Grüner Juni - Erwin Strittmatter - E-Book

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Erwin Strittmatter

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Beschreibung

Eine Odyssee durch karelischen Urwald, Ägäisches Meer und böhmische Kartoffelfelder, bis er heimkommt ins thüringische Grottenstadt, wo Frau Amanda im Begriff ist, eine Amerikanerin zu werden. Mit einem amerikanischen Lastwagenkonvoi gelangt Esau Matt im grünen Juni 1945 von Böhmen nach Thüringen. Doch in Grottenstadt hat er kein Zuhause mehr, und so muss der Heimkehrer weiterwandern auf der Suche nach Unterkunft und Arbeit. Der Zufall führt ihn zum Garten Eden , und Esau Matt kommt zu seinem 12. oder 13. Beruf: Plantagenarbeiter. Und plötzlich hat er auch Zeit zum Lesen, zum Schreiben und zum Sinnen über Vergangenes und Künftiges, über die Erlebnisse im Krieg, über verlorene Liebe und über den krummen Lebensweg eines wunderlichen Schreibers ... bis er sich aufmacht nach Bossdom. Aber das ist dann schon eine andere Geschichte, die vom »Laden. Dritter Teil«. Diese Erzählung bildet das Zwischenglied zwischen Zweitem und Drittem Teil der »Laden«-Trilogie.

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Seitenzahl: 199

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Über das Buch

Eine Odyssee durch karelischen Urwald, Ägäisches Meer und böhmische Kartoffelfelder, bis er heimkommt ins thüringische Grottenstadt, wo Frau Amanda im Begriff ist, eine Amerikanerin zu werden.

Mit einem amerikanischen Lastwagenkonvoi gelangt Esau Matt im grünen Juni 1945 von Böhmen nach Thüringen. Doch in Grottenstadt hat er kein Zuhause mehr, und so muss der Heimkehrer weiterwandern auf der Suche nach Unterkunft und Arbeit. Der Zufall führt ihn zum Garten Eden, und Esau Matt kommt zu seinem 12. oder 13. Beruf: Plantagenarbeiter. Und plötzlich hat er auch Zeit zum Lesen, zum Schreiben und zum Sinnen über Vergangenes und Künftiges, über die Erlebnisse im Krieg, über verlorene Liebe und über den krummen Lebensweg eines wunderlichen Schreibers ... bis er sich aufmacht nach Bossdom. Aber das ist dann schon eine andere Geschichte, die vom »Laden. Dritter Teil«.

Diese Erzählung bildet das Zwischenglied zwischen Zweitem und Drittem Teil der »Laden«-Trilogie.

Über Erwin Strittmatter

Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie »Der Laden« (1983/1987/1992).

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Impressum

Es ist Kriegs-Ende, das Ende des zweiten Krieges, den ich erlebe. Ich habe Dokumente gefälscht und mich fünf Monate vor Kriegs-Ende aus dem Soldatenstand entlassen. Ich habe Zivilzeug angezogen, das ich schon ein Jahr lang in meinem Gebirgsjägerrucksack umherschleppte, und ich lebe bei einer deutschen Bäuerin in Böhmen, versteckt und unversteckt, je wie die Verhältnisse es erfordern. Ich gehöre zu den Leuten im Ort, die die weiße Fahne auf den Kirchturm tragen, als die Amerikaner anrücken. Ich werde von meiner Bäuerin hinter Rüben versteckt, als die Deutschen noch einmal zurückkommen und die weiße Fahne vom Kirchturm holen. Und als die Deutschen abziehen, schaffen wir die weiße Fahne wieder auf den Kirchturm, und die Amerikaner ziehen ein. Unheldische Taten, an denen ich beteiligt bin, und ich tue diese unheldischen Taten in der Gegend von Oberplan, in der Gegend, in der der Stifter Bertl, ein weitläufiger Schriftsteller-Verwandter von mir, gelebt hat, der auch kein Held nicht war.

Die Amerikaner nehmen mich nicht gefangen, weil die Antifaschisten des Ortes bescheinigen, dass ich schon längere Zeit als Zivilist unter ihnen lebte, und ich bleibe frei. Vielleicht wird einmal Zeit sein, über das alles zu reden, vor allem darüber, dass ich dann doch noch erschossen werden sollte, obwohl ich nicht gern von Krieg und Kriegstaten rede. Diese Abneigung bildete sich in der Kindheit bei mir heraus, weil der Vater und die biertrinkenden Bergarbeiter im Laden meiner Mutter vom Krieg als von ihrem größten Erlebnis im Leben erzählten und das besonders, wenn sie angetrunken waren. Und sie erzählten davon, was sie mitgemacht hatten, und was alles sie ausgehalten hatten, und wie durabel sie waren, nicht totzukriegen. Und eben, sie waren die reinsten Helden, obwohl sie, bevor sie mit dem Biertrinken anfingen, um die Wette bezeugten, standfest sozialdemokratisch zu sein – Sozialdemokraten und nie wieder Krieg!

Es ist Juni, und ich behäufle bei meiner Bäuerin in der Nähe von Oberplan die Kartoffeln. Es ist Juni, der grünste Monat des Jahres, und ich fühle mich wie wiedergeboren, und ich, der das zweite Mal das Ende eines Krieges erlebt, kann mir nicht vorstellen, dass die Führer der Völker noch einmal aufeinander losgehen und Leute in Kriege jagen werden.

Es kommt eine Nachricht zu mir auf das Kartoffelfeld der Bäuerin Sauheitl, und die Nachricht besagt: die Amerikaner haben einen Zivilistentransport nach Thüringen zusammengestellt; Frauen und Kinder, die bei den Bombardierungen nach Süden geflüchtet sind, sollen in den Norden zurückgebracht werden, und ich darf mit.

Ich fahre in einem Lastwagenkonvoi bis in die Gegend von Jena und lasse mich dort in einem Dorf absetzen. Es ist immer noch Juni und ein sonniger Tag, und die Luft ist voller Lerchenlaut, und es wäre mir wohl, wenn die fünf Worte aus einem Gedicht von mir wären, aber sie sind aus einem Gedicht von Storm.

Die Heimatsucher, die auf dem Last-Auto hocken bleiben, rufen mir Viel Glück zu, und es steigt noch jemand aus einem anderen Auto, und als sich die blaugrauen Gaswolken des Amerikaner-Autos verzogen haben, sehe ich eine Frau bei mir stehen, und die Frau ist sehr schlank, sehr blond, trägt schwarze Reithosen und Langstiefel, und jeder Zoll an ihr ist arisch. Sie wäre die Tochter eines Dorfpfarrers, erzählt sie, und ich möge sie einmal besuchen, wenn ich wieder Tritt gefasst hätte.

Ich besuchte sie nie, weil ihre Blondheit mir zuwider war, aber doch vergesse ich sie auch nie, weil sie eine Pfarrerstochter war und schwarze Reithosen anhatte, wie sie die arischsten der Arier trugen.

Ich komme nach Grottenstadt, doch die Frau, von der ich mich vor zwei Jahren verabschiedete, ist nicht mehr meine Frau. Es ist zu einer Scheidung gekommen; sie haben sich scheiden lassen; sie sind voneinander geschieden worden, und mehr so Formulierungen hält die Umwelt für jene Leute bereit, die einst Eheleute waren und nicht mehr zusammengehören.

Damals forschten die Scheidungsrichter noch nach der Schuld. Wahrlich, ich sage euch, stets sind beide Partner unschuldig. Hinter Missehen steht das Leben, das hat seinen Lieferplan, und das braucht Menschen von bestimmter Geistes- und Charakterbeschaffenheit. Es treibt die heterogensten Partner zueinander, um zu Menschen zu kommen, die es braucht. Es treibt die Frau auf den Mann hin und den Mann in die Frau hinein. Und wenn mir einer sagt: ich sehe nichts Besonderes an und in den Kindern, die ich zeugte, so sei ihm erwidert, er möge nicht nur an sein kurzes Leben hier vor dem Vorhang denken, in dem er schon nicht mehr erfährt, wer da aus der vierten Generation seiner Nachkommen aufsteht und andeutet, was das Leben mit ihm gemeint haben könnte.

Menschenpaarungen werden von Staatsbeamten abgesegnet und zu Ehen erklärt, die wieder geschieden werden können. Aber es gibt unter den Geschiedenen Leute, die können die ihnen vom Leben auferlegte Zeugungsstunde nicht und nicht vergessen, und die rennen nach der Scheidung wieder zueinander und werfen sich übereinander. Und dass ichs nicht vergess bei meinem gelehrten Gerede: es kann auch sein, dass nur einer der Partner mit der Sehnsucht nach jener ihm vom Leben vorgeschriebenen Zeugungsstunde beflucht ist und sich nach seinem Partner hinsehnt, nach seinem Partner, der schon nichts mehr von ihm weiß, und es kann sein, dass ich so ein Befluchter bin.

Ich hätte mein Nachkriegsleben an jeder Stelle des Landes aufnehmen können, hätte nach Österreich gehen und dort eine Heimat haben können, aber meine einseitige Sehnsucht verhilft mir zu Ausreden: In Grottenstadt werden die bürokratischen Unterlagen über mein Vorkriegsleben aufbewahrt, ohne die ich nichts und niemand bin, rede ich mir ein, und außerdem ist mir bei der sogenannten Ehescheidung das Sorgerecht für meine beiden Söhne zugesprochen worden.

Der letzte Flieder des Jahres blüht, in den Vorgärten der Villen, die noch heil sind, blühen die Rosen, und auf den von Fliegerbomben zertrümmerten Häusern wächst das erste Mal Unkraut. Ich gehe am Saale-Ufer entlang, und der Schatten der Pappeln legt sich mir schwer auf den Gebirgsjägerrucksack. Ich gehe zu den Häusern der Armen, aber sie, die Geschiedene, wohnt nicht mehr dort. Hat sie wieder geheiratet? Schweig still, vernunftloses Herz!

Sie wohnt jetzt in der Stadtmitte auf dem Hinterhof des Rathauses. Eine Art Hausmeister kommt mir entgegen und befragt mich. Ich will zu Frau Soundso, und ich nenne meinen eigenen Familiennamen. Der Hausmeister weiß sogleich Bescheid. Eine dumme Freude durchfährt mich. Ich freue mich, dass diese Frau meinen Familiennamen noch nicht abgelegt hat.

In ihrer Wohnung werden Sie sie nicht finden, sagt der Hausmeister, und er zwinkert mit dem rechten Augenlid. Ich kann nicht erkennen, ob es sich um ein neurotisches Zwinkern oder um ein Zeichen handelt. Sie finden sie dort drüben auf der amerikanischen Wache, sagt der Mann und weist über den Hof, und wieder das Augenzwinkern, und als ich mich noch einmal nach ihm umsehe, zwinkert er wieder. Es ist doch keine Neurose. Der Hauswart hält mich wohl für ihren Mann, für ihren Heimkehrer; er hat Mitleid mit mir.

Ich stehe vor der Tür des Wachlokals und höre drinnen Männer und Frauen durcheinander reden und lachen, und ich klopfe an, aber mein Anklopfen wird nicht gehört. Ich öffne die Tür vorsichtig, denn soviel weiß ich, ich bin hier nicht erwünscht. Qualm von verbrannten Zigaretten wirbelt mir entgegen. Der Raum ist blau geraucht. Trotzdem sehe ich sie auf dem Schoß eines Soldaten sitzen, und auf dem Schoß eines anderen Soldaten sitzt eine andere Frau. Und die Frau, die einmal meine Frau war, ist bestürzt und hüpft vom Schoß des Amerikaners. Sie ist verwirrt, und sie erklärt ihren Leuten da drinnen in ihrer Verwirrung, dass ich ihr Mann sei. My husband, sagt sie, und der Amerikaner, dessen Schoßkind sie war, springt auf: Husband hin, husband her, was habe ich, ein deutscher Kraut, in seinem Wachlokal zu suchen? Er weist mich herrisch hinaus, und er will mich packen, doch sie stellt sich zwischen uns und sagt zu dem Amerikaner, der so aussieht, als wäre er die Kriegszeit über mit Säuglingsnahrung verpflegt worden: Not more, sagt sie, not more my husband. Nichts mehr, gar nichts, you understand, sagt sie, und so flott Amerikanisch spricht sie schon.

Habe ich geschrien oder gesungen? Bin ich ein Hofsänger? In den Fenstern der Hinterhofwohnungen ringsum erscheinen Gesichter. Sie verschwinden, wenn ich hinaufsehe. Ich drehe mich einmal um mich selber, als wollte ich mir in den Gebirgsjägerrucksack gucken.

Sie kommt heraus zu mir, sie ist ein Stückchen in Camelqualm geräuchertes Amerika und doch appetitlich wie eh und je. Sie hat Rouge auf den Lippen, und die Abgrenzungen vom Rouge sind zerküsst. Sie hat eine Carmenlocke auf der Stirn, und die Locke ist neu für mich, sie scheint aus dem Himmel der Freuden auf sie herabgefallen zu sein.

Der amerikanische Sergeant beobachtet uns durch den Türspalt. Drinnen in der Wachstube kichert die andere Frau. Ich sehe nur diese Frau hier, die mit der Carmenlocke; ihren Haaransatz, habe ich ihn nicht vor Jahren gestreichelt?

Ich frage nach unseren Kindern. Sie weiß nicht, wo sie sind. Sie müsste sie erst suchen, aber sie hat keine Zeit jetzt.

Noch immer hat sich meine Hoffnung nicht erkältet; ich bitte sie um Quartier, für eine Nacht wenigstens. Der Sergeant hinter mir räuspert sich und ruft: Amy! Sie, die früher Amanda hieß, sieht mich mit dem Augenaufschlag an, mit dem sie mich stets besiegte: Es geht nicht, sagt sie. Ich soll den nächsten Tag kommen und mir die Jungen ansehen, sagt sie. Übernachte bei den Kaplans! sagt sie.

Die Kaplans wohnen in einem der kleinen Häuser hinter dem Dammtor. Das Haus ist der zwerglige Vorposten einer Fabrik. Ein gewitzter Grottenstädter hat die Fabrik im ehemaligen Garten des kleinen Hauses hochgezogen. Der Fabrikant lässt Steinbaukästen für Kinder herstellen. Albert Kaplan ist sein Chauffeur, sein Faktotum, sein Allesmacher. Martha Kaplan näht in der Wohnküche um Kleingeld für die Ärmsten der Armen, macht aus weiten Röcken enge Blusen, verlängert, verkürzt, fältelt und kraust, kurzum, sie ist der schneidernde Engel für die Frauen der Nichtshabenden. Albert ist stolz auf seine Martha. Martha ist die Tochter eines Tischlermeisters aus der Gegend von Querfurt. Ich sehe sie gern, ihrer geschickten Hände wegen, obwohl ihr Wesen ein wenig verschnörkelt ist, verschnörkelt wie die Wohnungseinrichtung, die ihr der Herr Vater in die Ehe schmiss.

Die Freundschaft mit den Kaplans brachte uns jene Frau ins Haus, die sich jetzt im Amerikanischen übt, sie war, wie man das heute nennen würde, modebewusst und ließ fortwährend bei Martha Kaplan etwas ändern, kräuseln, raffen oder straffen. Daheim musste ich leider darauf achten, dass wir als Familie auch kochkäse-, quark- und pflaumenmusbewusst blieben.

Geh mal mit zu den Kaplans, hieß es einst. Nette Leute, die Kaplans, hieß es, und ich ließ mich verleiten und ging mit zu den Kaplans, schon um dem Ruf entgegenzuwirken, der sich in der Nachbarschaft über mich ausgebreitet hatte, und der da besagte, ich wäre nicht ganz richtig im Kopf. Meine Nachbarn leiteten das von meinen abendlichen Schreibereien ab, die ich nach ihrer Meinung für nichts und wieder nichts, für nein und nimmermehr betrieb.

Albert Kaplan hat einen Klumpfuß, und sein rechtes Bein ähnelt dadurch einem Ausrufzeichen. Albert spricht schnell, und er spricht heiser, und er macht mich alsbald zu seinem Freund, und er hälts nicht aus, wenn ich nicht jeden zweiten Abend bei ihm in der Küche sitze.

Martha Kaplan sieht ein wenig kritisch auf Alberts Vielrederei herunter. Manchmal ergreift sie einen von Alberts in der Küche umherschwirrenden Sätzen und biegt ihn zurecht wie eine ihrer Haarnadeln. Albert sagt zum Beispiel von seinem Chef, der sei lieb wie ein Esel, und Martha schreitet ein: Einen Chef mit einem Esel vergleichen, das kannst nur du, sagt sie zu Albert, weil deine Eltern Eselvermieter unter der Wartburg waren. Martha dünkt sich von weit her zu sein, und Querfurt ist für sie eine Metropole. Bei uns in Querfurt wird das so gemacht, kann Martha sagen, und wie man es in der Gegend von Querfurt macht, ist für Martha die Norm.

Kaplans verzogener Sohn ist der Besitzer von vielen Ausschusssteinbauklötzen. Auf den wackligen Dielen von Kaplans Häuschen baut er Schlösser und Paläste, und er wird wild und beißt die Erwachsenen, wenn seine Schlösser zusammenfallen. Manchmal schenkt Wilhelmchen unseren Jungen einige von seinen Bausteinen ab. – Kleine-Leute-Freundschaft.

Die Frauen sprechen über ihre Themen in der Gegend der Nähmaschine, und wir, die Männerabteilung, konferieren in der Nähe des Spülbeckens. Hauptredner ist Albert. Es kommt ihm darauf an, für das, was er von sich gibt, gelobt zu werden. Wenn ich zu dem, was er herausstellt, schweige, lobt er sich selber, und wenn ich ihm nicht Gerechtigkeit zubillige, wird er selbstgerecht, und wenn er etwas gesagt hat, was er für wichtig hält, sieht er in den Spiegel über der Abwäsche und streicht sich mit der rechten Hand von vorn nach hinten übers iglige Haar. Albert hält fast alles für wichtig, was er sagt. Ich kenne damals die Wesensarten von Rednern noch nicht. Heute dagegen kenne ich viele, und manche erinnern mich an Albert. Ich sehe, wie sie leiden, wenn sie auf ihrem Rednerpult den heimischen Spiegel vermissen, nachdem sie einen Satz gesagt haben, den sie für wichtig halten.

Auf dem Dachboden der Steinbaukastenfabrik hält sich Albert Tauben: Orientalische Roller. Ich kann Albert keinmal besuchen, ohne seine Tauben anzusehen. Ich verstehe von daheim her dies und das von Tauben, weiß zum Beispiel, wann der Täuber die Taube beim Brüten ablöst, weiß, dass sich Tauben schnäbeln, bevor der Täuber die Taube in Liebe tritt, und ich werde für Albert immer unentbehrlicher.

Orientalische Roller sind Purzeltauben. Sie überschlagen sich im Fluge, rollen von vorn nach hinten oder von hinten nach vorn, rollen sogar seitlich ab. Sieh mal den Schwarzen, und wie der purzelt, kann Albert sagen, und er hält das für wichtig, und er greift in die Tasche und holt seinen Taschenspiegel heraus und besieht sich.

Ich weiß nicht, ob die Kaplans noch leben, und wenn sie leben, wo sie leben, ich aber sitze seit dreißig Jahren in Grünhof und züchte orientalische Rollertauben. Aus welcher Tiefe unseres Vorlebens unsere Vorlieben doch kommen, die heutzutage Hobbies genannt werden müssen, wenn man von Deutschen verstanden werden will! Wir sind, obwohl Russisch verbündet, in der Sprache, in den Moden und Tänzen amerikanisiert, und wer das abstreitet, ist ein Blindling.

Manchmal laden uns die Kaplans zum Sonntags-Essen ein. Ich meine, ihr müsst euch einrichte, müsst spoare, sagt Albert vorsichtig, ich will euch nich beleidige, aber ihr müsst noch dies und das anschaffe, also esst ihr Sonntag bei uns mit, da spoart ihr eine Mahlzeit, sagt er, und danach besieht er sich im Spiegel über der Abwäsche.

An solchen Sonntagen müssen wir schon am Vormittag bei den Kaplans eintreffen, und ich muss Albert beim Auspressen der geschnitzelten Rohkartoffeln für die unerlässlichen Thüringer Sonntagsklöße beistehen. Es genügt, wenn ich die Trockenheit der von ihm ausgepressten Kartoffelschnitzel lobe. Ich würde den Sonntagvormittag lieber dazu verwenden, ein bisschen zu schreiben, aber Freundschaft ist Freundschaft, und ich muss sie halten, weil Martha für jene Frau, die jetzt einem Sergeanten aus Oklahoma gehört, ein neues Kleid näht, preiswert, fast umsonst.

Und doch – Freundschaften sind anfällig, sie kriegen Krankheiten, eine kleine Influenza, die rasch vorübergeht, manchmal eine Angina, die längere Zeit zum Ausheilen braucht, aber auch schwärende Wunden, die schwer oder gar nicht heilen: Eben jenes von Martha Kaplan preiswert genähte Kleid gefällt meiner damaligen Frau nicht; es ist ihr zu flach oder zu glatt in der Brustgegend oder sowas. Und Martha sagt: Du hast eben in dieser Gegend zu wenig. Das ist, wie ich meine, für eine Frau eine ähnliche Beleidigung, wie wenn ich zu einem Mann sage: Weshalb rasierst du dich eigentlich, die paar Federn in deinem Gesicht stören keinen Menschen.

Seit jenem Sonntag geht meine damalige Frau nicht mehr zu den Kaplans, aber ich muss zu den Kaplans gehen, Albert holt mich ab. Niemand kann die Qualitäten seiner Purzeltauben so würdigen wie ich. Unterwegs aber sagt Albert: Du kommst nun immer und kommst und bist die freundschaftliche Treue in Person, und sie kommt nicht und geht ihrer Wege. Ihr passt nicht zusammen, an deiner Stelle würde ich mich lasst scheide! sagt er und besieht sich im Taschenspiegel. Albert fürchtet wohl, dass mich meine Damalige mit der Zeit zurückhalten wird, und dass ich nicht mehr zu ihm und seinen Tauben komme. Nichts zu fürchten, ich bin imstande, Freundschaften über längere Zeiten auszuhalten, auch wenn sie einseitig sind. Stöße von Freundesbriefen auf meinem Schreibtisch beweisen es noch heute.

Ganz selbstlos wars, wie ich mich jetzt erinnere, doch nicht, wenn ich auch ohne meine Frau willig mit Albert zu den Kaplans ging. Albert war damals für mich, was heute für viele Zeitgenossen Radio und Televisor sind, von denen sie sich, ohne es zu bemerken, mit einem Wust aus Pseudo-Fortschritt, Pseudo-Neuigkeiten und Ungeheuerlichkeiten die eigenen Gedanken verschütten und versanden lassen. Ich ließ mir von Albert damals bewusst die eigenen Gedanken vertreiben, denn meine Gedanken, sie wollten aufgeschrieben werden, und sie peinigten mich, weil ich daheim nicht mehr die Ruhe fand, sie aufzuschreiben, außerdem fehlte mir das erste Mal im Leben die Kraft dazu. Wir arbeiteten, gleich als der Krieg ausbrach oder ausgebrochen wurde, täglich zwölf Stunden in der Fabrik, und ich brauchte eine Stunde für den Hinweg und eine Stunde für den Rückweg, weil ich, statt mir eine Wochenkarte für die Eisenbahn zu kaufen, Kinokarten für meine damalige Frau kaufte, um sie bei guter Laune zu erhalten.

Albert kam beim Erzählen so schön von einer Nichtigkeit in die andere, und ich ließ, wie schon gesagt, meine eigenen Gedanken, die Peiniger, bewusst von ihm zersetzen.

Ich habe jene Frau, die jetzt bemüht ist, eine Amerikanerin zu werden, nie so fest in ihren Vorsätzen gefunden wie dennmals. Nein und nein, sie geht nicht mehr zu den Kaplans, und Alberts Redereien sind für sie Gequassel. Die Weigerung der Amateur-Amerikanerin führt alsbald dazu, dass auch Martha Kaplan zu der Meinung gelangt, wir passen nicht zusammen, wir sollten uns scheiden lassen.

Die Vorschläge der Kaplans in dieser Richtung fangen mir an zu missfallen. Ich setze eine Weile aus, zu ihnen zu gehen, aber dann treiben mich andere Umstände zu ihnen: Ich muss mir den Handwagen der Kaplans borgen, um Holzabfälle aus dem Sägewerk für uns heranzufahren. Und dann muss ich mir die Säge und ein Beil von den Kaplans borgen, denn alles das haben wir nicht, nicht Hammer, nicht Zange, und wir konnten es uns bei meinen zweiundzwanzig Mark Wochenlohn nicht kaufen, und ich muss es mir leihen und die Leihgebühr wieder mit regelmäßigen Besuchen bezahlen.

Als der Krieg schon in Fahrt gekommen ist, hängt unter dem Spiegel in der Klein-Leute-Küche der Kaplans eine Weltkarte, und die Weltkarte ist mit Fähnchen bepflanzt, mit Fähnchen auf Stecknadelspitzen, und Albert verbringt mindestens eine halbe Stunde jeden Abend damit, seine Fähnchen zu verpflanzen und dabei zu reden und zu reden, und ich höre ihn immer wieder sagen: Wo wir die Hauptstadt haben, da sind wir auch. Albert sitzt mit den arischen Eroberern in Paris und hat dort sein Stecknadelfähnchen gehisst, und er sitzt mit ihnen in Warschau, in Athen, in Bukarest, und er sagt: So sind wir eben, wir Deutschen. Er hat auch die Frontlinien mit Fäden markiert, mit weißen Fäden, wie ich mich erinnere, und er hat tagtäglich sein Getu, die Fronten nach dem Muster zurechtzurücken, das ihm das Leben der lieben Deutschen draußen in fremden Ländern vorschreibt. Und alles Getu wird von Alberts Gerede begleitet, und ab und zu sieht er in den Spiegel.

Ich soll also zu den Kaplans gehen, sagt die heranwachsende Amerikanerin, und sie empfiehlt es mir mit angehobenen Mundwinkeln, mit jenem Mundzug, den man höhnisch nennt.

Und ich gehe wirklich zu den Kaplans. Wohin soll ich sonst gehen? Ich brauche ein Unterkommen, wenigstens für eine Nacht.

Die Kaplans sind ein bisschen abgemagert, aber sie sind wohlauf, und sie haben ihre Freude an mir. Ich verschaffe ihnen Glücksaugenblicke: Haben wirs nicht immer gesagt, triumphieren sie, ihr passt nicht zusammen. Es gibt ja so Menschen, die Glücksaugenblicke haben, wenn sich ihre Voraussagen bestätigen. Habe ich nicht immer gesagt, dass er fähig ist, seine eigene Mutter zu erschlagen? Nun ist es geschehen, können so Leute sagen und triumphieren.

Die Kaplans freuen sich und triumphieren über meine Geschiedenheit oder wie man das nennt. Sie tun so, als wären wir, sie und ich, von jetzt an fürs Leben vereint, und sie zehren an dieser Vorfreude, bis Albert sagt: Morgen musst du dann aufs Arbeitsamt! Er streicht sich von vorn nach hinten übers Strubbelhaar und sieht in den Spiegel über der Abwäsche. Ich wollte eigentlich erst meine Söhne besehen gehen, aber Martha verbietet es mir geradezu. Zuerst aufs Arbeitsamt! befiehlt sie, es ist der Lebensmittelkarten wegen.

Bevor ich am nächsten Morgen zum Arbeitsamt gehe, muss ich mir Alberts Tauben ansehen. Albert lässt mir damit eine Wohltat angedeihen: Hast so lange keine anständigen Roller gesehen, armer Hund, sagt er. Orientalische Roller sind das Salz in Alberts Lebenssuppe, und ich bewundere Alberts Roller, und ich handle mir damit sein Wohlwollen für den nächsten Tag ein. Ich bewundere vor allem die Rotschecken unter den Tieren, von denen Albert behauptet, er habe sie im Laufe der Zeit erzüchtet. Ich widerspreche ihm nicht, um ihn wohlwollend zu erhalten. Ich werde mich nicht hinstellen und von Alberts rotscheckigen Tauben wie ein Wissenschaftler behaupten, sie wären eine Mutation; das fehlte gerade, und was wäre damit besagt und bewiesen?

Auf dem Arbeitsamt sitzt ein Mann, dem hats ein Bein weggerissen. Man hat ihn gewiss auf diesen Platz gesetzt, als zuletzt alle zweibeinigen Männer für den sogenannten Sturm des Volkes eingezogen wurden. Jeder Mann wurde benötigt, um das Leben des besessenen Arierführers in seinem bombensicheren Bunker in Berlin um eine hundertstel Sekunde zu verlängern.

Der Arbeitsanweiser mustert mich. Die Narben in seinem Gesicht lassen ein wenig Freundlichkeit durchschimmern. Dann starrt er auf meine Karteikarte und liest halblaut die Litanei meiner Berufe herunter: Bäcker, Pelztierzüchter, Farmer, Land-Arbeiter, Veterinärgehilfe, Bereiter, Kraftwagen-Lenker, Chemie-Fach-Arbeiter undsoweiter undsoweiter. Und was sind Sie nun wirklich? fragt er.

Schriftsteller, sage ich. Schreiben Sie Schriftsteller als neuen Beruf in meine Karteikarte.