Sulamith Mingedö, der Doktor und die Laus - Erwin Strittmatter - E-Book

Sulamith Mingedö, der Doktor und die Laus E-Book

Erwin Strittmatter

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Beschreibung

Geschichten, in denen sich Erinnerung und Phantasie aufs schönste vermischen. Vom Tausendkünstler Charlie Wind zum Beispiel wird erzählt und von seinem Versuch, sesshaft zu werden. Oder von dem Puppenspielermädchen Sulamith Mingedö, das auf die Läusebank der Schule verbannt wurde, von gefälschten Liebesbriefen, dem traurigen Ende eines Hundes, von den weltfremden Damen Rasunke und deren Anteil an der Bildung ihres Chauffeurs.

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Seitenzahl: 197

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Über das Buch

Geschichten, in denen sich Erinnerung und Phantasie aufs schönste vermischen.

Vom Tausendkünstler Charlie Wind zum Beispiel wird erzählt und von seinem Versuch, sesshaft zu werden. Oder von dem Puppenspielermädchen Sulamith Mingedö, das auf die Läusebank der Schule verbannt wurde, von gefälschten Liebesbriefen, dem traurigen Ende eines Hundes, von den weltfremden Damen Rasunke und deren Anteil an der Bildung ihres Chauffeurs.

Über Erwin Strittmatter

Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie »Der Laden« (1983/1987/1992).

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Erwin Strittmatter

Sulamith Mingedö, der Doktor und die Laus

Drei Nachtigall-Geschichten

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Zirkus Wind

Sulamith Mingedö, der Doktor und die Laus

Meine Freundin Tina Babe

Impressum

Zirkus Wind

Ich war dreizehnjährig, als das geschah, ja, etwa dreizehnjährig; denn ich besuchte schon die Stadtschule, und es stand für mich fest, dass ich weder Bäcker noch Vertreter für Viehlebertran, kein Kaffeekellner, kein Tierwärter, nicht Clown, nicht Expressbote, auch kein Bereiter oder gar Hilfsarbeiter in Fabriken werden würde, sondern ein Künstler. Ich weiß nicht, ob es an den Verhältnissen oder an mir lag, dass ich all das wurde, was ich aufzählte, aber ein Künstler wurde ich nie, jedenfalls nicht einer, von dem die Leute sagen, wenn er ein Lokal betritt: »Ein Künstler, man hört es«, auch nicht einer, von dem junge Mädchen auf der Straße sagen: »Ein Künstler, man sieht es!«

Die Kunst, die mir damals vorschwebte, war das Löwenbändigen. Ich wollte ein Künstler werden, der mit der Gefahr umgeht, einer, den keine Versicherung aufnimmt, weil er gefressen werden kann, ehe er genügend Versicherungsbeiträge abgeführt hat.

Ich konnte damals bereits die Ziege meiner Großmutter überreden, auf einer fünf Zentimeter breiten Latte zu wandeln, die ich über die Lehnen zweier Stühle gelegt hatte. Ich wusste außerdem, wie man Pferden beibringt, mit dem rechten Vorderhuf zu scharren und kleine Rechenaufgaben für einfältige Zuschauer zu lösen, und ich hatte einen kleinen Hundebastard dazu gebracht, auf den Vorderbeinen zu marschieren.

All diese kleinen Künste wurden mir einmal im Leben, wenn auch nur für kurze Zeit, nützlich; zu der Zeit aber, da unsere Geschichte spielt, züchtete ich in der Kellerwohnung meiner Pensionseltern heimlich weiße Mäuse, die ich sonntags und in den Ferien mit aufs Dorf nahm.

Es war in den Großen Ferien, als einer der beiden Poter-Brüder zu mir kam; ich glaube, es war der kleinere Bruder, ja, es war der mit den kurzen Beinen, dem man von den Beinlingen jeder gekauften Hose dreißig Zentimeter abschneiden musste, um sie an die seines längeren Bruders, dem die Hosen stets zu kurz waren, anzunähen, eine Tatsache, die sogar in eine Sonntagspredigt unseres langen Pfarrers Saretz einging, als er den Gläubigen die »Weisheit der Vorsehung« nahezubringen gedachte.

Ja, jetzt weiß ich genau, dass es der kleine Poter war, der zu mir kam, weil ich mich an seine auseinanderstehenden Zähne erinnere, die ihn in den Stand versetzten, wie eine Ringelnatter zu zischen. »Winds Karle macht einen Zirkus auf, und wenn du ihm zwei weiße Mäuse schickst, wird er dir zwei Freikarten für seine Vorstellungen ausschreiben!«

Schön, ich war bereit: Zwei Mäuse – zwei Freikarten, aber jetzt muss man erst wissen, wer Winds Karle war:

Ich springe ein paar Jahre zurück und in die Zeit hinein, da ich zehn Jahre alt war: Damals kam ein kleiner Zirkus in unser Dorf, und die sechs Ponys, die den Packwagen und die Wohnwagen zogen, wurden uns abends in der Vorstellung herausgeputzt vorgeführt. Außerdem gehörten zu dem kleinen Zirkus ein Tanzbär, ein Steinbock, fünf Zwerghühner, sieben Meerschweinchen, eine Meerkatze und eine Schar gezähmter Pfauentauben.

Die Vorstellung fand im Gasthaussaal statt. Schlanke Halbzigeunermädchen zeigten uns, wie man auf einem dünnen Draht durchs Leben gehen kann, und das Schimmelpony, Kluger Hans genannt, hatte eine Dame aus dem Publikum zu suchen, die sich gern verliebt. Das Pony blieb vor Mina Poter, der Schwester der Poter-Brüder, stehen.

Dann produzierten sich die Halbzigeunermädchen als sogenannte Schlangenmenschen, und ein Tierbändiger, der uns als Mister Charlie angekündigt wurde, machte einen Bärenringkampf, und als Charlie eine Weile mit dem alten Bären gerangelt hatte, flüsterte er ihm etwas ins Ohr, worauf sich der Bär niederfallen ließ und Charlie zum Sieger erklärt wurde. Dieser Mister Charlie war blond, hatte tiefschwarze Augen, und unter seiner Nase lag ein Bärtchen von der Farbe einer Weizenähre.

Dann trat Mac Müllton auf, der Truppenchef; er hatte zuvor den Klugen Hans vorgeführt, aber jetzt wurde behauptet, Mac Müllton wäre ein »Lebender Springbrunnen«. Es wurden zwei Eimer Wasser aus der Gasthausküche gebracht, die Müllton Glas für Glas in sich hineingoss, ohne zu schlucken; das Wasser versickerte in seinem Munde wie in einem Rattenloch auf dem Felde.

Als Müllton die Eimer geleert hatte, glich sein Leib einer Tonne, und um das zu demonstrieren, wurde dem Schnellsäufer ein eiserner Fassreifen um den Bauch gelegt, und als das geschehen war, verschluckte Müllton drei brennende Zigarren, brachte sie brennend wieder hervor, ließ sich Frösche reichen, die wir am Nachmittag im Dorfteich gegen Freikarten gefangen hatten, schluckte fünf Frösche, brachte auch die wieder lebend hervor, und dann wurde »das verehrte Publikum« gebeten, auf den erleuchteten Wirtshaushof zu treten, wo der Herr Direktor sich entleeren und eine Fontäne abgeben würde.

Wir gingen hinter dem wassergefüllten Müllton auf den Wirtshaushof, bildeten dort einen Kreis um ihn, und er stellte sich in der Kreismitte gegen einen eingegrabenen Pfahl, druckste, gluckste, und das Wasser entfloss seinem Munde in einem dünnen Strahl.

Die »verehrten Zuschauer« wurden gebeten, die Reinheit des Wassers zu prüfen und sich unter dem »Lebenden Springbrunnen« die Hände zu waschen. Der lange Poter, der, dem man immer die abgeschnittenen Hosenbeinlinge des jüngeren Bruders annähen musste, wusch sich nicht nur die Hände, sondern auch sein schmales Mumiengesicht und bestätigte, dass es sich um einwandfreies Quellwasser handele.

Ein lebender Springbrunnen! Das hatte man in unserer kleinen Welt noch nicht gesehen! Mister Charlie trat vor und verkündete, dass er sich erlauben würde, ein kleines Trinkgeld einzusammeln, damit man der »Lebenden Fontäne« ein kräftiges Abendbrot zu speisen geben könne, denn sobald der letzte Tropfen Wasser aus Müllton heraus wäre, müsste er eine gute Mahlzeit zu sich nehmen, und diese Mahlzeit wäre die einzige, die Müllton tagsüber haben dürfte, wenn das Wasser bei der nächsten Abendvorstellung wieder sauber aus ihm herausfließen sollte.

Das machte großen Eindruck auf uns, und unsere Zehner klimperten gönnerhaft auf den Essteller, den uns Mister Charlie mit bittenden Augen hinhielt.

Sodann erfuhren wir, wozu der Marterpfahl im Wirtshaushof eingegraben war: Mister Charlie, der Bärenbezwinger, der nun Mister Charlie Wind genannt wurde, sollte sich als Entfesselungskünstler produzieren, und der wasserleere Direktor ließ uns wissen, dass die Entfesselungskunst des Charlie Wind in allen großen Städten der Welt Aufsehen erregt hätte, in Paris, in London und in Groß-Luja, einem Dorfe, zehn Kilometer von unserem Dorfe entfernt.

Mister Charlie Wind trug ein blassblaues Trikot (Strumpfhosen und Leibchen – alles aus einem Stück, würden wir heute sagen), und das Trikot war nur verhalten sauber, wie man sogar beim gelben Licht der Petroleumlampen feststellen konnte, und das konnte nicht anders sein, weil Stricke und Ketten, die bereitlagen, nicht fett- und nicht rostfrei waren.

Die erste Strickschlinge legte der Truppenchef Charlie Wind selber um den Leib, dann aber wurden »beherzte Herren aus dem Publikum« gebeten, Mister Charlie Wind an den Marterpfahl zu fesseln.

In unserem Dorfe gab’s außer dem Gutsherrn keine Herren, doch wenn ein Jahrmarktsausschreier oder ein Artist solche benötigte, tat man ihm den Gefallen, und in unserem Falle spielten die Gebrüder Poter, die tagsüber auf den Feldern des Gutsherrn arbeiteten, die Ersatzherren, und sie machten sich über Mister Charlie Wind her und fesselten ihn mit Ketten und Stricken.

Charlie Wind hatte eine Menge Luft in sich hineingepumpt, ließ nur wenig davon beim Ausatmen heraus und sah seiner Fesselung gelassen zu, nur die kleine Weizenähre von einem Schnurrbart zuckte ab und zu, wenn die Poter-Brüder die Fesseln zu hart anzogen. Einige Dorffrauen stöhnten vor Mitleid, und Mina Poter, die Gernverliebte, jammerte.

Als die Poter-Brüder zurücktraten, rief der Pichler-Karl, Immersäufer und Maulheld: »Habt ihr ihn richtig dingfest gemacht?« Die Poter-Brüder beschworen es: Dieser Mensch würde sich ohne fremde Hilfe nie im Leben abfesseln und von seinem Marterpfahl loskommen! Drei Flaschen Bier zur Wette, die dritte für den Künstler!

Der Truppenchef schlug Mister Charlie aufmunternd auf die Schulter: »Los!«

Wind rüttelte an seinen Fesseln. Alsbald fiel ein Teil der Ketten klirrend zu Boden, und es dauerte keine halbe Minute, da hatte Charlie die Arme frei, und dann war’s nur noch eine Kleinigkeit für ihn, sich vollends abzufesseln.

Mister Charlie tat alles mit Grazie. Die mitleidigen Frauen fassten Sympathie für den geschmeidigen Helden. Wind streifte sich die Bauchschlinge ab und stieg aus dem an der Erde liegenden Wust von Ketten und Stricken, und Mina Poter, die Schwester der beiden Fesselmeister, trat auf ihn zu und hielt ihm einen kleinen Strauß Gänseblumen hin, den sie rasch auf dem Hofe der Gastwirtschaft zusammengepflückt hatte.

Wenn Charlie Wind ein weißer Zigeuner war, war Mina Poter mit ihrem krausen Blondhaar und den Lippen, die aussahen, als hätte sie ein Faustschlag zum Blühen gebracht, eine weiße Negerin. Charlie Wind nahm ihr den Gansblumenstrauß mit einer Verbeugung ab, und es kräuselten sich zwei verwandte Gedanken zu einem Wölkchen am Nachthimmel, als die beiden einander in die Augen sahen.

Die Dorfburschen grölten. Für sie war Mina Poter »eine Durchgezogene«, und dennoch waren sie eifersüchtig, primitiv und roh wie die Stiere.

Freilich war Mina Poter nicht allzu jung mehr und ein Mädchen, das sich vor nichts in der Liebe fürchtete, doch sie liebte ohne Berechnung und auf nichts hin, während die Kleinbauerntöchter, deren Liebesverhalten die Dorfnorm bildete, sich nur gegen Sicherheit, auf Geld und Kleinbesitz hin vergaben.

Das Trikot von Mister Charlie Wind war nach seiner Entfesselung schweißnass, und die Rostflecke darauf waren dunkler geworden; es sah aus, als hätte Charlie Wind Blut bei seiner Befreiung geschwitzt. Der Truppenchef überreichte Wind die bei der Wette abgefallene Flasche Bier und sagte im Tremolo eines Begräbnisredners: »Was ein’ Anfang hat, muss ein Ende haben«, und er sagte es ganz auf seinen und der Zuschauer begrenzten Augenschein vertrauend, und gemeint war, dass Charlie Winds Befreiung das Ende der Vorstellung gewesen war.

Charlie Wind trat ab und nickte Mina Poter zu, und Mina Poter nickte zurück, und wir, das geehrte Publikum, zerstreuten uns langsam und ungern, und wir blieben auf dem Heimweg mehrmals stehen, redeten und stritten über das, was wir gesehen hatten, und die Sterne und die Wolken über uns am Nachthimmel führten ihre Schauspiele auf, ohne danach zu fragen, ob wir sie bewunderten oder nicht.

Am nächsten Morgen stiegen die Bergleute wieder in ihre kohlegeschwärzten Manchesterhosen und huckten sich die Rucksäcke mit den Grubenlampen auf, und die Gutsarbeiter und die Kleinbauern trieben hinaus auf die Felder, und der kleine Zirkus reiste weiter.

Nichts bleibt ohne Eindruck auf der Welt, nicht die kleinste Handbewegung, nicht das schlichteste Wort. Auch der kleine Zirkus hinterließ Eindrücke im Dorf. In mir weckte er den Wunsch, Raubtierbändiger, vielleicht Bärenringer zu werden, Mirko Matzke übte sich auf den Stangen der Viehkoppel im Seiltanzen, und Alfred Meuke wollte Entfesselungsmann werden, und wir fesselten ihn an den Stamm einer kleiner Birke auf der Dorfaue.

Alfred kam nicht frei, und auch wir bekamen ihn nicht mehr los, seine Haut lief blau an, und er fing an zu schreien.

Meine kleine Großmutter (einen Meter und fünfundvierzig Zentimeter lang), von uns Dorfdetektiv genannt, kam; sie kam immer zur rechten Zeit, und sie sägte die Birke ab und befreite Alfred Meuke von seinen Fesselstricken und Ketten.

Eine Weile glaubten wir, die Eindrücke, die der Zirkus hinterlassen hatte, wären verblasst, aber sie waren nur von der Oberfläche unseres Lebens verschwunden, um in der Tiefe weiter zu wirken.

Als ein Vierteljahr vergangen war, wurde gewispert, dann geflüstert und schließlich offenkundig: Mina Poter sollte ein Kind bekommen. »Gesegneten Leibes«, bemerkte der Lehrer; »in anderen Umständen«, tratschten die Dorffrauen; »vom Winde beschält«, höhnten die schadenfrohen Dorfburschen.

Peter Poter, der Vater von Mina, war Zweitkutscher auf dem Gutshof, vertrat zuweilen den Leibkutscher und fuhr die korsettierte Gnädige oder die rothaarige Tochter in die Stadt. Die aufgeworfenen Lippen, das krause Haar und den langsamen Verstand hatte Mina von Vater Poter geerbt, dem zeitlebens eine halblange Tabakspfeife am Munde baumelte. Er hatte das Ende des Pfeifenstiels mit einem Gummi vom Patentverschluss einer Bierflasche beringt, damit ihm der kleine Räucherofen nicht aus dem Mund fiel, wenn er auf dem Kutschbock einschlief.

Auguste Poter ging mit straff nach hinten gekämmtem Haar einher, und ihre abgearbeiteten Hände waren feiertags bis in die Schrunden hinein saubergescheuert. Sie stand dem Leben staunend gegenüber: »Nein, was es nicht alles gibt!« Von der Mutter hatte Mina Liebestüchtigkeit und Bescheidenheit geerbt.

Mina gebar ein Mädchen, geradezu eine Elfe, der der Vater die dunklen Augen und die Mutter ihr Kraushaar mitgegeben hatten.

»Dein Kindsvater war wirklich wie der Wind. Deine Freude war kurz; deine Plage wird lang sein«, sagten die Kleinbauerntöchter zu Mina.

»Wirds eure Plage sein?« fragte Mina. Auch wenn der Wind nur einmal durch die Kirschblüten fährt – die Kirschen werden rot und süß, dachte Mina, und das war die Philosophie, mit der sie lebte, während sie Ausschau nach einem hielt, der sich neben ihrer kleinen Tochter lieben ließ. Ihre Tochter Carla wurde von der ganzen Poter-Familie erzogen und war ein handsames Mädchen.

Und was war mit Charlie? Er zog mit dem kleinen Zirkus durch das Land Brandenburg, zog durch Mecklenburg bis zur Meeresküste und von dort wieder nach dem Süden, und in jedem größeren Dorf gaben sie eine Vorstellung.

Charlie war auf ein Halbzigeunermädchen aus, auf Amila, eine Tochter des Truppenchefs Müllton. Amila, sie sang so schön, wenn sie mit dem bunten Schirm auf dem Drahtseil tanzte, sie tanzte zum eigenen Gesang, und ihre Sprünge auf dem Seil waren leicht und so selbstverständlich wie die eines Bürgermädchens auf einem Fußsteig. Charlie träumte davon, er und Amila würden auf einem Schrägseil aus der Stadt Paris zum Eiffelturm aufsteigen.

Auch Amila liebte Charlie, das wussten alle bei der Truppe, aber die beiden trieben nur eine Augenliebe miteinander. Alle, die vermuten, das Leben in einer fahrenden Truppe wäre zuchtlos, irren: Charlie und Amila waren trotz ihrer Liebe so weit voneinander getrennt wie Sauhirt und Prinzessin.

Charlie hatte sich seinem Truppenchef Müllton verpflichtet, für Amila fünf Jahre um ein Taschengeld zu arbeiten und alle seine artistischen Fähigkeiten dem Unternehmen zur Verfügung zu stellen, um als vollwertiges Mitglied in Mülltons Familie aufgenommen zu werden.

Wenn Charlie in seinem Privatleben auch sparsam mit seinen Kräften umging, einem Liebesabenteuer, das sich ihm unterwegs bot, wich er nicht aus. Seine Liebe flammte in der Nacht auf wie eine Sternschnuppe, und nach dieser Nacht zog er weiter, arbeitete und wartete auf Amila.

Bisher hatte Charlie nie etwas von seinen Zufallsbräuten gehört, doch als sie nach Süden zogen und wieder in die Nähe von Sanddorf kamen, entsann er sich seiner Liebesnacht mit dem Mädchen, das aussah wie eine weiße Negerin. Er erkundigte sich nach ihr und erfuhr, dass sie ein Kind von ihm hatte.

Charlie hätte sich schweigend trollen und um Sanddorf einen Bogen machen können, aber er tat’s nicht. Er wurde neugierig auf sein Kind, er hatte sich verdoppelt; er wollte das sehen.

In der Gutskate der Poters herrschte für einen Augenblick Ratlosigkeit, als Charlie Wind dort erschien, doch als Mina Mister Charlie um den Hals fallen wollte, warfen sich der Vater und die Brüder zwischen sie und den Zurückgekehrten. Charlie Wind, den die Poters hundertmal verwünscht und verflucht hatten, sollte Dresche für seine lange Abwesenheit haben, jene obligaten Prügel, die untreuen Schwiegern und Schwägern auch in vornehmen Familien verabfolgt werden, wie man aus der klassischen Literatur weiß.

Aber die Poters hatten vergessen, dass sie es mit einem Entfesselungskünstler zu tun bekamen, der Kampfgriffe und Tricks kannte, die ihn in den Stand setzten, auch mit drei Gegnern fertig zu werden. Charlie Wind schlug mit seinen Handkanten wie mit stumpfen Äxten um sich, und der Schlag, den Peter Poter auf seine Zweitkutschermütze erhielt, machte, dass der sich auf die Ofenbank setzte, die Augen verdrehte und Mühe hatte, sich wieder im Leben zurechtzufinden. Den Poter-Brüdern aber wurde von je einem Handkantenschlag der rechte Arm so gelähmt, dass sie wie eingewachsen und als müssten sie über etwas nachdenken auf der Stelle standen und zusahen, wie Charlie Wind ihre Schwester familienöffentlich küsste und sie, zusammen mit der kleinen Carla, auf den Arm nahm und schaukelte, als wären Tochter und Mutter zusammen drei Tage alt.

»Was willst du hier, du Lump?« kam es von der Ofenbank, auf der sich Peter Poter zu erholen anfing.

»Wenn ich ein Lump wär, wär ich nicht hier!« sagte Charlie Wind.

Ein Knurren als Antwort von der Ofenbank.

»Also, lasst uns Bruderschaft trinken!« Charlie zog ein flaches Fläschlein Schnaps aus einer Geheimtasche.

Als Peter Poter die Flasche sah, fing er an zu begreifen, dass nicht alles, was er soeben erlebt hatte, ein Traum war, und die Gebrüder Poter tranken linkshändig auf Charlies Wohl, und sie tranken reihum, doch Charlie tat nur so, als ob er trinken würde; er war ein Artist, ein Künstler; der Alkohol war sein Feind.

»Nein, was es nicht alles gibt!« sagte Auguste Poter und reichte Charlie die Hand. Charlie schenkte seiner Schwiegermutter die veilchenblaue Papierrose, die er am Rockaufschlag trug, eine jener künstlichen Blumen, die man auf den Rummelplätzen des Lebens gewinnt.

Auguste Poter dankte verlegen wie eine Jungfrau.

Charlie nahm seine Tochter Carla auf den Arm, küsste und küsste sie, warf sie hoch, fing sie wieder auf und flüsterte ihr zu: »Mach dich steif!«, und Carla verstand sogleich, und Charlie trug sein Kind mit ausgestrecktem Arm wie eine Fahne durch die Katenküche der Poters.

Aber der Schnaps geht zu Ende, der Rausch verraucht, und der Mensch muss essen; er braucht Brot zur Erfüllung dieser Pflicht, und zum Brot braucht er, wenn’s sein kann, Fett und dann und wann eine Scheibe Schweinehinterschinken.

Vorzeiten lieferte das dem Menschen die Natur. Er ging hinaus vor seine Tür, holte sich das Brot vom Felde, fing sich sein Zubrot im Walde, und die Felder und die Wälder gehörten allen, die auf Erden umhergingen. Wann geschah’s also, dass sich die Menschen zu ihren Ungunsten veränderten? Wachten sie eines Morgens auf, um zu erfahren, dass die Feldfrüchte und die Waldtiere ihnen nicht mehr von Himmelsherren geschenkt wurden, sondern dass sie sie jetzt von Herren der Erde durch Arbeit erwerben mussten?

Der Herr von Wülisch wünschte, dass alles, was zu den Poters gehörte, auf den Feldern und im Schlosse arbeitete, denn die Poter-Familie bewohnte eine Kate, die ihm gehörte, und da auch Mister Charlie vorerst gezwungen war, in dieser Kate einzuwohnen, ging er zum Gutsherrn, um seine Arbeitskraft anzubieten.

Der Gutsherr war ein Männchen, das mit meiner Großmutter zusammen ein vortreffliches Liliputanerpaar für eine Schaubude abgegeben hätte. Er hatte sich seinen Sessel mit Kissen polstern lassen, um über seinen Diplomatenschreibtisch sehen zu können. Seine Stimme war leise und vibrierte wie die unaufgezogene Feder einer Wanduhr:

»Welche Profession üben Sie aus?«

»Allround-Mann!« antwortete Charlie.

»Was habe ich darunter zu verstehen?«

»Einen Mann, der alles macht – im Zirkus.«

Zirkus? Hier war kein Zirkus. Was konnte der Poter-Schwiegersohn wirklich?

Entfesselungskunst, Schrägseillauf, Parterre-Akrobatik, auch könne er Pferden das Rechnen beibringen, erklärte Charlie, aber sein Ziel wäre, auf einem Schrägseil aus der Stadt Paris in Frankreich zum Eiffelturm aufzusteigen.

Herr von Wülisch schmunzelte. Er dachte an den Spaß, den es geben könnte, wenn er ein Drahtseil aus dem Gutspark zum Turmkopf der Kirche spannen ließe, um seinem Duzfreund, dem langen Pfarrer, Saretz, während der Predigt einen Mann aufs Dach steigen zu lassen.

Herr von Wülisch sah Charlie aus milchblauen Augen an und machte eine Geste des Bedauerns. Keine Verwendung für Peter Poters Schwiegersohn. Seinen Pferden das Rechnen beibringen lassen? Wozu? Sollten sie ihre Futterrationen ausrechnen und neben den zweibeinigen als vierbeinige Vorwürfe auf den Feldern umhergehen?

Die Audienz war zu Ende. Der Gutsherr nickte, und Charlie verbeugte sich wie früher, wenn er seine Nummer als Entfesselungskünstler beendet hatte.

Niemand wusste, was damals in Charlie Wind vorging. Man trifft im Leben auf Menschen, denen auferlegt zu sein scheint (und woher weiß niemand, auch sie selber wissen es nicht), anders auf sogenannte Lebenstatsachen zu reagieren als ihre Mitmenschen, und sie leiden von Zeit zu Zeit darunter, aber wenn sie sich zwingen, so zu sein, wie man es von ihnen erwartet, sind ihre Tage voll Unzufriedenheit und ihre Nächte voll Unruhe, und ihre Anstrengungen machen sie zu noch heftigeren Sonderlingen.

Auch Charlie Wind wollte damals ein Normalmensch werden, ein Bürger, ein Kleinbürger, wer weiß was, und da er einen starken Willen hatte und Wert darauf legte, ein Allround-Mann zu sein, gelang ihm sein Vorhaben eine große Weile.

Unser Dorf wurde zur Hälfte vom Gutsherrn und zur Hälfte vom Grubenherrn beherrscht, und die Arbeiter unseres Fleckens schieden sich in Ober- und Unterirdische.

Charlie Wind gesellte sich den Unterirdischen bei, wurde dort »eingemeindet« und nunmehr Winds Karle genannt.

Die Arbeit im Braunkohlentiefbau war Karle sympathisch; er hatte es dort, wie als Artist, mit Gefahren zu tun. Es machte ihm nichts aus, auf dem Rücken zu liegen und mit der Haue umzugehen, denn er war gewohnt, sein Brot schwer und in verschiedenen Körperlagen zu verdienen.

Nach einigen Wochen sah Karle aus wie jeder andere Grubenarbeiter, trug seinen Rucksack und hatte einen Vierzollnagel in die Krempe seines alten Hutes gefädelt, an dem er unter Tage seine Karbidlampe aufhängte.

Charlie war sparsam, trank und rauchte nicht, blieb auch unter der Erde seinen artistischen Grundsätzen treu und lieferte seinen Wochenlohn bei Mina Poter ab.

Mina legte wöchentlich einen Geldschein zum Kauf einer Wohnungsausstattung zurück, war glücklich, schien immer hübscher zu werden und verführte Karle, ein zweites Kind mit ihr zu zeugen. Als das geschehen war, sollte geheiratet werden.

Zur Hochzeit hätte Karle Wind am liebsten alle Arbeitskollegen von unter Tage geladen.

»Sie werden mein Erspartes vertrinken«, jammerte Mina. Karle nahm Abstand von der Einladung, doch sogleich stellte sich heraus, dass der künftige Bräutigam nicht getauft war und vom langen Pastor Saretz den Ehesegen nicht bekommen konnte.

Mina drang auf Nachtaufe, und wieder willigte Karle ein, aber die Dorfburschen höhnten, Mina Poter heirate einen, der noch nicht konfirmiert wäre.

Peter Poter entlieh eine Kutsche vom Gutsherrn und fuhr Karle Wind zur Taufe. Taufpaten waren die Poter-Brüder. Eine Stunde später wurden die Heiratsformalitäten auf dem Standesamt erledigt, und Peter Poter fuhr mit dem Brautpaar zur Kirche. Trauzeugen waren die Poter-Brüder.

Soviel Sonderbarkeiten auf einem Haufen hatte die Kirchengemeinde noch nie erlebt.

Als das Hochzeitfeiern auf die Mitternacht zuging, musste Karle Wind allen Verwandten zuprosten und den sogenannten Ehrenschnaps, einen weißen Kornschnaps, trinken; das war in Sanddorf und Umgebung üblich. Der Kornschnaps tat bei Karle Wind, dem Antialkoholiker, alsbald seine Wirkung, und als sich das Brautpaar für den »Erstbeischlaf« zurückzog, legte Karle den geborgten Zylinderhut auf den Fußboden, machte einen Handstand drüber, steckte seinen Kopf hinein und ließ sich wieder in den Fußstand zurückfallen.

»Was es nicht alles gibt!«