Grusel-Thriller 02: Der Todesengel - Ina Elbracht - E-Book

Grusel-Thriller 02: Der Todesengel E-Book

Ina Elbracht

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Beschreibung

Eine Gestalt hält 1945 in den Trümmern des zerbombten Kölns Ausschau nach Kindern, die der Krieg zu leichten Opfern gemacht hat.Fünfundsiebzig Jahre später geht es für Helene Gniffke, eine gewiefte, aber abgebrannte Maklerin, um alles oder nichts. Ihre neue Mandantin, eine ältere, vermögende Frau, scheint die allerletzte Chance zu sein, um den bevorstehenden Ruin abzuwenden. Helene braucht das Geld und übersieht dabei all die merkwürdigen Dinge, mit denen sich die alte Lady umgibt.

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Ina ElbrachtDER TODESENGEL

In dieser Reihe bisher erschienen:

3401 Jörg Kleudgen & Michael Knoke Batcave

3402 Ina Elbracht Der Todesengel

Ina Elbracht

Der Todesengel

Ein Grusel-Thriller

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2020 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerVignette: iStock.com/Hein NouwensSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-955-3Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Davon geht die Welt nicht unter

Gerda Grope verlor ihren von der Mutter feinmaschig und noch zu Friedenszeiten gestrickten Handschuh in jenem verzweifelten Moment, als ihr Vater und sie kurz vor der Tür zum riesigen Hochbunker auseinandergerissen wurden. Und mit dem Handschuh kam ihr augenblicklich auch jede Hoffnung und Zuversicht abhanden, den Vater jemals wiederzusehen, und ohne ihn, daran hatte sie keinen Zweifel, würde sie in der Menge der drängelnden Leiber untergehen, zerquetscht werden oder eines anderen grausigen Todes sterben. Das Dröhnen der Bomber schob sich mit mächtigem Bass durch das Schrillen der Sirenen, gemeinsam kreischten und brüllten sie ihren Abgesang. „Du wirst sterben!“, riefen sie und es gellte in ihrem Kopf, als wären es wirkliche Worte, die der Lärm nur für sie gebar. Ihre verschwitzte rechte Hand zitterte und übertrug das Beben in einer Welle auf den restlichen Körper. Gerda war links des Vaters gegangen, wie sie es immer tat. Nur dort gab es eine Hand für sie zu greifen. Der Vater hatte den rechten Arm verloren. Verloren, dachte sie hysterisch, so sagten die Leute immer dazu. Als ob sich ein Arm so leicht verlieren ließe wie ein Handschuh. Gerda schrie auf, dann erstickte hartes, tonloses Schluchzen den kläglichen Laut. Die Menschenleiber drückten sie dem Eingangstor zu, das wie ein gieriger Schlund offenstand und den Gestank von Trostlosigkeit und Angst ausstieß.

Plötzlich war wieder mehr Raum um Gerda, der sie einen Hauchbreit tiefer atmen ließ. Eine imposante Frau bahnte sich den Weg an ihre Seite, und obwohl es eigentlich nicht möglich sein konnte, schien sie mühelos durch die Menge zu gleiten. Schob sie die Menschen beiseite oder wichen sie zurück? Gerda staunte und griff nach der Hand der Frau, bevor sie überhaupt darüber hätte nachdenken können.

„Mein Vati“, flüsterte sie mit brechender Stimme und einem Beben, das sogar die Zähne wie im Schüttelfrost aufeinanderschlagen ließ.

„Kumm, Leevje“, forderte die Frau sie freundlich auf, „wir finden deinen Papa später. Jetzt müssen wir erst mal rein in die Burg, bevor es Bomben regnet. Ich habe nämlich keinen Schirm dabei.“ Die dunkle Stimme der Frau setzte sich volltönend gegen jeglichen Umgebungslärm durch, ohne den Eindruck von Anstrengung zu erwecken.

Gerda grinste schief im Rhythmus ihres schnappenden Luftholens und ließ sich in den Rachen des Bunkers ziehen. Sie sah den hasserfüllten Blick eines Bunkerwarts, der einem Jungen in Uniform den Zutritt verweigerte und ihn grob nach draußen stieß.

„Solltest im Feld sein und das Vaterland verteidigen, Feigling. Von mir aus kannste da draußen verrecken, do Hungk!“ Der Bunkerwart schnaufte wütend, doch als er die Frau an Gerdas Seite sah, bekam sein Gesicht etwas Unterwürfiges. „Hier entlang, die Damen“, sagte er und gab einen winzigen Durchgang frei, den Gerda zuvor gar nicht bemerkt hatte. Er tippte sich an die Mütze und senkte den Blick.

Gerdas Beschützerin – denn als solche betrachtete Gerda sie bereits, obwohl sie nichts über die Frau wusste und ihr das Ganze unheimlich war – nickte ihm spöttisch zu. Wieder sagte sie: „Kumm, Leevje“, und schob Gerda durch einen Gang in einen ruhigen Teil des Bunkers, in dem es schmale Kammern gab, die an Logen in einer Oper erinnerten. Hier suchten wohl diejenigen Zuflucht, die selbst noch mitten im Krieg genug Macht oder doch zumindest die Mittel für diese vermutlich kostspielige Unterbringung hatten. Die Frau ließ Gerda auf einer Bank Platz nehmen und so lange in ihrem Arm schluchzen, bis sie sich etwas beruhigt hatte.

Abgesehen von Leevje, mit dem sie sie ansprach, hatte die Frau keinen erkennbaren Dialekt. Sie sprach nicht dieses Kölsch, mit dem sich Gerda so schwertat, das sie kaum verstand und dessen Zisch- und Rachenlaute sie entweder an Schlangen oder bissige Raubtiere denken ließen. Manchmal setzte ihr Gehirn diese beiden Schreckensbilder auch zu einer einzigen unheilvollen Bestie zusammen.

„Ich heiße Griseldis von Wauwalack“, sagte die Frau, tätschelte Gerdas Schulter, zupfte dann an ihrem Kopftuch, als wollte sie eine aufwendige Frisur richten, und strich den Rock über ihren Knien glatt. „Wie ist denn dein Name, Leevje?“

„Gerda. Gerda Grope.“ Gerdas Stimme war nun wieder hörbar, was nicht nur daran lag, dass die Stimmen der Menschen zu leisem Murmeln verkommen waren, sondern weil sie endlich wieder richtig atmen konnte. Es roch in diesem seltsamen und vermutlich geheimen Separee zwar immer noch nach Bunker, aber auch nach anderem, besserem, vor allem nach Griseldis von Wauwalacks süßlichem Eau de Cologne und den sauberen Pelzbesätzen ihrer Kleidung.

„Wir finden deinen Vater später, kleine Gerda Grope. Ganz bestimmt.“ Die Frau tätschelte Gerdas Wange. Ihre Lederhandschuhe hatte sie bislang nicht ausgezogen. „Es gibt eine Stelle am Bahnhof, einen Treffpunkt, an dem sich alle Verirrten und unfreiwillig Getrennten wiederfinden. Ich werde dich hinbringen. Mach dir keine Sorgen.“ Sie lachte tief und moduliert. Für Gerda klang es wie ein Lied oder vielmehr wie jenes Summen, das manchmal einem seelenvollen Schlager vorausging.

„Wenn Sie es sagen, Frau von Wauwalack“, piepste Gerda, die zwischen Eingeschüchtertsein und wieder auferstehenden Lebensgeistern hin- und hergerissen war. Obwohl sie saß, schob sie automatisch einen Fuß hinter die Wade, als ob sie einen artigen Knicks absolvieren wollte. Wieder lachte die Frau auf einnehmende Weise, wie Gerda fand, obwohl es durchaus möglich sein mochte, dass sie in diesem Moment ein bisschen ausgelacht wurde.

„Lassen wir die Förmlichkeiten, mein Lämmchen. Solange wir hier drin sind, nenn mich doch einfach Tantchen, dann hast du das Gefühl, wir würden einander schon eine Weile kennen, und die Furcht verfliegt wie von selbst. Was meinst du?“

Gerda nickte. Sie hätte nichts gegen eine Tante wie diese gehabt. Ihre eigene Tante, Tante Anna, die der Grund für ihren Vater und sie gewesen war, sich bis nach Köln durchzuschlagen, war schon vor ihrer Ankunft gestorben – erstickt, verbrannt, es gab keine Leiche. Nicht, dass sich Gerda deren Anblick gewünscht hätte. Nach einer Weile sahen die Leichen am Wegesrand ohnehin alle gleich aus. Nur das Schaudern ließ nicht nach, es erfasste Gerda immer ganz, sie konnte nicht dagegen abstumpfen, wie der Vater es riet. Zu ihrem Schutz, so sagte er, dürfe sie sich nicht jeden einzelnen Toten zu Herzen nehmen.

„Tantchen“, flüsterte Gerda mit einem feinen Lächeln und wiederholte dann fester: „Tantchen!“

„Du hast aber niedliche Grübchen, kleine Gerda“, sagte Griseldis von Wauwalack und tupfte mit der samtweichen Lederkuppe rechts und links auf Gerdas Wangen und tat so, als ob sie die Grübchen eingefangen hätte und nun in ihre Manteltasche stecken wollte. Eigentlich war Gerda zu alt für derlei Späße, aber in diesem Moment lachte sie gern noch einmal wie ein kleines Kind. Vom ebenmäßigen, leicht flächigen Gesicht der Frau ging ein Leuchten aus, das in merkwürdigen Gegensatz zur dürftigen Notbeleuchtung stand. Es eroberte sich den Weg durch das Zwielicht, als ließe sich so etwas durch pure Willenskraft bewerkstelligen. Überhaupt erinnerte Gerda ihr neues Tantchen, oder vielmehr ihr Tantchen auf Zeit, denn es sollte ja nur so lange gelten, bis sie wieder beim Vater war, an jemanden aus der Welt des Kintopps, eine Schauspielerin. Wie hieß die denn noch gleich? Diese nordische Sängerin mit dem hart gerollten R, ach ja, Zarah Leander. Gerda bemerkte, dass sie ihre Gedanken wohl versehentlich laut ausgesprochen haben musste, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, überhaupt die Lippen bewegt zu haben.

Doch die Tante lachte und gab sich geschmeichelt, also musste sie es wohl gehört haben. „Na, zumindest sind wir beide, die Zarah und ich, echte Fussköpp“, sagte sie und Gerda lernte, dass fussich das Kölsche Wort für rothaarig war. „Hast du schon einmal einen Film mit ihr gesehen?“, fragte Tantchen, als existierten weder dröhnende Bomber noch der grauenerregende Lärm von Detonationen.

Es fühlte sich nicht unangenehmer an, als mit jemandem im Wartezimmer eines Zahnarztes höflich zu plaudern. „Ja, ich war schon ein paar Mal im Kino. Zuhause. In Danzig. Die große Liebe“, erklärte Gerda, die zwischendurch vergaß, dass sie ja Fremde waren. Auch fiel ihr nicht auf, dass durch ihre Worte unklar blieb, ob Danzig ihre große Liebe war oder der Film so geheißen hatte. Das Tantchen fragte indes interessiert nach, und ehe sich Gerda versah, hatte sie alles erzählt, von ihrer Flucht, der Lücke des unerklärlichen Tods der Mutter, und dem etwas leichter zu verstehenden Tod der Tante und wie sich nun abgesehen vom Vater keine Menschenseele auf der Welt mehr um sie scherte.

„Außer deinem Vater hast du also keine lebenden Verwandten mehr?“, fragte das Tantchen mitleidig und Gerda schüttelte den Kopf. „Dann bleibe ich für immer dein Tantchen, so em Hätze, ja?“ Sie klopfte sich mit flacher Hand bekräftigend auf die Brust. „Auch wenn wir deinen Vater gefunden haben, einverstanden?“

Gerda nickte dankbar und schluckte schwer an der Wehmut der dieser Tage selten gewordenen Güte, die ihr so unvermittelt und verschwenderisch zuteilwurde. Hätze sollte ihr, so nahm sich Gerda vor, ab jetzt nicht mehr Hetze bedeuten, sondern zum Herzen werden.

Dann gab es einen lauten Knall und die Wände des Bunkers wackelten. Kalk rieselte herab auf Griseldis von Wauwalack, der sich Gerda in den Schoß geworfen hatte. „Scht scht“, machte Tantchen beruhigend und strich dem Mädchen über den Kopf. „Hier sind wir sicher. Und weißt du warum? Nicht weil dieser Bunker so viel sicherer wäre als andere, sondern weil wir direkt neben Bahnhof und Dom sind. Die Tommys brauchen den guten alten Dom zum Navigieren, da werfen sie keine Bomben drauf. Das alles wird bald vorbei sein, Leevje. Dann ist der Krieg endlich verloren und aus.“

Gerda wusste, dass es streng verboten war, Derartiges auszusprechen, doch sie ahnte auch, dass wohl niemand die resolute Tante, die durch eine Menschenmenge gleiten konnte, wie ein Raubfisch einen Schwarm Heringe durchschwamm, so schnell kritisieren oder anschwärzen würde. Dafür war sie viel zu aufrecht und imposant und auch, wenn man es ehrlich betrachtete, zu Furcht einflößend. Man wollte sie sicher nicht zum Feind haben. Gut, dass sie mich mag und mein Tantchen ist, dachte Gerda und schmiegte sich in den Schoß. Der Stoff roch ­erstaunlich gut und kratzte kein bisschen. Gerda glaubte, dass dies wohl Aroma und Gefühl von Reichtum sein mussten. Sie träumte ein bisschen vor sich hin, bis sie einen spitzen Schrei ausstieß, mit dem sie Tantchen erschreckte.

„Tantchen, Tantchen, da liegt eine Frau. Ich glaube, sie ist tot!“ Gerda sprang auf, ging ein Stück näher, bevor sie wieder zurückfuhr. Vom Schoß der Tante aus hatte sie einen Körper entdeckt, der reglos dalag und zuvor vom Zwielicht verschluckt worden war. Griseldis von Wauwalack erhob sich und trat näher.

„Alles in Ordnung, ming Leevje, die Madame ruht sich nur aus.“

„Nein, nein!“, schrie Gerda panisch. „Ich muss hier weg, ich kann nicht mit einer Toten im Raum sein!“

Das Tantchen griff Gerda hart bei der Schulter und hinderte sie daran, in den Gang zu stürzen. „Die schläft nur“, brummte sie in fast ungehaltenem Ton.

„Tut sie nicht, sie ist tot!“, heulte Gerda auf.

Das Tantchen hielt sie fest. „Sie ist nicht tot, sondern scheintot. Weißt du, was das ist?“

Gerda schüttelte den Kopf.

„Komm, wir setzen uns, ich erkläre es dir.“ Die Tante schob sie zurück in Richtung Bank und drückte sie sanft nieder. Von dort war der Körper nicht zu sehen.

Zwischen Gerda und dem Ausgang der Kammer befand sich Griseldis von Wauwalack als unüberwindbares Hindernis, doch das machte dem Mädchen nichts mehr aus. Wo hätte sie ohne ihre Beschützerin hingesollt? Den Tod gab es anderswo auch, er lauerte überall und sah oft hässlicher aus. Und vielleicht war die Frau da im Dunkeln ja tatsächlich nicht tot, so wie Tantchen gesagt hatte. Schließlich siegte die Neugierde: „Was bedeutet ­scheintot, Tantchen?“

Griseldis von Wauwalack zog ihre Lederhandschuhe aus und wedelte sich damit Luft zu. Obwohl sie sich nicht in der Enge der Leiber im Hauptbunker befanden, stieg die Temperatur auch hier im Separee.

Gerda knöpfte ihren Mantel auf, überlegte, ihn abzulegen, entschied sich aber dagegen. Einmal auf der Flucht, immer auf der Flucht. Auf der Hut, korrigierte sie sich in Gedanken und starrte auf die breiten Hände ihres Tantchens und die wenig eleganten Finger, die wie sprichwörtliche Wurstfinger konturlosen Schläuchen glichen, die in welligen Nägeln endeten, die wie Federn auf altmodischen Tintenhaltern spitz zugefeilt waren. Der kleine Finger der rechten Hand war dunkler als die anderen. Ihr Tantchen schien verletzt oder zumindest nicht ganz gesund zu sein, doch danach wagte Gerda nicht zu fragen. Sie ekelte sich ein bisschen vor den Patschhänden der Tante, ließ sich dann aber doch von der Geschichte einlullen, bis sie sich, soweit es die Umstände zuließen, behaglich fühlte.

Die Tante erzählte ihr eine alte Sage, die sich 1357 in Köln zugetragen hatte. „Knapp acht Jahre zuvor hatten sie die Juden ermordet, ihre Häuser angezündet und die Überlebenden aus der Stadt getrieben. Man sagte, weil sie die Brunnen vergiftet und Krankheiten verschuldet ­hätten. Die Pest kam dann aber trotzdem nach Köln. Natürlich tat sie das. Weil das Ganze ausgemachter Blödsinn und nur ein Ablenkungsmanöver gewesen war. Nicht viel anders als heute, hm?“

Gerda wagte weder zu nicken noch etwas zu sagen. Erst hatte das Tantchen davon gesprochen, dass der Krieg bald verloren wäre und nun stellte sie sich auch noch auf die Seite von Juden. Selbst der kleinste Pimpf in der Jungschar wusste doch, dass man so etwas nicht denken, geschweige denn aussprechen durfte.

„Weißt du, Leevje, wenn so etwas passiert, gibt es immer Leute, die davon profitieren, so viel ist klar. Und deshalb wurden auch damals die ohnehin schon Wohlhabenden der Stadt noch ein bisschen reicher. Zu ihnen gehörte die Familie von Aducht, um die es in dieser Geschichte gehen soll. Aber das tut eigentlich nichts zur Sache. Nun, also. Die schöne Richmodis von Lyskirchen hatte den reichen Geschäftsmann und Patrizier, Mennegin von Aducht, genannt Mengis, geheiratet. Die beiden sollen glücklich gewesen sein und sich sehr geliebt haben. So besagt es zumindest die Legende. Als aber die Pest besonders schwer in der Stadt wütete, erkrankte Richmodis und starb. Mengis war außer sich vor Trauer und gab seiner geliebten Frau ihren Schmuck als letzten Beweis seiner Liebe mit ins Grab. Doch Richmodis war gar nicht gestorben, sondern schlief nur so fest, dass sie jeder, auch der Medikus, für tot gehalten hatte. Sie war scheintot, also nur scheinbar tot. Sie hatte Glück im Unglück, als ihr Sarg von einem Grabräuber geöffnet wurde, der es auf den Schmuck abgesehen hatte. Als der versuchte, ihr einen Ring vom Finger zu ziehen, da erwachte sie und richtete sich auf. Der Dieb lief schreiend davon und soll, so erzählte man sich, fortan ein ehrliches Leben geführt haben. Na, wie auch immer. Jedenfalls ging Richmodis in ihrem Totengewand vom Friedhof zurück in die Stadt und klopfte ans Tor ihres Hauses. Man wollte sie nicht einlassen, weil man ihre Behauptung, Richmodis von Aducht zu sein, für einen Betrug oder schlechten Scherz hielt. Und ihr Mann Mengis sprach: Eher gehen meine Schimmel die Treppe in den Turm hinauf, als dass meine Frau zurück ist. Und, oh Wunder, genauso geschah es. Die sechs Schimmel setzten sich in Bewegung und stiegen unter großem Radau und Hufgeklapper die Stufen zum Turm hinauf, bis sie oben angekommen waren und aus dem Fenster guckten. Da ließ man Richmodis ein und Mengis freute sich gar sehr und sie lebten lange und glücklich bis an ihr Lebensende. Also ihr richtiges Lebensende. Nicht das scheintote. Und sie hatten einen Stall voll Kinder, eines hübscher und artiger als das andere.“

Gerda sagte nichts und dachte nach. „Ich wollte, wir beide könnten hingehen und das Haus mit dem Turm am Neumarkt besuchen. Da gucken tatsächlich zwei Pferdeköpfe aus Stein oben raus. Ahm Nümaat zwei Päädsköpp, sagen die Kölner dazu. Aber die Zeiten sind schlecht und wer weiß, ob das Gebäude später überhaupt noch steht. Wir können ein andermal nachsehen, ja?“ Und weil Gerda immer noch nichts sagte, stupste das Tantchen sie an. „He, hast du mir überhaupt zugehört?“

Doch, doch, Gerda hatte alles gehört und nahm nun all ihren Hut zusammen. Mut, nicht Hut, dachte sie. Manche Wörter schienen nicht mehr fest in ihrem Kopf verankert zu sein, seit sie Danzig verlassen hatten. Sie erhob sich und ging mit trippelnden Schritten auf den Körper der Frau zu, die unverändert dalag. Und als Gerda die Hand ausstreckte, da streckte auch Griseldis von Wauwalack ihre Hand aus und als sie sie beide sachte schüttelten, da stieß die Frau einen lauten Seufzer aus und setzte sich auf. Gerda fuhr zurück und kauerte sich auf die Bank. Das Tantchen legte den Arm um ihre Schulter. Die Frau kroch näher, zog sich an der Mauer hoch und lehnte schließlich mit dem Rücken daran. Die Beine, die ungelenk auf dem Boden lagen, schlug sie nach mehrmaligen Versuchen übereinander. Die Bewegungen wirkten hölzern und mühevoll. Sie ist wahrscheinlich recht lange scheintot gewesen, dachte Gerda, und muss erst einmal wieder zu sich kommen.

„Meine Nichte dachte, Sie wären tot. Sie haben uns einen schönen Schrecken eingejagt“, sagte die Tante mit leichtem Tadel.

Die Frau schüttelte den Kopf wie eine Stoffpuppe, die von hinten grob bewegt wurde. Sie riss die Augen auf, verzog die starren Lippen zu einem Lächeln und sagte: „Nicht doch. Ich war erschöpft und habe mich etwas hingelegt. Ein bisschen kriegsmüde, weiter nichts.“ Die Stimme der Frau war kratzig und klang heiser, wie nach einer langen Zeit des Schweigens. Das alles erschreckte Gerda; sie war aber so froh, die scheintote Frau wieder lebendig zu sehen, dass sie ein Unbehagen unterdrückte. Manchmal veränderten sich Menschen, wenn sie krank wurden. Die Mutter hatte sich auch sehr verändert, bis sie ... verschlissen, verendet, verscharrt war. Die Vibrationen der Betonwände brachten ihre Gedanken zurück in die Kummer. Kammer, nicht Kummer, dachte sie.

Die Tante sprach mit der Frau über die kommende Zeit nach dem Krieg. „Der Architekt unserer Burg, Wilhelm Riphahn, hat beim Bau schon an später gedacht. Dann wird aus diesem Bunker flugs ein Parkhaus. Sehr vorausschauend, finden Sie nicht?“

Die Frau nickte auf ihre nun schon vertrauter anmutende Stoffpuppenweise und räusperte sich mit einem Glucksen, wie es sich Gerda bei einem halb vertrockneten Frosch vorstellte. „Diese Bombardierungen werden schon vorbeigehen. Davon geht die Welt nicht unter, ha ha ha.“ Sie lachte rau. „Davon geht die Welt nicht unter“, begann sie nun krächzend zu singen. „Sieht man sie manchmal auch grau, einmal wird sie wieder bunter, einmal wird sie wieder himmelblau.“ Die Stimme der Frau wurde kräftiger und sie begann mit zackigen Bewegungen im Dreivierteltakt zu dirigieren. „Singt mit!“, rief sie übermütig und tatsächlich sangen Gerda, die Frau und Tantchen im eigentümlich harmonischen Klang von Sopran, Alt und Kontra-Alt. „Geht’s mal drüber und mal drunter, wenn uns der Schädel auch raucht, davon geht die Welt nicht unter, sie wird ja noch gebraucht!“

Die normale Beleuchtung setzte in dem Moment wieder ein, als sie den letzten Ton in die feuchte Luft ­entlassen hatten. Entwarnung. Sofort hakte die Tante Gerda unter und schob sie in den Gang.

„Lebt wohl!“, rief die Frau ihnen nach.

Gerda konnte nicht sehen, wie sie hinter ihnen schlaff und mit verdrehten gelben Augen auf den Boden zurückfiel, das Todesdreieck wie ein unheimlicher Mundschutz auf dem wächsernen Gesicht.

„Schnell, Leevje, beeil dich“, sagte die Tante, „dann kommen wir nicht ins Gedränge.“ Am Ausgang flüsterte die Tante dem Bunkerwart etwas zu und deutete in Richtung der Kammern. Der Mann sah sie von unten her an wie ein schuldbewusstes Hündchen. Die Tante war eine stattliche Frau.

Vermutlich ist sie größer als Vati, dachte Gerda. Das Parfum ihrer Beschützerin lag ihr nun herber in der Nase als zuvor. Dann traten sie ins Freie – ins Tohuwabohu, wie Tantchen sagte, aber das war wohl kein Kölsches Wort –, wo Staub und Rauch in der Lunge brannten. Weil Griseldis von Wauwalack ihre Handschuhe wieder angezogen hatte, machte es Gerda nichts aus, sie bei der Hand zu nehmen. Sie überlegte trotzdem, welche Hand diejenige mit dem schwarzen Finger war, und ergriff die andere. Sie ging nun auf der Seite, die sie von ihrem Vater her gewohnt war. „Suchen wir jetzt Vati?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Na sicher, Leevje, das machen wir“, antwortete die Tante mit einem merkwürdigen Lächeln auf den dunkelgeschminkten Lippen.

Doch auch das bemerkte Gerda nicht. Ihre Blicke huschten hin und her und suchten nach einem ­Einarmigen. Fast wäre sie zu einem hingelaufen, doch es war der falsche. Es war bloß der Ärmel seines Mantels genauso amputiert und festgenäht gewesen wie der des Vaters. Ihr Vater hatte seinen Arm bei einem Unfall auf der Werft eingebüßt. Darüber sollte sie aber nicht sprechen. Der Vater log nie, er dementierte bloß nicht, wenn die Leute etwas anderes annahmen und davon ausgingen, der Arm wäre an der Ostfront geblieben. „Wo ist dieser Treffpunkt, von dem du gesprochen hast?“, fragte Gerda. In ihrem Bauch kribbelte es vor Aufregung.

„Immer langsam mit den jungen Pferden“, brummte die Tante. „Hier entlang.“

Pferd, nicht Schwert, dachte Gerda, Gaul, nicht Maul, Hund, nicht wund, Dorf, nicht Schorf. Vielleicht lässt der Schmerz nach und diese ewige Verwirrung, wenn ich besonders quälende Wörter durch Kölsche Begriffe ersetze? Pääd, so hatte das Tantchen vorhin gesagt. „Pääd“, wiederholte sie laut.

Die Tante lachte und lobte: „Du lernst aber schnell. Schnell heißt übrigens flöck. Da hast du noch eine Vokabel zum Lernen, Leevje.“ Sie setzten sich in Bewegung und an der Seite ihrer Beschützerin – fest an der Hand, weil sich das schreckliche Verlorengehen nicht wiederholen durfte – vermochte auch Gerda durch die Menschenmenge zu gleiten wie durch einen Fischschwarm.

Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n

Ich tat mich nicht leicht damit, Jonas anzurufen. Aber um ehrlich zu sein, wäre es mir bei niemandem leicht gefallen, um Hilfe zu bitten. Meine Wahl fiel auf ihn, weil er im Gegensatz zu allen anderen Kerlen, mit denen ich Umgang hatte, zumindest über ein Minimum an Straßen-­Schläue verfügte und sich mit Autos auskannte. Er war Hobby-Schrauber und damit der Einzige, dem ich zutraute, einen Blick unter die Motorhaube zu werfen, Erste Hilfe zu leisten oder mich notfalls ein paar Straßen weit abzuschleppen. Denn dort, wo meine Karre verreckt war, konnte sie unmöglich bleiben. Ein paar bekiffte Schuljungen hatten geholfen, das Auto an den Straßenrand zu schieben, und nun wusste ich weder aus noch ein. Was soll’s, dachte ich, verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen.

„Was geht, Señorita?“, meldete sich Jonas mit dieser albernen Coolness, an der ihm immer so viel lag. Wahrscheinlich würde er sein Leben lang den Berufsjugendlichen geben. Im Gegenzug fand er mich zu ernsthaft. Jenseits von Tinder waren wir nicht wirklich ein Match.