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Dem Waisenjungen Pip werden »große Erwartungen« eröffnet: Ein unbekannter Gönner will ihn fördern. In London vergißt er sein einfaches Dorfleben und genießt ein verschwenderisches Dasein. Durch das Auftauchen seines Wohltäters gerät er in eine lebensgefährliche Lage. »Es gibt 100 000 Bücher, die schön sind; 10 000, die sehr schön sind; 1 000, die noch viel schöner sind als alle die anderen. Und es gibt 100 Bücher, die den lieben Gott zum Weinen bringen: Eines davon ist Charles Dickens’ Große Erwartungen.« Die Rheinpfalz
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Seitenzahl: 986
Der kleine Pip wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, ohne Eltern, ohne Rückhalt, ohne Liebe. Doch er hat große Erwartungen an sein Leben und träumt davon, ein Gentleman zu sein. Er setzt alles daran, die Welt der Armut und Hoffnungslosigkeit hinter sich zu lassen und es zu Wohlstand und Ansehen zu bringen. Durch die Gunst eines Wohltäters gelangt er nach London und bekommt die Chance, seine Ziele zu verwirklichen: Das Leben, wie er es sich erträumt hatte, ist zum Greifen nah. Doch er merkt schon bald, daß in dieser Stadt Glück und Unglück näher beieinanderliegen, als er ahnen konnte, und es mehr als Geld und Wohlstand bedarf, um tatsächlich ein Gentleman zu sein …
Der meisterhafte Roman über den kleinen Waisenjungen Pip und seine großen Erwartungen an das Glück ist einer der bedeutendsten Klassiker der Weltliteratur.
Charles Dickens wurde am 7. Februar 1812 in Landport, England, geboren. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, arbeitete er später bei einem Rechtsanwalt und als Journalist. Mit Sketches by Boz (1836) und The Pickwick Papers (1837) wurde er zu einem der bekanntesten Autoren Englands. 1837 erschien sein erster Roman, Oliver Twist. Neben der Schriftstellerei verdiente er sich sein Geld mit Lese- und Vortragsreisen in England und den USA. Charles Dickens starb am 9. Juni 1870 in Kent.
Von ihm sind im insel taschenbuch u.a. erschienen: Die Weihnachten des Mr. Scrooge (it 4062), Oliver Twist (it 4077), Eine Geschichte aus zwei Städten
Charles Dickens
GROSSE ERWARTUNGEN
eBook Insel Verlag Berlin 2011
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Meines Vaters Familienname lautet Pirrip und mein Taufname Philip; und aus den beiden Namen konnte meine Kinderzunge nichts Längeres oder Deutlicheres machen als Pip. Ich gab mir also den Namen Pip und wurde demzufolge auch Pip genannt.
Ich nenne Pirrip als den Familiennamen meines Vaters auf die Autorität hin, als die sein Grabstein und meine Schwester zu gelten haben dürften oder doch bei mir galten. Meine Schwester war Frau Joe Gargery; sie hatte den Schmied im Orte geheiratet. Da ich Vater und Mutter niemals gesehen und auch niemals von keinem von beiden ein Porträt gesehen habe (denn sie lebten lange vor der Zeit, da es Photographen gab), wurden meine ersten Vorstellungen darüber, wie sie wohl ausgesehen hatten, ohne Sinn und Verstand von ihren Grabsteinen hergeleitet. Die Gestalt der Buchstaben auf meines Vaters Grabstein gab mir den wunderlichen Gedanken ein, daß er ein vierschrötiger, untersetzter, brünetter Mann mit schwarzem Lockenhaar gewesen sei. Aus dem Charakter und der Form der Inschrift: ›Desgleichen Georgiana, Ehefrau des Obigen‹ zog ich einen kindischen Schluß, daß meine Mutter sommersprossig und kränklich gewesen sei. Fünf kleine Steinplatten von je etwa anderthalb Fuß Länge, in zierlicher Reihe neben das Grab meiner Eltern gestellt, waren dem Andenken von fünf kleinen Brüdern von mir geweiht, die in jenem gemeinsamen Kampfe um das Dasein außerordentlich zeitig den Versuch, das Durchkommen zu finden, aufgegeben hatten. Diesen Steinen danke ich den ehrfurchtsvoll gehegten Glauben, daß diese Brüder alle auf dem Rücken liegend mit den Händen in der Tasche geboren worden seien und ihre Hände in diesem Stadium des Daseins nie herausgenommen hätten.
Unser Land war das Marschenland unten am Fluß und lag, da der Fluß im Bogen lief, zwanzig Meilen von der See ab. Mein erster lebhaftester und umfassender Eindruck von der Identität der Dinge scheine ich an einem denkwürdigen rauhen Nachmittag gegen Abend hin erhalten zu haben. Zu solch einer Zeit fand ich das gewiß heraus, daß dieser öde, mit Nesseln verwachsene Platz der Kirchhof war; und daß Philip Pirrip, weiland Pfarrkind dieses Sprengels, und auch Georgiana, Gemahlin des Obigen, tot und begraben waren; und daß Alexander, Bartholomäus, Abraham, Tobias und Roger, Kinder der Genannten, auch tot und begraben waren; und daß die dunkle, flache Wüstenei jenseits des Kirchhofes, durchschnitten von Gräben und Dämmen und Gittern und abgefressen von zerstreuten Viehherden, die Marschen waren; und daß die niedrige bleierne Linie drüben der Fluß war; und daß die ferne wilde Wüste, von der der Wind herbrauste, die See war; und daß das kleine Häufchen Angst, das sich vor dem allen zu fürchten anfing und schon die Tränen bei der Hand hatte, Pip war.
»Halt' dein Maul!« rief eine fürchterliche Stimme, und ein Mann sprang hinter den Gräbern an der Kirchenpforte hervor. »Verhalte dich ruhig, du junger Teufel! Sonst schneide ich dir die Gurgel ab!«
Ein schrecklicher Kerl, ganz in grobem Grau, mit einem großen Eisen am Bein. Ein Mann ohne Hut und mit zerrissenen Schuhen und einem alten Lappen um den Kopf. Ein Mann, der von Wasser durchnäßt war und von Schmutz bedeckt war und von Steinen lahm war und von Kieseln geschnitten war und von Nesseln gestochen war und von Dornen gerissen war; ein Mann, der hinkte und schauderte und stierte und knurrte und dem die Zähne im Kopfe klapperten, als er mich beim Kinn packte.
»O! Schneiden Sie mir nicht die Gurgel ab, Herr«, bat ich entsetzt. »Bitte, tun Sie es nicht, Herr!«
»Sag' mir deinen Namen!« sagte der Mann. – »Schnell.«
»Pip, Herr.«
»Noch einmal«, sagte der Mann, mich anstarrend. »Sprich ordentlich!«
»Pip, Pip, Herr.«
»Zeig' mir, wo du wohnst«, sagte der Mann. »Weise den Ort!«
Ich deutete dorthin, wo unser Dorf lag, auf der flachen Küste unter den Erlen und Weiden, eine Meile oder weiter von der Kirche entfernt.
Der Mann sah mich erst noch einen Augenblick an, dann drehte er mich um, das Oberste zuunterst, und leerte meine Taschen. Es war darin nichts als ein Stück Brot. Als die Kirche wieder die alte wurde – denn er war so sehnig und stark, daß er sie vor mir einen Purzelbaum schießen ließ und ich den Turm unter meinen Beinen erblickte –, als die Kirche, wie gesagt, wieder zu sich selbst kam, da saß ich zitternd auf einem Grabstein, während der Mann mit Gier mein Brot aß.
»Du junger Hund«, sagte der Mann, indem er sich die Lippen leckte, »was du für feiste Backen hast.«
Ich glaube, sie waren feist, obwohl ich damals für mein Alter untersetzt und nicht gerade kräftig war.
»Hol' mich der Teufel, wenn ich sie nicht aufessen könnte«, sagte der Mann mit einem drohenden Kopfschütteln, »und wenn ich nicht halb und halb Lust dazu hätte!«
Ich drückte ernsthaft die Hoffnung aus, er möchte das nicht tun, und hielt mich fest an dem Grabstein, auf den er mich gesetzt hatte; teils, um meinen Platz dort zu bewahren; teils, um mich vom Weinen zurückzuhalten.
»Na, nu' guck' e' mal an!« sagte der Mann. »Wo ist deine Mutter?«
»Da, Herr!« sagte ich.
Er fuhr auf, tat ein paar Sätze, blieb stehen und guckte über die Schulter hinüber.
»Da, Herr!« erklärte ich schüchtern. »›Desgleichen Georgiana.‹ Das ist meine Mutter.«
»Oh!« sagte er, zurückkommend. »Und ist das neben deiner Mutter da dein Vater?«
»Ja, Herr«, sagte ich; »er auch; weiland Kind dieses Sprengels.«
»Ha!« murmelte er dann nachdenklich. »Bei wem wohnst du – angenommen, es gefällt mir, dich am Leben zu lassen, worüber ich mir noch gar nicht einmal schlüssig bin?«
»Bei meiner Schwester, Herr – bei Frau Joe Gargery –, der Gemahlin von Joe Gargery, dem Grobschmied, Herr.«
»Grobschmied, so?« fragte er, und blickte nach seinem Bein hinunter.
Nachdem er mehrere Male düster nach seinem Beine und nach mir geguckt hatte, trat er näher an meinen Grabstein heran, nahm mich bei beiden Armen und kippte mich soweit herum, als er mich halten konnte, so daß seine Augen gewaltig auf die meinen herunterstierten und die meinen hilflos nach den seinen emporschauten.
»Nu, guck' e' mal an«, sagte er, »die Frage ist, ob ich dich am Leben lassen soll. Du weißt, was eine Feile ist?«
»Ja, Herr.«
»Und du weißt, was Lebensmittel sind?«
»Ja, Herr.«
Nach dieser Frage kippte er mich ein bißchen weiter hinüber, um mir ein größeres Bewußtsein der Hilflosigkeit und Gefahr zu geben.
»Du bringst mir 'ne Feile.« Er kippte mich abermals nach hinten. »Du bringst mir Lebensmittel.« Er kippte mich wiederum nach hinten. »Du bringst mir beides.« Er kippte mich von neuem nach hinten. »Sonst reiß' ich dir Herz und Leber aus.« Er kippte mich nochmals nach hinten.
Ich war fürchterlich erschrocken und so schwindelig, daß ich mich mit beiden Händen an ihn anhängte und sagte: »Wenn Sie so gut sein wollen, mich auf meinen Beinen stehen zu lassen, Herr, so würde mir vielleicht nicht unwohl werden und am Ende könnte ich dann besser achtgeben.«
Er duckte mich in ganz entsetzlicher Weise nach unten und ließ mich in der Luft herumkugeln, so daß die Kirche über ihren eigenen Wetterhahn sprang.
Dann hielt er mich in einer aufrechten Haltung auf der oberen Kante des Grabsteines fest und fuhr fort in den folgenden fürchterlichen Worten:
»Du bringst mir morgen vormittag in aller Frühe die genannte Feile und die genannten Lebensmittel. Du bringst den ganzen Kram zu mir hinüber, dort nach der alten Batterie da drüben, das tust du, und du nimmst dir ja nicht heraus, ein Wort zu reden oder ein Zeichen zu machen, von wegen du hättest so 'ne Person wie mich gesehen oder überhaupt irgendeine Person gesehen; und dann sollst du am Leben bleiben. Tust du's nicht oder weichst du von meinen Anordnungen auch nur in einer Kleinigkeit ab, sei sie auch noch so gering, so soll dir Herz und Leber ausgerissen werden, und ich will sie braten und aufessen. Nun, ich bin nicht allein, wie du am Ende denkst. Ein junger Mann hält sich mit mir versteckt, und im Vergleich zu diesem jungen Mann bin ich ein Engel. Dieser junge Mann hört die Worte, die ich spreche. Dieser junge Mann hat eine geheime Art und Weise, die nur er versteht und raushat, sich an einen Knaben heranzumachen und sich an sein Herz und an seine Leber heranzumachen. Vergebens wird ein Knabe versuchen, sich vor diesem jungen Mann zu verstecken. Ein Knabe mag die Tür zuriegeln, mag warm im Bett liegen, mag sich einmummeln, mag sich die Kleider über den Kopf ziehen, mag sich sicher und wohlaufgehoben glauben, so wird dennoch dieser junge Mann langsam seinen Weg zu ihm geschlichen kommen und ihm die Betten hinwegreißen. Ich halte diesen jungen Mann jetzt mit vieler Mühe davon zurück, dir ein Leid anzutun. Es fällt mir sehr schwer, diesen jungen Mann daran zu hindern, sich dein Inneres mal anzugucken. Nun, was sagst du dazu?«
Ich sagte, ich würde ihm die Feile bringen, und ich würde ihm all die einzelnen Bißchen Essen bringen, die ich auftreiben könnte, und ich würde zu ihm nach der Batterie hinüber- kommen, am Vormittag in aller Frühe.
»Sage, Gott soll mich strafen, wenn ich's nicht tue!« sagte der Mann.
Das sagte ich auch, und er setzte mich wieder auf den Boden.
»Nun«, fuhr er fort, »denke daran, was du auf dich genommen hast, und denke an den jungen Mann, und jetzt geh nach Hause!«
»Gu-guten Abend, Herr«, stotterte ich.
»Hast gut reden!« sagte er und ließ den Blick über die kalte, feuchte Ebene schweifen. »Ich wollt', ich wär' ein Frosch oder ein Aal!«
Gleichzeitig schlug er beide Arme um seinen schlotternden Leib – packte sich an, wie wenn er sich zusammenhalten wollte – und humpelte nach der niedrigen Kirchenmauer. Wie ich ihn so gehen und den Weg zwischen den Nesseln und Disteln, die die grünen Hügel besetzten, sich aussuchen sah, da erschien er meinen jugendlichen Augen ganz so, als ob er den Händen der Toten auszuweichen strebte, die sich behutsam aus ihren Gräbern herausreckten, um ihn am Knöchel zu packen und in die Gruft hereinzuziehen.
Als er die niedrige Kirchenmauer erreichte, kletterte er hinüber, wie jemand, dessen Beine steif und gelähmt waren, dann drehte er sich nach mir um. Als ich ihn sich umwenden sah, kehrte ich das Gesicht meinem Heim zu und gebrauchte meine Beine nach besten Kräften. Aber gleich darauf guckte ich über die Schulter und sah ihn wieder weitergehen, dem Flusse zu. Noch immer hatte er beide Arme über den Leib geschlagen und suchte sich den Weg mit seinen wunden Füßen zwischen den großen Steinen aus, die hier und dort in den Marschen lagen, als Trittplätze, wenn es schwer regnete oder wenn die Flut herein war.
Als ich stehenblieb, um ihm nachzuschauen, waren die Marschen nichts als eine lange, schwarze, horizontale Linie; und der Fluß war eine zweite horizontale Linie, nur bei weitem nicht so breit und auch nicht so schwarz; und der Himmel war weiter nichts als eine Reihe von langen grellroten Linien, mit denen sich pechschwarze Linien mischten. Am Rande des Flusses konnte ich schwach die einzigen zwei schwarzen Dinge in dem ganzen Gemälde erkennen, die aufrecht zu stehen schienen; das eine war die Bake, nach der die Seeleute steuerten und die wie eine auf einen Stamm gespießte Tonne ohne Reifen aussah – ein häßliches Ding, wenn man nahe daran war; das andere war ein Galgen mit ein paar baumelnden Ketten, an denen einmal ein Seeräuber gehangen hatte. Der Mann humpelte auf den Galgen zu, wie wenn er der Seeräuber wäre, der, auf ein Weilchen wieder lebendig geworden, herunter gekommen war und sich nun wieder anhängen wollte. Ich bekam einen fürchterlichen Ruck, als dieser Gedanke in mir aufstieg; und als ich das Vieh die Köpfe heben sah, um hinter
Meine Schwester, Frau Joe Gargery, war über zwanzig Jahre älter als ich und hatte sich bei ihren Nachbarn dadurch einen großen Ruf gesichert, daß sie mich »mit der Hand« aufgezogen hatte. Da ich damals für mich selber auszutüfteln hatte, was dieser Ausdruck bedeutete, und da ich wußte, daß sie eine harte und schwere Hand hatte und sie sehr oft auf ihren Mann wie auch auf mich zu legen pflegte, so neigte ich zu der Annahme, daß Joe Gargery und ich beide mit der Hand aufgezogen wären.
Sie war keine Frau von nettem Aussehen, meine Schwester; und ich hatte im allgemeinen den Eindruck, als müsse sie Gargery mit der Hand veranlaßt haben, ihn zu heiraten. Joe war ein hübscher Mann, mit Locken flächsernen Haares an jeder Seite seines glatten Gesichtes und mit Augen von so ungewissem Blau, daß es ganz so aussah, als wären sie irgendwie mit ihrem eignen Weiß vermengt worden. Er war ein sanftmütiger, gutherziger, leichtlebiger, törichter lieber Kerl – eine Art Herkules an Kraft – und auch an Schwäche.
Meine Schwester, Frau Joe, hatte schwarzes Haar und schwarze Augen und eine so hartnäckige Röte der Haut, daß ich mich manchmal fragte, ob es möglich sein könne, daß sie sich mit einem Reibeisen statt mit Seife wasche. Sie war groß und knochig und trug fast immer eine große Schürze, die mit zwei Schleifen hinten festgebunden war und vorn einen viereckigen, unnahbaren Latz hatte, der voller Steck- und Nähnadeln saß. Sie machte es sich selbst zu einem gewaltigen Verdienst und Joe zu einem heftigen Vorwurf, daß sie immer diese Schürze trug. Zwar sehe ich wahrhaftig keinen Grund, weshalb sie sie überhaupt trug; oder warum sie sie, wenn sie sie überhaupt trug, nicht jeden Tag ihres Lebens hätte abnehmen können.
Joes Schmiede stieß an unser Haus, das gleich vielen Wohnungen in unserm Lande – ja, gleich allen Wohnungen, kann man von der damaligen Zeit sagen – ein hölzernes Haus war. Als ich vom Kirchhof nach Hause lief, war die Schmiede geschlossen, und Joe saß allein in der Küche. Da wir Leidensgefährten waren und als solche einander vertrauten, so teilte mir Joe auch gleich etwas im Vertrauen mit, als ich kaum die Türklinke heruntergedrückt und nach ihm hingeguckt hatte, wie er so gerade gegenüber in der Ofenecke saß.
»Frau Joe ist ein dutzendmal wohl draußen gewesen und hat sich nach dir umgesehen, Pip. Und jetzt ist sie wieder draußen, und hat die Dreizehn glücklich voll gemacht.«
»So?«
»Ja, Pip«, sagte Joe, »und was noch schlimmer ist, sie hat den gelben Onkel mitgenommen.«
Bei dieser traurigen Nachricht drehte ich an dem einzigen Knopf an meiner Weste und sah ganz niedergeschlagen nach dem Feuer hin. Der gelbe Onkel war ein Rohrstock mit gepichtem Ende, das durch die nahe Berührung mit meiner gepeinigten Gestalt schon glatt und blank geworden war.
»Sie hat sich gesetzt«, sagte Joe, »und dann ist sie wieder aufgesprungen und hat den gelben Onkel gepackt und ist 'nausgepoltert. Kannst mir's glauben«, sagte Joe, indem er langsam das Feuer zwischen den tieferen Sparren mit dem Feuerhaken schürte und in die Glut blickte, »'nausgepoltert ist sie, Pip.«
»Ist sie lange fort gewesen, Joe?«
Ich behandelte ihn immer als eine größere Art von Kind und als nichts weiter denn meinesgleichen.
»Na«, sagte Joe, zur Schwarzwälderuhr hinaufsehend, »sie ist dieses letztemal schon vor ungefähr fünf Minuten 'nausgepoltert. Jetzt kommt sie! Stell' dich hinter die Tür, alter Junge, und halte das Handtuch vor.«
Ich befolgte den Rat. Meine Schwester, Frau Joe, stieß die Tür weit auf, und da sie ein Hindernis dahinter vorfand, so erriet sie auch sofort die Sachlage und gebrauchte den gelben Onkel, um sie noch näher zu ergründen. Das Ende war, daß sie mich Joe zuwarf – ich diente ihr oft als eheliches Wurfgeschoß –, und Joe war froh, unter irgendwelchen Bedingungen Hand an mich legen zu können, schob mich in den Kamin und schloß in aller Ruhe mit seinem großen Bein den Zuweg zu mir ab.
»Wo bist du gewesen, du Esel von Junge?« sagte Frau Joe, mit dem Fuße stampfend. »Sage mir sofort, wie du dazu gekommen bist, mich hier wieder zu ärgern und zu erschrecken und zu peinigen, sonst hol' ich dich aus der Ecke dort vor, wenn ich auch mit fünfzig Pips und fünfhundert Gargerys zu tun hätte.«
»Ich bin bloß auf dem Kirchhof gewesen«, sagte ich von meinem Platze aus und weinte und rieb an mir herum.
»Auf dem Kirchhof!« wiederholte meine Schwester. »Wenn ich nicht gewesen wäre, wärst du schon längst auf den Kirchhof gekommen und dort geblieben. Wer hat dich mit der Hand aufgezogen?«
»Du«, sagte ich.
»Und warum, möchte ich gern wissen!« rief meine Schwester aus.
Ich winselte: »Das weiß ich nicht!«
»Ich auch nicht!« sagte meine Schwester. »Es würde mir auch nie wieder einfallen! Das steht fest. Ich kann wahrhaftig sagen, ich habe diese meine Schürze nie abgelegt, seit du geboren bist. Es ist schon schlimm genug, die Frau eines Grobschmieds zu sein (noch dazu, wo es ein Gargery ist), und man braucht gar nicht noch deine Mutter zu sein.«
Meine Gedanken schweiften von diesen Fragen ab, während ich trostlos nach dem Feuer blickte. Denn der Flüchtige draußen auf den Marschen mit seinem eisenbeschlagenen Bein, der geheimnisvolle junge Mann, die Feile, das Essen und das schreckliche Gelübde, dem ich mich unterzogen hatte, in diesen schützenden Hallen einen Diebstahl zu begehen, stieg vor meinen Augen auf in der rächenden Glut der Kohlen.
»Hah!« rief Frau Joe, den gelben Onkel wieder an seinen Platz legend. »Ja, der Kirchhof! Ihr beide habt gut vom Kirchhof reden.« Einer von uns hatte nebenbei das Wort überhaupt nicht in den Mund genommen. »Ihr werdet schon dieser Tage mal mich zwischen euch nach dem Kirchhof fahren, und oh, ein herr-r-rliches Paar werdet ihr ohne mich abgeben!«
Als sie sich daran machte, das Teegeschirr hinzusetzen, guckte Joe über sein Bein hinüber nach mir hinunter, wie wenn er im Geiste mich und sich zusammenzählte und berechnete, was für ein Paar wir in Wirklichkeit wohl abgeben würden unter den angedeuteten schmerzlichen Umständen. Hierauf befühlte er seinen flächsernen Lockenbart an der rechten Seite und folgte der Frau Joe mit den Augen, wie das so immer seine Gewohnheit war, wenn das Barometer auf Sturm stand.
Meine Schwester hatte eine scharfe Art und Weise, das Butterbrot für uns abzuschneiden, und diese Art und Weise blieb sich immer gleich. Erst drückte sie das Brot mit ihrer linken Hand derb und fest gegen ihren Latz – wo manchmal eine Steck- oder Nähnadel hineingeriet, die wir hernach in den Mund bekamen. Dann nahm sie etwas Butter (nicht zuviel) auf ein Messer und schmierte sie über das Brot in einer apothekerhaften Manier, wie wenn sie ein Pflaster machte – und gebrauchte beide Seiten des Messers so flink und gewandt, daß es nur so klappte, und putzte und drückte die Butter rings von der Kruste herunter. Dann wischte sie schicklich noch das Messer kräftig an dem Rande des Pflasters ab und sägte eine sehr dicke Schnitte von dem Brote ab; aber ehe sie diese Schnitte von dem Brote trennte, hackte sie sie in zwei Hälften, von der Joe die eine und ich die andere erhielt.
Diesmal wagte ich nicht, meine Schnitte zu essen, obwohl ich hungrig war. Ich fühlte, ich müsse etwas für meine fürchterliche Bekanntschaft und ihren Genossen, den noch fürchterlicheren jungen Mann, aufbewahren. Ich wußte, daß die Haushaltung der Frau Joe eine sehr strenge war und daß meine diebischen Nachsuchungen im Schrank wohl kaum folgenlos bleiben könnten, deshalb beschloß ich, meine Butterstulle in meine Hose zu stecken.
Ich fand es ganz entsetzlich, wie lange ich mit mir selber zu kämpfen hatte, ehe ich dieses Vorhaben auszuführen vermochte. Es war, wie wenn ich mich entschlossen hätte, von der Spitze eines hohen Hauses herunterzuspringen oder in eine große Wassertiefe zu tauchen. Und Joe machte es mir unbewußterweise noch schwerer. In unserer bereits erwähnten Freimaurerschaft als Leidensgefährten und in seinem gutmütigen Verkehr mit mir war es unser abendlicher Brauch, die Art und Weise zu vergleichen, wie wir unsere Schnitten durchbissen, indem wir sie dann und wann stillschweigend in die Höhe hielten, damit der andere sie bewundern möge – was uns zu neuen Anstrengungen anspornte. An diesem Abend ersuchte mich Joe mehrmals, unsern gewöhnlichen freundschaftlichen Wettstreit zu beginnen, indem er mir seine in raschem Verschwinden begriffene Schnitte zeigte; aber jedesmal sah er meine gelbe Teetasse auf dem einen Bein und mein unangerührtes Butterbrot auf dem anderen. Endlich kam mir die verzweifelte Überzeugung, was ich im Sinne hätte, müsse geschehen, und es geschähe am besten in der unter den Umständen unwahrscheinlichsten Art und Weise. Ich benutzte den ersten besten Augenblick, wo Joe seinen Blick von mir ablenkte, und steckte mein Butterbrot in mein Hosenbein.
Joe war augenscheinlich unmutig wegen meines vermeintlichen Mangels an Appetit und tat einen nachdenklichen Biß aus seiner Schnitte, an dem er keine Freude zu haben schien. Er drehte ihn viel länger als sonst im Munde umher, dachte viel dabei über etwas nach und schluckte ihn endlich hinunter wie eine Pille. Er wollte eben einen neuen Biß tun und hatte gerade den Kopf auf eine Seite gelegt, um das recht gut bewerkstelligen zu können, als sein Auge auf mich fiel und er sah, daß mein Butterbrot verschwunden war.
Die Verwunderung und Bestürzung, mit der Joe dicht vorm Abbeißen innehielt und mich anstarrte, lag zu deutlich am Tage, um dem Blick meiner Schwester zu entgehen.
»Was ist denn los?« fragte sie kurz, indem sie die Tasse niedersetzte.
»Höre mal, weißt du!« brummte Joe, den Kopf mit vorwurfsvoller Miene nach mir hin schüttelnd. »Pip, alter Junge! Du wirst dir selbst Schaden tun. Es wird irgendwo stecken- bleiben. Du kannst es nicht gekaut haben, Pip.«
»Was ist denn nun wieder los?« wiederholte meine Schwester, noch ungestümer als zuvor.
»Wenn du 'n bißchen davon in die Höhe husten könntest, Pip, so würde ich dir sehr empfehlen, das zu tun«, sagte Joe, ganz bleich vor Schreck. »Ein jeder nach seiner Art und Weise, aber auf deine Gesundheit mußt du bedacht sein.«
Jetzt war meine Schwester außer sich vor Wut, deshalb stürzte sie auf Joe los, faßte ihn bei seinen beiden Backenbärten und schlug ihn mit dem Kopf eine kleine Weile gegen die in seinem Rücken befindliche Wand, während ich in der Ecke saß und schuldbewußt zuguckte.
»Nun wirst du mir vielleicht sagen, was los ist«, sagte meine Schwester, außer Atem; »glotzest ja wie 'n angestoch'nes Schwein!«
Joe sah sie hilflos an; dann tat er einen hilflosen Blick und sah wieder mich an.
»Du weißt, Pip«, sagte Joe feierlich, mit dem letzten Happen in der Backe und in vertraulichem Tone, wie wenn wir beide ganz allein wären; »du und ich, wir sind immer Freunde und ich wäre der letzte, der dich anpetzt, ganz gewiß. Aber so« – er rückte mit seinem Stuhl, sah sich auf dem Stückchen Boden um, das zwischen uns lag, und lenkte dann wieder den Blick auf mich – »so ungeheuerlich zu schlingen!«
»Hat sein Essen runtergeschlungen, he?« rief meine Schwester.
»Du weißt, alter Junge«, sagte Joe, indem er mich und nicht Frau Joe anguckte und seinen Bissen noch immer in der Backe behielt. »Ich habe selber geschlungen, als ich so alt war wie du – oftmals –, und als Junge habe ich mit vielen verkehrt, die auch geschlungen haben; aber ich habe bisher noch nie von dir gesehen, daß du geschlungen hast, Pip, und es ist ein wahrer Segen, daß du dich nicht zu Tode geschlungen hast.«
Meine Schwester stürzte auf mich zu und fischte mich bei den Haaren, indem sie nichts weiter sprach, als die fürchterlichen Worte:
»Jetzt kommst du mit und nimmst ein!«
Irgendein ärztliches Tier hatte Teerwasser als vorzügliche Medizin zur damaligen Zeit wieder aufgebracht, und Frau Joe hielt sich immer einen Vorrat im Schranke; denn sie glaubte, es wirke um so vortrefflicher, als es so entsetzlich schmeckte. Im besten Falle wurde mir von diesem Elixier so viel als leckeres Erholungsschlückchen eingetrichtert, daß ich mir bewußt wurde, mit dem Geruch eines frischgeteerten Zaunes umherzulaufen. An diesem besonderen Abend erforderte die Dringlichkeit meines Falles ein ganzes Maß von dieser Mischung, und dieses Maß wurde mir zu meinem besseren Wohlbefinden die Kehle hinuntergeschüttet, während Frau Joe meinen Kopf unter ihrem Arm festhielt, wie wohl ein Stiefel in einem Stiefelknecht festgehalten wird. Joe kam mit einem halben Maß davon; aber er mußte es (zu seinem größten Verdrusse, während er langsam kauend und grübelnd vorm Feuer saß) mit einemmal hinunterschlucken, weil »er einen Anfall gehabt hatte«. Wenn ich von mir selbst auf andere schließen sollte, so würde ich sagen, er hätte ganz gewiß hinterher einen Anfall bekommen, sofern er vorher keinen gehabt hatte.
Das Gewissen ist etwas Entsetzliches, wenn es einen Mann oder einen Knaben anklagt; aber wenn es einen Knaben anklagt und diese geheime Last noch zusammenwirkt mit einer anderen geheimen Last tief unten in seinem Hosenbein, dann ist es (wie ich bezeugen kann) eine schwere Strafe. Das schuldvolle Bewußtsein, ich habe im Sinne, Frau Joe zu bestehlen – daß ich ihn selber zu bestehlen vorhätte, kam mir nie in den Sinn; denn ich hatte kein einziges Stück des Haushaltes als sein Eigentum betrachten gelernt – dieses Bewußtsein, vereint mit der Notwendigkeit, immer beim Dasitzen oder wenn ich in irgendeinem kleinen Auftrag nach der Küche geschickt wurde, die eine Hand auf meinem Butterbrot halten zu müssen, brachte mich fast um den Verstand. Wie dann die Marschenwinde das Feuer glühen und flackern machten, da war mir ganz so, als hörte ich draußen die Stimme des Mannes mit dem Eisen am Bein, der mir den Eid auf Verschwiegenheit abgenommen hatte und nun erklärte, er könne und wolle nicht hungern bis morgen, sondern müsse jetzt gleich gefüttert werden. Andermal wieder dachte ich bei mir: wenn nun der junge Mann, der mit so großer Mühe davon abzuhalten war, Hand an mich zu legen, der angeborenen Ungeduld nachgäbe oder sich in der Zeit irrte und schon heute nacht anstatt erst morgen nacht ein Recht zu haben glaubte, sich mein Herz und meine Leber zu holen? Wenn jemals irgendwessen Haar vor Entsetzen zu Berge gestanden hat, so müßte es meins getan haben in diesem Augenblick. Aber vielleicht hat noch niemandes Haar jemals zu Berge gestanden?
Es war Weihnachtsabend, und ich hatte den Pudding für den nächsten Tag mit dem Kupferschläger zu rühren, von Punkt sieben bis Punkt acht Uhr nach der Schwarzwälder-wanduhr. Ich versuchte es mit meiner Last am Bein (und dabei mußte ich von neuem an den Mann mit der Last an seinem Bein denken), und es fiel mir ungeheuer schwer zu verhüten, daß das Butterbrot bei dem Hin- und Herdrehen am Knöchel wieder herausrutschte. Zum Glück gelang es mir hinauszuschlüpfen, und ich konnte diesen Teil meines regen Gewissens in meiner Bodenkammer zur Ruhe niederlegen.
»Horch!« rief ich, als ich mit Rühren fertig war und mich vorm Schlafengehen noch einmal ordentlich in der Kaminecke durchwärmte; »waren das Kanonen, Joe?«
»Ja!« sagte Joe. »Wieder'n Sträfling durchgebrannt.«
»Was heißt das, Joe?« fragte ich.
Frau Joe, die es immer auf sich nahm, mir Sachen, die ich nicht verstand, auseinanderzusetzen, sagte in bissigem Tone: »Ausgerissen – ausgerissen.«
Die Erklärung wirkte so ziemlich wie Teerwasser.
Während Frau Joe mit dem Kopf über die Näharbeit gebeugt dasaß, fixierte ich Joe und bildete mit den Lippen die leise Frage: »Was ist ein Sträfling?«
Darauf formte Joe seine Lippen zu einer in so hohem Maße gedrechselten Erwiderung, daß ich nichts daraus zu entziffern imstande war als: »Pip.«
»Gestern nacht ist ein Sträfling durchgebrannt«, sagte Joe laut, »nach dem Schuß bei Sonnenuntergang. Sie haben die Signalschüsse für ihn abgefeuert. Jetzt scheint's, feuern sie die Signalschüsse für einen anderen ab.«
»Wer feuert denn?« fragte ich.
»Hol der Teufel den Bengel«, warf meine Schwester ein, indem sie mich über die Arbeit hinweg mit finsteren Blicken maß, »was der für Fragen stellen kann! Frage nach nichts, und man wird dir nichts weismachen.«
Sie war, so dachte ich, nicht eben höflich gegen sich selbst, wenn sie mir andeutete, sie würde mir etwas weismachen, gesetzt, ich fragte sie etwas. Aber sie war nie höflich, außer wenn Gesellschaft da war.
An dieser Stelle vermehrte Joe in hohem Maße meine Neugier, indem er sich die größte Mühe gab, den Mund recht weit aufzusperren und mit den Lippen ein Wort zu formen, das mir ganz so aussah wie: »Ulkt.«
Deshalb deutete ich natürlich auf Frau Joe und bildete mit meinem Munde die Frage: »Was? Ulkt sie?« Aber Joe wollte davon durchaus nichts hören, sperrte wieder den Mund ganz weit auf und schüttelte die Form eines sehr nachdrucksvollen Wortes heraus.
Aber ich wußte nichts mit dem Worte anzufangen.
»Frau Joe«, sagte ich, da mir nichts andres übrigblieb, »ich möchte gern wissen – wenn's dir nichts ausmacht –, wo das Feuern herkommt?«
»Gott schütze den Jungen!« rief meine Schwester, in einem Tone, wie wenn sie nicht eigentlich das, sondern eher das Gegenteil meinte; »von den Hulks.«
»Ach so – o!« sagte ich, Joe ansehend. »Hulks!«
Joe hüstelte vorwurfsvoll, wie wenn er sagen wollte:
»Na, ich hab's dir doch gesagt.«
»Und, bitt' schön, was sind denn Hulks?« fragte ich.
»So treibt's dieser Bengel!« rief meine Schwester aus und deutete kopfschüttelnd mit der Nähnadel nach mir hin. »Wenn man ihm eine Frage beantwortet, stellt er gleich ein Dutzend andre. Hulks sind Gefangenenschiffe, direkt jenseits der Marschen.«
Diese Bezeichnung gebrauchten wir immer in unserem Lande für die Gegend.
»Ich möchte wohl wissen, wer auf die Gefangnenschiffe gebracht wird und weshalb man dahin gebracht wird?« fragte ich beiläufig und im Tone ruhiger Todesverachtung.
Das ging der Frau Joe über den Spaß, und sie stand auf.
»Ich will dir was sagen, du Strick«, rief sie, »ich habe dich nicht mit der Hand aufgezogen, damit du einen zu Tode nörgelst. Das würde dann eine Schande für mich sein, anstatt ein Preis. Auf die Hulks kommen die Leute, weil sie morden und weil sie stehlen und betrügen und allerhand schlimme Sachen anstellen; und mit Ausfragen fangen sie dabei immer an. Das ist stets der erste Schritt. Nun scher' dich zu Bett!«
Man gestattete mir nie, eine Kerze mitzunehmen, und als ich so im Dunkeln die Treppe hinaufkletterte mit brummendem Schädel – denn Frau Joe hatte, ihre letzten Worte begleitend, auf meinem Kopf mit ihrem Fingerhut Tamburin geschlagen –, da war ich mir in fürchterlicher Resigniertheit des großen Vorteils bewußt, daß die Hulks für mich so nahe bei der Hand lagen. Es war klar, ich war auf dem Wege dorthin. Ich hatte schon mit Ausfragen angefangen und hatte im Sinne, Frau Joe zu bestehlen.
Seit dieser Zeit – und sie ist jetzt ziemlich weit entfernt – habe ich oftmals gedacht, daß doch wenige wissen, wie verschwiegen ein Kind sein kann, wenn es unter dem Bann der Angst steht. Es ist einerlei, wie unvernünftig diese Angst ist, wenn es nur überhaupt Angst ist. Ich hatte eine fürchterliche Angst vor dem jungen Mann, den es nach meinem Herzen und meiner Leber gelüstetete; ich hatte eine fürchterliche Angst vor meinem Beschützer mit dem eisenbeschlagenen Bein; ich hatte fürchterliche Angst vor mir selber, dem man ein grausiges Versprechen abgenommen hatte; ich hatte keine Hoffnung, mich dieses Versprechens durch die Vermittelung meiner Schwester zu entledigen, die mich alle Augenblicke von sich stieß; ich fürchte mich, daran zu denken, wessen ich in der Verschwiegenheit meiner Angst auf Verlangen hätte fähig sein können.
Wenn ich in dieser Nacht überhaupt schlief, so geschah es nur, um fürchterlich zu träumen. Ich trieb mit einer starken Springflut den Fluß hinunter nach den Hulks hin; ein geisterhafter Seeräuber rief mir, als ich an der Galgenstation vorbeikam, durch ein Sprachrohr zu, es wäre besser, ich käme ans Ufer und ließe mich gleich hängen und machte erst nicht noch lange Fisematenten. Ich fürchtete mich davor, zu schlafen, selbst wenn ich Neigung dazu verspürt hätte, denn ich wußte, daß ich beim ersten Dämmern des Morgens die Speisekammer plündern mußte. In der Nacht konnte es nicht geschehen, denn damals war man noch nicht so weit, daß man sich durch einfache Reibung Licht verschaffen konnte. Wenn ich Licht hätte haben wollen, so hätte ich es aus Feuerstein und Stahl herausschlagen müssen, und das hätte soviel Spektakel gemacht, wie wenn der Seeräuber selbst mit seinen Ketten geklirrt hätte.
Sobald sich das große schwarzsamtene Leichentuch draußen an meinem kleinen Fenster mit Grau durchsetzte, stand ich auf und ging hinunter. Jegliche Diele unterwegs und jegliches Knarren in jeglicher Diele rief hinter mir her: »Haltet den Dieb!« und »Stehen Sie auf, Frau Joe!«. In der Speisekammer, die der Jahreszeit gemäß weit reichlicher versehen war als sonst, bekam ich einen gewaltigen Schreck, als ich einen Hasen an den Beinen dort hängen sah, und diesen Hasen, wie mir beinah so vorkam, als ich mich halb von ihm abwandte, darüber ertappte, daß er mit den Augen blinzelte. Ich hatte keine Zeit, mich davon zu überzeugen, ich hatte keine Zeit, Aussuche zu halten, ich hatte zu nichts Zeit, denn ich hatte keine Zeit übrig. Ich stahl etwas Brot, etwas Käserinde, ungefähr einen halben Krug gehacktes Fleisch (das ich mitsamt der Butterstulle von gestern abend in mein Taschentuch einband), Kognak aus einer steinernen Flasche (den ich in eine Glasflasche füllte, welche ich heimlich zur Zubereitung jener berauschenden Flüssigkeit, des Süßholz-Wassers, oben in meinem Zimmer benutzte, worauf ich den Inhalt der steinernen Flasche mit Wasser aus einem Krug im Küchenschrank verdünnte), einen Knochen mit sehr wenig Fleisch daran und eine schöne, runde, feste Schweinefleisch-Pastete. Ich wäre beinahe ohne die Pastete gegangen, wenn ich mich nicht versucht gefühlt hätte, auf ein Brett hinaufzusteigen, um nachzusehen, was das wohl für ein Ding sei, was sie da so sorgfältig in einer verdeckten, irdenen Schüssel in eine Ecke geschoben hatten, und da sah ich denn, daß es eine Pastete war, und nahm ich sie in der Hoffnung, daß sie nicht zu einer allzu baldigen Mahlzeit bestimmt sein möchte und eine Zeitlang nicht vermißt werden würde.
Es war ein sehr feuchter Morgen und lag viel Reif. Ich hatte die Feuchtigkeit auf der Außenseite meines kleinen Fensters liegen sehen, wie wenn ein Kobold dort die ganze Nacht geweint und mein Fenster als Taschentuch benutzt hätte. Jetzt sah ich die Feuchtigkeit auf den kahlen Hecken und dürren Gräsern liegen, wie eine gröbere Art von Spinngeweben, die sich von Zweig zu Zweig und von Halm zu Halm spann. Auf jedem Zaun und jedem Tor lag klamme Nässe; und der Marschennebel war so dicht, daß der Holzfinger des Weisers, der die Leute nach unserem Dorfe wies – eine Weisung, die sie nie befolgten, denn sie kamen nie dorthin –, nicht zu sehen war, bis ich dicht darunter stand. Dann, wie ich so zu ihm aufsah und Tropfen Wasser von ihm herabträufelten, erschien es meinem bedrückten Gewissen wie ein Phantom, das mich den Hulks weihte.
Der Nebel war noch schwerer, als ich auf die Marschen hinauskam, und anstatt, daß ich gegen alles anrannte, rannte alles gegen mich an. Das war sehr unangenehm für ein schuldbewußtes Gemüt. Die Schleusen, Deiche und Dämme kamen durch den Nebel auf mich losgestürzt, wie wenn sie so deutlich als nur möglich riefen: »Ein Junge mit jemand andrem seiner Fleischpastete. Haltet ihn auf!« Das Vieh kam mit gleicher Plötzlichkeit auf mich ein, stierte sich die Augen aus dem Kopf und blies aus seinen Augen heraus: »Hollah, Dieb von einem Jungen!« Ein schwarzer Ochse mit einer weißen Binde um den Hals – der meinem regen Gewissen fast wie ein kirchlicher Herr vorkam – fixierte mich so hartnäckig mit den Augen und bewegte, als ich mich herumdrehte, seinen plumpen Kopf in so anklagender Gebärde, daß ich nicht umhinkonnte, mit erstickter Stimme ihm zuzurufen: »Ich konnte nicht dafür, mein Herr! Ich hab's nicht für mich selber genommen!« Daraufhin senkte er den Kopf, blies eine Wolke Rauches aus der Nase und verschwand, indem er mit den Hinterbeinen ausschlug und mit dem Schwanze wedelte.
Diese ganze Zeit über eilte ich dem Flusse zu; aber so schnell ich auch lief, so konnte ich doch nicht die Füße warm bekommen, an die die Kälte geschmiedet zu sein schien, gleichwie das Eisen an das Bein des Mannes, zu dem ich hinlief, geschmiedet war. Ich kannte den Weg nach der Batterie ziemlich genau, denn ich war einmal an einem Sonntag mit Joe dort unten gewesen, und Joe hatte sich auf ein altes Geschütz gesetzt und mir gesagt, wenn ich erst bei ihm regelrechter Lehrling auf Kontrakt wäre, dann würden wir uns hier schon oftmals einen ordentlichen »Fez« leisten. Indessen war ich bei dem wogenden Nebel schließlich doch ein wenig zu weit nach rechts gegangen, und demzufolge mußte ich dem Flußufer entlang wieder zurückzukommen suchen und auf den lockeren Steinen, die auf dem Schlamm lagen, und den Pfählen, die die Wassergrenze zur Flutzeit absteckten, dahinbalancieren. In aller Eile ging ich hier meines Weges und hatte eben einen Graben überschritten, der, wie ich wußte, sehr nahe bei der Batterie lag, und war eben den Damm jenseits des Grabens hinaufgeklettert, als ich den Mann vor mir sitzen sah. Sein Rücken war mir zugekehrt und er hatte die Arme gekreuzt und nickte nach vorn, schwer vom Schlaf.
Ich glaubte, er würde sich mehr freuen, wenn ich ihm so unerwartet sein Frühstück brächte, deshalb trat ich leise vor und berührte ihn an den Schultern. Er sprang sofort auf, und – da war es nicht derselbe Mann, sondern ein anderer!
Und doch trug dieser Mann auch ein grobes Grau und hatte ein großes Eisen am Bein und war lahm und heiser und kalt und war in allem ganz wie der andere Mann; außer daß er nicht dasselbe Gesicht hatte und einen Filzhut mit flacher, breiter Krempe und niedrigem Deckel auf dem Kopfe trug. All dies sah ich in einem Augenblick, denn es blieb mir nur ein Augenblick Zeit; er schrie mir einen Fluch zu und führte einen Hieb nach mir – es war ein weit ausgeholter, kraftloser Schlag, der mich verfehlte und ihn selber fast zu Boden warf, denn er stolperte dabei – und dann lief er in den Nebel hinein und strauchelte zweimal unterwegs – und dann war er mir aus den Augen.
»Es ist der junge Mann!« dachte ich, und mein Herz war wie von einer Kugel durchbohrt, als ich die Person erkannte. Ich hätte wahrscheinlich auch einen Schmerz in der Leber verspürt, wenn ich gewußt hätte, wo sie saß.
Hiernach war ich bald an der Batterie, und dort war der rechte Mann. Er schlug die Arme um sich und hinkte hin und her, wie wenn er die ganze Nacht über nicht aufgehört hätte zu hinken und die Arme um sich zu schlagen. So erwartete er mich. Es fror ihn entsetzlich, davon war ich fest überzeugt. Ich erwartete halb und halb, er würde vor meinen Augen umsinken und vor bitterer Kälte sterben. Seine Augen sahen auch so hungrig drein, daß, als ich ihm die Feile reichte, mir der Gedanke kam, er würde wohl versucht haben, sie zu essen, wenn er nicht mein Bündel gesehen hätte. Diesmal kehrte er mich nicht herum, um sich das zu holen, was ich bei mir hatte, sondern ließ mich aufrecht dastehen, während ich das Bündel öffnete und die Taschen leerte.
»Was ist in der Flasche, Junge?« fragte er.
»Kognak«, sagte ich.
Er war bereits dabei, etwas Gehacktes in der seltsamsten Art und Weise die Kehle hinunter zu propfen – mehr wie ein Mann, der es in wilder Eile irgendwo versteckte, als ein Mann, der es aß – aber er ließ sofort davon ab und nahm etwas von dem Schnaps. Er zitterte die ganze Zeit über so heftig, daß es eine recht lobenswerte Leistung war, als er den Hals der Flasche zwischen seinen Zähnen hielt, ohne ihn abzubeißen.
»Sie haben, glaube ich, kaltes Fieber«, sagte ich.
»Ich bin ganz deiner Ansicht, Junge«, sagte er.
»Es ist böse hierherum«, sagte ich ihm. »Sie haben draußen auf den Marschen gelegen, und da kriegt man riesig schnell kaltes Fieber; Rheumatismus auch.«
»Ich will mein Frühstück essen, ehe ich daran zu Grunde gehe«, sagte er. »Das will ich tun, wenn ich auch an den Galgen, der dort drüben steht, gleich im nächsten Augenblick geknüpft werden sollte. Insoweit will ich Herr über den Frost werden, da wette ich mit dir.«
Er verschlang mit einem Male gehacktes Fleisch, Knochen, Brot, Käse und Pastete. Dabei starrte er mißtrauisch um sich herum in den Nebel hinein und hielt oft inne, um zu lauschen, wobei selbst seine Kinnbacken ihre Bewegung aussetzten. Ein wirklicher oder eingebildeter Laut, ein Klirren auf dem Fluß oder das Atmen eines Tieres auf dem Marsche ließen ihn jetzt jäh emporfahren, und er fragte plötzlich:
»Du bist doch kein betrügerischer Lump? Du hast doch niemanden mitgebracht?«
»Nein, Herr! Nein!«
»Auch keinem den Auftrag gegeben, dir zu folgen?«
»Nein!«
»Schön«, sagte er, »ich glaube dir. Du wärst wahrhaftig bloß ein wilder junger Hund, wenn du bei diesem Alter schon mithelfen könntest, ein elendes Wurm zu hetzen, das dem Tode und dem Düngerhaufen schon so nahe gehetzt worden ist wie ich armes, elendes Wurm!«
Etwas klapperte in seiner Kehle, als ob er Werke darin hatte, wie eine Uhr, und gleich schlagen würde. Und er fuhr sich mit dem groben zerlumpten Ärmel über die Augen.
Ich bemitleidete ihn, weil er so verlassen war, und als ich sah, wie er sich allmählich über der Pastete beruhigte, faßte ich mir ein Herz und sagte:
»Es freut mich, daß es Ihnen gut bekommt.«
»Hast du gesprochen?«
»Ich sagte, es freut mich, daß es Ihnen so wohl bekommt.«
»Ich danke dir, mein Junge. Es bekommt mir sehr gut.«
Ich hatte oft einen großen Hund von uns beobachtet, wenn er sein Futter fraß; und jetzt bemerkte ich eine entschiedene Ähnlichkeit in der Art und Weise, wie der Hund fraß, und der Art und Weise, wie der Mann aß. Der Mann nahm starke, scharfe, plötzliche Happen, ganz wie der Hund. Er verschlang oder vielmehr schnappte jeden Bissen auf, und zwar viel zu schnell und in zu rascher Folge; und er sah während des Essens von der Seite hierhin und dorthin, wie wenn er in jeder Richtung Gefahr vermutete und immer glaubte, es könnte jemand kommen und ihm die Pastete wegnehmen. Mir schien, er war überhaupt zu unruhig, als daß er sein Mahl ordentlich hätte genießen können, ohne mit den Kinnbacken nach dem Gaste zu schnappen. In allen diesen Einzelheiten glich er ungemein dem Hunde.
»Ich fürchte, Sie werden nichts davon für ihn übriglassen«, sagte ich schüchtern nach einem Schweigen, währenddessen ich unschlüssig mit mir selbst geworden war, ob es sich mit der Höflichkeit vertrüge, diese Bemerkung zu machen. »Wo das herkommt, ist nichts mehr zu holen.«
Die Gewißheit dieses Umstandes trieb mich dazu, ihm diesen Wink zu geben.
»Etwas für ihn übriglassen? Wer ist er?« fragte mein Freund, indem er im Zerkauen der Pastetenkruste innehielt.
»Der junge Mann, von dem Sie sprachen, der sich mit Ihnen versteckt hält.«
»Ah so!« entgegnete er mit einem groben Lachen.
»Er? Ja, ja! Der braucht kein Essen.«
»Mir kam's so vor, als sähe er ganz so aus, wie wenn er aber doch was brauchte«, sagte ich.
Der Mann hielt im Essen inne und betrachtete mich sofort und hoch erstaunt.
»Er sah so aus? Wann?«
»Jetzt eben.«
»Wo?«
»Dort drüben«, sagte ich und zeigte mit dem Finger; »dort drüben, als ich ihn fand, nickte er im Schlaf, und zuerst glaubte ich, Sie wären es.«
Er hielt mich am Kragen und starrte mich so furchtbar an, daß ich glaubte, sein erster Gedanke, mir die Kehle abzuschneiden, müsse wieder lebendig in ihm geworden sein.
»Gekleidet wie Sie, wissen Sie, bloß noch mit einem Hut auf dem Kopfe«, erklärte ich zitternd; »und – und –« ich ließ es mir sehr angelegen sein, das möglichst zart auszudrücken – »und er hatte auch – denselben Grund wie Sie, sich eine Feile zu borgen. Haben Sie nicht gestern nacht die Kanone gehört?«
»Also hat's doch geschossen!« sagte er zu sich selbst.
»Das wunderte mich, daß Sie das nicht genau gehört haben«, entgegnete ich; »denn wir haben's doch zu Hause gehört, und das ist noch ein Stückchen weiter ab, und noch dazu waren wir in der Stube.«
»Na, guck' mal an!« sagte er. »Wenn ein Mensch auf dieser Ebene allein ist mit leichtem Kopf und leichtem Magen und umkommt vor Kälte und Mangel, dann hört er die ganze Nacht nichts weiter als Kanonenschüsse und rufende Stimmen. Und er hört nicht bloß. Er sieht sogar die Soldaten mit ihren roten Röcken, die von den Fackeln erhellt werden, sich dicht um ihn schließen. Er hört, wie seine Nummer gerufen wird, hört, wie sie ihm ihr ›Halt‹ zuschreien, hört das Rasseln der Musketen, hört die Befehle: ›Fertig! Legt an! Nehmt ihn ordentlich aufs Korn! Leute!‹ und sie legen Hand an ihn – und dann war's alles nichts! Ja, wenn ich eine Patrouille in der letzten Nacht gesehen habe – in Reih' und Glied herankommend, hol' sie der Satan! mit ihrem regelrechten Trapp-Trapp –, dann hab' ich ihrer auch gleich hundert gesehen. Und erst das Geschieße! Ja, ich hab' den Nebel vom Kanonendamm beben sehen, als es schon lange heller Tag war. Aber dieser Mann«, – er hatte all das übrige ganz so gesagt, wie wenn er auf meine Gegenwart vergessen hätte. »Hast du etwas an ihm wahrgenommen?«
»Er hatte ein arg zerschundnes Gesicht«, sagte ich, indem ich mich auf etwas besann, wovon ich kaum wußte, daß ich es wußte.
»Hier etwa?« sagte der Mann, indem er sich erbarmungslos mit der Handfläche auf die linke Backe schlug.
»Ja! dort!«
»Wo ist er?«
Er stopfte das bißchen Essen, das er noch übrighatte, in die Brusttasche seiner grauen Jacke. »Zeige mir den Weg, den er gegangen ist. Ich will ihn niederschlagen wie einen Blutund. Hol' die Pest das Eisen da an meinem wunden Bein! Reich' uns die Feile, Junge!«
Ich zeigte die Richtung, in der der Nebel den andern Mann verhüllte, und er sah einen Augenblick nach der Seite hin. Dann aber setzte er sich auf das nasse, wirre Gras und feilte wie ein Toller an seinem Eisen herum und beachtete weder mich, noch beachtete er sein Bein, das eine alte Wunde aufwies und blutig war, das er aber so grob behandelte, als hätte
Ich war vollkommen darauf gefaßt, einen Büttel in der Küche zu finden, der darauf wartete, mich in Gewahrsam zu nehmen. Aber es war dort nicht nur kein Büttel, sondern man hatte auch noch nichts von dem Diebstahl gemerkt. Frau Joe war wunderbar emsig bei der Arbeit, das Haus für die Festlichkeiten des Tages herzurichten, und Joe war auf die Küchentreppe gesetzt worden, damit er nicht in die Kehrichtschaufel geraten möge – ein Hausgerät, gegen das ihn sein Schicksal früher oder später immer hinführte, sobald meine Schwester mit Eifer den Fußboden ihrer Wohnung sauberfegte.
»Und wo zum Teufel bist Du denn gewesen?« war Frau Joes Weihnachtsgruß, als ich und mein Gewissen uns zeigten.
Ich sagte, ich wäre unten gewesen und hätte mir die Kirchenmusik mit angehört.
»Na schön!« bemerkte Frau Joe. »Du hättest Schlimmeres tun können.«
Ohne Zweifel, dachte ich.
»Vielleicht, wenn ich nicht die Frau eines Grobschmieds wäre und (was dasselbe ist) nicht eine Sklavin wäre, die nie ihre Schürze ablegt, dann hätte ich am Ende auch gehen können und mir die Kirchenmusik anhören«, sagte Frau Joe. »Ich bin ja selber ein sehr großer Freund von Kirchenmusik, und das ist der allerbeste Grund, weshalb ich nie welche zu hören kriegen darf.«
Joe, der sich nach mir in die Küche wagte, da die Kehrichtschaufel vor uns verschwunden war, fuhr sich, als Frau Joe ihm einen Blick zuschleuderte, mit dem Handrücken über die Nase in versöhnender Gebärde, und als Frau Joe den Blick wieder von ihm gelenkt hatte, legte er heimlich die beiden Zeigefinger übereinander und hielt sie mir hin, denn das war unser verabredetes Zeichen, wenn Frau Joe wieder einmal ein Kreuz für uns war. Und das war in so hohem Maße ihr normaler Zustand, daß es mit Joe und mir in Hinsicht auf unsere Finger oft ganze Wochen lang genau so stand wie mit den Denkmälern von Kreuzfahrern in Hinsicht auf ihre Beine.
Wir sollten ein herrliches Mittagsessen bekommen, bestehend aus einer gepökelten Schweinskeule mit Grünkohl und einem paar gebratener Hühner mit Fülle. Eine hübsche Pastete aus gehacktem Fleisch war gestern morgen gemacht worden (was den Umstand erklärte, daß das gehackte Fleisch noch nicht vermißt worden war), und der Pudding war schon beim Kochen. Diese ausgedehnten Vorkehrungen gaben dazu Anlaß, daß wir ohne alle Förmlichkeit beim Frühstück sehr knapp gehalten wurden.
»Denn«, sagte Frau Joe, »es fällt mir gar nicht ein, euch erst noch groß vollzustopfen und herumzurennen und aufzuwaschen, wo ich sowieso schon soviel zu tun habe, das sage ich euch!«
So wurden uns denn unsere Butterbrote hingelegt, wie wenn wir zweitausend Mann auf einem Eilmarsch gewesen wären anstatt ein Mann und ein Knabe in ihrem Hause; und wir nahmen aus einem Krug auf dem Anrichtetisch mit abbittenden Gesichtern Schlucke verdünnter Milch. Inzwischen steckte Frau Joe reine weiße Gardinen an und nagelte an Stelle der alten eine neue geblümte Garnierung über den breiten Kamin und nahm die Hülle von dem kleinen Prunksalon auf der anderen Seite des Flures – ein Heiligtum, das sonst nie enthüllt wurde, sondern die übrige Zeit des Jahres unter einem kühlen Schleier von Silberpapier lag, der sich sogar über die vier kleinen weißen Pudel aus Steingut erstreckte, von denen jeder eine schwarze Nase und einen Blumenkorb im Maule hatte und jeder das genaue Abbild des andren war. Frau Joe war eine sehr saubere Haushälterin, aber sie hatte eine ausgesuchte Fertigkeit, ihre Sauberkeit noch unbehaglicher und häßlicher erscheinen zu lassen, als der Schmutz selber hätte erscheinen können. Reinlichkeit kommt zunächst der Gottseligkeit, und manche Leute tun ja das gleiche mit ihrer Religion.
Meine Schwester hatte gar soviel zu tun, und so schickte sie Stellvertreter nach der Kirche, das heißt, Joe und ich gingen. In seinen Arbeitskleidern war Joe ein wohlgebauter Grobschmied von charakteristischem Äußern; in seinem Feiertagskleid glich er mehr einer Vogelscheuche in guten Verhältnissen als sonst etwas andrem. Nichts, was er an diesem Tage trug, paßte ihm oder schien ihm zu gehören; und alles, was er an diesem Tage trug, schien ihn zu kratzen und zu jucken. Bei der gegenwärtigen Festlichkeit trat er aus seiner Stube heraus, als die munteren Glocken läuteten, ein Bild des Jammers in einer vollständigen Tracht von sonntäglichen Bußkleidern. Was mich anbetrifft, so muß meine Schwester, glaube ich, einen allgemeinen Begriff gehabt haben, als wäre ich ein jugendlicher Missetäter, den ein obrigkeitlicher Geburtshelfer (an meinem Geburtstage) in Gewahrsam genommen und ihr ausgeliefert hatte, damit man gemäß der beleidigten Majestät des Gesetzes mit ihm verfahren möge. Ich wurde immer ganz so behandelt, wie wenn ich trotz aller Wahrsprüche der Vernunft, Religion und Sittlichkeit und zuwider allen abratenden Einwendungen meiner besten Freunde darauf bestanden hätte, geboren zu werden. Selbst als man mich mitnahm, um mir einen neuen Anzug machen zu lassen, erhielt der Schneider Anweisung, den Anzug als eine Art Besserungsmittel zu halten und mir auf keinen Fall den freien Gebrauch meiner Glieder darin zu verstatten.
Joe und ich auf dem Kirchgang müssen daher für mitleidige Gemüter ein rührendes Bild abgegeben haben. Und doch war, was ich nach außen litt, nichts gegen das, was ich im Innern durchzukämpfen hatte. Dem Entsetzen, das mich jedesmal ergriffen hatte, wenn Frau Joe nach der Speisekammer ging oder auch nur die Stube verließ, ließen sich mir noch die Gewissensbisse zur Seite stellen, mit denen mein Gemüt bei der Untat meiner Hände verweilte. Unter der Last meines schlimmen Geheimnisses erwog ich bei mir selbst, ob die Kirche wohl, wenn ich mich ihr entdeckte, mächtig genug sein würde, mich vor der Rache des fürchterlichen jungen Mannes zu schützen. Es kam mir der Gedanke, daß der Augenblick, wo das kirchliche Aufgebot gelesen wurde und der Geistliche sagte: »Jetzt habt ihr's zu erklären!«, die rechte Zeit für mich wäre, aufzustehen und um ein Gespräch unter vier Augen in der Sakristei anzuhalten. Doch bin ich bei weitem nicht überzeugt, ob ich nicht unsre kleine Gemeinde durch diese äußerste Maßregel in Erstaunen gesetzt hätte, falls es nicht eben Weihnachtstag anstatt eines bloßen Sonntags gewesen wäre.
Herr Wopsle, der Küster der Kirche, sollte mit uns speisen; ebenso Herr Hubble, der Stellmacher, und Frau Hubble und Onkel Pumblechook (Joes Onkel, aber Frau Joe eignete ihn sich zu), der ein wohlsituierter Samenhändler in der nächsten Stadt war und in eignem Wagen fuhr. Die Stunde des Mittagessens war halb zwei! Als Joe und ich nach Hause kamen, fanden wir den Tisch schon gedeckt, und Frau Joe war fertig und bereit, und das Essen war so gut wie fertig und bereit, und die vordere Haustür stand offen (was sonst niemals der Fall war), um die Tischgesellschaft hereinzulassen, und alles war prächtig und hoch hergerichtet. Und noch immer kein Wort von dem Diebstahl.
Die Zeit kam, ohne für meine Gefühle irgendwelche Erleichterung mit sich zu bringen, und die Tischgesellschaft kam. Herr Wopsle hatte neben einer römischen Nase und einer großen, glänzenden, kahlen Stirne eine tiefe Stimme, auf die er ungemein stolz war. Ja, es stand unter seiner Bekanntschaft niet- und nagelfest, daß er, wenn man ihm nur den Willen lassen könnte, den Geistlichen im Verlesen von Predigten unendlich übertreffen würde; er selber beteuerte, wenn die Kirche aufgemacht würde – das heiße, für Konkurrenzpredigten aufgemacht würde –, so würde er nicht daran verzweifeln, einen großen Erfolg in ihr zu ernten. Da aber die Kirche zur Konkurrenz nicht offenstand, so war er, wie gesagt, nur unser Küster. Aber er war auf das Amen des Pfarrers fürchterlich schlecht zu sprechen; und wenn er den Psalm verlas – wobei er immer den ganzen Vers zum besten gab –, sah er sich zuerst in der ganzen Gemeinde um, wie wenn er sagen wollte: »Sie haben meinen Freund dort eben gehört; jetzt seien Sie, bitte, mal so gut und sagen Sie mir, was Sie von der folgenden Art und Weise meinen!«
Ich machte der Gesellschaft die Tür auf, indem ich so den Glauben erweckte, als wäre es unsre Gewohnheit, diese Tür zu öffnen – und ich öffnete sie zuerst für Herrn Wopsle, dann für Herrn und Frau Hubble und zuallerletzt für Onkel Pumblechook. NB. Ich durfte ihn nicht Onkel nennen, das war bei bitterster Strafe verboten.
»Frau Joe«, sagte Onkel Pumblechook, ein großer, langsamer Mann von mittleren Jahren und schwerem Atem, mit einem Munde wie ein Fisch und blöden Glotzaugen und sandfarbenem Haar, das ihm auf dem Kopfe zu Berge stand, so daß er ganz so aussah, als wäre er eben beinahe erwürgt worden und hätte sich eben in dieser Minute erst wieder erholt; »ich habe Ihnen mitgebracht, liebe Frau, zur Feier des heutigen Festes – ich habe Ihnen mitgebracht, liebe Frau, eine Flasche Sherry-Wein – und ich habe Ihnen mitgebracht, liebe Frau, eine Flasche Portwein.«
An jedem Weihnachtstage zeigte er sich als ein ewig neues Individuum, sagte genau dieselben Worte und brachte die beiden Flaschen wie ein paar Hanteln mit sich. An jedem Weihnachtstage antwortete Frau Joe, wie sie jetzt antwortete: »Oh, On-kel Pum-ble-chook! Ist das aber nett!« An jedem Weihnachtstage versetzte er, wie er jetzt versetzte: »Es ist nicht mehr, als Sie verdienen; na, und seid ihr denn alle auf dem Posten? Na, und was macht denn der kleine Dreikäsehoch?«
Damit meinte er mich.
Bei diesen Gelegenheiten speisten wir in der Küche und begaben uns dann, wenn die Nüsse und Orangen und Äpfel an die Reihe kamen, nach dem Salon; was genau die gleiche Veränderung war, wie wenn Joe aus seinen Alltagskleidern in die Sonntagskleider fuhr. Meine Schwester war diesmal ungemein vergnügt, wie sie überhaupt in Frau Hubbles Gesellschaft sich weit anmutiger gab als in sonst einer. Ich erinnere mich der Frau Hubble als einer kleinen lockigen scharfkantigen Person in Himmelblau, die eine althergebrachte jugendliche Haltung innehielt, weil sie Herr Hubble geheiratet hatte – ich weiß nicht, in welcher weitentlegenen Zeit –, als sie noch viel jünger gewesen war wie er. Ich erinnere mich Herrn Hubbles als zähen, hochschultrigen, gebückten alten Mannes mit einem Duft nach Sägespänen und außerordentlich weitgespreizten Beinen, so daß ich in den Tagen, wo ich noch ein so kleiner Kerl war, immer ein paar Meilen freien Landes zwischen diesen Beinen erblickte, wenn ich Herrn Hubble einmal die Gasse heraufkommen sah.
Unter dieser lieben Gesellschaft hätte ich mich, auch wenn ich die Speisekammer nicht geplündert hätte, nicht heimisch fühlen können. Nicht, weil ich an einer scharfen Ecke des Tischtuches gequetscht wurde, wobei mir der Tisch den Brustkasten einzudrücken drohte und der Pumblechooksche Ellbogen mein Auge attakierte, auch nicht, weil ich nicht sprechen durfte (denn danach trug ich kein Verlangen), auch nicht, weil man mir die schäbigen Enden der Hühnerkeulen vorlegte und mich mit denjenigen obskuren Ecken Schweinefleisch abspeiste, auf die das Schwein zu Lebzeiten die wenigste Ursache stolz zu sein gehabt hatte. Nein, ich würde mir daraus nichts gemacht haben, wenn sie mich nur in Ruhe gelassen hätten. Aber sie wollten mich nicht in Ruhe lassen. Sie schienen des Glaubens zu sein, sie würden dem Feste die rechte Weihe rauben, wenn sie nicht aller Augenblicke das Gespräch auf mich lenkten und ihr Thema auf mich zuspitzten. Ich hätte ebensogut ein unglückseliger, kleiner Bulle in einer spanischen Arena sein können, so böse verwundeten sie mich mit ihren moralischen Stachelstöcken.