Griechische Skulpturen - Edmund von Mach - E-Book

Griechische Skulpturen E-Book

Edmund von Mach

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Beschreibung

Die Bildhauerei Griechenlands fasst in sich die Seele aller Bildhauerei zusammen. Die ihr wesenhafte Einfachheit entzieht sich jeder Definition. Wir fühlen sie, doch artikulieren können wir sie nicht. Und so bleibt all jenen, die zur Essenz der griechischen Bildhauerei vordringen wollen, nichts als die geduldige, unvoreingenommene und allzeit aufnahmebereite Betrachtung dieser zeitlosen Meisterwerke.

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Seitenzahl: 351

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Autor: Edmund von Mach

Übersetzung: Alexandra Fauler, Vera Lengger

Layout:

Baseline Co. Ltd

61A-63A Vo Van Tan Street

4. Etage

Distrikt 3, Ho Chi Minh City

Vietnam

© Parkstone Press International, New York, USA

Mausoleum Museum, Bodrum. Mit freundlicher genehmigung von Pr. Kristian Jeppesen

© Confidential Concepts, worldwide, USA

Image-Barwww.image-bar.com

ISBN: 978-1-78310-647-9

Alle Medienrechte weltweit vorbehalten.

Edmund von Mach

GRIECHISCHE SKULPTUREN

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Schnelligkeit der Entwicklung

Der Triumph der Wenigen

Eine kleine Auswahl einfacher Ideen

Die Wirkung eines Kunstwerks

Perioden in der griechischen Bildhauerei

Einführende Überlegungen

Die Griechische Bildhauerei in ihrem Verhältnis zur Natur: Das mentale Bild

Die Wirkung der griechischen Bildhauerei

Der Künstler und sein Publikum

Die Prinzipien des griechischen Reliefs

Die unterschiedliche Technik von Hoch- und Flachreliefs

Das griechische Relief in seiner Beziehung zur Architektur; Reliefs auf abgerundeten Oberflächen

Körperliche Anstrengung und Vergnügen beim Betrachten ausgedehnter Kompositionen

Die Farbgebung in der griechischen Bildhauerei

Die Stellung der Kunst vor dem 7. Jahrhundert v.Chr. und frühe Unkenntnis

Material, Technik

Zerstörerische Kräfte

Frühe Unkenntnis der griechischen Bildhauerei

Frühe griechische Bildhauerei

Erste Versuche freistehender Skulpturen

Das Relief: Die ersten Versuche

Konservatismus, das fertige Können vor der Konzeptionsfreiheit

Die Übergangsperiode

Myron

Pythagoras – Sprechende Einzelheiten

Kalamis – Grazie und behutsame Künstlerarbeit

Bildhauerische Tempeldekorationen, Aigina und Olympia

Realisierung der vornehmsten Ideen: die göttliche Seite der menschlichen Natur

Der Parthenon

Die Metopen

Das Fries

Die Giebel

Das griechische ideal

Individueller Geist und Körper

Praxiteles

Skopas

Die Niobe-Gruppe

Das Grab des Königs Mausolos

Formulierte Grundsätze; Perfektes Können

Herbsttage

Die Aphrodite von Melos

Die Nike von Samothrake

Der Belvedere-Apollo und die Artemis von Versailles

Die Laokoon-Gruppe

Die Schule von Pergamon

Bibliographie

Liste der abbildungen

Hinweise

Dipylon-Kopf, Dipylon,

Athen,ca. 600 v.Chr. Marmor,

H: 44 cm. Nationalmuseum für

Archäologie von Athen, Athen.

Einführung

Bis vor etwa zweihundertfünfzig Jahren war ein Studium der griechischen Bildhauerei unbekannt. Der Archäologe Johann Joachim Winckelmann[1] war einer der ersten, der sich ihm widmete und 1755 ein Buch zu dem Thema veröffentlichte. Die Ausgrabungen in Pompeji und Herkulaneum, der von Lord Elgin durchgeführte Abbau der Parthenon-Skulpturen und ihr Transport nach London und nicht zuletzt die Erneuerung Griechenlands und die darauf folgenden reichlichen archäologischen Funde fachten die Begeisterung für und das stetig wachsende Interesse an diesem neuen Studiengebiet an. Im 18. Jahrhundert war es auch den Fachleuten noch nicht möglich, antike Kunst richtig zu beurteilen, da sie nur wenige Originale besaßen, die sie daher durch die Brille einer späteren römischen Zivilisation betrachten mussten.

Angeregt von der wissenschaftlichen Atmosphäre im 19. Jahrhundert wurde weiter geforscht. Der Spaten des Ausgräbers brachte lang vergessene Schätze ans Licht, die Philologen sortierten und klassifizierten das Material, so dass dem Kunstkritiker kaum etwas oder nichts überlassen blieb. Das Thema lag in den Händen der Archäologen, die es in mehr oder minder erschöpfenden Abhandlungen über griechische Kunst oder Bildhauerei darstellten. Alle ihre Publikationen folgten der historischen Entwicklung, sie beschrieben die Geschichte der antiken Künstler. Eine solche Behandlung des Themas machte aber, obwohl sie durchaus eine gewisse Ordnung in das bisherige Chaos des vorhergehenden Jahrhunderts brachte, ein klares Verständnis des Geistes der griechischen Bildhauerei unmöglich, da sie die Publikationen mit nur für die Fachleute wissenswerten Fakten überlud, aber das künstlerisch interessierte Publikum nicht ansprechen konnte. Die Autoren des 18. Jahrhunderts verallgemeinerten, und dies, ohne ausreichende Fakten zur Verfügung zu haben, die Gelehrten des 19. Jahrhunderts sammelten alle verfügbaren Fakten, und daher wird es nun zu unserer Aufgabe, den Leser in den Geist und die Prinzipien griechischer Bildhauerei einzuführen.

Dieser Geist der griechischen Bildhauerei ist synonym mit dem Geist der Bildhauerei, er ist einfach und widersetzt sich daher der Definition. Wir mögen ihn erfühlen, doch wir können ihn nicht ausdrücken. Der Grund, warum die Bildhauerei heute ihre frühere Macht verloren hat, ist, dass wir auf das gehört haben, was über sie gesagt worden ist, anstatt mit ihr in Kontakt zu treten. Kein noch so großes Bücherwissen macht das Fehlen einer Vertrautheit mit den Originalstücken der Bildhauerei wieder wett. “Öffne deine Augen, studiere die Statuen, schau hin, denke, und schaue wieder”, so lautet das Gebot für alle, die Kenntnisse über die griechische Bildhauerei erlangen wollen.

Schnelligkeit der Entwicklung

Die griechische Bildhauerei entwickelte sich bemerkenswert schnell, und dies unter recht unvorteilhaften Bedingungen. Nur wenige Länder haben solch rapide Veränderungen erlebt wie Griechenland, denn die Schnelligkeit, mit der die mykenische Zivilisation möglicherweise von den Doriern hinweggefegt wurde, ist in der Geschichte beispiellos. Die drei oder vier Jahrhunderte, die auf die dorische Invasion (ca. 1000 v.Chr.) folgten – das dunkle Mittelalter Griechenlands – waren voll gewaltsamer politischer Unruhen. In verblüffender Vergänglichkeit bildeten sich Staaten und versanken wieder. Vor der Zeit des Tyrannen Peisistratos (um 600 bis etwa 528 v.Chr.) war Athen nur eine unbedeutende Gemeinde, die in den Dichtungen Homers (8.Jh. v.Chr.) kaum Erwähnung findet. Der Aufstieg der Stadt geht auf die Persischen Kriege (490-480 v.Chr.) zurück, aber schon vor dem Ende dieses Jahrhunderts verblasste ihr Ruhm wieder. Der mazedonische König AlexanderIII., der Große (356 bis 323 v.Chr.), brachte seine Feldzeichen bis nach Indien, und als er starb, war Mazedonien schon keine Weltmacht mehr. Die im Nordwesten Kleinasiens gelegene Stadt Pergamon wurde 241 v.Chr. unter AttalosI. (269bis 179 v.Chr.) beherrschend und verschwand als wichtige Macht bereits 133 v.Chr. wieder von der Bühne. Die Vereinigten Staaten werden von uns als ein junges Land angesehen, doch ist es immerhin fast so alt wie Griechenland, als dieses von Rom verschlungen wurde.

Der Triumph der Wenigen

Als Voraussetzungen für eine Periode großer Kunst werden im Allgemeinen Frieden und Muße genannt. Das sind sie sicherlich, doch sollten sie nicht ausschließlich auf die äußeren Bedingungen bezogen werden. Aufschlussreich ist nicht die Umgebung der Menschen, sondern ihr Gemütszustand, und es ist auch nicht notwendig, dass alle mit einem edlen Charakter gesegnet sind. Die Triumphe einer Nation hat oft genug der Tatendrang einiger Weniger erzielt. Es ist ein Fehler, allen Athenern oder auch nur der Mehrheit von ihnen die Liebe des Künstlers zur Schönheit zuzuschreiben. Der einfache, unbedeutende, vielleicht ungerechte Mann der Mittelklasse, so wie er in den Komödien des Aristophanes (um 445 bis 385 v.Chr.) und den Dialogen Platons (427 bis 348 v.Chr.) auftaucht, mit seinem engen Horizont und den argwöhnischen Vorurteilen, kann den plötzlichen Aufstieg Athens nicht erklären, obwohl er vielleicht und sogar wahrscheinlich für den schnellen Fall der Stadt verantwortlich ist. Athen hat seine überlegene Stellung trotz solcher Kleingeister und seinen Genossen erreicht.

Daher darf auf dem Gebiet der Kunst die Wichtigkeit des einzelnen Künstlers nicht überbewertet werden. Von Sir Robert Ball[2]

Kore, Delos, ca. 525-500 v.Chr.

Marmor, H: 134 cm.Nationalmuseum für

Archäologie von Athen, Athen.

Eine kleine Auswahl einfacher Ideen

Der Gedankenbereich, der in der griechischen Bildhauerei ihren Ausdruck fand, war klar umschrieben und weit entfernt von der Komplexität der Moderne. Den Charme griechischer Kunst machen einige wenige, aber einfach und gut ausgedrückte Konzepte aus. Zeitweise wurde die Angemessenheit der Darstellung tatsächlich als essentieller Teil griechischer Kunst betrachtet, und viele habe Mary Shelley (1797 bis 1851), John Keats (1795 bis 1821), Johann Christian Hölderlin (1770 bis 1843) und andere als ‘Griechen’ bezeichnet, nicht etwa, weil diese Männer wie die Alten dachten, sondern weil sie ihren Gefühlen angemessen Ausdruck verleihen konnten. Dennoch waren sie nur zum Teil griechisch, denn ihnen fehlte der zweite Charakterzug antiker Kunst – die Einfachheit. Die Schönheit des Parthenon ist das Ergebnis intensiven Nachdenkens und richtigen Fühlens. Daher wurde er von allen verstanden und bereits im Jahr seiner Fertigstellung, wie Plutarch (46 bis etwa 120) sagte, ein Klassiker.

Die Wirkung eines Kunstwerks

Die Macht, auf alle Klassen von Menschen zu wirken, ist nur wenigen Künstlern gegeben, denn sie erfordert nicht nur großes Können, sondern auch mitfühlende Kenntnis der menschlichen Natur. Diese Tatsache wird oft übersehen. Die Leute vergessen, dass die Wirkung eines Kunstwerks auf die höheren Fähigkeiten des Menschen gerichtet ist, dass sie aber durch seine Augen geleitet wird. Wenige Dinge werden genau so gesehen, wie sie sind. Eine Vertrautheit mit Kunstwerken kann nicht vorausgesetzt werden. Die Diskrepanz zwischen dem Objekt in der Vorstellung und seiner wirklichen Darstellung muss in die Überlegung einbezogen und die Eigenheiten des menschlichen Sehvermögens müssen berücksichtigt werden. Der Künstler darf nicht vergessen, dass er, um seine Gedanken zu vermitteln, Formen aus der objektiven Natur entleiht, und dass er auf den Menschen, also auf die subjektive Natur zu wirken sucht. Er wird aus allen möglichen Themen nur die auswählen, die leicht verstanden werden, und er wird sie auf eine Weise bearbeiten, die dazu angetan ist, den Erfordernissen der menschlichen Auffassungskraft zu genügen.

Perioden in der griechischen Bildhauerei

Die Griechen arbeiteten nach diesen Prinzipien. Es ist daher leicht verständlich, dass ihre Bildhauerei entsprechend den unterschiedlichen Phasen ihrer Zivilisation in Perioden eingeteilt werden kann. Der Geist ihrer Kunst änderte sich nie. Sicherlich folgten ihm nicht alle Bildhauer. Wie korrekt auch immer ihre Ideen waren, sie konnten nicht anders, als sie individuell zu interpretieren. Dies macht eine Unterscheidung notwendig zwischen dem, was der Bildhauer zu tun beabsichtigte und dem, was er tatsächlich tat. Die athenischen Tendenzen zur übermäßigen Ausarbeitung beispielsweise und die polykletische Vernachlässigung der edleren Seite der menschlichen Natur sind nur zeitweilige Abweichungen. Sie stehen völlig außerhalb des gleichmäßigen Geistes der griechischen Bildhauerei und finden ihre Erklärung in den vorübergehenden Vorlieben und Abneigungen einiger weniger. Solche Fälle unangemessener Beachtung der einen oder anderen Einzelheit hatten unvermeidlich eine Auswirkung auf den nachfolgenden Ausdruck der Kunst. Es ist notwendig, anzumerken, dass die eindrückliche Feinheit früher athenischer Skulpturen von Pheidias aufgegriffen wurde und dass Polyklet (tätig etwa von 450 bis 410 v.Chr.) mit seiner Missachtung des Edelsten im Menschen sofort von Praxiteles und Skopas (4.Jh. v.Chr.), den größten Meistern im Ausdruck der Leidenschaften der menschlichen Seele, verdrängt wurde.

Drapierte sitzende Frau, Grabstein (Fragment), ca. 400 v.Chr.

Marmor, H: 122 cm. The Metropolitan

Museum of Art, New York.

Männlicher Torso, Kopie nach einer Originalbronze

von Polyklet,der“Diadumenos” (entstanden um 440 v.Chr.)

Marmor, H: 111 cm. Musée du Louvre, Paris.

Herakles Farnese, Kopie nach einem griechischen Original aus dem 5. Jh v.Chr. Marmor, H: 313 cm.

Museo Archeologico Nazionale, Neapel.

Nachdenkliche Athene, Akropolis, Athen, ca. 470-460 v.Chr. Marmor, H: 54 cm.

Akropolis-Museum, Athen.

Einführende Überlegungen

Die Griechische Bildhauerei in ihrem Verhältnis zur Natur: Das mentale Bild

Die griechische Bildhauerei zeigt eine Qualität, die der als Realismus bezeichneten stark entgegengesetzt ist. Da Realismus und Idealismus Gegensätze sind, wurde die griechische Bildhauerei oft idealistisch genannt. Der Realist in der Kunst strebt danach, die Natur mit all ihren Zufälligkeiten und Nebensächlichkeiten darzustellen und wird dabei oft von diesen geringen Größen derart abgelenkt, dass er nicht mehr in der Lage ist, die wahre, wenn auch flüchtige Essenz des Objektes einzufangen. Der Idealist dagegen übergeht bewusst die offensichtlichen Einzelheiten und legt seine Mühe in die Betonung der in dem zur Darstellung ausgewählten Objekt verkörperten Idee. Beider Arbeit liegt das sichtbare Objekt der Natur zu Grunde, das sie reproduzieren möchten. Nicht so aber bei den Griechen.

Jeder besitzt den Entwurf eines mentalen Bildes oder eine Erinnerung seiner gewohnten Umgebung. Diese mentalen Bilder genau darzustellen, war das Ziel der Griechen. Sie bemühten sich, ihre Ideen Wirklichkeit werden zu lassen, daher sind sie eher Realisten als Idealisten. Weil aber diese beiden Begriffe auf die genannte Art Menschen angewandt werden, ist es verwirrend, sie auch für die antiken Griechen zu verwenden. Dies gilt auch für den modernen Gebrauch des Wortes “Elimination”, mit dem die meisten Autoren “ein absichtliches Weglassen oder Unterdrücken von Einzelheiten” meinen. Die Abwesenheit unnötiger Details in der griechischen Bildhauerei lag nicht an einem bewussten Eklektizismus, sondern an der Tatsache, dass solche Einzelheiten in den mentalen Bildern keinen Platz haben.

Das mentale oder Erinnerungsbild ist der bleibende Eindruck, nachdem man eine ganze Reihe Objekte derselben Art gesehen hat. Es liegt in der Natur der platonischen Vorstellung, gereinigt und befreit von allen individuellen oder zufälligen Beifügungen. Das menschliche Erinnerungsvermögen ist eine besonders unsichere Fähigkeit, und auf seinen primitiven Stufen zwar schnell in der Reaktion, doch auch sehr ungenau. Es ist leicht, sich an die Form eines viereckigen Blatt Papiers zu erinnern, genauso wie an einen Bleistift oder an jedes andere einförmige oder einfache Objekt. Unser mentales Bild eines Tieres ist weniger deutlich. Wir erinnern uns an den Kopf, an die Beine, an den Schwanz und vielleicht noch an den Körper, wenn dieser ein markantes Teil ist wie im Falle eines Hundes oder Pferdes. Aber all diese Teile sind unverbunden, und wenn zum Beispiel ein Kind gebeten wird, einen Mann zu zeichnen, wird es sich an den Kopf, die Arme und Beine erinnern, es wird aber nicht wissen, wie es sie verbinden soll. Sein mentales Bild des Mannes als Ganzem ist zu undeutlich, um es zu leiten. In der Natur sind die einzelnen Teile in leicht fließenden Kurven verbunden – sie wachsen zusammen; in unserem mentalen Bild sind sie einfach zusammengefügt.

Dieser Prozess des Zusammenfügens ist völlig unbewusst und macht uns kaum Schwierigkeiten, außer wenn wir gezwungen sind, ihn auf Papier oder in Stein wiederzugeben und ihn mit den wirklichen Objekten um uns zu vergleichen. Professor Löwy[3] zitiert den bemerkenswerten Fall eines verdrehten mentalen Bildes bei den frühen brasilianischen Zeichnern, die von den Schnurrbärten der Europäer sehr beeindruckt waren und diese anstatt auf der Oberlippe als auf der Stirn wachsend wiedergaben. Im mentalen Bild ist die Oberlippe unwichtig, während der breite Streifen der Stirn einen markanteren Platz einnimmt. Deshalb wird der Schnurrbart auf der Stirn dargestellt, obwohl dies im Gegensatz zur Natur steht und selbst mit dem hastigsten Blick als falsch bewiesen werden kann.

Allgemeinen Prinzipien folgend, sollten unsere mentalen Bilder vertrauter Objekte genauer sein. Doch ist dies nicht immer der Fall. Nur wenn wir ein Tier zum ersten Mal sehen, betrachten wir es sehr genau; bei jedem weiteren Hinsehen wird der Blick immer flüchtiger. Schließlich tragen wir ein mentales Bild bei uns, dessen Unschärfe in den Details der Unaufmerksamkeit entspricht, die wir zuletzt darauf verwenden. Dargestellt in einer Zeichnung, hat es wenig Ähnlichkeit mit dem Tier, dessen mentales, von der Natur gezeichnetes Bild uns so vertraut geworden ist, dass es aufgehört hat, von Interesse zu sein. Kein mentales Bild wird je so auf Papier oder Stein dargestellt, wie es wirklich ist. Gerade die Aufmerksamkeit, die ihm mit dem Bestreben zuteil wird, es wirklichkeitsgetreu darzustellen, beraubt es eines großen Teils seiner Spontaneität; und weil es das Ergebnis des unbewussten Betrachtens sehr vieler Objekte ist, wird es im bewussten Ausdruck viele Lücken und verschwommene Verbindungslinien aufweisen, die der Künstler nach bestem Vermögen füllen muss.

Ein weiterer Grund, warum mentale Bilder nicht genau wiedergegeben werden können, ist, dass die Gesetze des materiellen Universums, zu dem die Objekte gehören, keine Verbindlichkeit in der Welt der mentalen Bilder haben. Löwy zitiert als Beispiel dafür die Tatsache, dass das Erinnerungsbild eines Mannes im Profil zwei Augen haben kann, und bei primitiven Völkern auch tatsächlich hat. Man kann sie aber wegen des begrenzten Platzes nicht beide im Bild darstellen und muss daher vom mentalen Bild abweichen.

Solche Fälle zwingen den einfachen Künstler, sich an die Natur als Informationsquelle zu halten. Dies kann er auf zwei Arten tun - entweder durch intensiveres Betrachten, aus dem heraus er ein klareres mentales Bild gewinnt, oder durch tatsächliches Kopieren der fehlenden Teile von einem Modell. Auf letzteres, so natürlich es scheinen mag, wird nicht so einfach zurückgegriffen wie auf ersteres, wahrscheinlich, weil es eine völlig andere Qualität in die Arbeit bringen würde - das Individuelle anstatt des Typus. Außerdem ist weithin bekannt, dass im Malen talentierte und gewitzte Kinder oft keine erkennbaren Kopien eines bestimmten Modells zustande bekommen.

“Kore von Auxerre”, ca. 640-630 v.Chr.,

Kalkstein,H: 75 cm. Musée du Louvre, Paris.

Kore, ex-voto (Votivgabe) von Nicander,

Heiligtum Delos, ca. 650 v.Chr., Marmor, H: 175 cm.

Nationalmuseum für Archäologie von Athen, Athen.

Kleobis und Beton, ex-voto, um 590-580 v.Chr.

Marmor, H: 218 und 216 cm.

Archäologisches Museum, Delphi.

Kore 671, Akropolis,

Athen, ca. 520 v.Chr.Marmor,

H: 177 cm. Akropolis-Museum, Athen.

Kore 593, Akropolis, Athen,

ca. 560-550 v.Chr.Marmor,

H: 99,5 cm. Akropolis-Museum, Athen.

Kore 685, Akropolis, Athen,

ca. 500-490 v.Chr.Marmor, H: 122 cm.

Akropolis-Museum, Athen.

Der mäßige Künstler ist der Übersetzer der allgemeinen Tendenzen seines Volkes. Wenn er zum ersten Mal seine und dessen mentale Bilder darstellt, dienen diese Kopien einem bedeutenden Zweck in der Entwicklung des Volkes. Wenn sein Volk aufrichtig ist und erfüllt von einer Suche nach Wahrheit, wird die Genauigkeit oder Ungenauigkeit dieser verkörperten mentalen Bilder durch unbewusste Vergleiche mit natürlichen Objekten überprüft werden, und dies resultiert in einer Angleichung der zuerst inkorrekten mentalen Bilder. Die neuen Ideen werden wiederum von späteren Künstlern ausgedrückt, und der Prozess der Angleichung wiederholt sich. Dies war der Fall bei den Griechen. Die Ära historischer griechischer Kunst war zwar kurz, aber dennoch lang genug, um es den Griechen zu ermöglichen, zu dem Punkt zu gelangen, an dem die mentalen Bilder der für die bildhauerische Darstellung geeigneten Objekte so fein sind, dass ihr Ausdruck mit dem Kopieren der Natur fast identisch ist.

Die Entwicklung in Griechenland war derjenigen in Ägypten oder Assyrien diametral entgegengesetzt. Die frühesten Kunstwerke in diesen Ländern waren den rohen Versuchen der Griechen weit voraus. Ägyptische oder assyrische Bildhauerkunst späterer Zeiten kann nicht für sich beanspruchen, echter Ausdruck der Ideale dieser Völker zu sein. Während wir eine griechische Skulptur untersuchen und dabei etwas über die moralische und intellektuelle Haltung der Griechen in der Zeit ihrer Entstehung erfahren, können wir das nicht bei einem ägyptischen oder assyrischen Relief – zumindest nicht im gleichen Ausmaß. Dies trifft auch weitgehend auf die Bildhauerei in der Moderne zu. Dem modernen Künstler steht der gesamte Reichtum der Bildhauerei der Antike und der Renaissance zur Verfügung, und oft ist er gern bereit, sie zu kopieren oder ihre Formen anzupassen und dabei nur solche Veränderungen vorzunehmen, die der Geschmack seiner Zeit zwingend verlangt. Die amerikanische Bildhauerei zum Beispiel, so schön sie in einigen Phasen auch ist, zeigt ein schnelles und bemerkenswertes Wachstum an Kunstfertigkeit, es kann aber kaum von ihr behauptet werden, sie zeige die allmähliche Entwicklung der Ideale des Volkes.

Bis jetzt wurde stillschweigend angenommen, dass das Können des Künstlers es ihm zu jedem beliebigen Zeitpunkt ermöglicht, seine mentalen Bilder genau darzustellen. Dies war jedoch bei den Griechen nicht immer der Fall. Ihre ungewöhnlich geistreiche mentale Entwicklung ließ die technischen Fertigkeiten der Künstler nicht Schritt halten, und bis in den Herbst ihrer Kunst blieben diese im Allgemeinen hinter den Idealen zurück. Sobald ein Darstellungsproblem gelöst war, schaffte die zunehmende Genauigkeit der mentalen Bilder ein weiteres; und als alle Probleme der begrenzten Anzahl zuerst dargestellter Themen ihre Lösung gefunden hatten, drängten neue Themen lautstark auf ihre Darstellung. Das Ende griechischer Bildhauerei war gekommen, als alle technischen Probleme gelöst waren und die geistige Degeneration des Volkes es unwillig machte, die moralischen und religiösen Ansichten einer neuen Ära anzunehmen.

Unvollkommenheit oder Exzellenz im Können jedoch haben andere Einflüsse. Da mentale Bilder das unfreiwillige Ergebnis häufiger Konfrontation mit großen Objekten sind, werden sie sowohl von den zahlreichen Skulpturen von Menschen als auch von Menschen selbst beeinflusst. Dies trifft besonders auf die Zeit zu, in der die puritanische Nicht-Achtung des Körpers ein Klima geschaffen hatte, in dem es manchmal besonders schwer war, sich intelligente Vorstellungen vom menschlichen Körper zu machen, die nicht auf Bildern und Skulpturen beruhten. Die Derbheit einiger Akte in der modernen Kunst kann vielleicht damit erklärt werden, dass die Künstler sich verpflichtet fühlten, die bestmöglichen Modelle zu kopieren, anstatt ihre eigenen und verfeinerten mentalen Bilder durch Betrachtung idealer Körper zu schaffen. Der Effekt der Skulpturen auf die mentalen Bilder der Griechen war wahrscheinlich weniger stark als er es für uns ist, da die Griechen mit Nacktheit, sowohl männlicher wie weiblicher, vertrauter waren.

Ein Künstler drückt daher zuallererst die Gedanken seines Volkes aus, und damit beeinflusst er sie zum Besseren oder Schlechteren. Der nächste Künstler, der aufbricht, die mentalen Bilder seiner Zeitgenossen darzustellen, findet sie nicht länger als primitives Produkt einer rauen Naturbetrachtung vor, sondern stattdessen als eine Kombination originaler Konzeptionen und neuer Ideen. Diese neuen Ideen rühren zum Teil von den Eindrücken aus der Arbeit des ersten Künstlers her, zum Teil kommen sie aus dem allgemeinen Wandel, der im Charakter des Volkes dank seines moralischen und intellektuellen Fortschritts stattgefunden hat. Die schnelle Entwicklung der griechischen Bildhauerei lässt sich nicht leugnen; das erste Ziel der Künstler aber scheint immer dasselbe gewesen zu sein - die klarsten mentalen Bilder der Zeit wahrhaft darzustellen.

Kapitolinische Venus, römische Kopie nach einem griechischen Original von Praxiteles, ca. 3. Jh. v.Chr.

Marmor, H: 193 cm. Musei Capitolini, Rom.

Die Wirkung der griechischen Bildhauerei

Selbst der unnachgiebigste Materialist räumt ein, dass eine Welt reiner knochentrockener Fakten überflüssig und uninteressant ist. Gedanken, die sich in der abendliche Ruhe entwickeln, sind real. Derartige Betrachtungen treffen auf die vertraute Umgebung ebenso zu wie auf einige seltene Augenblicke im Leben eines jeden. Unsere Freunde bedeuten uns mehr als das bloße Vergnügen, das die Betrachtung uns bringt. Tatsächlich betrachten wir diese nur selten genau. Ein Blick genügt, um uns ihrer Anwesenheit zu vergewissern, und danach wird unsere Freude fast ganz psychisch. Das, was für Freunde gilt, lässt sich auch genauso für weniger bekannte Personen und selbst für Fremde sagen. Sie zu sehen, bedeutet sehr viel mehr als einen Tisch oder Stuhl zu betrachten, denn letztere Objekte deuten in der Regel nicht über das hinaus, was wirklich gesehen wird. Keine aufmerksame Person kann ein Individuum wahrnehmen, ohne – in gewissem Maße – mit seiner Persönlichkeit in Kontakt zu treten.

Deshalb ist ein Bild, das für seine perfekte Technik Bewunderung hervorruft, als Kunstwerk nur dann wertvoll, wenn es eine Idee vermittelt. Die äußere Erscheinung eines Objektes mag visuell auf uns wirken, doch seine geistige Essenz muss unsere Vorstellungskraft anstoßen. Das Sehen ist eine rein physische Fähigkeit, die Vorstellungskraft eine Errungenschaft der Humanität. Die Freude an dem einen ist jedoch nicht völlig unabhängig vom anderen, denn die Kompliziertheit der menschlichen Natur lässt unmöglich feststellen, wo das eine beginnt und das andere endet. Der Künstler muss daher beide berücksichtigen, und da seine Wirkung auf die Vorstellungskraft durch die Sinne geht, muss er sorgsam jede Reibung mit ihnen vermeiden.

Die griechischen Bildhauer arbeiteten nach diesen Prinzipien, denn viele Eigenheiten ihrer Kunst lassen sich nur erklären, wenn dies verstanden wird. Die Griechen hatten immer die edlere Seite des Menschen im Sinn, obwohl ihnen klar war, dass diese edle Seite zu beeindrucken ein gewisses Opfer bei der Befriedigung der physischen Natur des Menschen erforderte. Ein Kunstwerk scheitert an der Aufgabe, seine Nachricht zu vermitteln, wenn es unerfreulich für das Auge ist. Moderne künstlerische Standards sind veränderlich; die Individualität des Betrachters wird oft von der des Künstlers überwältigt, und die Komplexität der modernen Zeit hat die Ansprüche der einfachen menschlichen Natur in den Hintergrund gedrängt, wo sie fast vergessen wurden. In der Antike waren diese Ansprüche von großer Bedeutung. Doch vor dem Versuch, die Anerkennung, die die Griechen ihnen gewährt haben, zu beurteilen, muss festgestellt werden, worin diese Ansprüche bestehen.

Kauernde Venus, römische Kopie nach einem griechischen Original aus dem 1.-2. Jh. v.Chr.

Marmor, H: 96 cm. Musée du Louvre, Paris.

Statue des Dr. Sombrotidès, Megara,

ca. 550 v.Chr.Marmor, H: 119 cm.

Archäologisches Museum, Syrakus.

Kalbträger (Moschophoros), Akropolis,

Athen, ca. 560 v.Chr. Marmor, H: 165 cm,

Akropolis-Museum, Athen.

Silen mit dem Säugling Dionysos,

hellenistische Kopie nacheinem griechischen

Original aus dem 4. Jh v.Chr. Marmor,

H: 190 cm. Musée du Louvre, Paris.

Bei der Enthüllung von Gedenkstatuen hört man oft, dass der Bildhauer die charakteristische Pose des Verstorbenen gut eingefangen hat und dass die Statue genau wie die zu erinnernde Person aussieht. Man könne fast glauben, man sehe den Mann selbst; kurz gesagt, die Skulptur sei ein großartiges Kunstwerk. Die Statue mag in der Tat ein großartiges Kunstwerk sein, aber nicht aus diesen Gründen, deren Großteil auf jede feine Figur im Eden-Museum[4] zutrifft, wo wächserne Polizisten den Eingang bewachen und ebenso wächserne Schmiede am Blasebalg arbeiten. Nur wenige Beobachter würden solche Figuren als große Kunstwerke bezeichnen. Die durchschnittliche Wachsfigur reproduziert genau den materiellen Körper einer Person, übersieht aber ihre Persönlichkeit. Sie überlistet für einen Moment die Sehkraft, sie spricht aber nicht die höheren Fähigkeiten des Menschen an – als suggestives Kunstwerk versagt sie. Möchte ein Mann ein physisches Memento eines Freundes, stellt er dessen Statue oder Büste und nicht eine Wachsfigur in seinem Arbeitszimmer auf. Die Kunst sucht nach dem Menschen mit all seinen Gedanken, nicht eine mechanische Reproduktion seines Körperumrisses. Der Bildhauer arbeitet mit Stein oder Bronze, und es stellen sich die Fragen: Hat er die Mittel zur Verfügung, die Erfordernisse der Kunst zu erfüllen und welche Mittel sind dies?

Die erste Frage kann ohne Zögern bejaht werden; denn sowohl die griechischen Bildhauer als auch einige große Männer nach ihnen haben die Existenz dieser Mittel bewiesen. Die zweite Frage kann nicht so einfach beantwortet werden, weil die Mittel nicht nur für unterschiedliche Themen verschieden und unterschiedlich bezogen auf die verschiedenen Standards der ethnischen Gruppe sind, sondern sie sind auch so subtil, dass sie kaum in Worte gefasst werden können – sie müssen gefühlt werden. Es ist daher nicht nur unmöglich, sondern vielleicht auch unnötig anmaßend, alle dem Bildhauer zur Verfügung stehenden Mittel aufzuzählen - denn wer würde es wagen, dem Genie eines großen Künstlers etwas vorzuschreiben? Dennoch ist es vielleicht ganz sinnvoll, auf gewisse Dinge hinzuweisen, die die Griechen vermieden haben, als sie den Ansprüchen einer auf die menschliche Natur wirkenden Kunst gerecht wurden.

Das nahezu gänzliche Fehlen von Themen aus der unbelebten Natur ist eines der auffälligsten Merkmale griechischer Bildhauerei. Es gilt das Prinzip, dass Bildhauerei nichts anderes als lebende Dinge darstellen sollte. M. Ruskin[5] sagt dazu:

“Man darf nichts anderes meißeln, als das, was Leben hat.” ‘Warum?’ ist man geneigt zu fragen. ‘Müssen wir uns jeder erfreulichen Zugabe und malerischem Detail verweigern und nichts als lebende Kreaturen versteinern?’ So ist es: “Ich würde dies nicht aus eigener Ermächtigung behaupten. Es sind die Griechen, die dies sagen, und seien Sie versichert, was sie über die Bildhauerkunst sagen, ist wahr!”[6]

Er und die meisten Lehrer der Kunst belassen es hierbei. Doch ist dies weder klug noch gerecht. So lange ein Mann nicht die Korrektheit eines Prinzips sieht, sollte er es nicht akzeptieren, selbst nicht auf Grund der Autorität der Griechen. Glücklicherweise ist es für uns nicht schwierig, zu sehen, warum die Griechen unbelebte Objekte in der Bildhauerei vermieden haben, denn das Prinzip, das sie in dieser Hinsicht geleitet hat, gehört zum Fundament ihrer Kunst.

Apollo und Marsyas, Sockel,

Mantinea, ca. 330-320 v.Chr. Marmor,

H: 97 cm. Nationalmuseum für

Archäologie von Athen, Athen.

Weil ein Kunstwerk als nicht-existent angenommen werden kann, solange es von unseren Augen nicht erblickt wird, ist die Gefahr allgegenwärtig, das Bewusstsein des Betrachters im Zentrum seines rein physischen Sehvermögens anzusiedeln. Um dies zu vermeiden, haben die Griechen bestimmte Kunstgriffe und “Konventionen” angewandt, die die Ansprüche des Sehens befriedigten, ohne den Entfaltungsspielraum der höheren menschlichen Fähigkeiten des Denkens und Vorstellens einzuschränken. Die Reproduktion des mentalen Bildes des Objektes anstatt der des Objektes selbst erreichte dies. Es wurde jedoch Sorgfalt darauf verwendet, dass die Reproduktion weder so völlig dem Original glich, dass sie nach einer ersten kurzzeitigen Täuschung einen sofortigen Vergleich herausforderte, noch sollte sie so verschieden vom Original sein, dass sie keine starken Ähnlichkeiten aufwies; in beiden Fällen hätte das Sehvermögen dieser Unverhältnismäßigkeit Rechnung getragen.

Der Bildhauer, so sei hier exkursartig bemerkt, muss sich sehr viel sorgfältiger an diese Prinzipien halten als der Maler, denn die Malerei, die ja auf zwei Dimensionen beschränkt ist – obwohl alle Objekte in der Natur drei haben –, läuft nicht Gefahr, unser Sehvermögen zu täuschen. Die Bildhauerei, die nicht nur die äußere Erscheinung des Objektes darstellt, sondern auch seine körperliche Form, kann leicht einen so starken Eindruck auf das Sehvermögen machen, dass sie ihr Ziel verfehlt.

Wenn er unbelebte Objekte in körperlicher Form darstellt, wird der Bildhauer vor praktisch unüberwindbare Hindernisse gestellt. Allgemein gesprochen, bieten derartige Objekte in ihrer Wirkung auf das edlere Selbst des Menschen wenig Inspiration, daher soll ihre reine und einfache Form Bedeutung vermitteln. Da sie aber ganz in ihrer körperlichen Form dargestellt sind, zieht selbst die kleinste Abweichung von ihrer eigentlichen äußeren Erscheinung die Aufmerksamkeit auf sich – hier ist kein Kunstwerk, weil es keine Wirkung auf die Vorstellungskraft gibt. Andererseits fordert die schiere Vortrefflichkeit einer wahrheitsgetreuen Darstellung die Sehkraft zum Vergleich heraus – und wieder ist es kein Kunstwerk. Nur wenn lebende Menschen dargestellt werden, zieht der spezifische Charakter und nicht seine äußere Form die Aufmerksamkeit auf sich. Dies wirkt durch die höheren geistigen Fähigkeiten auf das Sehvermögen, denn ob bewusst oder nicht, wir neigen dazu, in menschlichen Körpern den Charakter zu lesen; und dies kann nicht durch den bloßen Einsatz der Sehkraft geschehen. Aus diesem Grund wird beim Betrachten der Statue eines Mannes die Sehkraft weniger bewusst aktiv als die Vorstellungskraft. Die beste Kunst hört ganz auf, ein interessantes visuelles Objekt zu sein und wirkt direkt auf die Vorstellungskraft. Künstler haben zu allen Zeiten danach gestrebt, dies zu vollbringen. Die realistische Reproduktion der Natur erreicht dies nie; Ordentlichkeit in der handwerklichen Ausführung allein ist in dieser Hinsicht nutzlos. Wie die Griechen erreichen dies nur diejenigen, die ihre ganze Aufmerksamkeit den besonderen Bedürfnissen der physischen menschlichen Natur widmen. In der Bildhauerei ist dies unmöglich – es sei denn, es werden lebende Kreaturen dargestellt.

Gegensätzliches verstärkt die Vorstellung von Leben. Die alten Griechen haben daher als Beiwerk in ihre Kompositionen leblose Objekte eingeführt. Ruskin erklärt die Prinzipien, die den Gebrauch solch untergeordneter Themen steuern:

“Nichts darf in der Bildhauerei außerhalb jedweder lebenden Form dargestellt werden, das nicht unterstützend die Konzeption des Lebens verstärkt oder illustriert. Sowohl Kleidung als auch Rüstung sind so eingesetzt worden und werden weiterhin auf diese Weise von den Größten genutzt. Aber,” so fährt Ruskin fort, indem er ein Beispiel der modernen Bildhauerkunst anführt, doch gelten seine Folgerungen gleichermaßen für die griechische Kunst, “selbst die Rüstung der Johanna von Orléans darf nur geformt sein, wenn sie sie an sich trägt; es ist nicht die Ehrenhaftigkeit oder Schönheit der Rüstung, die ausreichen, sondern das direkte Tragen an ihrem Körper. Man mag tief gehend, ja rührend am Anblick des verbeulten Kettenhemdes eines guten Ritters, zurückgelassenen in seinem trostlosen Bankettsaal, interessiert sein. Darf man es darstellen, wie es da hängt? Nein; der Helm als sein Kissen, wenn man so will – nicht mehr.”

Aber wie kann ein solcher Helm dargestellt, wie soll eine Rüstung behandelt werden, wenn der Held sie trägt? Sollen wir sie so genau wie möglich darstellen? Nehmen wir an, wir tun dies, und nehmen wir an, die Statue, die wir schaffen, ist aus Bronze, dann gibt es keinen Grund, warum das Ergebnis keine zweite Rüstung gleich der sein sollte, die der Held trug, so dass unser Sehvermögen dahingehend getäuscht wird, die Rüstung selbst zu sehen. Was ist aber mit der Person, die sie getragen hat? Ihre Bronzestatue reproduziert das mentale Bild des Bildhauers von ihrer Persönlichkeit – sie kann nicht der Mann selbst sein; die Qualität der Beigabe unterscheidet sich von der Qualität der Figur selbst. Das eine ist, was es zu sein scheint; das andere kann nicht das zu sein scheinen, was es darstellen soll, denn der Kontrast zwischen der wirklichen Rüstung und der leblosen Form des Mannes erweckt den Gedanken, der Mann sei nicht wirklich.

Wie sehr die Griechen diese Einzelheiten würdigten, zeigt sich vielleicht am besten in den Drapierungen ihrer Statuen, welche zwar immer wirklich scheinen, ohne aber korrekt zu sein. Niemand konnte bisher an den Statuen die Genauigkeit dieser Theorie über antike Kleidung nachweisen, die aus dem Studium literarischer Beschreibungen und der Bemalung von Vasen zusammengefügt wurde. Die Maler haben oft eine ziemlich genaue Wiedergabe des Stoffes erzielt, die Bildhauer nie. Sie haben sich nicht nur große Freiheiten in der Darstellung der drapierten Stoffe genommen, sie haben sogar ganze Gewänder weggelassen. Eine Statue des Dichters Sophokles (um 496 bis um 406 v.Chr.) trägt beispielsweise nur das äußere Kleid oder Überkleid, während aus der Literatur sehr wohl bekannt ist, dass sich Ehrenmänner nie in so knappem Aufzug in der Öffentlichkeit gezeigt haben. Mit ein oder zwei Ausnahmen sind die Krieger aus dem Giebeldreieck des Tempels auf Ägina (Abbildung1, 2) völlig nackt; sie gingen mit Helmen auf ihren Häuptern und Schildern am Arm in die Schlacht, doch ohne ein einziges Stück Stoff. Die Griechen sind nie so in die Schlacht gegangen, weder zu der Zeit, als der Marmor behauen wurde, noch zu der Zeit, an die die Statuen erinnern, noch zu irgend einer anderen Zeit. Solch teilweises oder völliges Fehlen von Stoff kann kaum als die unbewusste Reproduktion eines mentalen Bildes erklärt werden; die tatsächliche Behandlung der Drapierung hingegen, wie sie zum Beispiel bei der Nike des im 5. vorchristlichen Jahrhundert tätigen Bildhauers Paionios oder im Fries des Parthenon (Abbildung1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12) auftaucht, ist wahrscheinlich mehr oder minder unbewusst. Viele moderne Autoren verwenden das Wort “Elimination”, wenn sie von griechischer Drapierung sprechen; doch dies ist ein Fehler, denn Elimination impliziert das gewollte Weglassen von Einzelheiten, und kann weder das Fehlen ganzer Kleidungsstücke oder die unbewusste Behandlung tatsächlich gemeißelter Kleider erklären.

Der Eklektizismus griechischer Drapierung kann als einer der Kunstgriffe oder “Konventionen” griechischer Bildhauerei bezeichnet werden und als Beweis dafür dienen, dass solche Konventionen nicht für alle Zeiten bestehen bleiben. Als Greenough[7] die große Statue George Washingtons im Kapitol schuf, ließ er die Drapierung um die obere Körperhälfte weg, offensichtlich mit der Absicht, die Aufmerksamkeit des Betrachters von der Kleidung weg und hin zur Person, die sie trug, zu lenken. In dieser Hinsicht folgte er ganz klar der Praxis der Griechen, besonders dem Muster, das Pheidias mit seinem riesigen Zeus in Olympia vorgegeben hatte. Die Griechen mögen die Drapierung straffrei weggelassen haben, denn als Nation liebten sie den Akt in der Kunst sehr. Greenough, der sie angesichts ausgeprägter rassistischer und religiöser Vorurteile gegenüber dem Akt imitierte, beging den unverzeihlichen Fehler, nicht den Geist einer vergangenen Kunst kopiert zu haben, sondern seinen zufälligen Ausdruck.

Derselbe bedachtsame Geist, der die Griechen von der Natur in ihrer Darstellung von Drapierung und Stoffen abweichen ließ, zeigt sich auch in ihrer Behandlung von Bäumen, Felsen und ähnlichem in Marmorreliefs. Marmor ist ein Gestein, und nichts ist leichter, als Gestein zu reproduzieren, so dass das Ergebnis nicht nur das Bild eines Felsen, sondern tatsächlich ein zweites Stück Fels ist. Wäre dies beispielsweise im Marmorsockel von Mantineia getan worden, dann hätte der Kontrast von eigentlichem Fels und der Darstellung des auf ihm sitzenden Apollos den Gott aller Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit beraubt. Ähnliche Beobachtungen können mit den Bäumen auf dem Fries des Athena Nike-Tempels in Athen oder den Trittsteinen auf dem Fries des Parthenon gemacht werden.

Diese Fälle reichen aus, die allgemeine Haltung der griechischen Bildhauer gegenüber der Öffentlichkeit aufzuzeigen. Die Öffentlichkeit sind Menschen und damit komplizierte Kreaturen und keine automatischen Besichtigungsmaschinen. Das Recht zur Betrachtung erhielten sie von der Hand antiker Künstler, zudem gaben es die Griechen gern.

Kouros, Agrigente, ca. 500-480 v.Chr. Marmor, H: 104 cm.

Archäologisches Museum, Agrigente.

Kritios-Knabe, Akropolis, Athen,

ca. 480-470 v.Chr.Marmor, H: 116 cm.

Akropolis-Museum, Athen.

Kopf eines blonden Jünglings,

ca. 485 v.Chr. Marmor, H: 25 cm.

Akropolis-Museum, Athen.

Kore 680, Akropolis, Athen,

ca. 530-520 v.Chr. Marmor, H: 114 cm.

Akropolis-Museum, Athen.

Der Künstler und sein Publikum

Der persönliche Einfluss der griechischen Künstler auf ihre Gesellschaft war groß. Dieser Einfluss rührte aus dem Gefühl der Künstler, eins zu sein mit der Öffentlichkeit. Selten, wenn überhaupt, hielten sie sich für eine abgesonderte Klasse, verschieden von den Laien. Eine solche Sicht jedoch hat sich seither oft durchgesetzt. Als Michelangelo die Medici-Gräber gestaltete und in ihnen seinen Freiheitsgedanken einen mystischen Ausdruck gab, waren diese Gedanken für ihn ganz exklusiv sein Eigentum – zu gut, zu hoch stehend, um mit dem gemeinen Pöbel geteilt zu werden – und doch waren es genau die Gedanken, an denen sich dieser Pöbel zu erfreuen begann. Wenn das Genie eines Künstlers mit den unausgesprochenen Phantomen neuer Ideen ringt und er sie nach geduldiger Meditation in Stein oder auf Leinwand in einem Maße realisiert, das die Verschwommenheit der Bilder in gefälliger Klarheit auflöst, mag man ihm in der Tat verzeihen, wenn er seine eigenen Errungenschaften übermäßig verherrlicht und glaubt, er sei von einer edleren Natur als die allgemeine Öffentlichkeit.

Eine solche Sicht ist irrig, und widersprechende Beobachtungen kann jeder machen. Es ist zum Beispiel nicht selten, dass zwei Männer unter sehr unterschiedlichen Umständen und weit entfernt voneinander gleichzeitig eine originelle Idee haben; noch häufiger ist es der Fall, dass eine Anzahl an Menschen sich zur gleichen Zeit mit der Lösung identischer Probleme befassen. Man könnte dann sagen, die Idee ist die aktive Macht, drängend um Ausdruck kämpfend; die Künstler – Denker, Dichter, Maler, Bildhauer – sind nur willige Werkzeuge. Die Gedanken selbst sind Produkte vergangenen und gegenwärtigen intellektuellen Lebens, das gemeinsame Erbe von Künstlern und Laien. Falsch ist der Glaube, dass nur derjenige mit einer verfeinerten Ausdrucksfähigkeit dieses Erbe erhalten kann; im Gegenteil, er ist oft genau derjenige, der sein Geburtsrecht durch Vernachlässigung der Bildung und gedankenlosen Gebrauch seiner Fingerfertigkeit verwirkt.

Die Gedankenwelt, mit der wir heute in Kontakt kommen, ist um ein Vielfaches größer als zu jeder anderen Zeit. In der Antike konnte Aristoteles ohne Anmaßung behaupten, Meister in allem zu sein, und sogar im 16. Jahrhundert unserer Zeitrechnung konnte Scaliger[8] einen ganz ähnlichen Ruf genießen; heute steht das für jeden außer Frage. Denken und Wissen, die das Eigentum einer Gesellschaft repräsentieren, haben sich mit einer solch enormen Geschwindigkeit vervielfältigt, dass keine Lebensspanne ausreicht, alles zu erfassen. Gepaart mit diesem Wachstum in der Welt der Gedanken scheint das Individuum die Fähigkeit entwickelt zu haben, sie sogar ohne hör- oder sichtbaren Ausdruck zu bewältigen.

Welche Aussicht auch immer diese Betrachtungen für die Zukunft eröffnen mag, bis heute hat kein Individuum und bestimmt nicht die Menschheit als Ganzes die von Ruskin vorhergesagte Geistesverfassung erreicht. Wenn das für heute gilt, galt es um unendlich viel mehr für die Menschen in der griechischen Antike. Ihre Gedankenwelt war einfach; selbst ihre Philosophen, deren Lehren bewundert werden, teilten die Segnungen einer vergleichsweisen Einfachheit; und die grundlegenden Ideen großer griechischer Tragödien sind weit entfernt von verwirrender Komplexität.

In seiner eigenen Vorstellung war das griechische Volk autochthon – auf dem Boden gewachsen, auf dem es lebte – mit nicht mehr als wenigen Jahrhunderten Geschichte. Wir wissen, dass die Griechen sich irrten – dass jenseits des dunklen griechischen Mittelalters die Mykenische Zeit (etwa 1600 bis 1200 v.Chr.) lag, eine lang vergessene Kultur von Glanz und Ruhm, und dass selbst die diese Periode begreiflicherweise nicht das erste Vorwärtsschreiten in der Entwicklung der Menschheit war. Jedenfalls war die Vergangenheit gelöscht, die Erinnerung daran ausradiert. Schritt für Schritt mussten die Griechen sich vorwärts bewegen, ohne Hilfe, gerade so, als ob sie wahrhaftig dem Boden entsprungen wären. Es gab keine Gedanken entfernter Vorfahren, und die wenigen sagenhaften Ruinen, die von den Stürmen prähistorischer Ereignisse verschont geblieben waren, wurden irrtümlich für die Hinterlassenschaft einer Rasse von Riesen gehalten. Die Entdeckungen in Mykene und auf Kreta haben Kunstobjekte ans Licht gebracht, die einen großartigen ästhetischen Charakter und eine außergewöhnlich verfeinerte Genussfähigkeit zeigen. Vielleicht haben die historischen Griechen diese Eigenschaften von ihren ihnen unbekannten Vorfahren geerbt, und dies könnte in gewissem Maße die beispiellosen und schnellen künstlerischen Fortschritte erklären, die auftraten, als sie “…ihr Fundament wiederfanden.” Jedenfalls wurde jeder ausgedrückte Gedanke zu einer neuen Idee und mit dem bewundernswerten Entzücken begrüßt, das jede neue Errungenschaft begleitet.

Kore 685, Akropolis, Athen, ca. 500-490 v.Chr. Marmor,

H: 122 cm. Akropolis-Museum, Athen.

Die wunderbare Kunstfertigkeit und großartige Einfachheit der Griechen, die heute von vielen von uns langsam und gewissenhaft durch eine vorurteilsfreie Bildung erworben wird, kann vergessen machen, dass die Griechen ein urtümliches Volk waren, und wie alle diese Völker waren sie unablässig bestrebt, ihre Gedanken vollständig in die Tat umzusetzen. Sobald eine Idee auftauchte, repräsentierte seine Quintessenz zunächst nichts anderes als dieses eine konkrete Konzept. Die Statue des Gottes Apollo kann heute nicht betrachtet werden, ohne sofort aller Veränderungen gewahr zu werden, der diese Gottheit in den nachfolgenden Zeiten unterworfen war, insbesondere im Vergleich mit dem einen Gott, dessen Religion das heitere und einst hilfreiche Vertrauen in den Parthenon Olympias ersetzen sollte. Als Folge sind die Statuen altertümlicher Götter für den modernen Betrachter weitgehend symbolisch, wohingegen sie für die Ur-Griechen konkrete Vorstellungen ausdrückten. Antike griechische Künstler gaben den mentalen Bildern oder Vorstellungen ihres Volkes eine konkrete Form; sie konnten dies, weil sie selbst aus dem Volk kamen.