Griechenland unter Hitler - Mark Mazower - E-Book

Griechenland unter Hitler E-Book

Mark Mazower

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Beschreibung

Die große Gesamtdarstellung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg und der politischen und gesellschaftlichen Folgen der brutalen deutschen Besatzung. Von dem bekannten und vielfach ausgezeichneten Historiker Mark Mazower, Autor des Bestsellers ›Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus‹. 1941 marschierte die deutsche Wehrmacht in Griechenland ein und führte bis 1944 ein brutales Besatzungsregime. Mark Mazower schildert diese Tragödie mit großer Intensität und in all ihren Aspekten. Er erzählt von den kämpfenden griechischen Partisanen, den deportierten Juden, den Opfern der durch die deutsche Besatzung ausgelösten Hungerkatastrophe und den von Deutschen verübten Massakern. Er schildert die Sicht der deutschen Soldaten und Gestapo-Offiziere und blickt ins Innerste des alltäglichen Wahnsinns. Ob Deutschland verpflichtet ist, eine Entschädigung an Griechenland zu leisten, ist noch ungeklärt. Mark Mazower liefert mit seinem grundlegenden Buch ›Griechenland unter Hitler. Das Leben während der deutschen Besatzung 1941-1944‹ und einem eigens für die deutsche Ausgabe verfassten Vorwort den nötigen Hintergrund.

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Mark Mazower

Griechenland unter Hitler

Das Leben während der deutschen Besatzung 1941-1944

Aus dem Englischen von Anne Emmert und Jörn Pinnow und Ursel Schäfer

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungGriechenland und der Balkan 1939Vorwort zur deutschen AusgabeEinleitungProlog: Hakenkreuz auf der AkropolisI. Das Chaos der neuen Ordnung: 1941–19431. Die Beisetzung von Eleftherios Venizelos2. Die Besatzung beginnt3. Die Große Hungersnot4. Gesetze des Schwarzmarkts5. »Eine Atmosphäre der unmittelbar drohenden Katastrophe«6. Griechische Arbeitskräfte im Reich7. Träume von einem »Neuen Europa«II. »Dieser heroische Wahnsinn«: 1941–19438. Der Widerstand im Alltag9. Besonnenheit oder Tapferkeit? Die alten Politiker10. Die Organisation entsteht11. Protest in den Städten12. Freiheit oder Tod!13. Die Politik des Widerstands14. Das Ende der italienischen HerrschaftIII. Die Logik von Gewalt und Terror: 1943–194415. Die Logik der Gewalt16. Anatomie eines Massakers: 16. August 194317. Verhalten und Werte des deutschen Soldaten18. Die SS und das Terrorsystem19. Die griechischen Juden und die »Endlösung«IV. Eine Gesellschaft im Krieg: 1943–194420. Die Volksdemokratie im Freien Griechenland21. ELAS: die Volksbefreiungsarmee22. »Ein in Blut getränkter Friedhof«: Die Gegenrevolution23. »Von der Geschichte ausgelaugt«: Athen 1944Epilog: »Kein Frieden ohne Sieg«AnhangAbkürzungen in den AnmerkungenBibliographieArchivquellenDankGlossar und AbkürzungenRegister

Für Deb

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Die Vorbereitung der deutschen Ausgabe von Inside Hitler’s Greece gibt mir Gelegenheit, mich noch einmal einer Arbeit zuzuwenden, die ich vor mehr als 20 Jahren verfasst habe. Mein Hauptziel war es damals, griechischen Leserinnen und Lesern den gesamten Themenbereich der deutschen Besatzung ihres Landes im Zweiten Weltkrieg zu erschließen, aber es gab noch einen zweiten Aspekt: Anhand des Geschehens in Griechenland wollte ich allgemeine Merkmale der NS-Besatzungspolitik und ihrer Folgen in Europa herausarbeiten. Obwohl zu der Zeit, als ich das Buch schrieb, in Griechenland (und in Deutschland) die Umstände völlig anders waren als heute, hat das Thema nichts an Relevanz eingebüßt – ganz im Gegenteil.

Vor allem der zweite Aspekt scheint mir von den heutigen Schlagzeilen nicht allzu weit entfernt zu sein. Während ich dies schreibe, befassen sich Zeitungen und Fernsehsendungen ausführlich mit den jüngsten Entwicklungen in der griechischen Eurozonensaga. Bilder von Armut und Demonstrationen in Athen, leidenschaftliche Debatten über die Zukunft Europas, Fragen zur Rolle Deutschlands auf dem Kontinent und seiner politischen Vision – das alles ist schon seit Monaten unvermeidlicher Bestandteil der täglichen Berichterstattungen. Und eng eingebunden sind kurze Rückblenden in die Geschichte der 1940er Jahre: Syriza-Anhänger, die Anfang 2015 nach dem fulminanten Wahlsieg ihrer Partei alte Partisanenlieder singen, Karikaturen, in denen deutsche Regierungsmitglieder mit Vertretern des Dritten Reichs verglichen werden – ein Krieg der Worte, in dem Entschädigungsforderungen neben unscharfen Fotos zerstörter griechischer Dörfer stehen.

Wer beispielsweise die verworrene und traurige Geschichte der griechischen Entschädigungs- und Reparationsansprüche klären will, sollte nicht nur Historiker, sondern auch gleich Experte für internationales Recht und Enthüllungsjournalist sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg – und dem darauffolgenden Bürgerkrieg – hatte das geschundene Griechenland, ein Grenzstaat im Kalten Krieg, eine Reihe rechtsgerichteter Regierungen, die von der Unterstützung durch die USA abhingen. Sie waren nicht in der Lage, gegen einen deutschen Staat, der juristisch nicht mehr existierte, Ansprüche geltend zu machen. Daher war die Frage der Entschädigung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen Griechenland und der Bundesrepublik Deutschland eine überwiegend hypothetische. Das heißt jedoch nicht, dass sie erledigt war. Insbesondere die Adenauer-Regierung nutzte geschickt ihren Einfluss in Washington, um Deutschland vor Ansprüchen der Griechen zu schützen. Ein unerhörter Fall war die sogenannte Merten-Affäre. Sie begann Ende der 1950er Jahre mit der Verhaftung von Max Merten. Merten, der im Krieg in der Besatzungsverwaltung in Saloniki gearbeitet hatte, war nach Griechenland gereist, um zugunsten eines früheren Kameraden auszusagen, und wurde nun selbst vor Gericht gestellt. Dieser Vorfall war für die westdeutsche Regierung unglaublich peinlich, nicht weniger jedoch für die Regierung Karamanlis, die nicht wollte, dass ihre eigenen Verbindungen zu den Deutschen zu Kriegszeiten ins Visier gerieten. Merten wurde in Griechenland inhaftiert – an sich schon ein Ausnahmefall –, dann jedoch entlassen und den westdeutschen Behörden übergeben (für die Haft erhielt er eine Entschädigung); das war eine Art Gegenleistung für Wirtschaftshilfen der Bundesrepublik und deren Unterstützung bei der Assoziierung Griechenlands mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Der Fall Merten lehrt uns, dass die Geschichte der Nachkriegsjustiz und die Erweiterung der Europäischen Union nicht so weit voneinander entfernt sind, wie wir meinen.

Gleichzeitig muss man einräumen, dass die Unterdrückung der Strafverfolgung auch in Griechenland mit allem Nachdruck betrieben wurde: Nach dem Bürgerkrieg und dem Sieg über die Linke Ende der 1940er Jahre waren Kollaborateure zu Regierungsmitgliedern und ehemalige Widerstandshelden zum Ziel staatlicher Repression geworden. Das griechische Amt für Kriegsverbrechen erhielt für seine Arbeit keine angemessene Unterstützung, und ich weiß noch, wie erstaunt ich war, dass viele Fälle, deren Akten ich im Lauf meiner Recherchen in der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg einsah, nie strafrechtlich verfolgt wurden. Einige dieser Fälle habe ich in diesem Buch herangezogen, um die komplexe Geisteshaltung der im Krieg in Griechenland stationierten Deutschen zu veranschaulichen.

Ungeachtet der Frage, welche Rechtsansprüche in der unendlichen Geschichte der Entschädigungsfrage bestehen und welche Fehler die Nachkriegsjustiz gemacht hat, markiert die derzeitige Krise in den deutsch-griechischen Beziehungen doch einen wichtigen Moment. Nun könnte sich die deutsche Öffentlichkeit bewusstmachen, was während des Krieges in Griechenland tatsächlich geschah. Als ich für dieses Buch recherchierte, war ein Großteil der Geschichte noch nicht erzählt. Mir war klar, dass die Besatzung ein äußerst dramatischer und schmerzlicher dynamischer Prozess war, eine Geschichte wechselseitiger Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten. Ich schrieb gegen eine lange Tradition in der griechischen Historiographie der 1940er Jahre an, in der alle Schuld den Ausländern gegeben wurde, und wollte stattdessen aufzeigen, welche Risse während der Besatzung durch die griechische Gesellschaft gingen und vor welche Aufgaben das die politische Elite der Zwischenkriegszeit stellte (Aufgaben, die diese im Wesentlichen nicht erfüllte). Außerdem hatte ich mir eine Art historischer Ethnographie der Besatzungsstreitkräfte vorgenommen und wollte den Spannungen nachgehen, die in den Einheiten und unter den Waffenbrüdern insbesondere durch den mit aller Brutalität geführten Partisanenkrieg entstanden waren. Dazu kamen die unübersehbaren persönlichen und politischen Konflikte zwischen deutschen und italienischen Entscheidungsträgern und gezielt herbeigeführte wie auch unbeabsichtigt ausgelöste Katastrophen.

Als dieses Buch Anfang der 1990er Jahre erschien, brach Jugoslawien gerade gewaltsam auseinander. Seither hat die Geschichtsschreibung in diesem Bereich bahnbrechende Entwicklungen durchlaufen. Vor allem ist das Thema – und die Geschichte des modernen Griechenland generell – heute eher in Griechenland angesiedelt als im Ausland. Als ich mit meiner Arbeit begann, wurden die 1940er Jahre von Historikern wiederentdeckt, die aus dem Studium oder dem Exil nach Griechenland zurückkehrten. Nach dem Sturz der Militärjunta 1974 lautete die brennende Frage des nächsten Jahrzehnts, warum die Linke den Bürgerkrieg verloren hatte und warum Griechenland zu einer Art Spielplatz für die US-amerikanische Politik geworden war. Mein Buch gehörte zu den ersten, die den Blick vom Gerangel zwischen griechischen Widerstandsgruppen, Briten und US-Amerikanern in den Bergen des Landes abwandten und stattdessen wieder die Deutschen und Italiener ins Visier nahmen, deren Invasion die Tragödie erst herbeigeführt hatte. In den beiden Jahrzehnten, die seither vergangen sind, ist in Griechenland eine neue Historikergeneration herangewachsen, Archive wurden geöffnet, wichtige Zeitschriften und Verlage gegründet und Forschungen zur Besatzungszeit intensiv vorangetrieben. Die staatlichen Archive, die damals in einem staubigen Keller hinter dem zentralen Fleischmarkt versteckt waren, sind heute in einem modernen Gebäude in einem Athener Vorort untergebracht. Und jüngere Historiker behandeln seither beim Thema Zweiter Weltkrieg höchst kenntnisreich frühere Tabuthemen, etwa die griechische Kollaboration, das schreckliche Schicksal ethnischer Minderheiten (unter anderem Juden, Walachen, Çamen und Muslime) und, noch brisanter, die Gewalt einiger linker Widerstandsgruppen gegen ihre ideologischen Gegner.

Ungeachtet all der hervorragenden Arbeiten, die seither erschienen, viele Irrtümer korrigierten und neue Forschungswege eröffneten, stehe ich nach wie vor hinter den Grundthesen von Inside Hitler’s Greece. Deren wichtigste lautet, dass alles, was in Griechenland auf den Zweiten Weltkrieg folgte – der Bürgerkrieg, die bleibenden Narben, die er hinterließ, ja sogar die Demokratisierung des Landes nach 1974 –, nur vor dem Hintergrund des totalen Zusammenbruchs von Staat und Gesellschaft zu begreifen ist, den die deutsche Besatzung und ihre tödlichen Folgen mit sich brachten. Die Besatzung potenzierte die bestehenden Schwächen des griechischen Staatsapparats und entlarvte die Kraftlosigkeit des Staatsgründungsprojekts, das damals, je nachdem, in welchem Landesteil man sich befand, 20 Jahre oder ein Jahrhundert alt war. Indem die feindliche Besatzung diese Schwachstellen verstärkte, brachte sie darüber hinaus die europäische Idee in ihrer modernen Ausprägung an die Oberfläche: die Vorstellung, dass die Länder Europas durch den Zusammenschluss zu einem größeren Staatenbund den Gräueln des 20. Jahrhunderts in eine bessere Zukunft entfliehen können. Anfang der 1940er Jahre war das ein Traum. Heute sieht es freilich ein wenig anders aus. Aber eben weil wir heute eine deutlich zynischere Sicht auf Europa haben, wie es sich uns präsentiert, ist es vielleicht angebracht, zumindest mit diesem Buch in die Welt der 1940er Jahre zurückzukehren, in der Nation gegen Nation stand und eine bereits verarmte Welt – die Welt der griechischen Landarbeiter, Bauern und Arbeiter – weiter zerstört wurde.

Einleitung

Du wirst im Haus des Hades zur Rechten eine Quelle finden,

bei ihr steht eine Zypresse;

hier kühlen sich, herabsteigend, die Seelen der Toten.

Dieser Quelle komme nicht nahe!

Weiter wirst du dann kühles Wasser finden, das vom See der Erinnerung

fließt; Wächter sind darüber,

die dich verständigen Sinns fragen werden,

wozu du das Dunkel des verderblichen Hades durchstreifst.

Sprich: »Ich bin ein Sohn der Erde und des gestirnten Himmels;

aber von Durst bin ich ausgedörrt und vergehe: drum gebt mir rasch

kühles Wasser, das vom See der Erinnerung fließt.«

Und dann werden die Untergebenen des Chthonischen Königs Mitleid haben,

und sie werden dir vom See der Erinnerung zu trinken geben.

 

»Das Goldplättchen von Hipponion« (ca. 400 v. Chr.)[1]

Mein Interesse am besetzten Griechenland wurde durch Kurt Waldheim geweckt. Fast 50 Jahre nachdem er dort als junger Oberleutnant bei der Wehrmacht gedient hatte, besuchte ich Athen, um zu eruieren, was er gewusst und getan hatte. Aus den Quellen erfuhr ich, dass die Wehrmacht Nahrungsmittel beschlagnahmt hatte, während die Menschen verhungerten; dass ihre finanziellen Forderungen an den griechischen Staat eine galoppierende Inflation auslösten, die dazu führte, dass Olivenöl zur wichtigsten Währung wurde und ein Laib Brot zwei Millionen Drachmen kostete; dass der Widerstand der Griechen blutige Vergeltungsmaßnahmen und die Erschießung ziviler Geiseln nach sich zog. Allein im ersten Jahr der Besatzung verhungerten mehr als 40000 Menschen. Bis zur Befreiung kostete der erfolglose Versuch der Deutschen, die Partisanen zu besiegen, 25000 Menschen das Leben. Die jüdischen Gemeinden Griechenlands, die zu Europas ältesten zählten, wurden praktisch ausgelöscht.

Nach und nach wurde mir klar, dass die Frage, ob Kurt Waldheim ein Kriegsverbrecher war oder nicht, am Wesen der NS-Herrschaft völlig vorbeigeht. Als untergeordneter Offizier, der in der Feindaufklärung im Oberkommando der Heeresgruppe E eingeteilt war, hatte Oberleutnant Waldheim so gut wie keine Gelegenheit, Menschen zu töten. Doch seine Position verschaffte ihm einen hervorragenden Einblick in die Lebensbedingungen, die in Hitlers Europa herrschten. Nicht nur in den Lagern, sondern im gesamten nationalsozialistischen Herrschaftsbereich verschwammen die herkömmlichen Grenzen zwischen kriminellem und gesetzeskonformem Handeln. In diesem Buch will ich zeigen, wie es war, in so einer Welt zu leben. Ich möchte mich dabei auf einzelne Menschen konzentrieren, auf ihre Geschichten, ihren täglichen Überlebenskampf. So will ich einen kleinen Ausschnitt aus Hitlers Reich abbilden, der die Erfahrung der nationalsozialistischen Besatzung insgesamt greifbar macht.

 

In Großbritannien betrachtet man den Zweiten Weltkrieg gern als Abfolge epischer Schlachten – Dünkirchen, el-Alamein, Salerno, die Normandie: Auf den heroischen Rückzug vom Kontinent folgt die triumphale Wiederkehr. Die »bezepterte Insel«, wie Gaunt sein Land in Richard II. nennt, wurde nie erobert und lernte daher die Grauzone der »Neuen Ordnung« nicht von innen kennen. Wenn wir heute die Bilder einer Wehrmachtskapelle betrachten, die vor einer Filiale der Lloyds Bank in Guernsey aufmarschiert, können wir darüber spekulieren, wie das gewesen wäre, doch es brauchte schon einen genialen Autor wie Len Deighton und sein 1979 erschienenes Buch »SS-GB«, um eine Welt entstehen zu lassen, in der Scotland Yard Heinrich Himmler unterstellt ist.

Auf der anderen Seite des Ärmelkanals lebt die Erinnerung an die Besatzung dagegen fort, und dort ist auch deutlicher zu erkennen, dass die kurze Episode der nationalsozialistischen Herrschaft die politische Entwicklung Europas mitprägte. Wie eine Flutwelle spülte die Besatzung alte Strukturen fort, veränderte die gesamte Landschaft und zwang Europa ein brutales Regime auf. Europa hatte wohl andere Kontinente schon einer solchen Schreckensherrschaft unterworfen, jedoch hatten die europäischen Länder nie erwartet, selbst einmal solches Leid zu ertragen. Der Schock brachte den Zusammenbruch etablierter Herrschafts- und Denksysteme mit sich. So löste die NS-Herrschaft eine Reihe ungeahnter politischer und sozialer Reaktionen aus. Nirgends waren wohl die Auswirkungen tragischer als in Griechenland, wo die Besatzung fast unmerklich in einen Bürgerkrieg überging, der das Land bis Ende der 1940er Jahre verwüstete.

 

Wenige Tage nach Abzug der Deutschen Ende 1944 fuhr ein amerikanischer OSS-Agent über die Peloponnes und filmte, was er sah. Anders als in Frankreich, wo die alliierten Truppen von jubelnden, winkenden Massen begrüßt wurden, waren die Menschen, denen er in Griechenland begegnete, nervös und erschöpft. Die Kleider hingen ihnen schlaff am Körper, viele waren barfuß. Wo er auch hinkam, überall fand er Mangelernährung, Krankheiten und Zerstörung vor. Weil die Dorfschulen in Schutt und Asche lagen, besuchten die Kinder den Unterricht im Freien und benutzten Felsen als Tische. Man kann sich den Film heute in den National Archives in Washington ansehen: Frauen versuchen in den Trümmern eines Hauses zwischen Schuttbergen und verkohlten Balken ein Essen zuzubereiten. In den Cafés schwenkt die Kamera unruhig von einem der vielen ausgezehrten und ausdruckslosen Gesichter zum nächsten. Der wohl schaurigste Filmabschnitt zeigt eine Kleinstadt in den Bergen. Obwohl es kaum Anzeichen für Zerstörung gibt, sind die Straßen merkwürdig leer. Im Schatten der Zypressen gehen mehrere schwarzgekleidete Frauen langsam einen Weg entlang, eine nach der anderen. Aus den Notizen des Kameramanns geht hervor, dass die Bilder in Kalavryta im Norden der Peloponnes entstanden, fast genau ein Jahr nachdem Wehrmachtssoldaten alle Männer der Stadt erschossen hatten.

In der »Langen Nacht der Barbarei« von 1941 bis 1944 (so nannte Churchill diese Zeit) kreuzten sich die Wege von Bauern, Witwen, Schwarzhändlern, verängstigten italienischen Deserteuren und den blutjungen Rekruten der Waffen-SS aus den ländlichen Garnisonen. Die Kulisse für diese Begegnungen bildeten leere Läden in Saloniki, die ihre jüdischen Besitzer hatten verlassen müssen, zerstörte Kaiks an den Stränden der Inseln, niedergebrannte Dörfer, verfaulende Feldfrüchte oder tote Menschen, die in Arkadien nach »Säuberungsaktionen« und Vergeltungsmorden an den Bäumen hingen. Die Hauptprotagonisten waren Informanten und Spione, Poulos’ antikommunistische Trupps, Sicherheitsbataillone, die Polizei und die Partisanen. Der totale Krieg hatte die Gesellschaft eingeholt und in ein Schlachtfeld verwandelt.

Diese Welt der trostlosen moralischen Alternativen, der unvorhersehbaren Gefahren stellt Außenstehende vor die unvermeidliche Frage: Wie wärst du damit umgegangen? »D. war dieser Typ. Er segelte immer mit dem Wind«, schreibt ein Grieche 1944 an einen Freund. »Er wirkte wohlhabend und setzte Speck an, während alle anderen langsam dahinwelkten.« Aber wie viel lässt sich durch einen starken oder schwachen Charakter erklären? War es vorhersagbar, dass »Jason, Sohn des P.« den Italienern auf seiner Insel so gute Dienste leisten würde, dass »sie alle seine Wünsche erfüllten«? Was brachte ihn dazu, 30 griechische Mitbürger als Britenfreunde zu denunzieren? Lässt sich aus einer Kombination von Charaktereigenschaften, Klassenzugehörigkeit und schierem Zufall erklären, dass einer der von ihm denunzierten Männer die Stadt bereits verlassen hatte, als die Italiener die Bewohner verhafteten, und dass er nie mehr nach Hause zurückkehrte, sondern sich »den Patrioten in den Bergen« anschloss?[2]

Selbst im Krieg konnten sich die Menschen, die relativ frei lebten, eine solche Welt nur schwer vorstellen, geschweige denn sie begreifen. Eine Britin, die in der neutralen Türkei in Izmir lebte, konnte kaum glauben, was ihr soeben aus Athen geflohene Freunde erzählten. Menschen seien für ein paar Goldmünzen ermordet und dann »zerstückelt« worden, erfuhr sie. Sie gestand, es habe sie »unbeschreiblich erschüttert, all das zu hören«. Für uns, die wir uns nach vielen Jahren wieder mit diesen Ereignissen befassen, ist es vielleicht noch schwieriger, sie in eine Perspektive und einen Kontext zu bringen.[3]

Bei allen Gräueln vollzog sich die Besatzung jedoch nicht in einem historischen oder sozialen Vakuum, sondern stand in einem Kontinuum der europäischen Geschichte, das zeitlich schon vorher begann und später noch nachwirkte. Wie Robert Paxton vor vielen Jahren in einer Studie über das Vichy-Regime in Frankreich aufzeigte, wurden die Menschen, die unter nationalsozialistischer Herrschaft lebten, stark von Ereignissen geprägt, die sich schon vor dem Krieg vollzogen hatten.[4] In Griechenland war den Menschen, als die Deutschen und Italiener kamen, die ungeliebte Diktatur (1936 bis 1941) noch frisch in Erinnerung. Um die Besatzung zu verstehen, muss man sie daher im Kontext der europäischen Erfahrung der 1930er Jahre betrachten. Umgekehrt prägte sie die folgenden Ereignisse mit. Die Lebensbedingungen in Europa unter der NS-Herrschaft und die anschließende Polarisierung der Politik, die in den 1940er Jahren auf dem gesamten Kontinent erfolgte, stehen in einer engen Beziehung: In der Besatzungszeit begann der Kalte Krieg, wie deutsche Diplomaten und SS-Vertreter – die über eine Zukunft ohne Hitler nachdachten – durchaus erkannten. Ein Historiker, der sich mit dieser Zeit beschäftigt, muss diese Beziehung aufzeigen, indem er die Welt der hohen Politik mit den sozialen, militärischen, kulturellen und wirtschaftlichen Einflüssen auf Leben und Überzeugungen einfacher Menschen verknüpft.

 

Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama setzte das Ende des Kalten Krieges mit dem »Ende der Geschichte« gleich. In den Augen der Europäer jedoch stehen die Auflösung des Sowjetreichs und die Wiedervereinigung Deutschlands, wenn überhaupt für etwas, für die Wiederauferstehung der Geschichte: Frühere Polemiken sind plötzlich vergessen, völlig neue Fragen stellen sich. Heute können wir erkennen, wie stark der Kalte Krieg unsere Sicht der Vergangenheit geprägt hat.[5]

Noch bevor die deutsche Besatzung zu Ende ging, zeichnete sich in Griechenland der Kalte Krieg bereits ab. Die schon lange schwelenden Konflikte zwischen nationalistischen und linken Widerstandsgruppen mündeten nach der Befreiung in den Bürgerkrieg (1946 bis 1949), in dem Streitkräfte der offiziellen Regierung, unterstützt von Briten und Amerikanern, die kommunistisch geführten Partisanen der Demokratischen Armee bekämpften und schließlich besiegten. Kaum überraschend rückten daher viele frühe Studien zur Besatzungszeit das Monopol der Griechischen Kommunistischen Partei im Widerstand gegen die Deutschen in den Mittelpunkt: Der vorherrschenden Meinung in der Frühphase des Kalten Krieges zufolge hatte dieses Monopol den Weg für eine kommunistische Machtübernahme in Griechenland gebahnt, die nur durch die entschiedene Intervention der Briten zugunsten nichtkommunistischer Kräfte verhindert wurde.[6]

Als das Pendel des Zeitgeistes in die andere Richtung schwang, erschien die Rolle der Briten und Amerikaner in Griechenland in einem völlig neuen Licht. Nun standen nicht die Linken, sondern die Alliierten als Schurken da: Sie hätten, hieß es, einer beim Volk überaus beliebten Widerstandsbewegung das Wasser abgegraben und die Grundlage für mehrere rechtsgerichtete und sogar faschistische griechische Marionettenregime gelegt, die im Staatsstreich der Obristen 1967 gipfelten.[7]

Nach 1989 erschienene Studien zur britischen und amerikanischen Außenpolitik gegenüber Griechenland und Autobiographien ehemaliger Partisanenführer zeichneten endlich ein differenzierteres und plausibleres Bild von den Ursprüngen des Bürgerkriegs. Weder waren die Widerstandskämpfer der linken Bewegung EAM/ELAS glühende Kommunisten oder jämmerliche Idioten, noch beteiligten sich britische Diplomaten und Militärs an einer Verschwörung, die Griechenland in ultrarechte autoritäre Hände legen sollte. Die Wahrheit ist weniger schematisch, aber umso tragischer.[8]

Je weiter sich diese Debatte ihrem Abschluss nähert, desto mehr Grundannahmen treten zutage. Eine der wichtigsten, die allerdings nur selten explizit vertreten wurde, lautet, dass die Politik der Achsenmächte gegenüber den Beziehungen zwischen Briten und Griechen nur untergeordnete Bedeutung hatte. Hin und wieder erhaschen wir einen Blick auf eine kleine deutsche oder italienische Militäreinheit, die durch ein entlegenes Tal marschiert, während britische Agenten und griechische Widerstandskämpfer in ihren Stützpunkten in den Bergen um die Zukunft des Landes feilschen. Als Schauplatz für solche Darstellungen dient üblicherweise nicht etwa ein feindlich besetztes Land, sondern Alexandria, Kairo oder London. Aber war die Herrschaft der Achsenmächte wirklich so harmlos, dass sie sich nicht signifikant auf die Entwicklungen in Griechenland auswirkte? Wer diese Frage stellt, hat sie schon beantwortet, denn das Ausmaß an Hunger, Inflation und Zerstörung in Griechenland sucht in Europa seinesgleichen. Dieses Buch beleuchtet daher nicht die Alliierten, sondern die Achsenmächte. Leserinnen und Leser, die sich eine detaillierte Darstellung der britischen Politik wünschen, finden sie in einer der Studien, die ich in den »Anmerkungen zu den Quellen« am Ende dieses Buches empfehle.

Eine zweite, keineswegs plausiblere Annahme ging dahin, die Entwicklungen im besetzten Griechenland seien von der großen Politik bestimmt worden. Botschafter, Generäle, hohe Offiziere, griechische Politiker und Widerstandskämpfer huschen in unterschiedlicher Zeichnung über die Seiten, je nach Gesinnung des Autors. Die Existenz einer großen linken Widerstandsbewegung EAM/ELAS wird als gegeben angenommen oder mit den Taten eines kleinen Kerns glühender kommunistischer Aktivisten erklärt, die eine Masse anonymer Anhänger im Gefolge hatten. Viele Autoren konzentrieren sich auf das letzte Jahr der Besatzung, in dem sich die EAM/ELAS als wichtige politische Kraft etabliert hatte, und vernachlässigen die Frage, wie eine solche breite Widerstandsbewegung überhaupt entstehen konnte. Das ist fruchtbarer Boden für Verschwörungstheorien und Heldenepen. Doch mit keinem dieser Genres lässt sich zufriedenstellend ein Phänomen nachvollziehen, das im Wesentlichen das Ergebnis eines umwälzenden sozialen Wandels war.

Da andere Autoren die Politik des Widerstands hervorragend dargestellt haben – seien es die Beziehungen zwischen Alliierten und Griechen oder zwischen den verschiedenen griechischen Organisationen –, habe ich das Thema hintangestellt und mich auf die sozialen Ursprünge der Widerstandsaktivitäten konzentriert.[9] Ich habe mich daher stärker mit der EAM/ELAS befasst als mit kleineren Gruppen wie EDES. Die EAM/ELAS stellte mit ihrer komplexen Struktur, ihrer Ideologie und natürlich ihrer Größe sämtliche Konkurrenten in den Schatten. In der modernen griechischen Geschichte war das ohne Vorbild: eine ideologische Massenbewegung in einem Land, in dem klientelistische Splittergruppen und charismatische Anführer das Sagen hatten.

Der Widerstand in Griechenland war wohl eine der erstaunlichsten Manifestationen des radikalen Bruchs mit althergebrachten politischen Traditionen, die der Zweite Weltkrieg innerhalb und außerhalb Europas mit sich brachte (Parallelen sind die Widerstandsbewegungen in Jugoslawien, Italien, Französisch-Indochina und auf den Philippinen). Warum zog der Krieg eine Radikalisierung der Massen nach sich? Was für Menschen schlossen sich dem Widerstand an? Und wirkte sich, allgemeiner gefragt, die Besatzung auf das politische Gefüge und die Haltung der Menschen zu ihrer Gesellschaft aus? Diese Fragen sind auch über die Grenzen Griechenlands hinaus wichtig, weil sie grundlegende Aspekte rund um die nationalsozialistische Herrschaft in Europa thematisieren.

 

Ausgelöst wurden die Ereignisse im Krieg durch ein Machtvakuum, das entstand, als die Achsenmächte Griechenland 1941 eroberten. Hitler betrachtete die Untertanen seiner »Neuen Ordnung« in Europa eher als Lieferanten für Rohmaterial, Nahrung und Arbeitskraft denn als mögliche politische Partner. Daher strebten Berlin und Rom an, Griechenland über den bestehenden Verwaltungsapparat zu regieren, mit einer gewollt schwachen politischen Führung an der Spitze. Doch die griechische Staatsbürokratie, die noch nie für ihre Effizienz bekannt war, kam angesichts der exorbitanten Forderungen vonseiten der Achse vollends ins Stocken und stürzte innerhalb weniger Monate in eine akute Finanz- und Währungskrise. Inflation, Schwarzmarkt, Lebensmittelknappheit und schließlich Hunger gingen mit dem Zusammenbruch der Volkswirtschaft einher. Athen konnte das Land nicht mehr ernähren, geschweige denn regieren.

Für einfache Griechinnen und Griechen, die von der Aussicht auf Hunger und wirtschaftlichen Kollaps in Angst versetzt wurden, war es lebensnotwendig, sich zusammenzuschließen. Als der offizielle Staat seine Autorität verlor, bildeten sich alternative soziale Gruppierungen. Wie der Soziologe Jan Gross am Beispiel Polens im Zweiten Weltkrieg aufzeigt, waren breite Widerstandsbewegungen ursprünglich soziale Phänomene. Die EAM wuchs in Griechenland so rasch einerseits dank zahlreicher Initiativen von unten – insbesondere der »Volkskomitees«, die in den Provinzen gegründet wurden (und häufig nichts voneinander wussten) –, aber auch dank einer Steuerung von oben, also der Arbeit kommunistischer Kämpfer, die von Athen gesandt wurden. In den Bergen des »Freien Griechenland« entstand ein Ersatzstaat, der die ohnehin schwindende Legitimität der Athener Regierung endgültig in Frage stellte.[10]

Die Wehrmacht reagierte mit Operationen zur Partisanenbekämpfung, hauptsächlich Vergeltungsmassakern und Verhaftungen ziviler Geiseln. Vereinfacht ausgedrückt, entwickelte sich Gewalt für die Deutschen zur wichtigsten Methode des Machterhalts in den ländlichen Gebieten. In den Städten wurde Terror zur Herrschaftsgrundlage. Die Logik der Gewalt und der Terror gingen weit über unverhältnismäßige Reaktionen nervöser Soldaten an der Front hinaus. Sie spiegelten vielmehr die zentralen Werte der nationalsozialistischen Weltanschauung wider. Doch all dies konnte den Widerstand nicht brechen, sondern bewirkte womöglich sogar das Gegenteil. Im Jahr 1944 hatte die EAM/ELAS eigenen Angaben zufolge bereits eine Anhängerschaft von mehr als einer Million Mitgliedern.

Die EAM/ELAS war entschlossen, im Widerstand das Monopol an sich zu reißen, und terrorisierte ihre Gegner. Gleichzeitig genoss sie fraglos viel Zustimmung in der Bevölkerung. Der Radikalismus im Zweiten Weltkrieg war ein komplexes und paradoxes Phänomen, eine Abkehr von der Vergangenheit ebenso wie ein Traum von der Zukunft. Viele Partisanen hatten im Krieg mit dem täglichen Überleben alle Hände voll zu tun und konnten sich nicht auch noch Gedanken darüber machen, was nach der Befreiung geschehen würde. Obwohl sich der Kommunismus großer Beliebtheit erfreute, waren und blieben seine Anhänger eine Minderheit. An der Spitze der EAM herrschte politische Unentschlossenheit. Auf den niederen Rängen waren die Belange der Region und des Dorfes wichtiger als nationale Interessen. Die Bedingungen vor Ort, die geographischen Gegebenheiten und lokale Persönlichkeiten verhinderten jede starke Zentralisierung.[11]

Die Furcht vor der bevorstehenden Revolution hatte auf der anderen Seite jedoch auch einigende Wirkung: Im letzten Kriegsjahr kamen unter dem Schutz der Deutschen und häufig mit stillschweigender Billigung der Briten Nationalisten verschiedener Herkunft zusammen und bereiteten den Kampf gegen die Linke vor. Die Zusammensetzung dieser zusehends bösartigen konterrevolutionären Koalition war so vielfältig wie der Widerstand, gegen den sie sich richtete, und sie rekrutierte ihre Mitglieder oft aus denselben sozialen Gruppen. In den letzten Monaten der Besatzung löste sich der Mittelweg in der griechischen Politik auf: Zwei bewaffnete Lager standen sich gegenüber, am dramatischsten war die Zuspitzung in Athen. Das waren die Ursprünge der bitteren Fehden und Straßenkämpfe, die nach der Befreiung in einen Bürgerkrieg mündeten.

Prolog: Hakenkreuz auf der Akropolis

»Was erwarten wir, auf dem Markt zusammengedrängt?«

»Dass die Barbaren heut eintreffen werden!«

»Warum eine solche Untätigkeit im Senat?

Was sitzen die Senatoren und gesetzgeben nicht?«

»Weil die Barbaren heut eintreffen werden.

Was für Gesetze werden die Senatoren noch machen?

Die Barbaren, kommen sie nur, werden Gesetzgeber sein.«[12]

 

Konstantinos Kavafis, »Warten auf die Barbaren«

Im April 1941, als die Griechen nervös auf die Ankunft der Deutschen warteten, schrieb der Schriftsteller Giorgos Theotokas diese Zeilen des Dichters Konstantinos Kavafis in sein Tagebuch.[13]

Im Norden war die Front zusammengebrochen, und griechische, britische und australische Soldaten, die wenige Tage zuvor noch auf dem Weg in den Kampf bejubelt worden waren, traten nun auf denselben staubigen Straßen den Rückzug an. Die Zivilisten, die sie vorbeimarschieren sahen, wussten, dass die Wehrmacht nicht mehr weit hinter ihnen folgte.

In den vorangegangenen Monaten hatte in Griechenland große Euphorie geherrscht. Im Winter war Mussolinis Versuch einer Invasion gescheitert. Die griechische Armee hatte die Italiener erstaunlich erfolgreich zurückgedrängt. Die Nachricht von diesem Prestigeverlust der Achsenmächte ging wie ein Lauffeuer durch Europa. Nicht einmal Berichte, nach denen Hitler Mussolini zu Hilfe eilen wollte, konnten die öffentliche Begeisterung dämpfen; in den Straßen Athens verhöhnten die versammelten Menschen lautstark die Achsenmächte, und in den Lazaretten sangen verwundete Soldaten die Nationalhymne und verlangten, wieder nach Norden in den Kampf geschickt zu werden.[14]

Nur wenige Tage nach der deutschen Invasion schlug die Stimmung um. Am 6. April bei Sonnenaufgang griff die 12. Armee von Generalfeldmarschall Wilhelm List an. Drei Tage später erreichten deutsche Einheiten die nordgriechische Hafenstadt Saloniki. Als die Wehrmacht gegen Athen marschierte, waren Niederlage und feindliche Besatzung absehbar. Aus Verzweiflung über den Lauf der Ereignisse erschoss sich am 18. April der griechische Ministerpräsident. Das Land war führungslos, während König, Politiker und Generäle um den Nachfolger stritten. Wohlhabende Familien mit guten Beziehungen überlegten, ob sie das Land verlassen sollten. Die deutsche Luftwaffe verstärkte ihre Angriffe auf Häfen und Städte. Die Menschen flohen in die Berge.

In der zweiten und dritten Aprilwoche rückte die Front immer weiter nach Süden vor. Griechische und alliierte Streitkräfte wichen vor dem letzten erfolgreichen Blitzkrieg des Zweiten Weltkriegs zurück. Im Hafen von Patras trafen erschöpfte jugoslawische Offiziere ein, die von der plötzlichen Niederlage ihres Landes Tage zuvor berichteten. Immer wieder gingen Sturzbomber kreischend auf die Docks nieder, zerstörten Kaiks, Fähren und Dampfschiffe. Anschließend trieben Schwärme toter Fische mit dem Bauch nach oben im Hafenbecken.

Wie viele andere Städte wurde Patras von der anhaltenden Bombardierung völlig zerstört. Die verängstigten Bewohner flüchteten sich in Luftschutzbunker, die gerade erst mit Ikonen und Weihrauchgefäßen bestückt worden waren. Die Lebensmittelpreise schossen in die Höhe, weil die Bauern nicht mehr in die Stadt gelangten. Am 23. April blieben nach einem Bombenangriff Läden und Tavernen geschlossen. Der französische Konsul Xavier Lecureul gewöhnte sich an seinen neuen Speiseplan aus Brot, Orangen und getrockneten Feigen; selbst Eier waren ein Luxus. Patras, schrieb er, sei praktisch verlassen, »ein düsterer Friedhof (…). Ich bin einer der wenigen Bewohner in einer seltsamen Stadt, in der schon das kleinste Geräusch Entsetzen auslöst.« Die militärische Disziplin verfiel zusehends. Auf den verlassenen Straßen patrouillierten nervös kleine Trupps britischer Soldaten des 14. Husarenregiments. Griechische Soldaten der örtlichen Kasernen verweigerten den Befehl, abzuziehen und in Korinth eine neue Verteidigung aufzubauen. Offiziere gaben ihren Männern Fronturlaub, damit sie nach Hause zurückkehren konnten.[15]

Viele Menschen wünschten sich gewiss, diese Tortur möge ein Ende haben, und warteten mit wachsender Ungeduld, dass die Ordnung wiederhergestellt würde und sie vielleicht einen ersten Blick auf die Eroberer werfen könnten. »Fürwahr«, schrieb der Romancier Giorgos Theotokas, »wir sind schon so weit, dass wir hoffen, sie mögen bald kommen und uns von der Warterei befreien.«[16] Und anders als Kavafis’ Barbaren kamen die Deutschen dann auch.

Am Samstag, dem 26. April 1941, gab es um 14.10 Uhr einen Bombenangriff; gegen 17.00 Uhr polterten die letzten griechischen Lastwagen südwärts, um sich den zurückweichenden Streitkräften anzuschließen; um 18.45 Uhr fuhr mit einem Abschiedssalut der letzte britische Konvoi aus der Stadt. Nur eine halbe Stunde lang lag der Marktplatz verlassen in der Abendsonne. Dann traten die ersten deutschen Offiziere auf den Plan, gefolgt von einem Motorradgespann mit zwei weiteren Offizieren in Tarnuniform. »Eine tiefe Traurigkeit befiel die Stadt«, schrieb Lecureul, der von seinem Fenster aus alles beobachtete, »und die wenigen Menschen, die dort waren, begriffen nicht zur Gänze, was da eigentlich geschah.«[17]

Am nächsten Morgen begann die eigentliche Besetzung von Patras. Kommandos der Leibstandarte SS Adolf Hitler marschierten in die Stadt ein. Die SS-Elitesoldaten machten auf die Beobachter einen furchterregenden Eindruck: »Die Männer mit Helm, über der Uniform einen leichten Tarnumhang, grün, braun und schwarz, bewaffnet bis an die Zähne. Wie sie da marschierten, schweren, aber schnellen Schrittes, menschliche ›Roboter‹, die zwei eiserne Rechtecke bildeten, wirkten sie wie eine unbesiegbare Macht.« Die Stadt füllte sich mit Armeefahrzeugen, LKWs und Motorrädern, deren Dröhnen die nervöse Stille der vorangegangenen Tage beendete. »Von nun an werden diese lauten Maschinen ein ständiges Getöse veranstalten. Die Besetzung geht weiter, und sie wird planvoll ablaufen«, schrieb Lecureul.[18]

In den Dörfern, Tälern und auf den Inseln außerhalb der Kampfzone trat die Besatzungsmacht weniger aggressiv auf. Die Insel Syros kapitulierte nach einem kurzen Luftbombardement; drei österreichische Soldaten und ein Offizier ruderten in den Hafen und hissten am Hafeneingang die Hakenkreuzflagge. Freundliche Einheimische kamen zum Kai und boten den Männern an, eines der wenigen Autos auf der Insel zu benutzen.[19]

Auf Chios trafen deutsche Soldaten erst am Abend des 2. Mai an Bord der SS Norburg ein, die von zwei italienischen Zerstörern eskortiert wurde. Die griechische Verwaltung kam nach kontroversen Diskussionen zu dem Schluss, dass Widerstand zwecklos sei, und so empfingen der Militärkommandant und der Inselpräfekt Themistokles Athanasiades den deutschen Bataillonskommandanten Major Winkler am Kai, unweit des Café Moschouri.[20]

In Athen brodelte dank des deutschen Geheimsenders Vaterland, der am 18. April den Betrieb aufgenommen hatte, die Gerüchteküche. »Athener! Trinkt das Wasser nicht! Euch droht der Tod!«, warnte der Sender und beschuldigte die Briten, den Stausee von Marathon mit Typhuserregern verseucht zu haben. Vaterland verbreitete noch andere Gräuelmärchen und rief die Bewohner der Hauptstadt dazu auf, die Lebensmittelgeschäfte zu plündern.[21]

Als deutsche Bomber über Athen hinwegbrausten, um den Hafen von Piräus anzugreifen, sehnten sich die Bewohner immer verzweifelter nach Neuigkeiten vom Vorstoß der Deutschen. Weil sie nicht sicher waren, wie nah die Wehrmacht bereits war, sahen sie überall deutsche Gespenster. Am Stadtrand entkam ein Priester mit Regenschirm nur knapp wütenden Bauern und Wehrpflichtigen, die ihn für einen deutschen Fallschirmspringer hielten. Jede Neuigkeit, die Flüchtlinge aus dem Norden mitbrachten, wurde gierig verschlungen. »Sie fragen uns alle: ›Hält die Front?‹; ›Wo ist die Front jetzt, wo sind Angriffe?‹«, erzählte eine blutjunge Rot-Kreuz-Schwester, die zum ersten Mal in ihrem Leben in der Hauptstadt war. Der solidarische Geist, der sich bei der italienischen Invasion so unvermittelt entwickelt hatte, löste sich wieder auf, als das Ende nahte. Panikkäufe leerten die Regale der Lebensmittelläden. Die Menschen umlagerten die Banken und wollten ihre Ersparnisse abheben. »Der Übergangscharakter dieser letzten Tage«, schrieb ein Athener, »wenn die einen schon weg sind und die anderen noch nicht da, ist für alle beklagenswert. (…) Wir stehen am Rande der Anarchie.«[22]

Am 27. April um 8.10 Uhr, die Sonne war bereits aufgegangen, rollten zwei gepanzerte Fahrzeuge der 6. Panzer-Division als Vorhut von Norden her in die Stadt. Ihnen folgten Panzer, Motorräder und Autos, die in einer langen Kolonne auf der Vasilissis-Sofias-Straße in Richtung Stadtzentrum fuhren. Die neugierigen Athener mieden die Hauptstraßen, die von der städtischen Polizei bewacht wurden, und drängten sich in den Seitengassen oder standen an ihren Fenstern. Dem Schriftsteller Theotokas, der in der Morgensonne durch die Akadimias-Straße ging, fiel eine Hakenkreuzfahne auf, die demonstrativ an einem der Häuser wehte. In der Stadion-Straße widersetzten sich die Fußgänger den Bemühungen der griechischen Polizei, sie zu verscheuchen. Gegenüber vom Hotel Splendid stand der junge Anwalt Christos Christides auf dem Balkon seiner Kanzlei und betrachtete die Schaulustigen auf dem Bürgersteig und auf anderen Balkonen, an denen auf der ansonsten leeren Allee hier und da deutsche Motorräder mit dem roten Wimpel vorüberzogen. Eines kam vom Syntagma-Platz und fuhr in Richtung Omonia-Platz. Vor dem Parlamentsgebäude hielt es an und wendete. »Hat sich wohl verfahren«, bemerkte ein Schaulustiger. »Bestimmt sucht der was.« »Der will in die Taverne.« Die Witze gingen von Balkon zu Balkon. Doch als, angeführt von einem Auto, eine Kolonne aus 30 Motorrädern auftauchte und haltmachte, verschwanden die Gesichter hinter den Fensterläden.[23]

Der Wehrmachtskolonne kamen die Bürgermeister von Athen und Piräus, der Präfekt von Attika und der Kommandant der griechischen Heeresgarnison in Athen entgegen, die den deutschen Kommandeur General Stumme treffen wollten. Um 10.45 Uhr übergaben sie Stumme in einem nördlichen Vorort von Athen im Café Parthenon offiziell die Stadt. Die Nationalhymne, die Radio Athen gesendet hatte, wurde unterbrochen, und ein deutscher Offizier verkündete in Hitlers Namen die Einnahme Athens. Es war, so schrieb Theotokas, »als ob die Zeit mit einem Messer durchschnitten worden sei. Hier endet ein Kapitel unseres Lebens.«[24]

*

Für andere dagegen begann ein neues, aufregendes Leben. Der hochaufgeschossene 41 Jahre alte Landesgruppenleiter Walther Wrede war Archäologe und Chef der NSDAP-Auslands-Organisation in Athen. Er und andere Mitglieder der deutschen Gemeinde hatten vor den aufwallenden deutschfeindlichen Gefühlen der vorangegangenen Wochen in der deutschen Gesandtschaft Schutz gesucht. »Die griechische Presse ergeht sich vom 6. April an in wüsten Beschimpfungen gegenüber Deutschland«, schrieb er in seinem »Kriegstagebuch«. »Führer, Volk und Wehrmacht werden in Wort und Karikatur aufs übelste verhöhnt. Man (…) nennt uns Hunnen und Barbaren.« Am 18. April lautete sein Tagebucheintrag: »Die Nacht war totenstill. Es fuhr kaum ein Auto. (…) In den Straßen patrouillieren starke Gendarmerieabteilungen. Auch in unserem Hause wird die Wache verstärkt. Am Tage kreist nur ein einzelner deutscher Aufklärer über der Stadt. Gegen Abend gibt es Krawalle. Das stärkste Geschrei hört man aus der Gegend des Omonia-Platzes. Zweimal zieht ein Trupp von 30 bis 40 zum Teil betrunkenen jungen Burschen an uns vorüber. Sie singen ein Mussolini-Spottlied und rufen: ›Nieder die 5. Kolonne!‹ Die Polizisten glauben, uns beruhigen zu müssen. Wir brauchten keine Sorge zu haben, die da draußen sängen nur patriotische Lieder.«[25]

Für Wrede und seine Gefährten war der Sonntag, der 27. April, ein Tag der Erfüllung und des Jubels:

»Da kommt um 1/210 Uhr ein Polizeibeamter ins Haus und erzählt uns, es bewegten sich deutsche Truppen auf die Akropolis zu. Sie würden dort wohl die deutsche Flagge hissen. Ich springe zum obersten Stockwerk hinauf an unser Ausguckfenster. Richtig! Am Mast auf dem Belvedere der Burg leuchtet das Rot der Reichsflagge! Der Schrei: ›Die Hakenkreuzfahne auf der Akropolis‹ hallt durch das Haus. In wenigen Minuten versammeln wir uns alle zum Gruß an den Führer. Die Lieder der Nation klingen durch die nun geöffneten Fenster auf die Straße hinaus. Die Haustür steht weit offen. Blumen und Zigaretten werden schnellstens besorgt, und so ausgerüstet erwarten wir an den Fenstern die ersten deutschen Soldaten.

Sie lassen nicht lange auf sich warten. Ein Wagen der Gesandtschaft fährt vor, und heraus springen unter einem Hagel von Blumen und Zigaretten vier oder fünf Gebirgsjäger, bärtig, verbrannt, verdreckt, aber strahlend.«[26]

Für Wrede begann nun eine Zeit hektischer Aktivität. Er eilte kreuz und quer durch Athen, begrüßte neu eingetroffene Offiziere und dolmetschte bei Gesprächen mit Bürgermeister Ambrosios Plytas. Er organisierte die örtlichen Parteimitglieder und beauftragte die Jungen und Mädchen der Hitlerjugend, die müden und staubigen Soldaten zu ihrem Quartier zu bringen. Sogar sein Fachwissen war gefragt, als er abgeordnet wurde, Generalfeldmarschall Walther von Brauchitsch über den Parthenon zu führen.[27]

Ein Jahr später erschien in einem Buch über die Balkan-Feldzüge ein Foto der beiden Männer. Es zeigte den Feldmarschall der Wehrmacht und den NS-Archäologen, wie sie im gleißenden Sonnenlicht eines griechischen Frühlingsmorgens durch die Ruinen der Akropolis schlendern und den Moment des Triumphes genießen: Die Vertreter des Dritten Reichs – Wehrmacht und Partei gemeinsam – haben das, wie Hitler es verstand, Symbol für die menschliche Kultur in Besitz genommen.[28]

I.Das Chaos der neuen Ordnung: 1941–1943

»In jedem der besetzten Gebiete sehe ich die Leute vollgefressen, und im eigenen Volk herrscht der Hunger. Sie sind weiß Gott nicht hingeschickt, um für das Wohl und Wehe der Ihnen anvertrauten Völker zu arbeiten, sondern um das Äußerste herauszuholen, damit das deutsche Volk leben kann, das erwarte ich von Ihren Energien. Die ewige Sorge für die Fremden muß jetzt endlich einmal aufhören. (…) Es ist mir dabei gleichgültig, ob Sie sagen, daß Ihre Leute wegen Hungers umfallen. Mögen sie das tun, solange nur ein Deutscher nicht wegen Hungers umfällt.«[29]

 

Hermann Göring vor den Reichskommissaren und Militärbefehlshabern der besetzten Gebiete, 6. August 1942

1.Die Beisetzung von Eleftherios Venizelos

Tausende trauernde Menschen drängten sich im April 1936 in den engen Straßen des alten Hafenstädtchens Chania, um den großen Staatsmann Eleftherios Venizelos zu Grabe zu tragen. Sie alle wussten, dass sie soeben Zeugen wurden, wie eine Ära der griechischen Geschichte zu Ende ging. Von Paris aus, wo Venizelos im Exil verstorben war, war sein Leichnam zunächst per Zug nach Italien und anschließend mit dem Schiff auf seine Heimatinsel Kreta überführt worden. Hochgewachsene ergraute Männer aus den Bergen, die um 1900 mit ihm im Untergrund für die Befreiung Kretas aus dem Osmanischen Reich gekämpft hatten, trugen seinen Sarg auf ihren Schultern durch die trauernde Gemeinde.

Zu Lebzeiten hatte Venizelos weltweit hohes Ansehen genossen. Seiner geschickten Staatsführung verdankte Griechenland nicht nur den Anschluss Kretas und der Inseln der östlichen Ägäis, sondern auch den Zugewinn großer Territorien im Norden – Epirus, den Hafen von Saloniki, die Weizenanbaugebiete in Makedonien und die reichen Tabakgebiete in Thrakien. All diese Gebiete waren Teil des griechischen imperialen Traums, der Großen Idee (Megali Idea), jener phantastischen Vorstellung eines Königreichs, das sogar Konstantinopel mit eingeschlossen hätte. In den 100 Jahren, die verstrichen waren, seit das kleine Land 1830 unabhängig geworden war, hatten die meisten Politiker von wenig anderem gesprochen. Nachdem Venizelos von Kreta aus 1909 in Athen angekommen war, gelang es ihm, einen Großteil dieses Traums Wirklichkeit werden zu lassen. Doch als 1922 auch der Griff nach Konstantinopel möglich schien, stolperten die Griechen über diese letzte Hürde. Ein türkischer Offizier, Mustafa Kemal – der später unter dem Namen Atatürk bekannt werden sollte –, fügte den griechischen Expeditionsstreitkräften in Anatolien eine fürchterliche Niederlage zu. Die griechischen Truppen retteten sich über die Ägäis, gefolgt von Hunderttausenden Flüchtlingen aus griechischen Gemeinden in Kleinasien, die in einem aggressiv nationalistischen Umfeld entwurzelt worden waren. In Griechenland nannte man diese Ereignisse schlicht »die Katastrophe«.

Die Katastrophe warf ihren Schatten über die gesamte Zwischenkriegszeit. Der imperialistischen, nationalistischen Mission beraubt, die ihnen in der Schule eingepflanzt worden war und für die sie gekämpft hatten, fühlten sich zahlreiche Griechen erniedrigt. Es herrschte Unsicherheit darüber, was die Welt nach dem Krieg für ihr Land noch bereithalten würde. Der Dichter Kostis Palamas schrieb fortan keine aufrüttelnde nationale Lyrik mehr, sondern beschränkte sich auf melancholische, häufig nostalgische Gefühle einer stilleren und privaten Welt; seine Nachfolger waren Männer wie der ruhelose Nikos Kazantzakis, der zwischen Buddhismus, Nietzsche und Marxismus changierte und sich immer mehr von den nationalistischen Gewissheiten vergangener Tage entfernte. Kostas Karyotakis, ein junger Autor, der aller Rhetorik und allem Bombast kritisch gegenüberstand, verpackte die vorherrschende Stimmung der Desillusionierung in knappe, unbehagliche und satirische Texte über das Leben in der griechischen Provinz, bevor er, gerade einmal 28 Jahre alt, Selbstmord beging.

Wie alles andere geriet auch die Politik in den Schatten der Katastrophe und teilte das Land in zwei Hälften. Die Bewohner der neu hinzugewonnenen Gebiete und die Flüchtlinge aus Kleinasien blieben treue Anhänger von Venizelos. Es seien seine Eloquenz und seine Durchsetzungskraft gewesen, so argumentierten sie, denen Griechenland diese Gebiete verdanke; und es sei seine Abwesenheit in den Jahren 1921 und 1922 gewesen, die Griechenland die Niederlage in Kleinasien eingebracht habe. Sie nannten ihn Führer der Nation, den Einen, Unseren Vater und verehrten ihn mit messianischem Eifer. Auf der Peloponnes und in Attika hingegen, dem Herzen des Königreichs des 19. Jahrhunderts, sahen die Menschen in dem weißbärtigen und schneidigen Kreter nichts anderes als die Verkörperung des Satans höchstpersönlich. Er habe während des Ersten Weltkriegs gegen die Monarchie intrigiert, und seine übergroßen Ambitionen seien verantwortlich für die Katastrophe in Kleinasien und für die vielen elenden, barfüßigen und politisch verdächtigen Flüchtlinge in ihren Barackensiedlungen, die die »poetische Ruhe« Athens aus den Vorkriegsjahren zerstört hätten und nun als Hausierer die Bürgersteige bevölkerten.

Immer wieder kreisten die Gespräche in den politischen Salons und Athener Cafés um diese eine Frage: Wer war für die Katastrophe verantwortlich? Venizelos selbst war einer der sehr wenigen Politiker, die einen Weg fanden, der aus der Sackgasse der Nostalgie und der gegenseitigen Schuldzuweisung herausführte, und sich auf konstruktivere Möglichkeiten verlegten. Er wusste, dass die Griechen nun, da territoriale Expansionen absolut indiskutabel waren, ihre Energien auf andere Dinge konzentrieren mussten. An die Stelle der kriegerischen mussten jetzt praktische Überlegungen treten, die vor allem auf die soziale und ökonomische Reform der bereits bestehenden Institutionen abzielten. Die griechischen Straßen waren die schlechtesten in ganz Europa, die Felder wurden noch immer mit mittelalterlichen Methoden und ohne Dünger oder Maschinen bestellt; in den kleinen Betrieben, die nach wie vor einen Großteil der rückständigen griechischen Industrie ausmachten, arbeiteten zehnjährige Kinder zwischen 12 und 14 Stunden am Tag. Neben der Verbesserung der Beziehungen zur Türkei widmete Venizelos sich vor allem der Aufgabe des Wiederaufbaus. Seine Liberale Partei überwachte eine umfassende Landreform, die aus Griechenland eine Nation von Kleinbauern machte, zudem ermunterte er ausländische Geldgeber, in den öffentlichen Sektor und die Industrie zu investieren. In vier Jahren, so versprach er 1928 seinen Wählern, könne er Griechenland völlig umgestalten und aus der korrupten, trägen und mit zu viel Personal besetzten Bürokratie den Motor eines modernen Staates formen.

Das war ihm nicht vergönnt: Die weltweite Depression beendete Griechenlands ökonomische Gesundung und zwang Venizelos 1932 zum Rücktritt. Sein Bemühen, Griechenland am Goldstandard zu orientieren, trieb die Wirtschaft in die Rezession und enttäuschte viele seiner Anhänger. Als er schließlich den von ihm selbst so betitelten »Kampf um die Drachme« verlor und die Währung abwerten musste, büßte er weiter an Glaubwürdigkeit ein. Seine Anhänger reagierten nach einem Jahrzehnt an der Macht eher nervös auf jede Opposition, während seine royalistischen Widersacher eine Republik übernahmen, deren Legitimität sie im Grunde in Frage stellten.

Die Frage nach der Verfassung blieb im Parlament die zentrale Achse, um die sich alles drehte. Während die Athener Politik darüber stritt, ob es König Georg II., der seit 1923 im Exil lebte, erlaubt werden solle, ins Land zurückzukehren, schenkte man der akuten sozialen und ökonomischen Krise, die Griechenland fest im Griff hielt, wenig Beachtung. Auf der Peloponnes randalierten Bauern aus Protest gegen mangelnde staatliche Unterstützung, sie rissen Eisenbahnschienen heraus und steckten öffentliche Gebäude in Brand. Überall im Land, von Kalamata bis nach Kavala, gab es Unruhen in der Industrie. Die Antwort aus Athen war wie üblich die Verhängung des Kriegsrechts und der Einsatz der Armee.

1935 versuchte Venizelos einen republikanischen Putsch gegen die Royalisten, um die Restauration der Monarchie zu verhindern. Das schlecht vorbereitete und ohne Vorausschau durchgeführte Unternehmen geriet zu einem Debakel und konnte von der Regierung rasch niedergeschlagen werden. Venizelos und andere führende Republikaner setzten sich ins Ausland ab; ihre Unterstützer entfernte man aus der Armee. Das Resultat war das Gegenteil dessen, was Venizelos angestrebt hatte: Die Royalisten triumphierten, und am Ende des Jahres wurde König Georg II. zur Rückkehr eingeladen und die Republik abgeschafft.

Fortan überschatteten die sozialen Probleme des Landes immer stärker die konstitutionelle Frage. Vom Exil aus bemühte sich ein erschöpfter Venizelos, seine Anhänger dazu zu bewegen, den König zu akzeptieren. Parteien, die sich während der Auseinandersetzungen zwischen Republikanern und Royalisten zusammengefunden hatten, indem sie sich entweder mit der einen oder mit der anderen Seite identifizierten, brachen nun in zankende Fraktionen auseinander, da die Rache am jeweiligen Gegner ihren Sinn verloren hatte. Beide Seiten sahen ihre Aufgabe zunehmend in der Verteidigung dessen, was sie den »bürgerlichen Status quo« nannten. Sobald die griechische Linke an Stärke gewann, nutzten Republikaner und Royalisten gleichermaßen den Antikommunismus als neuen Weckruf. Viele stellten gar den Wert der parlamentarischen Demokratie an sich in Frage und blickten voller Bewunderung auf das nationalsozialistische Deutschland und das Italien Mussolinis.

König Georg II. selbst war sicherlich kein überzeugter Demokrat, und er hegte starke Zweifel an der Eignung jener Politiker, mit denen zusammenzuarbeiten er gezwungen war. Im April 1936 entschied er – nach einer Phase, in der die parlamentarischen Verhandlungen in einer Sackgasse gelandet waren –, den loyalen royalistischen Veteranen General Ioannis Metaxas zum Ministerpräsidenten einer Übergangsregierung zu ernennen. Metaxas hatte sich während des Ersten Weltkriegs als brillanter Stabsoffizier verdient gemacht und war einer der wenigen gewesen, die sich gegen den Kleinasienfeldzug ausgesprochen hatten. In den Jahren der Republik führte er eine kleine nationalistische Partei; seine Verachtung der parlamentarischen Demokratie nahm dabei deutlich zu. Tatsächlich war der von ihm ernannte Innenminister ein bekannter Anhänger des Dritten Reichs. Mit bis dahin unbekannter Härte ging die Regierung in diesem Frühjahr gegen Unruhen im Industriesektor vor. Angesichts eines drohenden Generalstreiks im August 1936 verhängte Metaxas das Kriegsrecht und führte damit ein Regime ein, das bis zu seinem Tod, kurz vor der Invasion 1941, herrschen sollte. König Georg II. hatte den Weg dorthin selbst geebnet, als er Metaxas erlaubte, das Parlament auf unbestimmte Zeit aufzulösen.

Während der Diktatur der »Dritten Griechischen Kultur« (1936–1941) führte der Erste Bauer und Erste Arbeiter (wie der gedrungene General sich gerne nennen ließ) für totalitäre Systeme typische Phänomene in Griechenland ein wie faschistische Grüße, eine nationale Jugendbewegung sowie einen wachsamen und brutalen Geheimdienst; und doch fällt auf, dass etwas fehlte: Metaxas hatte keine Massenpartei hinter sich wie die italienischen Faschisten oder die deutschen Nationalsozialisten. Seine Machtbasis blieb klein und war eng an seine unstete Beziehung zum König geknüpft. Metaxas’ Regierung vom 4. August war weit davon entfernt, eine wahrhafte rechte Massenbewegung zu sein; sie gerierte sich zwar als zutiefst konservativ, doch dies war in einem Land, das über keine Traditionen der Massenpolitik verfügte, wenig wirksam, um Kontrolle über die urbane Bevölkerung zu erlangen. Da die soziale Unzufriedenheit weder durch das Charisma eines Venizelos noch durch Gesetzesreformen ausgeräumt werden konnte, musste sie gewaltsam eingedämmt werden. Fast fünf Jahre lang schien diese Strategie zu funktionieren, zumindest gab es in dieser Zeit nur wenig offene Opposition zur Diktatur. Doch rückblickend wirkt Metaxas’ Regime wie ein Lückenbüßer – die dauerhafteren Lösungen für Griechenlands Probleme wurden auf später verschoben. Drei Monate vor der deutschen Invasion, im Januar 1941, starb Metaxas. Die darauffolgende Besatzung vergrößerte die bereits bestehenden sozialen und ökonomischen Belastungen, so dass Forderungen nach einer fundamentalen Neuordnung des griechischen politischen Systems unter der Bevölkerung immer populärer wurden.

2.Die Besatzung beginnt

Eigentlich wollte Hitler Griechenland nicht besetzen. Er machte für die Niederlage der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg zumindest teilweise die Verwicklungen auf dem Balkan verantwortlich und hatte kein Interesse daran, Truppen auf einen riskanten Nebenkriegsschauplatz zu leiten, während die Invasion Russlands vorbereitet wurde. Indem das Dritte Reich den Handel dominierte, hielt es das südöstliche Europa in einer festen Umklammerung, und offenbar gab es wenig Grund, noch die Lasten einer militärischen Besatzung hinzuzufügen. Doch ironischerweise waren es Hitlers eigene Aktionen, die zur deutschen Intervention in Griechenland führten.

Im Spätsommer 1940 hatten die Rumänen eingewilligt, dass deutsche Soldaten, wenig überzeugend als »Berater« getarnt, auf die wirtschaftlich wichtigen Ölfelder von Ploieşti vorrückten. Für Mussolini war das ein weiterer Hinweis, dass sich der deutsche Einfluss gefährlich nach Südosteuropa ausdehnte, und in einem Anfall von Ärger beschloss er, nach Griechenland vorzudringen. Aber was als Demonstration der italienischen Unabhängigkeit begonnen hatte, verwandelte sich rasch in eine demütigende Schachstellung für die Achsenmächte. Die griechischen Streitkräfte banden die Italiener im Pindos-Gebirge und drängten sie zurück bis nach Albanien. Für Hitler war es unvorstellbar, eine Niederlage seines Verbündeten zuzulassen, und so entschied er, Mussolini zu Hilfe zu kommen. Im Dezember gab er den Befehl zum Unternehmen Marita: dem Vorrücken deutscher Truppen über die bulgarische Grenze zum Angriff auf Griechenland.

Die Griechen gaben sich bezüglich ihrer Chancen gegenüber der Wehrmacht keinen Illusionen hin. Metaxas, alt und krank, versuchte verzweifelt, Berlin zu der Einsicht zu bringen, dass die Griechen den Konflikt mit Italien nicht gewollt hatten und dass sein Land in dem großen internationalen Konflikt neutral bleiben werde. Er hoffte, die Deutschen würden, statt Griechenland anzugreifen, auf Italien einwirken, damit es die Feindseligkeiten in Albanien beendete. Auch mehrere seiner politischen Rivalen gaben den Deutschen insgeheim zu verstehen, dass sie – wenn sie an die Macht kämen – gegenüber den Achsenmächten eine Haltung wohlwollender Neutralität einnehmen würden.[30]

Ebenso wollten die griechischen Generäle Feindseligkeiten mit Deutschland vermeiden. In den Wochen vor der Invasion sah sich König Georg II. gezwungen, mehrere von ihnen wegen Defätismus zu entlassen. Vor allem einer ihrer Vorstöße erlangte im Licht der späteren Ereignisse Bedeutung. Am 12. März informierte der deutsche Konsul in Saloniki seine Vorgesetzten, dass ein gewisser Oberst Petinis an ihn herangetreten sei mit der Bitte, bei der Beendigung der Feindseligkeiten in Albanien behilflich zu sein. Der Konsul merkte an, dass Petinis nicht allein gehandelt habe: Hinter ihm stehe mutmaßlich ein gewisser General Tsolakoglou, ein enger Mitarbeiter eines der vom König entlassenen Generäle.[31]

Als die Wehrmacht am 6. April 1941 mit dem Angriff auf Griechenland begann, war Georgios Tsolakoglou Kommandant des III. Armeekorps der griechischen Armee in Westmakedonien. Seine Männer saßen fest zwischen den Italienern an der albanischen Front im Nordwesten und den Deutschen, die rasch vom Nordosten vorrückten. Am 20. April war ihre Lage aussichtslos. Generalfeldmarschall Wilhelm List hatte die Leibstandarte SS Adolf Hitler über den nur schwach verteidigten Metsovo-Pass nach Süden geschickt. Diese drang rasch vor, um die griechischen Truppen zu schlagen, die als Verstärkung zusammengezogen wurden, und erreichte am Morgen des 20. April, Hitlers Geburtstag, die wichtige Stadt Ioannina im Norden des Landes. Das war so schnell vonstattengegangen, dass die Briten, die weiterhin Meldungen an die griechische Militärführung in der Region schickten, zur Antwort erhielten: »Hier ist das deutsche Heer.«[32]

Am Tag darauf kapitulierte General Tsolakoglou gegenüber den Deutschen, offenbar aus eigener Initiative. Immer wieder wurde seine Kommunikation mit dem Generalstab in Athen unterbrochen; anscheinend hoffte er, die Frontlinie zu den verhassten Italienern in Albanien halten zu können, wenn er sich mit List einigte. Diese Hoffnung wurde zunächst nicht enttäuscht. List war ebenfalls der Ansicht, dass man die italienischen Truppen nicht weiter nach Süden über die griechische Grenze vorrücken lassen dürfe. Einige Einheiten der Leibstandarte SS Adolf Hitler, die von der Tapferkeit der griechischen Armee beeindruckt waren, gingen sogar so weit, den Vormarsch der Italiener zu blockieren, indem sie an dem Grenzübergang Ponte Berati zwischen griechischen und italienischen Einheiten Stellung bezogen.

Für die Italiener aber war dies ein unerwarteter und sehr demütigender Rückschlag, denn Mussolini hatte sich verzweifelt bemüht, die Griechen vor der Ankunft der Wehrmacht zu besiegen. Er war empört, als ihn die Nachricht der griechischen Kapitulation erreichte. Den deutschen Militärattaché in Rom ließ er wissen, dass er einen Waffenstillstand nur einhalten werde, wenn die Griechen auch mit den Italienern darüber verhandelten. Sonst würden die »hinterhältigen« Griechen später prahlen – wie sie es mit gutem Grund dann tatsächlich taten –, sie seien nicht von den Italienern besiegt worden. Als der Duce dann erfuhr, dass List nicht nur einen Waffenstillstand, sondern eine Kapitulation ausgehandelt hatte, geriet er noch mehr in Wut. Der deutsche Attaché Enno von Rintelen gab sein Gespräch mit Mussolini in nüchternen Worten wieder: »Er [Mussolini] erklärte, dass er auch allein mit den Griechen fertiggeworden wäre; wenn 500000 Mann nicht gereicht hätten, würde er eine Million eingesetzt haben. Er könne es unmöglich dulden, dass jetzt die griechische Kapitulation lediglich als eine Folge des deutschen Angriffs hingestellt würde.

Ich habe dem Duce auseinandergesetzt, dass dies von deutscher Seite sicherlich nicht beabsichtigt sei, vielleicht auch gar nicht von der griechischen Seite.«[33]

Widerstrebend entschied Hitler, Mussolini ein weiteres Mal zu helfen, obwohl damit List und die anderen Wehrmachtoffiziere, die die Bedingungen der Kapitulation mit Tsolakoglou ausgehandelt hatten, öffentlich gedemütigt wurden. Am 23. April wurde in Gegenwart der Italiener eine zweite Kapitulationserklärung unterzeichnet. In einem matten Versuch, das Propagandapotential der Situation auszunutzen, beschloss Mussolini, die vereinbarte öffentliche Bekanntgabe der Kapitulation vorwegzunehmen und die Nachricht bereits morgens verbreiten zu lassen. Der italienische Rundfunk meldete, die Griechen hätten »dem Befehlshaber der italienischen 11. Armee« die Kapitulation angeboten, die Einzelheiten würden »in völliger Übereinstimmung mit den verbündeten Deutschen« ausgearbeitet.[34]

Diese Meldung führte dazu, dass sich die Beziehungen zwischen den Armeen der beiden Achsenmächte weiter verschlechterten. Die Wehrmacht empfand gegenüber ihrem Verbündeten mittlerweile tiefste Verachtung. Die Italiener wollten »wie Kinder alles verschlingen«, notierte Generalfeldmarschall Keitel. Als die Männer der Leibstandarte vor den Toren von Patras an grüßenden italienischen Frauen vorbeizogen, antworteten einige mit dem Schmähruf »Brutta Italia!« und mit »Heil Hitler!«[35]

*

Schon bald war klar, dass Mussolini die Invasion Griechenlands begonnen hatte, ohne konkrete Kriegsziele zu verfolgen. Am 21. April teilte sein Außenminister den Deutschen vage mit, er denke, der Duce werde letztlich die Annexion von Gebieten in Nordgriechenland und auf den Ionischen Inseln fordern. Allerdings bestand dieses neue Römische Reich, das in Griechenland errichtet werden sollte, vor allem aus armen Bergdörfern, die nur über Maultierpfade und verschneite Wege zu erreichen waren – wie die italienische Armee zu ihrer Ernüchterung bereits festgestellt hatte. Solche Ziele waren weder strategisch noch politisch sinnvoll. Keine griechische Regierung hätte diese Gebiete abtreten können, denn sie hätte damit jede Glaubwürdigkeit verloren. Der italienische Militärattaché in Berlin befürchtete, dass die schlecht durchdachten Forderungen seines Landes bei seinem Verbündeten wenig Sympathie finden würden, und drängte Rom, »unsere Besetzung auch über den Seeweg zu beschleunigen, um den deutschen Truppen zuvorzukommen«.[36]

Bei den zweiten Kapitulationsverhandlungen in Saloniki holten die Deutschen die Italiener auf den Boden der Tatsachen zurück. Felix Benzler, der als Bevollmächtigter des Auswärtigen Amts dem Oberkommando List zugeteilt war, verlangte, die Frage der italienischen Gebietsansprüche insgesamt bis nach dem Krieg zu vertagen. Er sagte geradeheraus, die italienische Delegation habe lediglich die Aufgabe, bei der Bildung einer neuen griechischen Regierung zu helfen, die den Achsenmächten während des Krieges bei der Verwaltung des Landes dienen sollte. Filippo Anfuso, sein Pendant auf italienischer Seite, brachte die Idee ins Spiel, in das Kapitulationsprotokoll eine Klausel über künftige Gebietsbereinigungen aufzunehmen. Benzlers Antwort war eindeutig: Mit solchen Formeln sollten sie General Tsolakoglou nicht erschrecken. Anfuso konnte nur schwach einwenden, angesichts der »totalen Niederlage« Griechenlands hätte er eine »schlichte und einfache« Besetzung vorgezogen, wie sie in Polen erfolgt sei.[37]

Aber Griechenland und Polen waren zwei vollkommen unterschiedliche Fälle, zumindest aus deutscher Sicht. Griechenland war strategisch weniger wichtig, und die Griechen galten nicht als »rassisch minderwertig«. Von Hitler angefangen gab es auf deutscher Seite nur Bewunderung dafür, wie die Griechen gekämpft hatten. Die Deutschen hatten keine langfristigen Pläne für Griechenland, und Hitler hatte bereits entschieden, dass ein griechisches Marionettenregime die Deutschen am wenigsten Kraft und Ressourcen kosten würde, zumal die Invasion der Sowjetunion näher rückte. Einen Tag nach der Unterredung zwischen Anfuso und Benzler wurde offiziell angekündigt, dass eine Regierung unter General Tsolakoglou gebildet werden sollte.

Am 26. April erklärte Tsolakoglou seine Bereitschaft, dem »Führer des deutschen Volkes« zu dienen. Alle hochrangigen Generäle der griechischen Armee, so versicherte er den Deutschen, würden eine von ihm geführte Regierung unterstützen. Ein solches Angebot, noch bevor Athen gefallen war und während sich griechische Soldaten und Commonwealth-Truppen auf der Peloponnes immer noch südwärts vorankämpften, erschien Hitler als »ein Geschenk des Himmels«.[38] Allerdings hatte der Führer nicht viele andere Optionen. Die offizielle Regierung und der König hielten sich knapp eine Stunde entfernt auf Kreta auf, und die einflussreichsten Politiker in Athen warteten erst einmal ab, bevor sie Stellung bezogen. Während Metaxas’ Diktatur waren sie politisch ohnmächtig gewesen, aber sie wollten nicht ausgerechnet in einem solchen Augenblick auf die politische Bühne zurückkehren.

Tsolakoglous Karriere war vor dem Krieg respektabel, aber unauffällig verlaufen; nichts hatte ihn auf die Verantwortung vorbereitet, die er nun übernahm. Wie eingeschränkt seine politischen Vorstellungen waren, wurde schon daran deutlich, dass seinem ersten Kabinett nicht weniger als sechs weitere, gleichfalls unerfahrene Generäle angehörten. Auch die zivilen Mitglieder waren unauffällige Erscheinungen: darunter ein Medizinprofessor namens Konstantinos Logothetopoulos, dessen wichtigste Qualifikation für das Amt anscheinend darin bestand, dass er mit einer Nichte von Generalfeldmarschall List verheiratet war, und Platon Hadzimikalis, ein zwielichtiger Geschäftsmann mit Verbindungen zu deutschen Firmen, dessen Frau ihn später aus Abscheu vor seinen politischen Machenschaften verließ.[39]

»Die Verhandlungen über die Neubildung der griechischen Regierung haben sich heute sehr schwierig gestaltet, weil es sehr schwer war, geeignete Zivilisten von etwas Format zum Eintritt zu bewegen«, berichtete Benzler am 29. April. Erzbischof Chrysanthos von Athen gab den Kurs vor, indem er sich weigerte, der neuen Regierung die Treue zu schwören. Etliche potentielle Kandidaten lehnten es ab, ein Amt zu übernehmen, weil sie mutmaßten, Deutschland werde sich demnächst aus Griechenland zurückziehen, und dann wären sie ihren verhassten Feinden ausgeliefert. »Aus allen Besprechungen ging immer wieder hervor, wie tief der Haß der Griechen gegen Italien ist«, schrieb Benzler.[40]

Von Anfang an saß Tsolakoglou in der italienischen Frage in der Klemme. »Ihr kennt uns«, begann seine erste Ansprache an das griechische Volk, »als Soldaten und Patrioten.« Doch dass er unter italienischer Vorherrschaft diente, höhlte seine patriotischen Beteuerungen aus. Die Zivilisten unter seinen Ministern drohten nicht einmal eine Woche nach ihrem Eintritt ins Kabinett bereits mit Rücktritt, sollten die Italiener die Macht übernehmen. Auch Tsolakoglou selbst warnte vor einem Zusammenbruch von Recht und Ordnung, falls die Italiener ins Land kommen und sich »wie Tyrannen« aufführen sollten.[41]

Der griechenfreundliche deutsche Militärattaché in Athen äußerte die Ansicht, Griechenland könne mit einem Minimum an deutscher Truppenpräsenz gehalten werden, sofern keine italienischen Besatzer ins Land kämen. Günther Altenburg, der Bevollmächtigte des Reichs für Griechenland, bestätigte dies. Wenn sie Griechenland den Italienern überließen, würde das als moralische und politische Niederlage der Deutschen angesehen und die öffentliche Meinung in Griechenland gegen sie aufbringen. Verzweifelt habe Tsolakoglou versucht, Hitler davon zu überzeugen, dass ein solcher Schritt die Autorität der griechischen Regierung vollkommen untergraben würde, berichtete Altenburg nach Berlin.[42]

Doch Hitler schlug all diese Warnungen in den Wind. Er wollte so schnell wie möglich deutsche Truppen nach Norden verlegen, und am 13