Griechenlands Identität - Ulrike Krasberg - E-Book

Griechenlands Identität E-Book

Ulrike Krasberg

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Beschreibung

Was ist Griechisch? Zum Stichwort "Griechenland" fällt jedem etwas ein: Homer, Mythologie, Olymp, Athen, Demokratie, Urlaub oder Eurokrise. Aber kennen Sie Griechenland wirklich? Und was macht nationale Identität überhaupt aus? Zwischen Antike und Gegenwart liegen über zweitausend Jahre, in denen sowohl Byzanz als auch das Osmanische Reich die griechische Kultur und Gesellschaft prägten. Das heutige Griechenland birgt kulturelle Schätze und Überraschungen, ehrliche Gastfreundlichkeit und eine sagenhafte Geschichte, die nach neuen Erzählern verlangt. So wie einst Homer: "Sage mir, Muse ..."

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Griechenlands Identität

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage August 2017

© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

www.groessenwahn-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-95771-152-6

eISBN: 978-3-95771-153-3

Ulrike Krasberg

Griechenlands Identität

Geschichte und Menschen verstehen

IMPRESSUM

Griechenlands Identität

Autorin

 Ulrike Krasberg

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften

Constantia

Covergestaltung

Marti O´Sigma

Coverbild

Marti O´Sigma, Grafik

Lektorat

Niki Eideneier, Hans Eideneier, Lisa Scheffler

Druck und Bindung

Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

August 2017

ISBN: 978-3-95771-152-6

eISBN: 978-3-95771-153-3

Für Hannah

Vorwort

Die Griechen sind in Europa fest verortet als »Erben der Antike«, und sie haben gelernt, als würdige Nachkommenschaft Homers und Sokrates in Europa aufzutreten. Ein offenes Geheimnis aber ist, dass sie sich selbst vielmehr dem »romäischen« Lebensgefühl aus ihrer byzantinischen Epoche hingezogen fühlen. Aber ist es nicht bemerkenswert, dass wir alle in den europäischen Staaten, nicht nur die Griechen, mit einer erlernten, ja weitgehend erfundenen nationalen Identität durchs Leben gehen? Einer Identität, die es vor dem Zeitalter der Nationalstaaten nicht gab. Andererseits, wenn es historisch möglich war zu lernen »griechisch« oder »deutsch« zu sein, könnten wir ja auch lernen »europäisch« zu sein, was immer das bedeuten mag. Oder sind wir das nicht schon?

Das Vorhaben über ein Land, eine Nation zu schreiben birgt gewisse Schwierigkeiten. Zum einen kann es nur eine Momentaufnahme im Flusse ständiger Veränderungen sein. Die eine objektive Wahrheit kann es also nicht geben. Zum anderen muss ich Begriffe wie »Kultur« oder »nationale Identität« verwenden, die auf den ersten Blick zwar klar und eindeutig erscheinen, es tatsächlich aber nicht sind. Was genau ist »Kultur«? Und was bedeutet »nationale Identität«? Diese Begriffe entsprechen zudem unserer heutigen Weltsicht, einer, die jeweils aus der Perspektive unseres nationalen Zuhauses hervorgeht. Erst wenn wir Geschichte in größeren Zeiträumen betrachten, wird deutlich, wie außergewöhnlich die seit gut zweihundert Jahren bestehende Aufteilung der Menschheit in Kulturen und Nationen in festgelegten Staatsgrenzen ist. Darauf musste man erst mal kommen! Aber in der Tat ist dieses Konzept – zumindest in Europa – eines, mit dem wir gut denken und uns die Welt vorstellen können: die Menschheit aufgeteilt auf festumgrenzte Gebiete, die wie in einem Puzzle aneinander liegen. Und die Bewohnerinnen und Bewohner eines jeden Puzzleteils haben ein eigenes Selbstbild – eine »nationale Identität« – entwickelt, die sich von allen anderen unterscheidet. In diesem Sinne werde ich Griechenland vorstellen: Was ist das Einmalige und Besondere am modernen Griechenland und der Lebensweise seiner Bewohnerinnen und Bewohner? Wie ist das heutige nationale Selbstbild entstanden und wie lebt es sich mit dieser Identität?

Einleitung

Als ich im Frühsommer des Jahres 2000 in der Zeitung las, Griechenland habe sein Staatsdefizit soweit in den Griff bekommen, dass die Europäische Zentralbank der Mitgliedschaft Griechenlands in die Währungsunion grünes Licht gab, war ich maßlos verblüfft. Wie konnte das denn sein!? Die Griechen waren Meister des Laisser-faire in einem Land, wo nach deutschen Maßstäben nichts ordentlich funktionierte, wo stets mit großem Können improvisiert wurde, passend gemacht wurde, was nicht passte – die hatten die Maastricht-Kriterien erfüllt? Während Deutschland in dieser Zeit seine Verschuldungsrate nicht auf das von der EU vorgeschriebene Maß bringen konnte? Mein Griechenlandbild war in seinen Grundfesten erschüttert. Selbstverständlich glaubte ich an den ökonomischen Sachverstand in Brüssel und der Europäischen Zentralbank. Wenn die verkündeten, Griechenland habe die Voraussetzungen für die Aufnahme erfüllt, musste das ja wohl stimmen – dachte ich damals. Insgeheim tat ich Abbitte bei meinen Freunden in Griechenland und versuchte sie mir als redliche Steuerzahler vorzustellen. Als ein paar Jahre später bekannt wurde, dass Griechenland seine Daten frisiert hatte, um im Club der »Großen« aufgenommen zu werden und »… nicht immer weiter in der zweiten Reihe stehen zu müssen« wie es der damalige Premier Kostas Simitis mit Blick auf die griechische Würde formulierte, war mein Weltbild wieder in Ordnung. Die griechische Regierung hatte passend gemacht, was nicht passte und ihr Ziel erreicht, ganz ohne preußische Tugenden. So oder so ähnlich mögen auch andere gedacht haben, als in Europa die Nachricht über die »schummelnden Griechen« die Runde machte. Und manch einer mag sich auch bestätigt gefühlt haben in seinem Bild von »den Griechen«. Aber woher kommen diese Bilder von den »faulen, schummelnden Griechen«? Schließlich sind sie nicht die einzigen in der EU, die die in Brüssel ausgehandelten Verträge nicht immer dem Buchstaben getreu einhalten, wie hin und wieder in der Presse zu lesen ist. Jede Nation versucht das Beste für sich herauszuholen. Der in diesem Zusammenhang schlechte Ruf der Griechen aber scheint noch andere Ursachen zu haben, und die könnten in geschichtlichen Erfahrungen liegen und dem, was ihnen als »nationale Kultur« zugeschrieben wird. Diesem nationalen Image der Griechen werde ich im Folgenden nachgehen.

1980 hatte ich nach einer längeren ethnografischen Feldforschung in Griechenland ein kleines altes Bauernhaus in Filia, einem Dorf auf der Insel Lesbos, erworben. Was mich dazu bewog, mein erstes verdientes Geld als Kulturanthropologin in ein Häuschen in Griechenland zu investieren, war die Faszination von einem Lebensgefühl des Improvisierten im Schatten der Regeln, das »es geht nicht, aber man kann’s machen«, was mir ein Gefühl von persönlicher Freiheit vermittelte – zumindest im Vergleich mit meinem Leben in Deutschland, das ich als unangenehm reglementiert empfand. Natürlich hoffte ich, dass mein Hausprojekt nicht so enden würde wie im Roman von Nikos Kazantzakis die Seilbahn zur Mine des englischen Schulmeisters auf Kreta, die beim ersten Gebrauch zusammenfiel und Alexis Sorbas seinen Boss fragte: »Hast du jemals etwas so wunderschön zusammenkrachen sehen?« 

Kazantzakis beschreibt in seinen Romanen eine Weltsicht und Lebenseinstellung, die auch heute noch von Westeuropäern, die jenseits des organisierten Tourismus als Reisende nach Griechenland kommen, gesucht wird. Vielleicht kann man sie so beschreiben: Im Westen – in der seit langem hochtechnisierten und verwalteten Welt – herrscht oftmals die Auffassung vor, dass, wenn man nur konsequent daran arbeitet, die meisten Gefahren des Lebens beherrscht werden können, wenn nicht sofort, dann in naher Zukunft. Kazantzakis zeigt in seinen Romanen eine andere Sicht. Die Welt ist chaotisch, voller Gefahren und Schicksalsschlägen, statt sie beherrschen zu wollen, ist es besser zu lernen, sich mit ihnen zu arrangieren, aus jedem Schicksalsschlag und jeder Situation das Beste zu machen, im Hier und Jetzt zu leben, zu genießen, auch wenn das Drumherum unvollkommen ist. Und kommt es ganz dicke, dann muss auch die Katastrophe mit allen Tiefen durchlebt werden. Das ist Leben! Und für beides, für die Höhepunkte des Lebens wie für die tiefen Dramatiken, haben Griechen die Kunst der Inszenierung. 

In den 35 Jahren, in denen ich jährlich Wochen oder Monate in »meinem Dorf« verbrachte, lernte ich nicht nur die Bedeutung der Kunst der Inszenierung im Alltagsleben nach und nach kennen und mich entsprechend zu verhalten, sondern auch all die anderen – aus meinem deutschen Blickwinkel oft überraschenden – kulturellen Selbstverständlichkeiten griechischen Lebens. So hat es lange gedauert, bis ich das erste Mal zu einem sonntäglichen Gottesdienst in die Kirche ging, und noch einmal lange, bis ich verstand, welche enge Beziehung zwischen griechisch-orthodoxem Christentum und der Weltsicht und Gestaltung des alltäglichen Lebens besteht. Als ich das erste Mal an einer Beerdigung teilnahm, klopfte mir jemand auf die Schulter und sagte: »Jetzt gehörst du zu uns!« Überraschend waren für mich auch viele Aspekte des Familienlebens. Nicht nur, dass in der Regel die Frauen zur Hochzeit ein Haus übereignet bekamen, in dem das Familienleben seinen Anfang nehmen konnte, sondern auch, dass sie, was die Ökonomie der Familie anbelangte, eine tragende Rolle innehatten, was durch die nach außen öffentlich zur Schau gestellte Dominanz der Männer nicht zu ahnen war. Kurzum, mein Integrationsprozess ins Dorf hat viele Jahre gedauert und ist bis heute nicht abgeschlossen.

Irgendwann fiel mir auch auf, wie sehr die offizielle griechisch-nationale Ideologie »das Moderne Griechenland ist die Erbin des antiken Hellas« mit den Selbstverständlichkeiten des Lebens und der Weltsicht der Griechen auseinanderklaffte. Nun gut, ich teilte das Leben mit Dorfbewohnern auf einer griechischen Insel vor der türkischen Küste, einer Insel, die in ihrer Geschichte stets enger mit dem nahen türkischen Festland und Smyrna/Izmir verbunden war als mit dem fernen Athen. Und die Athener als Städter lebten früher wie heute unter anderen Lebensumständen als die Menschen in einem Dorf auf Lesbos. Aber das übergreifende Thema »Wie stehen das Moderne Griechenland und die Antike zueinander?« war und ist immer noch sowohl im städtischen als auch im ländlichen Milieu präsent. Was mich jedoch stets irritierte, war die Kühnheit, mit der das moderne Griechenland behauptete, die Wiedergeburt des antiken Hellas zu sein. Schließlich ist die Antike vor rund 2000 Jahren untergegangen! Danach gehörten Griechen mehr als tausend Jahre lang zum byzantinischen Reich und schließlich war das heutige Griechenland über 500 Jahre Teil des Osmanischen Reichs. Dass die griechische Antike eine überragende kulturelle Leistung hervorgebracht hat, von der auch heutige Generationen noch zehren und inspiriert werden, sei nicht in Frage gestellt. Aber warum muss sich der moderne Nationalstaat als »kulturell verwandt« mit der griechischen Antike darstellen? Weil die Akropolis, Delphi, Olympia und viele andere Tempel und Altertümer von der Präsenz der Antike auf seinem Staatsgebiet zeugen? Könnte das mit der historischen Situation bei der Entstehung des modernen griechischen Nationalstaats zusammenhängen? Genauer mit der Schwierigkeit, eine nationale Identität zu kreieren, in einem Land, in dem sowohl die Kultur des Okzidents als auch die des Orients unübersehbare Spuren hinterlassen hatten und das noch dazu von den Wünschen und Vorstellungen des übrigen Europa, besonders der der »Philhellenen«, beeinflusst war. 

Das Thema »Nationalstaat« begann mich erneut zu beschäftigen, als nach der Jahrtausendwende der Euro eingeführt wurde und die Vielfalt der europäischen Nationen stärker ins Bewusstsein rückte. Einige Jahre später, als bekannt wurde, dass Griechenland im Zusammenhang mit der Euro- und Finanzkrise kurz vor dem Staatsbankrott stand und vom Scheinwerferlicht medialer europäischer Aufmerksamkeit erfasst wurde, trat zutage, wie wenig Europa vom modernen Griechenland weiß. Kommentare in den Medien fußten entweder auf allgemeinen Floskeln über die Antike – »Griechenland als Wiege der Demokratie« – oder ergingen sich in Polemiken über die »faulen unzuverlässigen Griechen«. So wurde durch die Finanzkrise deutlich, dass die Nationen Europas zwar wirtschaftlich miteinander verflochten waren, dass es aber – und wohl nicht nur in Bezug auf Griechenland – ein Defizit gab, was die Vertrautheit mit den heutigen europäisch-nationalen Gesellschaften und den nachbarschaftlichen Umgang miteinander anbelangte. 

Das war der Moment, in dem ich beschloss, mich diesem Buchprojekt über das heutige Griechenland zu widmen. Ausgangspunkt sollte die Geschichte des griechischen Nationalstaats sein unter der Frage: Welche historischen Erfahrungen hatten die Griechen im Gepäck als sie ihre Nation gründeten? Dass mit der Erschaffung eines nationalen Selbstbilds die historischen Lebensbedingungen, unter denen Griechen in der Spätzeit des Osmanischen Reichs gelebt hatten, mit der Gründung eines eigenen Nationalstaats überwunden werden sollten, war nachvollziehbar. Aber auch das Lebensgefühl der byzantinischen Epoche spielte bei der Erschaffung des nationalen Selbstbilds sichtbar keine große Rolle. War es doch eingehegt in eine religiöse Lebensführung unter der Obhut der orthodoxen Kirche, die das Projekt zur Gründung einer griechischen Nation zumindest zu Beginn nur sehr zögerlich unterstützte. Ein griechisches nationales Selbstbild als »Erbe der Hellenen« musste also von Grund auf neu geschaffen werden. Ich fragte mich, welche Vorstellungen von einer griechischen Nation dabei in der spezifischen historischen Situation vor zweihundert Jahren zum tragen kamen und welche Rolle dabei das übrige Europa spielte? – Um es gleich vorweg zu nehmen: Es waren vor allem die humanistischen Vorstellungen im bayerischen Deutschland von einer zu schaffenden griechischen Nation, die wesentlich das Selbstbild der griechischen Nation prägen sollten. – Und wie wurde die neue, überall in Europa sich verbreitende nationale Ideologie mit den tradierten, kulturellen Weltsichten des griechischen Alltagslebens verbunden – haben sie sich überhaupt verbunden? Wie werden aktuelle Ereignisse, gesellschaftliche und politische Entwicklungen mit dem Fundus an tradierten Weltanschauungen in Griechenland interpretiert und bewältigt? Und schließlich fragte ich mich auch, wie es sein kann, dass Griechenland noch immer unter den gleichen finanziellen Schwierigkeiten leidet wie zu Beginn seiner Staatsgründung. Mit anderen Worten: Welche historischen Erfahrungen und welches kulturelle Selbstverständnis machen den modernen Greek way of life aus?

Wenn ich im Folgenden nun historische Ereignisse, nationale Selbstbilder und die Strategien der alltäglichen Lebensbewältigung in Griechenland miteinander in Bezug setze, ist unumgänglich, dass mein Blick dabei als in Deutschland sozialisiert erkennbar sein wird. Denn das kulturell Andere kann nur auf dem Hintergrund des Eigenen wahrgenommen werden.

Ich werde immer mal wieder als »Philhellenin« bezeichnet, was ich tatsächlich nicht bin. »Philhellene« ist ein schöner alter Begriff für Menschen, die sich vor allem mit dem antiken Griechenland verbunden fühlen. Der Philhellenismus entstand außerhalb Griechenlands in der Zeit, als die Ideen zur Gründung von Nationen das fortschrittliche Europa beschäftigten. Die Staats- und Gesellschaftsstruktur der griechischen Antike wurde als Vorbild für die Nation gesehen, hatte Symbolcharakter für die aufkommende Bewegung für Freiheit und Selbstbestimmung eines Volks. Das erstarkende und immer selbst-bewusster werdende Bürgertum sah darüber hinaus in der kulturell überragenden Epoche der griechischen Antike – in ihrer Ästhetik und Geisteswelt – einen adäquaten Ausdruck der eigenen Bedeutung, um sich selbst und anderen Völkern gegenüber, seine zivilisatorische Überlegenheit zu demonstrieren. Ganz in diesem Sinne – als Teil der europäischen Zivilisation – übernahm Griechenland bei seiner Staatsgründung das nationale Label als »Erbe des antiken Hellas« und »Wiege der europäischen Kultur«. 

Diese intellektuelle Aneignung der antiken griechischen Geisteswelt im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts, zur Zeit des Humanismus, hatte wenig zu tun mit der Tradierung der Antike durch die Griechen selbst. Die auf die Antike folgende byzantinische Epoche entwickelte zwar das Christentum auf der Grundlage der Kultur der Antike, mit der hellenischen Kultur direkt aber beschäftigte sich nur ein kleiner Kreis von Gebildeten. Das waren keineswegs nur Griechen. Kopten in Nordägypten und Juden zählten dazu und auch die römische Elite.1 Es waren die, die sich den Luxus erlauben konnten und die Muße hatten, Texte der griechischen Philosophen zu lesen und Kommentare dazu zu verfassen. Die Masse der griechisch sprechenden Seefahrer und Bauern lebte in einer völlig anderen Welt. – So sahen die christianisierten Bauern nach dem Ende des Byzantinischen Reichs die antiken Skulpturen nur noch als Furcht einflößende steinerne Riesen an, als Abbildungen des Teufels. – Zur Zeit der Nationbildungen, der philhellenischen Freundschaftsbünde und des griechischen Freiheitskriegs waren es nicht mehr die ursprünglichen antiken Originaltexte, mit denen sich die gebildete Elite in Europa beschäftigte. Nunmehr war es die »schulhuma-nistisch« geprägte Sicht Europas auf die Antike, die, auch übernommen von den gebildeten Griechen im In- und Ausland, Grundlage des nationalen Selbstbilds der Griechen wurde. Und diese »schul-humanistisch« verformte Sichtweise auf die »Kultur Griechenlands« dominiert noch heute das Bild, das in Europa und besonders in Deutschland von Griechenland existiert. 

Als Nationalstaat ist Griechenland heute zweifellos Teil der Europäischen Union. Historisch aber waren die Griechen bis zu ihrer Nationgründung vor knapp zweihundert Jahren keineswegs nur dem Westen, so wie wir ihn heute verstehen, kulturell zuzurechnen. Das Osmanische Reich – und damit die dort lebenden Griechen – gehörte der damals sogenannten »orientalischen Welt« an, aus Sicht Europas und der vieler Griechen, die sich sogar noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts keineswegs als Teil Europas empfanden. Nur über den Umweg der Antike konnte die heutige griechisch-nationale Identität als Europäer geschaffen werden. Im Zuge der Herausbildung einer »hellenischen« Identität musste die osmanische Epoche – definiert als Turkokratía, als Zeit der Unterdrückung durch die Türken – ausgeblendet werden. Trotzdem finden sich auch heute noch Spuren von Traditionen und Weltanschauungen aus der osmanischen Zeit im griechischen Alltagsleben, die die offizielle »hellenische Identität« des Staates stets wie ein Schatten begleiten. So hatten sich die Griechen im Entstehungsprozess des modernen Griechenlands als Nationalstaat zwar ein Selbstbild als »Erben der Antike« zugelegt, die Erfahrungen und Lebensstrategien aus dieser vorhergehenden Epoche aber waren weiterhin präsent, und dienen oft noch heute als eine Art welterklärende Orientierungshilfe. 

In der zeitgenössischen griechischen Gesellschaft breiten sich globale Lebensweisen, die zur Uniformierung kultureller Ausdrucksformen führen, immer weiter aus. In einer Gegenbewegung zu McDonalds, IKEA und Co fragt sich die jüngere kritische Generation, was ihre ureigene griechische Identität ausmacht, jenseits der mittlerweile für den Tourismus disneysierten Antike. Diese Bewegung hat Vorbilder in griechischen Intellektuellenkreisen. Künstler und Schriftsteller, wie Kazantzakis, Seferis oder Theodorakis und viele andere, waren schon ab den 1950er Jahren auf der Suche nach ihren kulturellen Wurzeln und entdeckten dabei die Bedeutung ihrer byzantinisch-griechischen Vergangenheit neu. Aber auch im übrigen Europa blitzt heute hier und da der Gedanke auf, dass die griechische Geschichte mehr sein müsse als ein Replikat des humanistischen Verständnisses der griechischen Antike.

Nation: Ein Volk, eine Sprache, eine Geschichte

Aus der Vogelperspektive auf die Geschichte stellt sich die Idee der Nation als etwas unerhört Neues dar. Hatten doch zuvor in Europa in den 2000 Jahren seit der griechischen Antike Völker und Volksgruppen »lose« nebeneinander gelebt in zum Teil riesigen Reichen, die als Ordnungsmächte mehr oder weniger erfolgreich waren. Die regionalen Potentaten betrachteten ihre Untertanen allerdings einzig als Quelle zur Beschaffung von Reichtum und hatten untereinander mehr Gemeinsamkeiten als mit den Menschen, die in ihren Einflussbereichen lebten. Die Vorstellung einer Nation, die von jeweils einem Volk, mit einer definierbaren Kultur gebildet wird, das eine Sprache spricht und dem ein festumrissenes Territorium gehört, ist historisch gesehen eine das Leben so radikal verändernde Idee, dass deren Auftauchen eine lange Vorgeschichte brauchte und nicht erst mit der Französischen Revolution entstand. Diese historischen Voraussetzungen wurden in den 1980er Jahren besonders von Benedict Anderson, Ernest Gellner und Eric Hobsbawm untersucht. Das heute so natürlich anmutende Nebeneinander nationaler Staaten bedurfte zu seiner Entstehung bestimmte historische Entwicklungen. Anderson zum Beispiel sieht einen Vorläufer der Idee zur Entstehung unabhängiger nationaler Staaten in den europäischen Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent. Dort entstand die Vorstellung anders zu sein als die europäischen Mutterländer, und dies führte dazu, dass sich die Kolonien als eigenständige Staaten von Europa lösten. Das betraf vor allem Frankreich, Spanien und England.

Der Nationalstaat als schützender Raum auf der Grundlage der Souveränität eines Volkes ist in der »westlichen Welt« eine Selbstverständlichkeit, auch wenn er bislang nicht überall auf der Welt verwirklicht werden konnte und es aktuell so scheint, als würde er zunehmend mehr infrage gestellt werden. Während Staatsmodelle eine eher überschaubare Vielfalt aufweisen, sind Nationen jeweils einzigartig durch ihre Geschichte vor der Nationwerdung und wie sie mit Elementen ihrer Tradition und kulturellen Weltanschauung ihre jeweilige Nation gestalten. Diese Einzigartigkeit hat sich aber nicht nur von innen heraus entwickelt, sondern auch im Gegenüber und in Abgrenzung zu anderen Nationen. In diesem Zusammenhang wird oft von nationaler Identität gesprochen, ein Begriff, der jedoch bis heute seiner wissenschaftlichen Definition harrt. Der Historiker Dieter Langewiesche schlägt vor, statt von nationaler Identität besser von nationalen Selbstbildern zu sprechen. Es sind Bilder – Imaginationen –, die aus der Erfahrung und Deutung historischer Entwicklungen hervorgegangen sind, die verbreitet werden durch die obligatorische Schulbildung und heute immer mehr durch die Medien. Sie postulieren bestimmte Werte, die für die gesamte Nation als verbindlich und ewig gültig erklärt werden, auch wenn bei genauerem Hinsehen diese Werte durchaus heterogen und widersprüchlich sind. Im Zusammenhang mit aktuellen außen- und innenpolitischen Ereignissen werden sie immer wieder kontrovers diskutiert zwischen Konservativen und sogenannten fortschrittlichen Gruppierungen.2 Das nationale Selbstbild ist also nicht die Summe der kulturellen Identitäten seiner Staatsbürger, gedacht als immer schon so gewesen, als »Ausdruck einer Volksseele«, sondern wurde und wird immer weiter entwickelt im  andauernden Veränderungsprozess des nationalen Selbstverständnisses. Wie Gellner betont, war es aber immer die Ideologie des Nationalismus, die die Nationen hervorgebracht hat und nicht umgekehrt.3

Der Kulturgeograph Wilfried Heller betont, dass heutige Staatsgrenzen auch immer Abgrenzungen kultureller Art sind.4 Die geografische Festlegung eines Staatsgebiets ist zwar für alle Aufgaben der »öffentlichen Hand« von Bedeutung, weil damit die Teilhabe der Bevölkerung an den Ressourcen der Gemeinschaft geregelt wird – wer gehört dazu und wer nicht? Diese räumliche Bestimmung eines Staatsgebiets aber ist nicht unproblematisch. Die im Laufe der Geschichte immer wieder unterschiedlich festgelegten Grenzverläufe führten dazu, dass sich nicht jede Bevölkerungsgruppe zu dem Land, in dem sie heute lebt, auch zugehörig fühlt. Es gibt wohl keinen Nationalstaat, der dieses Problem nicht kennt und stets darauf bedacht sein muss, daraus resultierende Konflikte im Zaum zu halten. Besonders den europäischen Grenzen nach Osten und Südosten mangelt es an historischer Eindeutigkeit. Kann Griechenland geografisch und kulturell als Teil Europas angesehen werden, wenn sein kulturelles und politisches Zentrum über 1500 Jahre lang das heutige Istanbul war? Die nationalistische Idee »ein Volk – ein Land« praktisch umzusetzen birgt bis heute politischen und sozialen Sprengstoff.

Gerade in Bezug auf die östlichen Grenzen Europas spielt die kulturelle Abgrenzung und in ihrer Folge die politische eine bedeutende Rolle. Europa grenzte sich stets vom Osten ab – verstanden als Asien oder Orient – und dazu gehörte auch Griechenland. Der Orient galt als »barbarisch, tyrannisch, unaufgeklärt, antidemokratisch, autoritätshörig, grausam, irrational, hysterisch und so weiter«, kurz als das Gegenteil des Westens.5 Der Westen dagegen reklamierte für sich die Aufklärung, wissenschaftliche Rationalisierung, ein modernes Staatswesen und eine gut funktionierende Administration, dazu den durch die Aufklärung geprägten Katholizismus. So wurde nicht nur der Islam, sondern auch das orthodoxe Christentum als nicht zum Westen gehörig angesehen. Damit war das christlich-orthodoxe Griechenland, das zudem 500 Jahre lang zum Osmanischen Reich gehört hatte, vom Westen ausgeschlossen – obwohl Europa Griechenland als Erbin des antiken Hellas ideologisch vereinnahmt hatte! Dieser Widerspruch wurde dahingehend aufgelöst, dass – ganz im Sinne der Ideologie des Nationalismus – die Epoche Griechenlands als Teil des Osmanischen Reichs als beherrscht und fremdbestimmt durch die Türken definiert wurde. Diese geschichtliche Einordnung ließ den Griechen bei ihrer Nationgründung letztlich keine andere Wahl als sich und den übrigen Europäern zu beweisen, dass sie die wahren Nachkommen der antiken Hellenen sind. Es scheint so, als ob Griechenland nur aus dem Grund zu Europa gehörig anerkannt wurde, weil dort »die Wiege der Demokratie« stand und die Urväter der europäischen Aufklärung Griechen waren. So gehört Griechenland zwar heute zur europäischen Familie, aber – bildlich gesprochen – es wird gern wie ein alter Großvater auf den Stuhl vor die Haustür gesetzt und soll nicht weiter stören.

Kulturelle Abgrenzungen sind untrennbar mit der Ideologie des Nationalismus und den Selbstbildern der Nationen verbunden, denn sie waren die Voraussetzung dafür, ein europäisches Selbstbild im Gegenüber des ganz Anderen zu kreieren. Erst mit der Bestimmung des Anderen wurde das Eigene deutlich, wobei nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb Europas jede Nation sich selbst als den Gipfel der Zivilisiertheit ansah (die jeweils anderen westeuropäischen Nationen wurden als bestenfalls auf dem Weg dorthin gesehen). »Das dichotomi-sierende Konstruieren wirkt (heute) in gleicher Weise weiter. Die anderen sind das wirkliche, schlechte Gegenteil des eigenen Ideals. Das eigene Ideal erscheint als Wirklichkeit, weil die fremde schlechte Welt wirklich ist«, schreibt der Soziologe Erhard Stölting dazu.6

Die weiter zurückliegende Geschichte eines jeden Landes stimmt zwar meist nicht mit seinen heutigen Grenzen überein, aber jede Nation hat für sein Territorium eine eigene Geschichte, eigene Traditionen und eine kulturelle Identität entwickelt, denn der Idealfall – ein Volk, eine Sprache, ein Land – war zur Zeit der Nationgründungen nirgendwo vorhanden. Wie erfolgreich das Erlernen einer gemeinsamen nationalen Identität war, zeigt sich auch daran, dass zumindest im Zusammenhang mit dem Tourismus mittlerweile fast jedes Land auf der Welt eine »einzigartige nationale Kultur« vorweisen kann. Dabei sind die unterschiedlichen Kulturen der Nationalstaaten zu einer Art Markenzeichen, einem Corporate Design, erhoben worden, an deren Erschaffung sowohl Tourismusmanager als auch die Einwohner selbst arbeiten. So ist im Tourismusgeschäft die Nation eine Art Ware geworden, mit der gut Geld verdient werden kann – viel von den Reiseunternehmen und internationalen Hotelkonzernen, aber auch die Einheimischen profitieren von den Ausgaben der Touristen. Die UNESCO unterstützt mit der Vergabe ihrer Kulturerbe-Titel für Landschaften, Tiere, Architektur, Folklore, Musik und Speisen die nationalen Identitäten und ebenfalls den Tourismus, auch wenn die Kulturerbe-Titel zeigen sollen, dass (nationale) kulturelle Leistungen für die ganze Menschheit erhalten bleiben müssen. 

Die griechische Nation jedoch ist ideologisch keineswegs aus der Weiterentwicklung seiner unmittelbar vorhergehenden Epochen entstanden. Nach der erfolgreichen Loslösung aus dem Osmanischen Reich lag die Antwort auf die Frage, wie es mit dem Land weitergehen soll, auf der Hand: Griechenland sollte eine eigenständige Nation werden. Zum einen waren Nationbildungen in Europa an der geschichtlichen Tagesordnung, zum anderen wollte Griechenland ganz pragmatisch weg vom heruntergewirtschafteten Osmanischen Reich hin zum modernen fortschrittlichen Europa. Das Land wurde von den übrigen europäischen Nationen mit offenen Armen empfangen, und seine Eintrittskarte war sein Status als Erbe der griechischen Antike.

Das heutige Griechenland aber war als Teil des Osmanischen Reichs in seiner Geschichte von einer ganz anderen Weltsicht geprägt als Westeuropa zur Zeit der Nation-gründungen. Da war zum einen die geografisch weit gestreute Beheimatung der Griechen, die sich bis ins 20. Jahrhundert zog und erst mit der »Kleinasiatischen Katastrophe« 1922 ein Ende fand. Die Schulweisheit »Griechen saßen um das Mittelmeer wie Frösche um den Teich« (bezogen auf einen Ausspruch des antiken Philosophen Sokrates im 5. Jahrhundert v. Chr.) bringt diese Situation auch für die folgenden Jahrtausende durchaus treffend auf den Punkt. Verbunden mit ihren Handelsaktivitäten fand man sie in allen Teilen der Welt, vor allem aber – bedeutend zur Zeit der Nationgründung Griechenlands – im heutigen Gebiet der Türkei. Zum anderen waren die Lebenszusammenhänge schon vor der osmanischen Epoche im byzantinischen Reich »multikulturell«, wie wir es heute nennen würden. Das heißt Griechen waren stets von Menschen umgeben, die eine andere Sprache sprachen und andere Traditionen pflegten als sie selbst. Kulturelle Unterschiede, wie sie später als Grundlage nationaler Zugehörigkeit definiert wurden, wurden damals als persönliche Attribute gesehen, die im alltäglichen Zusammenleben, in Wirtschaft und Politik keine Rolle spielten. 

»Land«, »Kultur«, »Nation«: Alle drei Begriffe scheinen auf den ersten Blick klar und eindeutig zu sein. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich, dass sie jeweils eine Einheit vorgeben, die nur auf dem Hintergrund bestimmter historischer Ideologien vorhanden ist. Danach gehört jeder Mensch einer Nation an und jede Nation hat ihre gewählte Regierung, ihre Verwaltung und ihre Ökonomie. Das schafft Fakten, die in der Gesellschaft das Alltagsleben prägen und regeln. Darüber hinaus gibt es eine emotionale Ebene, die heute spätestens bei internationalen Sportereignissen (Olympische Spiele oder die Fußball-Weltmeister-schaft), beim Eurovision Song Contest, beim Absingen der Nationalhymne und beim Anblick der Nationalflagge spürbar wird: das ist dein Land, deine Heimat, da gehörst du hin! Die Rückseite der Medaille dieser scheinbaren Natürlichkeit der Nationalstaaten und die emotionale Verbundenheit mit ihnen aber war der Nährboden für die beiden von Europa ausgegangenen Weltkriege im letzten Jahrhundert, als die Staaten nicht als friedliche Nachbarn nebeneinander existierten, sondern sich als Feinde bedrohten und angriffen. Der nach dem Schock der Millionen Kriegstoten einsetzende Lernprozess zu einem friedlichen Zusammenleben dauert in Europa bis heute an, und die weltweit aktuellen Kriege und kriegerischen Auseinandersetzungen, gepaart mit Rassismus und religiösem Fanatismus entsprechen immer noch dem ideologisch ursprüng-lichen Muster der Nationalstaaten. 

Mittlerweile aber ist die Geschichte in eine neue Phase eingetreten. Heute sind die Menschen über ihre Landesgrenzen hinaus global vernetzt, und immer mehr Menschen erleben, dass man in zwei Kulturen zugleich »zuhause sein« kann, was der nationalistischen Ideologie widerspricht. Die postulierte Natürlichkeit der Einheit von Kultur, Volk und nationaler Identität droht zu verschwimmen, ebenso wie die Selbstverständlichkeit einer Nation als »Heimat«. Menschen, die entweder genug Geld besitzen, über genügend Bildung verfügen oder eingewandert sind, mag das nicht erschrecken, andere aber sind überfordert, wenn europäische Binnengrenzen ihre hehre Gültigkeit verlieren und damit die Gültigkeit nationaler Identitäten, Weltbilder und innere Organisationen der europäischen Nationalstaaten ihre Eindeutigkeit.

Was wissen die Deutschen von den Griechen?

Von meinen Freunden habe ich folgende Assoziationen zum Stichwort »Griechenland« gehört: Wenn ich im Sommer nach Griechenland fahre, höre ich immer wieder die Bemerkung, es sei doch so heiß dort, wie ich das denn aushalten würde? Stimmt: Laut Klimatabelle liegt die Durchschnittstemperatur in Athen im August bei 33 Grad, während sie im spanischen Alicante »nur« 32 Grad beträgt, in Antalya in der Türkei sind es jedoch 34 Grad. Die Hitze des Sommers scheint aber weder Spanien- noch Türkeiurlauber wesentlich zu stören. 

Gleich nach der Hitze wird mit »Griechenland« die Antike assoziiert. Die gehört auch heute noch in allen weiterführenden Schulen als Thema in den Geschichtsunterricht (Wer kennt nicht aus seinen Schülertagen die Eselsbrücke: »Drei, drei, drei, bei Issos Keilerei«?). Auch die Archäologen haben nachhaltig dazu beigetragen, dass uns beim Stichwort »Griechenland« sogleich dorische, ionische und korinthische Säulen in den Sinn kommen – selbstverständlich in Marmorweiß: Die Vorstellung, dass die alten Griechen ihre Götterfiguren farbenprächtig angemalt hatten (wie mittlerweile nachgewiesen ist), erscheint vielen Humanisten heute noch als degoutant! Europäische Archäologen wie Heinrich Schliemann und all die anderen, die auf der Suche nach den Manifestationen der Ursprünge europäischer Zivilisation waren, haben gründliche Arbeit geleistet und nicht nur den Griechen gezeigt, welche »Schätze« ihre Vorfahren hervorgebracht haben. Man denke zum Beispiel an den berühmten »Schatz des Priamos«, der zunächst nach Berlin kam und jetzt als Beutekunst im Moskauer Puschkin-Museum aufbewahrt wird, an die Antikensammlung des Pergamon-Museums in Berlin oder die sogenannten Elgin Marbles, Teile der Akropolis, die im British Museum in London ausgestellt sind. Diese und viele andere Altertümer wurden in die Herkunftsländer der Archäologen und Kunstbeuter gebracht, wo sie bis heute als Zeugnisse der europäischen Geschichte und als Dokumentation der glorreichen Ahnen der europäischen Zivilisation bestaunt und bewundert werden können. Den Griechen selbst allerdings traute man nicht zu, mit diesen Schätzen angemessen umgehen zu können, und auch heute noch währt der Streit um die Restitution. 

Der Generation der ’68er-Studentenbewegung fällt zum Stichwort »Griechenland« die Zeit der Militärdiktatur – Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre – ein, als die Assoziation »Antike« vorübergehend verdrängt wurde durch die Nachrichten über die Schreckensherrschaft der Militärdiktatur und den Kampf der Demokraten gegen sie. Bücher wie Z von Vassilis Vassilikos oder Oriana Fellacis Ein Mann erreichten außerhalb Griechenlands hohe Auflagen, und die linke political correctness jener Jahre verbot den Anhängern der APO nach Griechenland zu reisen.

»Griechische Gastarbeiter« ist eine weitere Assoziation: Die Zeit der Militärdiktatur war auch die Zeit, in der die ersten offiziell angeworbenen griechischen Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Sie kamen als Arbeitskräfte für die Fabriken, viele tauchten dann aber überall im Land als Gastwirte von griechischen Tavernen wieder auf. Griechinnen aus Nordgriechenland machten sich – statt in den Fabriken zu arbeiten – gerne als (Pelz-)Näherinnen selbständig. Jedenfalls trugen sie zusammen mit italienischen, spanischen, portugiesischen und später türkischen Gastarbeitern zum Entstehen eines multikulturellen Flairs in der Bundesrepublik bei. Die Zahl der ehemaligen griechischen Gastarbeiter, die in Deutschland geblieben sind, ist allerdings gering im Vergleich mit den Nachkommen der ehemaligen türkischen Gastarbeiter (im Jahr 2011 lebten knapp 300 Tausend Griechen in Deutschland im Vergleich zu 3 Millionen Türken). Während Arbeitsmigranten aus der Türkei nach Deutschland kamen und blieben (wenn auch mit vitalen Familienbeziehungen in die Türkei), kehrten die griechischen Gastarbeiter meist zurück, wenn sie nach 15 Jahren Arbeit in Deutschland die Berechtigung für die »kleine Rente« erlangt hatten und ihr Erspartes für ein neues Haus oder ein Geschäft in ihrer griechischen Heimat reichte. Und manche brachten auch eine deutsche Ehepartnerin mit nach Griechenland. Diese Beziehungen zwischen Deutschland und Griechenland im Alltagsleben aber waren aufgrund der relativ kleinen Gruppe griechischer Migranten nicht ausreichend, um mehr Wissen über Griechenland in die deutsche Öffentlichkeit zu bringen.

Schließlich wird mit »Griechenland« vor allem »Urlaub« assoziiert. Der Tourismus jedoch, bei dem sich Griechen und die europäischen Urlauber physisch tatsächlich begegnen, trägt zum Verständnis griechischer Lebensart nicht allzu viel bei. Denn auch Griechenland bemüht sich, internationale touristische Standards zu erfüllen. Wie überall auf der Welt werden Ferienressorts gebaut, in denen die gängigen Voraussetzungen für den Zustand »Urlaub machen« geschaffen werden. Auch wenn bei der Gestaltung touristischer Destinationen die ländertypische Folklore als Rahmenbedingung beachtet wird, trägt ein solcher Urlaub nicht dazu bei »Land und Leute« kennenzulernen. 

Im Zusammenhang mit der europäischen Finanzkrise und dem hypostasierten Fehlverhalten Griechenlands schaute zwar ganz Europa genauer auf das Land und die Fernsehkameras fingen Bilder ein von aktuellen Ereignissen im Zusammenhang mit der »Krise« – Bilder von wütend demonstrierenden Menschenmassen auf dem Syntagma-Platz vor dem Parlament in Athen, Essensausgaben in Athener Suppenküchen und »Tafeln« –, aber sie konnten die innere Verfasstheit des Landes höchstens ahnen lassen. Der absehbare Staatsbankrott Griechenlands im Zusammenhang mit der weltweiten Finanzkrise beschäftigte die deutsche Öffentlichkeit nur in so fern als der Wohlstand der eigenen Nation bedroht schien. Mit anderen Worten: Über das moderne Griechenland als europäischer Nachbar ist in Deutschland wenig bekannt. 

Und das gilt erstaunlicherweise nicht nur für die deutsche Öffentlichkeit, sondern auch für die einschlägigen Kulturwissenschaften. In den Forschungen der deutschen Ethnologie nahm Griechenland immer eine Zwitterposition ein. Weil es zu Europa gehört, wurde es vom Kanon der außereuropäischen Kulturen, welche die Ethnologie erforscht, nicht erfasst. Aus dem gleichen Grund interessierten sich auch die Orientwissenschaften nicht für Griechenland. Und als in den 1970er Jahren die deutsche Volkskunde an den Universitäten sich einen neuen regionalen Forschungsrahmen gab und von da an »europäische« Ethnologie betrieb, war Griechenland – genauer: die griechische Volkskunde (Laografia) – wieder peripher: Die Laografia passte nicht in den wissenschaftlichen Theorierahmen der »Europäischen Ethnologie«. Diente sie doch vor allem dem Zweck, an zeitgenössischen Sitten und Gebräuchen (íthi kai éthima) eine durchgängige Tradition seit der Antike aufzuzeigen und nachzuweisen, dass die heutigen Griechen kulturell die Nachfahren der »antiken Griechen« sind. So war es schwierig, die auf die Vergangenheit konzentrierte griechische Volkskunde in das Konzept der »Europäischen Ethnologie« zu integrieren, wie der Sozialanthropologe Chris Hann und andere7 zeigen, denn die Europäische Ethnologie forscht über das Hier und Jetzt. EthnologInnen machen ihre Untersuchungen in und über kleine Dörfer und Gemeinden, um aus lokalen Lebenszusammenhängen Erkenntnisse über zeitgenössische kulturelle Wertvorstellungen und Weltbilder zu gewinnen. Viele der griechischen VolkskundlerInnen dagegen sahen bis zum Ende des letzten Jahrhunderts ihre Forschungen über »antike« Survivals im Brauchtum als gültige kulturelle Zustandsbeschreibungen für den zeitgenössischen griechischen Nationalstaat an.

Die deutsche Ethnologie – mittlerweile Sozial- oder Kulturanthropologie genannt – überlässt Griechenland als Forschungsgebiet nach wie vor den Archäologen, Altertumswissen-schaftlern und Byzantinisten. Die griechische Antike interessiert immer noch – vor allem wertkonservative Bildungsbürger – kaum aber das heutige, das moderne Griechenland. Anders in den USA und in England; dort gibt es zahlreiche Institute, die sich der ethnografischen Forschung in und über Griechenland widmen, und die veröffentlichte Literatur darüber ist beachtlich. In jüngster Zeit allerdings sind kulturanthropologische Institute auch in Griechenland eingerichtet worden. 

Von Europa aus gesehen liegt Griechenland »noch hinter dem Balkan«, kurz vor der Türkei. Geografisch gehört es zwar zu Europa, politisch auch, gefühlt aber doch nicht so richtig. Das moderne Griechenland scheint irgendwie zwischen den Stühlen zu sitzen. Um ein Bild aus der Seismologie zu benutzen: So wie die tektonischen Platten – die Anatolische und die Hellenische – im Untergrund Griechenlands aneinander reiben und immer wieder Erdbeben verursachen, scheinen auch die Kulturen des Orients und Okzidents – unter staatlich verordneter Dominanz des Okzidents – in Griechenland aufeinanderzutreffen und sich zu reiben. 

Griechinnen und Griechen bezeichnen sich im Alltagsleben mitunter als Romií im Gegensatz zu Ellines als offizieller Bezeichnung der Staatsbürger, mit der sie innerhalb Europas politisch verortet sind. Noch immer steht heute das »Romäische Erbe« für die nicht funktionierende Bürokratie in Griechenland, für Vetternwirtschaft, männliches Machogebaren, aber auch für die Musik oder Bereiche der bildenden Kunst. Beide Identitäten – Éllinas und Romiós – werden gebraucht, um das Verhältnis zu Europa zu beschreiben: Die hellenische Identität steht dafür, Teil Europas zu sein, die romäische dafür, nicht dazuzugehören. 

Was bedeutet »romäisch«? Es ist eine der vielen historischen Bezeichnungen des heutigen »griechischen Volks«. Als der römische Kaiser Konstantin I. im 4. Jahrhundert n. Chr. seine Residenz in den Osten seines Reichs verlegte, die Hauptstadt Konstantinopel aufbaute und das Christentum verbreitete, nannten sich auch seine Untertanen »Römer« (im Deutschen »Romäer«). Graeci – Griechen – wurden sie aber weiterhin im lateinischen Westen des Römischen Reichs genannt. Die heutige Eigenbezeichnung der Griechen Έλληνες (Ellines/Hellenen) wurde im Byzantinischen Zeitalter für die vorchristlichen Griechen der Antike verwendet, mit einem Unterton von »heidnisch« (die Bezeichnung »Byzantiner« gebrauchten damalige Zeitgenossen nicht, sie wurde erst von der modernen westlichen Wissenschaft eingeführt). Heute bezeichnet »Romiosini« (im Lexikon mit »Griechentum« übersetzt) die christlich-orthodoxe, byzantinische Tradition Griechenlands. Von Byzantinern spricht man heute im Zusammenhang mit der städtischen mittelalterlichen Kultur Griechenlands, und zur Zeit der griechischen Freiheitskriege sprach man von Christen, wenn Griechen gemeint waren, ihre Gegner im Kampf aber waren »Türken«. 

Im Folgenden werden wir nun sehen wie bei der Erschaffung der griechischen Nation als »Erbin der Antike« das übrige Europa Pate stand, allen voran Bayern in der Person König Ottos I. (in Griechenland übrigens »Othon« genannt), der darauf achtete, dass sich »griechische Angelegenheiten« im europäischen Sinne entwickelten. Die griechische Oberschicht wiederum, die sich als ausschließlich zuständig für griechische Staatsangelegenheiten sah, fühlte sich dem internationalen Parkett stets mehr verbunden als der eigenen Bevölkerung, und letztere gestaltete ihre Lebensumstände nach eigenem Gutdünken, möglichst unabhängig von staatlichen Reglementierungen. Mit Hilfe familialer Verbindungen und Klientelbeziehungen gelang und gelingt dies bis heute.

1Eideneier 2013: 102f

2Lange Wiesche 2018: 154

3Gellner 1995: 87

4Heller 2001: 172-174

5Stölting 2001: 154

6Stölting 2001: 159

7Hann 2013, Agelopoulos 2013, Angelomatis-Tsougarakis 2013, Chryssantho-poulou 2013, Papataxiarchis 2013, Nitsiakos 2013

Kapitel 1

Griechenland wird Nation

Griechenland und die Idee vom Nationalstaat

Das moderne Griechenland ist keine zweihundert Jahre alt. Es hat sich aus eigener Initiative und Kraft (wenn auch mit Unterstützung von im Ausland lebender Griechen) mit einem Paukenschlag – dem Freiheitskrieg der Kleften – aus dem Osmanischen Reich gelöst, zugegebenermaßen auch, weil dessen Staatsstrukturen zu dieser Zeit schon nicht mehr funktionierten. Diese gemeinsame Kraftanstrengung und die Erfahrung des Sieges, begleitet von viel europäischer Sympathie und Anerkennung, waren der Hintergrund, auf dem sich eine nationale Identität als Griechen nach und nach entwickeln konnte. Ganz anders dagegen stellte sich die Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Westeuropa dar. Dort waren schon durch die Aufklärung die Voraussetzungen geschaffen worden, die letztlich die Französische Revolution ausbrechen ließen, und in ihrem Nachklang entstand die Ideologie des Nationalismus als einer ganz neuartigen und fortschrittlichen Weltsicht.

Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson beschreibt, welche historischen Vorbedingungen nach und nach zur Idee des Nationalismus führten, lange bevor es die ersten Nationen überhaupt gab. Die erste und eine der wichtigsten Voraussetzung war die Erfindung des Buchdrucks im ausgehenden Mittelalter. Schreiben und Lesen war bis dahin eine Kunst, die nur der Klerus und die Eliten der Macht beherrschten. Mit dem Buchdruck aber, und ganz besonders als Luther die Bibel ins Deutsche übersetzte und drucken ließ, öffnete sich der enge Zirkel der Eliten. Mit dem Protestantismus entstand ein Druckmarkt mit billigen Volksausgaben in deutscher Sprache, der in kurzer Zeit große neue Leserkreise schuf, die zuvor aus dem kleinen Kreis der auf Latein kommunizierenden Eliten ausgeschlossen waren. Das war die Voraussetzung dafür, dass sich das »Volk« an politischen Entscheidungsprozessen überhaupt beteiligen konnte.

Der sich immer weiter verbreitende Druckmarkt hatte zur Folge, dass ein Bewusstsein darüber entstand in Verbindung zu stehen mit vielen Menschen, die ein dem eigenen ähnliches Leben führten, ohne dass man sich je physisch begegnete. Dieses Bewusstsein sieht Anderson als wesentlich geschaffen durch den Roman und die Zeitung, die beide im 18. Jahrhundert im europäischen Bürgertum in Erscheinung traten. Sie hätten durch ihre massenhafte Verbreitung eine Art von Realität geschaffen, schreibt er, die nur in den Köpfen der Lesenden entstehen und existieren konnte.8 Gerade die Zeitung stellte zeitgleich Geschehendes an geografisch voneinander entfernt liegenden Orten zusammen und vermittelte so einen Eindruck von Gemeinsamkeit, von »Wir-Gefühl«: Was in der Zeitung steht, geht uns alle an, ist unsere Realität, in der wir leben. Auch wenn man die Geschehnisse in einem Land nicht selbst erlebte, nur von ihnen lesen konnte, entstand doch ein Bewusstsein darüber, dass all dies tatsächlich passierte, und dass das gleiche Leben an allen Orten parallel zum eigenen Leben existierte und sich immer weiter entwickelte. Daraus erwuchs eine neue Form von Gemeinschaft, deren Solidarität auf einer imaginierten Zugehörigkeit beruhte, und dies war letztendlich die Voraussetzung dafür, die Vorstellung einer Nation zu entwickeln.

Um es vorweg zu nehmen, das »griechische Volk«, in seiner überwiegenden Mehrheit illiterate Bauern, Viehzüchter und Wanderhirten, war von diesen in Europa stattfindenden Entwicklungen ganz und gar ausgeschlossen. Einzig die in Konstantinopel/Istanbul lebende, traditionell gebildete, mit der osmanischen Machtelite eng verbundene griechische Elite und die reichen griechischen Händler, die außerhalb Griechenlands in städtischen Lebenszusammenhängen ihre Kontore und Unternehmen führten, kosmopolitisch und gebildet wie sie waren, hatten die Voraussetzungen, sich dieser »imaginierten Gemeinschaft« zugehörig zu fühlen. Aber hier war es eine grenzüberschreitende Gemeinschaft, keine nationale. Die griechische Elite unterschied sich damit fundamental vom aufkommenden Bildungsbürgertum in den Ländern Westeuropas. Dieses hatte durch seinen technischen Erfindungsgeist die industrielle Revolution und damit zusammenhängend nationale Ökonomien, die Volkswirtschaften, hervorgebracht. Hier war nicht nur die ursprünglich städtische Bevölkerung, sondern auch die Landbevölkerung, die nach und nach zu Fabrikarbeiten wurde, von Anfang an in den Prozess der Nationwerdung eingebunden. In Griechenland dagegen gab es dieses Zusammenwachsen von ehemaliger Landbevölkerung und einer die Produktionsmittel besitzenden unternehmerischen Oberschicht nicht. Eine Industrialisierung, die die Landbevölkerung in die Städte abwandern ließ, konnte im Osmanischen Reich nicht entstehen. Somit war die im heutigen griechischen Kernland lebende bäuerliche Bevölkerung von einer »imaginierten nationalen Gemeinschaft« lange Zeit gänzlich ausgeschlossen. Sie lebte nicht nur getrennt von der kosmopolitisch vernetzten Oberschicht, sondern auch untereinander getrennt in Familien- und Nachbarschaftsgruppen, sodass sie – durch ihre bäuerliche Arbeit ortsgebunden – in kleinen Einheiten ein nach innen gerichtetes Leben führte. Diese bäuerliche Gesellschaft war statisch in dem Sinn, dass jede neue Generation ihren Lebensweg nach dem Vorbild ihrer Eltern und Großeltern vorgezeichnet sah. Dazu kam, dass ihr Leben geprägt war von Jahrhunderte langen, lokalen kriegerischen Auseinandersetzungen. 

Patrick Fermor beschreibt in seinen Reiseerlebnissen auf der Mani/Peloponnes nach dem Zweiten Weltkrieg, wie sehr die ländliche Bevölkerung auch noch in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in ihren Dörfern eingeschlossen war und die Bewohner des jeweils nächsten Dorfs, jenseits der Bergketten, für potenziell feindlich und gefährlich gehalten wurden.9 Die nationale Idee »eine Sprache, ein Volk, ein Land« verbreitete sich hier nur sehr langsam, wenn überhaupt. Zwar fand die aufkommende nationale Ideologie unter den wohlhabenden kosmopolitischen Griechen schnell Anhänger, weil das einfache griechische Landvolk aber nicht in gleichem Maße wie die Oberschicht an der aufkommenden nationalen Ideologie Teil hatte, konnte eine Nation im Sinne von Gemeinschaft in einem umgrenzten Territorium nicht auf die gleiche Weise wie in Deutschland, England oder Frankreich entstehen. 

Die Entwicklung von Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert in Westeuropa wurde intellektuell getragen von der Ideologie des Nationalismus, wesentlicher aber war die Industrielle Revolution als Voraussetzung zur Gründung von Nationalstaaten. Die enormen Veränderungen der Lebensweise, die die kapitalistische Produktionsweise mit sich brachte – basierend auf technischem Fortschritt und der Produktion von Massenwaren –, schufen den Mentalitätswandel vom Bauern zum Manufaktur- und später zum Fabrikarbeiter und im Gegenüber des besitzenden Bourgeois zum Proletarier. Das Osmanische Reich, dem die griechische Bevölkerung zugehörig war, war von dieser europäischen Entwicklung weitestgehend ausgeschlossen. 

Im Mittelalter waren das Byzantinische Reich in Wissenschaft und Kultur und später das Osmanische Reich mit seiner Staatsführung lange Zeit führend gewesen, während das westliche Europa nichts Vergleichbares vorzeigen konnte. Die geistige und kulturelle Entwicklung im westlichen Europa aber holte auf im Zeitalter von Renaissance und Aufklärung. Besonders die Klöster wurden wegbereitend, als sie sich neben ihren geistigen und religiösen Tätigkeiten mehr und mehr um Handwerk und Landwirtschaft kümmerten. So sahen die Benediktiner die Gottessuche sowohl im Gebet als auch in der Arbeit als gleichbedeutend an. Wolfgang Gehra schreibt dazu:

»(D)ie ganze heutige Kultur Europas (wurde) in nicht geringem Masse von den Benediktinern geformt, indem die Höfe der Adeligen, die Grundbesitzer, die Universitäten, die Städte, die Kaufleute, die Rechtsanwälte, die Künstler, die Musiker, die Schriftsteller, aber auch die einfachen Berufe der Steinmetzen, der Schreiner, der Glasmacher, der Weber, der Bierbrauer, der Bäcker, sogar der Gärtner und Erdarbeiter von diesen stillen, arbeitsamen und strebsamen Mönchen lernten … Die Klöster waren nicht nur geistige und kulturelle Zentren … Das Betreiben von Wasser- und Wind-mühlen, die Verwendung von Sägen, Hämmern, Blasebälgen, Schleif- und Poliersteinen, Quetsch-, Rühr- und Walkmaschinen wurde Basis der Mittelalterlichen Industrie.«10

 Der byzantinische Klerus dagegen und damit auch die Klöster, die die fortschrittlichen Entwicklungen der Westkirche als Häresie ansahen, standen einem »wirtschaftlichen Ehrgeiz« im Sinne der Benediktiner äußerst ablehnend gegenüber. Das gleichwohl hoch entwickelte Handwerk, Kunst und Architektur wurden hier nach wie vor gefördert durch die reichen Handelshäuser und die herrschenden Eliten, wie zum Beispiel Orhan Pamuk in seinem Roman Rot ist mein Name anschaulich schildert. Zwar entstanden in der Westtürkei, in Smyrna, im 19. Jahrhundert große Manufakturen, vor allem gegründet durch Armenier, sie konnten sich aber nicht zu Industrien weiterentwickeln, bedingt durch die konfliktreichen politischen Auseinandersetzungen dieser Zeit. Der Wert der »Handarbeit«, die die Benediktiner als gottgewollte menschliche Fähigkeit ansahen, spielte im Osmanischen Reich weder unter Christen noch unter Muslimen eine Rolle. Ein Übergang von der agrarischen zur industriellen Produktionsweise und mit ihr zu einem kapitalistischen Wirtschaftssystem fand hier im Gegensatz zum nordwestlichen Europa – beginnend in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – nicht statt. 

Der Freiheitskampf von oben und unten, außen und innen

Die Ideologie des Nationalismus besagt, dass jede Nation eine uralte Kultur besitzt, die Jahrhunderte wechselnder geschichtlicher Ereignisse überdauert hat, den Menschen in einem bestimmten Gebiet also schon immer zu eigen war. Die politischen Grenzen eines solchen »Kulturkreises« wurden im Laufe der Geschichte mal hierhin und mal dahin verschoben, im Kern aber wurde es »schon immer« oder zumindest schon sehr lange von einem bestimmten Volk bewohnt. Mit anderen Worten: »Nation« wurde statisch und als eine Art Naturphänomen definiert. So wie man ein Geschlecht habe, beschreibt Benedict Anderson die Ideologie des Nationalismus, habe man auch eine Nationalität. Die Nation als Vaterland oder Mutterland, entspräche der Verwandtschaft, bezeichne etwas, »… an das man auf natürliche Weise eingebunden ist … ein Element des Nicht-bewusst-Gewählten.«11 Aber diese Vorstellung ist jünger als man auf Grund des postulierten »das ist immer schon so gewesen« annimmt, entstand sie doch erst im Laufe des 18. Jahrhunderts. 

Schauen wir uns nun die Entstehung des griechischen Nationalstaats genauer an. Der Historiker Eric J. Hobsbawm benennt vier Kriterien als Voraussetzung für die Proklamation einer Nation (wobei er davon ausgeht, dass es zunächst einen Staat geben müsse, um daraus eine Nation zu machen): Sie müsse über eine bestimmte territoriale Größe verfügen und eine historische Verbindung mit einem gegenwärtigen oder nicht lange zurückliegenden Staat haben. Sie brauche eine alteingesessene kulturelle Elite, die über geschriebene nationale Literatur und eine Amtssprache verfüge, auch wenn diese im Alltag nicht gesprochen würde. Außerdem müsse die Nation im Stande sein zu kämpfen und zu erobern, das heißt stark genug sein um sich auch physisch zu behaupten.12

Diese Kriterien galten im Großen und Ganzen auch für die Entstehung des griechischen Nationalstaats. Das Territorium war vorhanden, wenn auch die Grenzen noch nicht festgelegt waren (bei der Gründung des griechischen Staats gehörten die Ionischen Inseln, Kreta, Thessalien, Epirus, Makedonien und die ostägäischen Inseln noch nicht dazu). Die Verbindung mit einem existierenden Staat – dem Osmanischen Reich – war zwar gerade gekappt worden, diese Schwierigkeit aber wurde dadurch gelöst, dass eine historische Verbindung zu einem zurückliegenden Staat, dem antiken Hellas, konstruiert wurde. Eine Elite, die sich als Nachkommen der antiken Griechen bezeichnen konnte, war vorhanden, auch wenn sie größtenteils nicht im Kernland lebte. Die »nationale Literatur«, das waren die Texte der antiken Denker und Staatsmänner. Und eine entwickelte gemeinsame Sprache – Griechisch – existierte ebenfalls.

Was die Kraft der Griechen sich »physisch zu behaupten«, das heißt zu kämpfen, anbelangte, so hatten sie dies eindrucksvoll bewiesen, als sie die osmanische Herrschaft abschüttelten. Der Beginn dieser Freiheitskämpfe wird auf Anfang des 19. Jahrhunderts datiert, als die berühmten Kleften in den Bergen durch geschickte Guerillakämpfe die osmanischen Herrscher nach und nach vertrieben. Die letzte entscheidende Schlacht war allerdings kein Guerilla-Kampf, sondern die Seeschlacht bei Navarino (heute Pylos) im Westen der Peloponnes. Dabei kämpften England, Frankreich und Russland 1829 gegen Kriegsschiffe des Osmanischen Reichs und Ägyptens und gewannen die Schlacht. Ursprünglich waren sie nur mit dem Ziel nach Navarino gegangen, um einen Waffenstillstand in der »orientalischen Frage« zu erreichen, die da hieß: Wer beerbt das zerfallende Osmanische Reich und damit die Macht über Südeuropa, die Levante und den Nahen Osten?

Mit dem Freiheitskampf der Griechen sympathisierten viele europäische Intellektuelle und bekannte Persönlichkeiten, die sich in »philhellenischen Bünden« zusammengeschlossen hatten. Hier schien sich das verwirklichen zu können, wovon das fortschrittliche Europa träumte: nationale Selbstbestimmung und Freiheit des Volks. Der Historiker Michael W. Weithmann schreibt dazu:

»Der Philhellenismus erfasste bedächtige Gelehrte, christliche Kreise und das liberale Bürgertum genauso wie die radikale nationalrevolutionäre Studentenschaft. … (Er) war Teil des Bekenntnisses zu den großen fortschrittlichen Ideen der Zeit geworden, zu Nationalstaat, Republik, Gewaltenteilung und Verfassung mit Bürgerrechten und Pressefreiheit. Trotz der Unterdrückung durch die offizielle Politik wurde die Philhellenische Bewegung zu einer einflussreichen ›Pressure Group‹, die bald die öffentliche Meinung beherrschte und die Regierungspolitik schließlich in ihrem Sinne beeinflussen sollte.«13

Viele Philhellenen in Europa – arbeitslose Offiziere, verfolgte Revolutionäre, Abenteurer, Dichter und idealistische Schwärmer – machten sich auf mitzukämpfen, und nicht wenige bezahlten ihr griechisches Abenteuer mit dem Leben, wie der englische Schriftsteller, Lebemann und Draufgänger Lord Byron, der 1824 in Mesolongi (am Golf von Patras gelegen) wenig ruhmreich an den Folgen einer Unterkühlung (manche Quellen sprechen von »Sumpffieber«) starb.