt? Nicht mit einem Wort hatte sie erwähnt, wie gut dieser Förster aussah. Egal, sie hatte seit ein paar Monaten ihren Max, und jetzt musste sie erst einmal die Befragung hinter sich bringen. Paula gab sich einen Ruck und löste sich aus ihrer Starre.

»Guten Tag, Herr König. Schön, dass Sie sich gleich Zeit für uns genommen haben. Wir ermitteln in den Fällen von Holzdiebstählen.«

»Aber selbstverständlich nehme ich mir für eine Freundin von Leonie Zeit, sie hat mir übrigens schon einiges von Ihnen erzählt. Umso schöner ist es, Sie einmal persönlich kennenzulernen.« Seine blauen Augen funkelten.

Paula vergaß, was sie fragen wollte.

»Äh, danke schön«, stammelte sie. Endlich war Tom an ihrer Seite und rettete sie aus der peinlichen Situation.

»Herr König, ich bin Hauptkommissar Gerlach von der Krimi­nalpolizeiinspektion Jena. Können Sie uns kurz erklären, wie das abläuft mit dem Holzeinschlag?«

»Also meistens wird eine Firma beauftragt, die Bäume zu fällen, die ich vorher gemeinsam mit dem Waldbesitzer freigegeben und markiert habe«, begann er zu erklären. »Anschließend wird das Holz gestapelt und später abtransportiert. In diesem Jahr haben wie allerdings echt großen Ärger mit den Holzdieben. Stellen Sie sich das einmal vor, ganze Lkw-Ladungen Holz sind einfach so verschwunden, und keiner hat was gesehen.« Aufgebracht tät­schelte Hannes König eine besonders schöne Kiefer und blickte in ihre Krone. »Aber meistens machen sich die Leute ja auch gar keine Gedanken, ob das Holz vom rechtmäßigen Besitzer abgeholt wird. Wenn das Holz geschlagen wird, ist es oft schon an ein Sägewerk verkauft, und die haben dann das Nachsehen.«

»Lohnt sich das überhaupt, Holz zu klauen?«, fragte Tom skeptisch.

»In diesem Jahr war es sogar besonders dramatisch, erst kürzlich sind im staatlichen Forst bei Vollradisroda zweihundertunddreißig Festmeter geschlagenes Holz gestohlen worden. Das müssen Sie sich mal vorstellen, da waren für den Abtransport schon einige Lkw-Fuhren nötig. Aber die Leute denken sich einfach nichts dabei, wenn sie beobachten, dass jemand Holz auflädt, und so ist die Ermittlung der Täter sehr schwierig. Ich habe schon mehrfach mit Ihren Kollegen über dieses Problem gesprochen, aber …«, wütend scharrte Förster König im Waldboden.

»Aber jetzt kümmern wir uns ja darum«, versuchte Paula den aufgebrachten Förster zu beschwichtigen.

»Wenn das ganze Holz von einer einzigen Bande geklaut worden ist, haben die schon eine schöne Stange Geld verdient. Nehmen wir zum Beispiel mal die Ladung, die letztens geklaut wurde, das war Kiefernholz, das bringt im Moment so circa achtzig Euro pro Festmeter, bei zweihundertunddreißig Festmetern sind das also um die achtzehntausend Euro. Und wenn die sich auf Holzklau spezialisiert haben, dann kommt da schon ein schönes Sümmchen zusammen.«

Während ihres Gesprächs waren die drei tiefer in den Wald spaziert und standen nun vor einem riesigen Stapel frisch geschlagenen Holzes.

Erstaunt zeigte Paula auf die Zeichen im Holz. »Aber das ist doch alles gekennzeichnet hier, da fragt das Sägewerk doch sicher nach, oder?«