Phantastische Storys 20: Metempsychosen - Ina Elbracht - E-Book

Phantastische Storys 20: Metempsychosen E-Book

Ina Elbracht

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Beschreibung

Warum träumt eine gesichtsblinde Farbberaterin von einem ausgestorbenen Hund, der auf einem synthetischen Herzen kaut? Wer ist dieser Magier, der sich so nonchalant in Lebensgefahr begibt?Was kann Dornröschen mit der elektrischen Heckenschere gegen wild wuchernde Stahlmagie ausrichten?Und für wen sind all die künstlichen Körperteile gedacht, die über eigene Erinnerungen verfügen?Metempsychosen – Seelenwanderungen. Vier verwobene Novellen, die ineinander in eine Zukunft sickern, die jetzt keimen könnte, bereits geschehen ist, immer wieder oder niemals sein wird.Ein Novellenkreis des Teams Feuerernte.

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IN DIESER REIHE BISHER ERSCHIENEN

2001 Drachen! Drachen! von Frank G. Gerigk & Petra Hartmann (Hrsg.) 2003 Schattenland von Stefan Melneczuk2004 Der Struwwelpeter-Code von Markus K. Korb2005 Bio Punk‘d von Andreas Zwengel2006 Xenophobia von Markus K. Korb2007 Nachtprotokolle von Anke Laufer2008 Reiche Ernte von Matthias Bauer2009 Das Tor von Matthias Bauer2010 Fantastic Pulp 1 von Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)2011 Wenn die Welt klein wird und bedrohlich von Felix Woitkowski (Hrsg.)2012 Geisterstunden von Stefan Melneczuk2013 Fantastic Pulp 2 von Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)2014 Schattenschwarz von Torsten Scheib2015 Der König von Mallorca von Michael Tillmann2016 Auf zum fröhlichen Weltuntergang von Peter Biro2017 Die Zeit der Feuerernte von Tobias Reckermann (Hrsg.)2018 Fantastic Pulp 3 von Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)2019 Rapid Transit von Wayne Allen Sallee2020 Metempsychosen von Tobias Reckermann (Hrsg.)

METEMPSYCHOSEN

EIN NOVELLENKREIS DES TEAMS FEUERERNTE

PHANTASTISCHE STORYS

BUCH 20

TOBIAS RECKERMANN (HRSG.)

INA ELBRACHT

TOBIAS RECKERMANN

FELIX WOITKOWSKI

CHRISTIAN VEIT ESCHENFELDER

INHALT

Zukunft 2000

Ihr Herz ist unsere Herzensangelegenheit

Ihr Herz ist unsere xxxxxxxangelegenheit

Ihr Herz ist unxxxx xxxxxxxxxgelegenxxxx

Ihr Herz ist unxxrx xxxxxxxaxxxxxxxxxxxt

Ihr Herz ist xxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Ihr xxx xxx xxxxxx GxRxÜxNxxxxxxxxxxxxx

Paradigma

Paradigma

Ich bin die Gärtnerin

Ich bin die Gärtnerin

Die Mär vom vierten Wind

Die Mär vom vierten Wind

Gift

Jade

Erneuerung

Neid

Hoffnung

Finger

Anmerkungen

Tobias Reckermann

Ina Elbracht

Felix Woitkowski

Christian Veit Eschenfelder

Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

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Copyright © 2024 BLITZ-Verlag  

Hurster Straße 2a,  51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Mario Heyer

Umschlaggestaltung: Mario Heyer

Satz: Torsten Kohlwey

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-7579-5695-0

2020V1

ZUKUNFT 2000

von Ina Elbracht

IHR HERZ IST UNSERE HERZENSANGELEGENHEIT

Bei 700 Kilometern pro Stunde sitze ich im Ultrahochgeschwindigkeitszug und denke, obwohl ich es nicht sollte, über den Slogan des Gesundheitszentrums nach. Ihr Herz ist unsere Herzensangelegenheit. Müsste es nicht eigentlich Ihre Herztransplantation ist unsere Herzensangelegenheit heißen? Mein marodes Herz kann ja eigentlich kein Gegenstand solch außerordentlicher Fürsorge sein. Wenn ich mich nicht irre, werden sie die alte Pumpe nach erfolgreichem Austausch ohne Gebet und Begräbnis in den Müll entsorgen. Es ergibt also keinen Sinn, sein neues Herz an das alte zu hängen. Und das neue? Das ist künstlich, nach neustem Stand der Technik fabrikmäßig hergestellt und bietet somit ebenfalls keinen Anlass für übertrieben emotionale Hinwendung. Ich stelle mir vor, wie jemand alle Vorschläge für den Slogan durchgegangen ist und entschieden hat, es kurz und einprägsam zu halten. Zulasten der Genauigkeit, so geht es ja oft, aber vermutlich in bester Absicht, künftigen Patienten ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Wer sein Herz verliert, soll sich in den besten Händen wähnen. Eine warme Gefühlsbotschaft statt kühler Betonung der präzisen Methode. Auch Farbe und Form der in den Infobroschüren verwendeten stilisierten Herzen könnten in keinem modernen Reklameprospekt bestehen. Der Kontext entscheidet über die Wahrnehmung, das weiß ich aus langjähriger Erfahrung. Denn ich bin vom Fach: Farbexpertin. Was wir an einer Stelle als altbacken, kitschig und lächerlich empfinden, tröstet und erfreut uns an anderer Stelle. Kaum jemand ist empfänglicher für simple positive Botschaften als diejenigen, deren wichtigstes Organ ersetzt wird. Für mich hat die Gestaltung jedenfalls funktioniert. Ich versuche, mich an die genaue Farbe der Herzen zu erinnern, und wünschte, ich hätte die Unterlagen nicht vor meiner Abreise in den elektronischen Müllsortierungsschacht meines vollautomatischen Appartements geworfen. Das habe ich gemacht, weil in salbungsvollem Ton beschrieben wurde, wie förderlich es sei, nichts mitzunehmen und sich ganz auf den anstehenden Prozess einzulassen. Wie gehorsam von mir. Ich bin doch sonst keine, die sich so leicht Vorschriften machen lässt! Na gut, Korrektur: Empfehlung, nicht Vorschrift. Ich neige manchmal dazu, mich zu weit in etwas hineinzudenken. Hineinzusteigern, wie böse Zungen behaupten würden. In meinem Beruf ist so was kein Nachteil, im Gegenteil: Da nennt sich das Detailversessenheit und attestiert Sorgfalt und Hingabe. Ohne diese Eigenschaften hätte ich es im Institut nie so weit gebracht. Und ja, ich habe es gern, wenn meine Untergebenen diese Herangehensweise und Sicht teilen. Ich bin streng, aber gerecht. Ich bin eine der Guten, ehrlich. Es geht mir um das Ergebnis, nicht um mein Ego. Ich weiß auch so, um welche Farbtöne es sich gehandelt hat, ohne sie auf Papier in meinen Händen zu halten. Sie hätten geradewegs aus einem hundert Jahre alten Lehrbuch über Farbpsychologie stammen können. Angst lösende Farben, solche mit positivem Einfluss und der ganze frühe Wohlfühl-Firlefanz, der sich auf Gefühle und Vermutungen stützte statt auf harte Fakten und Forschungsergebnisse. Als alles noch in den Kinderschuhen steckte: Die Wirkung von Licht und Farben aufs Gemüt genauso wie Überlegungen zu künstlichen Herzen. Relikte aus einer Zeit, als es noch nicht einmal erfolgreiche Verpflanzungen von Spenderorganen gab. Ebenso wenig wie computeranalysierte Gesundheitstests mit individuell angepassten Handlungsanweisungen und Medikation, selbstfahrende Automobilkapseln oder den Superzug, in dem ich gerade sitze. War alles Zukunftsmusik, die heute Wirklichkeit geworden ist. Das Jahr 2000 ist so technisiert und perfekt, wie die Futurologen es einst prognostizierten. Streng genommen sogar besser, denn wir haben soziale Gerechtigkeit unter den Werktätigen erreicht. Auch das eine große Errungenschaft. Meine Großeltern, die noch an vielen vermeidbaren Krankheiten litten, hätten sich nicht ausmalen können, wie ein Elektronengehirn mittels eines einzigen Tropfen Blutes genau sagen kann, was einem Menschen fehlt und wie es zu korrigieren ist. Aus diesem Grund habe ich kein ängstliches Herz. Denn noch bevor ich überhaupt erste Zeichen einer Störung erleiden kann, bin ich schon auf dem Weg zum Austausch. Die Furcht vor unentdeckten Krankheiten ist seit Einführung der monatlichen Routineuntersuchungen besiegt. Wir leben und atmen in effizient getakteten Routinen. Wir durchlaufen alles in der wohltuenden Gewissheit, dass solche Behandlungen keine kostspieligen Lebensretter für die Reichen sind, sondern jeder Mensch das gleiche Recht auf diese Behandlung hat. Und selbst wenn von heute auf morgen die Regeln geändert würden und Herztransplantationen nur noch dem obersten Drittel der Werktätigen zugänglich wären, würde ich mich nicht sorgen. Mein Erfolg im Beruf, mein Status als Leistungsträgerin und nicht zuletzt mein Erspartes wären mehr als ausreichend, mich im Ernstfall vor dem drohenden Infarkt zu schützen. Wovon aktuell selbstverständlich nicht die Rede sein kann!

Seit künstliche Organe in Massenproduktion gegangen sind, gibt es im ganzen Land Gesundheitszentren, in welche Patienten passgenau verschickt werden. Die Kriterien für diese Zuteilung kenne ich nicht. Ich hoffe einfach, dass ich es mit dem Ort, der für mich ausersehen wurde, gut treffen werde. Die Versorgung ist überall gleich. Es ist mehr eine Frage der Ausstattung. Ich habe von Gesundheitszentren mit Gemeinschaftstoiletten und Mehrbettzimmern gehört. Darauf habe ich keine große Lust. Ich weiß, es handelt sich nur um wenige Tage der Vorbereitung, bis ich die Tauglichkeitsbescheinigung erhalte und es weiter ins Transplantationszentrum geht, aber dennoch. Es scheint mir nicht zu viel verlangt, wenn ich meinen Lebensstandard während des Prozesses zumindest einigermaßen halten könnte. Ich will nicht als Snob gelten, aber das ganze Unterfangen passt mir gegenwärtig schlecht in den Kram. Eigentlich habe ich bei der Arbeit zu viel zu tun. Auf mich warten Projekte, die darunter leiden werden, dass ich sie an andere übertragen musste. Der Zeitpunkt ist ungünstig. Na ja, jeder andere wäre es vermutlich genauso. So ist das, wenn man im Beruf unersetzlich ist.

Die anderen, die den Prozess durchlaufen haben – und das sind ja mittlerweile gar nicht wenige, die man so kennt –, versichern stets, wie schnell und effizient alles abläuft und dass es kaum zeitlichen Ausfall zu beklagen gibt. Maximal zwei bis drei Wochen, so lange wie ein Urlaub, heißt es dann immer. Ein neuer Gemeinplatz. Ob es tatsächlich Leute gibt, die so lange in Urlaub fahren? Überschalltransporte haben die Ferien doch längst auf die reine Aufenthaltszeit verkürzt. Drei Wochen, meine Güte. Käme mir nie in den Sinn. Aber das hier ... muss ich ja tun. Geben Sie sich voll dem Prozess hin, lassen Sie los, erinnere ich mich an den Rat aus dem Informationsmaterial. Ich nehme mir hier und jetzt vor, mich daran zu halten. Minute eins, Tag eins in meiner neuen Rolle als Musterpatientin. Das kriege ich schon hin! Mein Ziel ist es, den Prozess damit auf unter zwei Wochen zu drücken. Der Gedanke motiviert mich. Statt der Versuchung zu erliegen, das Farbschema meines Einzelabteils zu analysieren, blicke ich bewusst aus dem Fenster und wundere mich, wie wenig man der offenen Landschaft die Geschwindigkeit anmerkt, mit der sie durchschnitten wird. Es macht den Eindruck, als ob sich weder innen noch außen etwas bewegt. Ein seltsamer optischer Stillstand, der nur dann unterbrochen wird, wenn Dörfer, Hügel, Fabriken oder gigantisch große wilde Müllkippen vorbeifliegen. Schwer vorzustellen, dass dort tatsächlich Menschen leben sollen, selbst wenn es nur Illegale sind.

Loslassen, loslassen, loslassen. Ich schaffe das. Ich werde mit meinem neuen Herz ins Institut zurückkehren wie andere mit einem neuen Hut. Gratulationen und Bekundungen über mein frisches Aussehen plane ich knapp und huldvoll entgegenzunehmen und mich für den zwei Tage gereiften Strauß Blumen aus dem Nukleargewächshaus zu bedanken, den ich dann später heimlich der Putzfrau oder einem der jungen Pförtner weitergeben werde. Können die dann behalten oder an ihre Frau, Verlobte oder sonst wen weitergeben. Diese billig gebrüteten Schnellzuchtpflanzen sind nicht nach meinem Geschmack, aber ich weiß die Geste meiner Abteilung zu schätzen, HERZ-lichen Dank, zwinker, zwinker. Und dann Schluss mit den Vertraulichkeiten und zurück an die Arbeit. Ich freue mich schon jetzt darauf, kann die Szenerie genau vor mir sehen.

Der Zug fährt in den Umsteigebahnhof und das Leitsystem bringt mich ohne Vorkommnisse zur Plattform einer Magnetschwebebahn, die Sekunden später einfährt. Die Fahrt hat etwas Nostalgisches; schon lange bin ich in keinem derart langsamen Fortbewegungsmittel unterwegs gewesen. Ich schwebe durch die Berglandschaft einem abgeschiedenen Tal entgegen. Meine Gedanken und Atmung werden ruhiger. Loslassen. Runterkommen. Schönen guten Tag, werter Prozess, da komme ich ganz gemächlich angereist, siehst du? Ich bin die Einzige, die im Tal aussteigt. Die Rolltreppe setzt sich nur für mich in Bewegung, ebenso das elektronische Laufband, das zum Gesundheitszentrum führt. Ich genieße es, mich auf diese Weise fortzubewegen; ich lasse mich nicht bloß tragen, ich schreite selbst gemessen aus. Die Kombination der beiden Abläufe vermittelt mir das Gefühl, als flöge ich meinem Ziel entgegen. Hinter einer Kurve erblicke ich zum ersten Mal das Zentrum und mich durchzuckt ein sonderbares Gefühl. Kein Zweifel, diesen Bau kenne ich doch. Das Farbschema von Wänden, Wabenstruktur und Dächern trifft mich mit einer Wucht und Deutlichkeit, wie andere Menschen es bei einem Faustschlag verspüren mögen. Es ist die Arbeit von meinem Institut! Ich habe das Team zwar nicht geleitet, bin aber während des Projekts immer wieder als Beraterin hinzugezogen worden. Jede Nuance ist mir daher vertraut und es bereitet mir Freude, die Wirkung der Farben im Gelände und bei Sonnenschein zu sehen. Die menschlich-psychologische weiche Dimension von Vertrauen, Geborgenheit und Frieden ergänzt sich mit den sachlichen Farben von Gesundheit, Fortschritt und Transformation. Wie oft habe ich diese vom Gesundheitsministerium erarbeiteten Werte und Anforderungen gelesen, gesehen und schließlich verinnerlicht? Und wie unbeschreiblich das Gefühl, wenn ich als Expertin diese Ideen und abstrakten Begriffe in Farben übersetzte, die sich gemeinsam zu diesem besonderen Ausdruck vereinten, der so viel mehr war als Summe oder Zusammenspiel der einzelnen Farben! Der Anblick des harmonisch eingeschmiegten und anspruchsvoll ins unebene Tal gebauten Gebäudes lässt mich lächeln, obwohl ich augenblicklich weiß, dass ich nun neben meinen persönlichen Gesundheitsangelegenheiten zusätzlich werde arbeiten müssen. Es ist nämlich Bestandteil unserer Verträge am Institut, hin und wieder und ohne vorgewarnt zu werden, undercover unsere Arbeit vor Ort zu kontrollieren und evaluieren. Der Gedanke daran stört mich nicht, ganz im Gegenteil, ich habe sogar eher das Gefühl, dadurch der anstehenden, vermutlich intellektuell mageren Zeit etwas Sinn abringen zu können. Ich bin sicher, dass diese zusätzliche Belastung auf dem gewichtigen Weg zu meinem neuen Herzen nicht zu viel für mich sein wird. Keine Spur davon! Bloß freudige Erregung! Ich verlasse das sanft abbremsende Laufband und betrete durch die lautlos zur Seite gleitenden, bernsteinfarben leuchtenden Glastürhälften eine Art Lobby, in der ich hinter einem Empfangstresen eine asiatisch gekleidete Dame sehe, die den Blick hebt, mich aber erst grüßt, als ich bereits unmittelbar vor ihr stehe. Erstklassiger Service ist das nun nicht gerade, denke ich und mache mir im Geiste eine Notiz. Dort gesellt sich die Information zu meiner kurz davor erfolgten Inspektion des Teppichs, der einige Farbstränge aufweist, die nicht ganz dem Farbschema entsprechen. Ich habe auf den ersten Blick bemerkt, dass sich die Innenausstatter zwar an den Vorgaben orientiert, sie aber nicht ganz haben umsetzen können. Ob aus Unfähigkeit oder Bequemlichkeit – wer weiß? –, es erweckt jedenfalls den bedauerlichen Anschein, als ob gewisse Partien von der Sonne ausgebleicht worden wären, was aufgrund des Alters von Gebäude und Ausstattung aber unmöglich ist. Es handelt sich dabei um keine Katastrophe, das bin ich bereit zuzugeben, eher um ein Malheur. Allerdings eines, das sich vermutlich durch alle Flure des Gebäudes zieht. Wie die meisten Experten, deren Meinungen etwas gelten, habe ich auf die harte Tour lernen müssen, dass Schlampigkeit und Notlösungen einen am Ende immer einholen und sich bitter rächen. Im Sinne meines anstehenden Gesundungsprozesses beschließe ich, dem einstweilen keine allzu große Bedeutung beizumessen und in den weiteren Beobachtungen so neutral wie möglich vorzugehen. Immerhin sieht meine Undercover-Tätigkeit nicht ausschließlich vor, gnadenlos die korrekte Umsetzung der Arbeit meines Instituts in der Praxis zu prüfen, sondern ein Augenmerk darauf zu haben, was gut gelungen ist, wo nachgebessert werden kann und wie wir als Farbberater zukünftig noch bessere Arbeit leisten können. Selbstkritik ist dabei ein Faktor, so haben wir es im Seminar gelernt, der den anderen hinsichtlich der Wichtigkeit nicht nachsteht. Da ich nicht weiß, ob die Dame an der Rezeption in meine Arbeit und meinen Auftrag eingeweiht ist, gebe ich mir Mühe, nicht zu vertraulich zu wirken, dabei aber gleichzeitig auszusenden, dass ich nicht der Feind bin. Ich bin auf keinen Vorteil aus. Ich möchte wie jeder andere Patient behandelt werden.

IHR HERZ IST UNSERE XXXXXXXANGELEGENHEIT

Ich stelle mich höflich vor und will ihr gerade den Ausdruck meiner Unterlagen vorlegen, da unterbricht sie mich in sehr bestimmtem Ton und hebt dabei die Hand auf energische Weise, als hätte ich mich eines Vergehens schuldig gemacht.

„Ich bin in Kenntnis darüber, wer Sie sind“, sagt sie in einer Stimmlage, die wenig Wiedererkennungswert bietet, weil sie neben der Sachebene keine persönliche Färbung enthält. Solche Stimmen sind für mich äußerst problematisch.

Ich schiebe ihr die Blätter hin und sie nimmt sie auf, ohne jedoch einen Blick darauf zu werfen. Das Papier landet unbesehen neben dem Bedienfeld ihres Videoschirms. Sie beginnt, mit schnellen Handgriffen über das Steuerungsfeld Befehle einzugeben. Ihre Fingernägel klackern wie ruckartig pickende Schnäbel von Vögeln. Es dauert nicht lange und ich höre das Geräusch eines topmodernen Druckers, der mir zuvor gar nicht aufgefallen ist. Nicht schlecht, Frau Specht. Kostspielige technische Ausstattung, notiere ich mir innerlich. In Windeseile liegen Etiketten im Ausgabefach, die sie aufnimmt und vor mir ablegt.

„Solange Sie im Gesundheitszentrum sind, erhalten Sie von uns einen Namen.“ Ich verstehe nicht, worauf sie hinauswill, und frage nach. „Nun ja“, antwortet sie in geduldig-ungeduldig leierndem Ton, „neueste Forschungen haben ergeben, dass Patienten sich emotional besser auf die anstehende Transplantation vorbereiten, wenn sie all das, was sie im normalen Leben sind, einmal außen vor lassen und sich hier bei uns vollständig auf ihren Heilungsweg konzentrieren. Weder die anderen noch sich selbst über Beruf und Status zu definieren, hat eine beruhigende Wirkung und hilft bei der mentalen Einstimmung. Viele Patienten bewerten diese Erfahrung als ungemein inspirierend und heilsam. Das zeigt unsere interne Zufriedenheitsbefragung, die wir bei der Entlassung durchführen. Lassen Sie sich einfach darauf ein, in ein paar Tagen wird es Ihnen nicht länger sonderbar erscheinen.“ In ein paar Tagen? In ein paar Tagen will ich mich nicht an die seltsamen Gepflogenheiten des Gesundheitszentrums gewöhnt haben, sondern mich längst im eigentlichen Transplantationszentrum befinden. Ich halte es jedoch für klüger, das nicht auszusprechen. „Das hier“, fährt die Empfangsdame fort und schiebt mir die Etiketten entgegen, „ist für Ihre Garderobe, damit nichts durcheinandergerät.“ Ich blicke auf die Zettel und lese zu meinem nicht geringen Erstaunen meinen richtigen Namen darauf: Lorbeer. Aus den Augenwinkeln kommt es mir so vor, als ob mir mein Gegenüber zuzwinkert, aber ich bin nicht sicher. Es könnte auch ein unwillkürliches Zucken gewesen sein. Da ich gesichtsblind bin, habe ich Schwierigkeiten damit, solche Feinheiten auszumachen. Es ist nicht so, als ob ich keine Emotionen erkennen kann. Mein Gehirn ist nur so stark damit beschäftigt, sich Details eines Gesichts einzuprägen, dass mich Mimik überfordert. Ich gehe aber davon aus, dass ihr Zwinkern in Verbindung damit, dass sie mir meinen eigenen Namen überreicht, Hinweis genug darauf sein muss, dass sie sich im Klaren darüber ist, dass ich nicht nur eine Herztransplantationspatientin bin, sondern mich auch eine geschäftliche Verbindung an das Gesundheitszentrum bindet.

„Lorbeer“, sage ich und greife nach den Etiketten.

„Die Leitung des Zentrums hat sich für Namen von Pflanzen entschieden“, erklärt sie auf ihre spröde, emotionsarme Weise. „Bäume, Blumen, Gräser, Heilpflanzen. Das hat eine besonders gute Wirkung auf die Psyche, zumindest, solange man Giftpflanzen und andere schlecht beleumundete Gewächse weglässt. Giftsumach, Tabak, Tollkirsche und Rizinus werden Sie daher bei uns nicht finden.“ Ich lobe diesen Einfall, der mir in Wahrheit absolut bedeutungslos, sogar albern vorkommt. Aber von mir aus, ich bin bereit, mich zu fügen, obwohl ich doch erstaunt bin, dass darüber in den Vorabinformationen kein Wort zu finden gewesen ist. Egal, es sollte mir nicht besonders schwerfallen, mich für die nächsten Tage als Frau Lorbeer vorzustellen. Es bedeutet ja keine Veränderung. Ob ich außer dem Lorbeer noch meinen Vornamen tragen darf? Nein, nicht einmal Frau oder Herr sind als Anrede erlaubt, wie ich auf Nachfrage erfahre. Die Patienten des Gesundheitszentrums haben samt und sonders vornamenlose Gewächse zu sein. Ich akzeptiere, einige Tage als Lorbeer unter anderen Pflanzen zu leben, bis ich diesen Ort wieder verlassen darf. In Ordnung. Es gibt verwunderlichere Dinge auf der Welt. Als Farbberaterin habe ich oft mit Exzentrikern zu tun. Manchmal reicht es aus, wenn eine Führungskraft eine Idee hat, die sie für genial hält, damit sich eine unsinnige Weisung durch ein ganzes Unternehmen zieht. Vielleicht ist das hier auch der Fall gewesen. Und die Empfangsdame macht ja schließlich auch nur ihren Job, oder? Mich irritiert indes ihre ausbleibende Freundlichkeit. Ob sie doch nichts von meinem Auftrag weiß? Oder verhält sie sich gerade deshalb auf diese Weise, um nicht in den Verdacht zu geraten, mit der Kontrolleuse zu fraternisieren?

„Sind die Etiketten dafür da, sie an die Kleidung zu heften? Als Namensschild?“, frage ich und halte mir eines davon links über die Brust.

„Nein!“, ruft sie da aufgebracht. Zumindest soweit ihre Stimme diese Emotion zu übertragen vermag. Mein Arm sinkt und ich lege das Etikett ordentlich zu den anderen. Ist das wieder ein Verbot, das ich nicht kenne? Du sollst deinen Lorbeer nicht am Leibe tragen?

„Keine Namensschilder?“, frage ich zur Sicherheit. Wofür sollen die Dinger denn sonst gut sein, zum Kuckuck?

„Natürlich nicht.“ An der Art, wie sie ihre Finger faltet und die so entstandenen Gebetshände zusammenpresst, erkenne ich eine gewisse Erregung. Doch warum?

„Und welchen Zweck haben sie dann?“, frage ich.

„Wie ich Ihnen bereits sagte, dienen sie dazu, dass es zu keiner Verwechslung ihrer Garderobe mit der von anderen Patienten kommen kann. Die Etiketten sind zu diesem Zwecke so in der Kleidung anzubringen, dass sie von außen nicht zu sehen sind“, antwortet sie scharf. Ihre Worte sind für mich genauso seltsam wie das Gewese um die Namen. Warum soll ich meine Kleidung mit Namen bestücken? Ich traue mir durchaus zu, sie wiederzuerkennen, und Verwechslungen halte ich in diesem Zusammenhang für sehr unwahrscheinlich.

„Danke“, sage ich dann aber bloß, weil es mir müßig erscheint, darüber zu streiten, „ich nehme sie mit und werde meine Garderobe entsprechend markieren.“ Die Hände der Empfangsdame lösen sich voneinander und finden den Weg seitlich in ihre Hüften, wo sie sich aufgestützt wiederfinden. „Wo ist eigentlich mein Koffer?“, erkundige ich mich. „Oder ist mein Gepäck noch gar nicht eingetroffen?“ Falls dem so ist, das will ich signalisieren, stellt das kein Problem dar, und ich werde sie nicht dafür verantwortlich machen. Ich bemerke zu meinem eigenen Erstaunen, wie ich mich als gewiefte Expertin aufführe, die einen schwierigen Kunden umgarnt, um das Platzen eines Auftrags zu verhindern. Und das vor dieser einfachen Angestellten, die den Empfang betreut. Ich scheine wirklich motiviert zu sein. Aber kann denn irgendjemand seine Persönlichkeit und beruflichen Erfahrungen an der Rezeption eines Gesundheitszentrums hinter sich lassen? Ich beobachte die Empfangsdame gespannt dabei, wie sie auf dem Bedienfeld einige Tasten drückt, einen Hörer aufnimmt und schnippisch hineinspricht. „Hier ist eine Patientin, die der Meinung ist, wir hätten ihr Gepäck verschlampt“, klagt sie in nun deutlich säuerlichem Ton, was mich unwillkürlich dazu veranlasst, scharf die Luft einzuziehen. Ich bin kurz davor, mich in das Gespräch einzuschalten und mitzuteilen, dass ich keineswegs eine solche Anschuldigung erhoben habe, unterlasse es aber lieber. Wer klug ist, weiß, wann es besser ist zu schweigen. Ich versuche, etwas in ihrem Äußeren zu finden, anhand dessen ich sie später wiedererkennen und auf der Hut sein kann, doch es gibt nichts, an dem mein Blick verfängt. Sie trägt weder Namensschild noch Etikett und es gibt keinen Aufsteller auf dem Tresen, der mir zumindest ihren Namen verraten hätte. Sie spricht weiter in den Hörer, als ob ich gar nicht da wäre, und endet schließlich mit der Aufforderung, die Person am anderen Ende der Leitung möge umgehend zur Klärung ins Foyer kommen. Und wirklich dauert es keine Minute, da öffnet sich eine dezent in die Holzvertäfelung eingelassene Tür. Eine Frau schreitet hindurch, kommt eilfertig herbei und stellt sich zur Empfangsdame hinter den Tresen. Zu meinem nicht geringen Unbehagen ähneln die beiden einander beinahe wie ein Ei dem anderen. Die gleiche Größe, die gleiche asiatisch anmutende Uniform mit Stehkragen, die gleichen mausblonden Haare, streng aus dem Gesicht gekämmt und zum Zopf gebunden. Nicht einmal an ihren Stimmen kann ich sie hinreichend auseinanderhalten. Würde ein gewaltiger Hütchenspieler sie hin und her tauschen, ich hätte nicht den Hauch einer Chance, sie richtig zuzuordnen.

„Na, dann kommen Sie mal mit“, sagt eine der beiden Damen auf impertinente Weise, die absolut nichts Gutes verheißt. Ich vermute, dass es sich um diejenige handelt, welche dazugekommen ist. Sicher bin ich mir aber nicht. Ich wage einen Vorstoß, der einzig Resultat dessen ist, dass ich als Gesichtsblinde über jahrelange Strategien und gewohnheitsmäßige Tricks verfüge, mit meiner Schwäche umzugehen. Sonst würde es mir wohl kaum gelingen, meine Stimme weichzustellen und einen arglosen Ton anzuschlagen.

„Ich bin Frau Lorbeer“, stelle ich mich vor. Sie räuspert sich. Ich erkenne meinen Fehler. „Lorbeer, nur Lorbeer“, korrigiere ich mich rasch.

„Darüber bin ich informiert“, erhalte ich knappe Antwort.

„Wie ist Ihr Name?“, frage ich. „Ich fürchte, ich habe ihn eben nicht mitbekommen.“ Sie zögert. Es ist dasselbe Zögern, das ich auch bei der Empfangsdame beobachtet habe. Als könne sie meine Unkenntnis und Dummheit schlicht nicht fassen.

„Teak“, antwortet sie schnippisch.

„Interessante Wahl“, fühle ich mich zu schmeicheln veranlasst. „Passt zum Holz der Lobby. Haben Sie den Namen selbst gewählt? Pfiffig.“ Mein Lob gleitet nicht nur an ihr ab, sie scheint es im Gegenteil übel aufzunehmen. Energisch schüttelt sie das Haupt, ihr wippender Pferdeschwanz erinnert mich an das Zucken eines wütenden Nagetiers.

„Würden Sie mir verraten, wie die Dame am Empfang heißt, mit der ich eben gesprochen habe? Auch ihr Name ist mir durchgegangen“, versuche ich es weiter.

„Hören Sie mal“, gibt sie zur Antwort, als gälte es, eine lästige Posse zu beenden, deren Verursacher ich bin. „Alle Angestellten, die am Empfang und in der Kommunikationszentrale arbeiten, heißen Teak. Das ist praktisch, so müssen sich die Patienten nicht alle möglichen Namen merken. Ein Teak ist so gut wie ein anderes.“

„Wirklich?“, entfährt es mir.

„In der Tat“, sagt sie, „das Prinzip hat sich bewährt. Jede Gruppe von Angestellten des Gesundheitszentrums teilt sich jeweils einen Namen: Haustechnik und Gärtner heißen hier alle Efeu, jegliche Küchenleute Ysop, Putzkräfte Haselnuss und die Mitarbeiter in den Schweineställen Runkel.“ Ob die Teak, welche mich durch die Lobby in die Kleiderkammer begleitet, tatsächlich von den Prinzipien der Namensgebung überzeugt ist, bleibt ihr Geheimnis.

„Da“, sagt sie und zeigt auf einen Tisch, der sonst zum Wäschefalten oder -packen dienen mag. Und wirklich, da liegt mein Koffer – ein unvermittelt schöner und vertrauter Anblick.

„Herzlichen Dank“, antworte ich und strecke die Hand nach dem Tragegriff aus. „Dann müsste ich jetzt bloß noch wissen, wie ich zu meinem Zimmer komme.“

„Nein!“, ruft sie wie der unheimliche Widerhall der Stimme der Empfangsdame. Es klingt exakt gleich. Ohne es zu wollen, zucke ich vor meinem eigenen Gepäckstück zurück.

„Nein?“ Mir ist bewusst, dass ich konsterniert klinge. Das kann ich nicht ändern, denn diese Art ärgert mich nicht nur, sie bringt mich regelrecht auf.

„Für die Dauer ihres Aufenthalts erhalten alle Patienten Kleidung vom Gesundheitszentrum“, erklärt sie gelangweilt.

„Das wusste ich nicht“, sage ich. Es ist klar, dass sie mir entweder nicht glaubt oder mich für minderbemittelt hält.

„Teak hat Sie doch eben bereits in aller Deutlichkeit informiert. Solange Sie sich hier auf Ihre Transplantation vorbereiten, lassen Sie Ihre Alltagsperson mal hübsch draußen. Was nützt ein schlichter schöner Name, wenn die Kleidung genauso viel über Sie preisgibt?“ Sie spricht von der Wichtigkeit, sich ganz und gar auf den Prozess zu fokussieren und dass viele Patienten es als Erleichterung empfinden, sich über die Auswahl von Kleidung keine Gedanken machen zu müssen. Das hat, ich vermutete es bereits, bevor sie es sagt, die interne Zufriedenheitsbefragung ergeben und zum unverzichtbaren Bestandteil des Aufenthalts gemacht.

„Frau Teak“, beginne ich. Sie unterbricht mich.

„Teak. Nicht Frau Teak“, korrigiert sie mich mit deutlicher Missbilligung. Mir schwant, welchen Unterschied es macht, diesen Teil der Anrede wegzulassen. Es klingt ... kalt.

„Ich habe“, fahre ich fort, „ja im Grunde gar nichts dagegen, mich hier gut einzufügen. Es irritiert mich bloß, dass mir darüber im Vorfeld keinerlei Informationen gegeben wurden.“

„Man merkt“, antwortet Teak, „dass Sie noch sehr an Ihrer herkömmlichen Weise festhalten, die Dinge zu betrachten. Sie werden bald anders darüber denken.“ Ich stehe unmittelbar davor, meinen Koffer zu schnappen und den Weg meiner Anreise in umgekehrter Weise zu vollziehen. Ich stelle mir kurz den geharnischten Brief vor, den ich an die Leitung meines zuständigen Gesundheitsamts schreiben will. Doch dann spüre ich auf einmal, wie mein Herz rast und mir wild bis zur Kehle wummert. Dieses Gefühl versetzt mich in einen Zustand bislang nicht gekannter Angst. Mein Widerstand schwindet so schnell, wie er gekommen ist. Ich befinde mich an diesem Ort, weil ich ein neues Herz brauche, nicht um einen angenehmen Kurzurlaub zu verbringen. Das darf ich nicht vergessen! Ob die Teak etwas von meinem Zustand bemerkt, weiß ich nicht. Aber Mitgefühl ist hier ja ohnehin nicht an der Tagesordnung, soviel habe ich mittlerweile begriffen. Ohne sich nach meiner Konfektionsgröße zu erkundigen, beginnt sie damit, Kleidungsstücke herbeizutragen. Erst jetzt bemerke ich die langen Reihen der in Regalen gestapelten und an Kleiderstangen aufgebügelten Textilien. Die mangelnde Farbvariabilität lässt keinen Zweifel daran, dass sämtliche Stücke einander jeweils genau gleichen und aus demselben Stoff hergestellt worden sind.

„Ein hübscher Kimono“, versuche ich mich wiederum an einem Lob, als sie ein – zugegebenermaßen – geschmackvoll gemustertes, dezentes Gewand mit festem Gürtel und einem Jäckchen vor mir ablegt.

„Es handelt sich um einen Yukata“, belehrt mich die Teak, „ein Kimono wäre ein unnötig kompliziertes Kleidungsstück. Es geht bei uns um Schlichtheit, falls Sie sich erinnern.“

„Aber gewiss doch“, murmele ich, darum bemüht, die Worte ohne Ironie hervorzubringen. Der Anblick der zahllosen identischen Yukatas lässt in mir indes die schlimmsten Befürchtungen aufkeimen. Für mich als Gesichtsblinde sind alle Arten von Uniformen ein Albtraum. Wenn ich mich nicht wenigstens an Details der Kleidung orientieren kann, habe ich gewaltige Probleme, Personen auseinanderzuhalten. Vom Wiedererkennen ganz zu schweigen. Ich bemerke, dass die Teak ungeduldig auf etwas wartet, benötige aber einen Moment, bis ich begreife.

„Soll ich ihn gleich jetzt anziehen?“, frage ich. Sie nickt mit dem mir bereits bekannten Impetus des eifrigen Nagetiers.

„Selbstverständlich“, antwortet sie. „Alles andere ergäbe nun wirklich keinen Sinn, nicht wahr?“ Es ist mir unangenehm, meine Kleidung vor dieser Person abzulegen. Nur in Unterwäsche vor ihr zu stehen, lässt mich blank, bloß und hilflos fühlen, was mir sehr gegen den Strich geht. Sie erklärt mir im üblichen belehrenden Ton, wie der Yukata anzulegen und mit dem Gürtel festzubinden ist. Das Tragen des offenen Jäckchens, welches zur Ausstattung gehört, bleibt dem Temperaturempfinden des Trägers überlassen, wie sie sich ausdrückt. Eine fakultative Jacke – wenn das mal keinen Anfang für eine Revolution bietet! Bravo, denke ich und beschließe, mir in dieser Kleidungskammer nicht den Schneid abkaufen zu lassen. Die Teak bringt weitere Kleidungsstücke, darunter Hosen und Trikots für den Außenbereich, die an Sportbekleidung der Zwanzigerjahre erinnern.

„Wir sind dann jetzt wohl so weit“, sagt sie in aufforderndem Ton, und wieder habe ich keine Ahnung, worauf sie hinauswill. Es stellt sich heraus, dass ich meinen soeben erst angezogene Yukata wieder ablegen muss, da nun die Befestigung der Lorbeer-Etiketten zu erfolgen hat. Ein Bügeleisen wird erhitzt, dann stellt sich die Teak neben mich und gibt Anweisungen, an welchen Stellen die Schildchen anzubringen sind. Schon klar, dass sie nicht mein Dienstmädchen ist. Ich bügele und schwitze. Wie in einem absurden Theaterstück ziehe ich mich danach wieder an, die weiteren neuen Sachen werden in einen Drahtkorb gepackt und um japanisch anmutende Holzpantinen ergänzt, die vor meinen Füßen zu Boden klappern. Ich schlüpfe hinein, während die Teak meine Straßenschuhe mit spitzen Fingern wegstellt. Ich gehe davon aus, dass das Schauspiel damit sein Ende findet, und da sie mir wohl kaum beim Tragen des Korbs und meines Koffers helfen wird, versuche ich, beide gleichzeitig zu greifen. Denn nichts scheint mir in diesem Moment wünschenswerter, als diese unselige Kleiderkammer endlich zu verlassen. Doch nein. Der Koffer, so erklärt die Teak, kommt nicht mit in die Kabine – sie sagt tatsächlich Kabine, nicht Zimmer, es klingt, als ob es auf eine Kreuzfahrt ginge –, da sich dies schon allein aus Platzgründen nicht anbietet. Mir steht ein verschließbarer Spind zur Verfügung, auf den ich jederzeit zugreifen kann. „Am besten wird es jedoch sein“, sagt sie in ihrem leiernden Ton, „wenn sie gleich jetzt aussortieren, was Sie benötigen. Ich werde Sie beraten.“ Ihre Beratung besteht in der Folge darin, dass sie den Inhalt meines Koffers genauestens inspiziert und bis auf wenige Ausnahmen von allem abrät, was meinen Heilungsprozess stören könnte. Als ich darauf bestehe, meinen Kulturbeutel mitzunehmen, ruft sie wieder jenes unangebrachte: „Nein!“, das ich zwar schon kenne, mich aber dessen ungeachtet erneut wie ein Hieb trifft.

„Nein?“ Ich beharre höflich auf der Wichtigkeit, die der Inhalt des Täschchens für mich hat, und lege es in den Korb. Ihren Vortrag darüber, wie hinderlich und schädlich Eitelkeiten an diesem Ort sind und wie sie den Prozess behindern, lasse ich lächelnd über mich ergehen. In diesem Punkt bin ich nicht bereit nachzugeben.

„Wissen Sie“, belehrt mich die Teak, „viele Patientinnen empfinden es als erholsam, sich über ihr Äußeres nicht in gewohnter Weise Gedanken machen zu müssen. Alles, was notwendig ist, finden Sie in der Kabine: Waschzeug, Kamm, Accessoires, mit denen sie sich einen schlichten Zopf binden können, und so weiter. Ihre Medikamente erhalten Sie ohnehin ab jetzt von uns.“ Sie schlägt vor, ich könne den Beutel ja später holen, wenn ich ihn tatsächlich vermissen sollte, was aber – immerhin gibt es ja die interne Zufriedenheitsbefragung – noch nie vorgekommen sei.

„Machen wir es doch andersrum“, antworte ich mit fester Stimme, „ich nehme ihn mit, und wenn er mir lästig wird, bringe ich ihn hierher in mein Schließfach.“ Ich verlasse die Kleiderkammer mit dem Triumph des Kulturbeutels im Korb und dem bösen Verdacht, mir eine mächtige Feindin geschaffen zu haben. Zudem noch eine, die ich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht werde wiedererkennen können. Es läuft alles gar kein bisschen, wie ich es mir vorgestellt habe. Allein die Hoffnung, dass es hier unmöglich überall derart verrückt zugehen kann, hält mich in einigermaßen positiver Stimmung. Solange Mein Herz deren Herzensangelegenheit bleibt, wird sich schon alles andere irgendwie finden.

Ein junger Mann, ein Efeu, trägt den Korb zu meiner Kabine und spricht im leichten, wenn auch etwas nassforschen Plauderton zu mir. Nach den vorangegangenen Erfahrungen mit den Teaks ist er mir vermutlich sympathischer, als es sonst der Fall wäre. Ich bemerke, wie mein Ton leutseliger wird und ich mir sogar eine kleine Spitze über den Empfang des Gesundheitszentrums erlaube. Sogleich ärgere ich mich, dass ich mich dazu habe hinreißen lassen. Wie unprofessionell! Und außerdem: Versucht der Knabe etwa, mich gezielt auszuhorchen? Ich habe mit einem Mal ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Ich halte meine freundliche Fassade aufrecht und pariere seine weiteren Anwürfe mit unbestimmten Ausflüchten. Efeu geleitet mich zu einer Tür, die sich, nachdem er eine Autorisierung vorgenommen hat, auf den Scan meiner Iris hin öffnet. Das Innere der Kabine oder auch Kapsel ist mir aus der Theorie vollständig bekannt. Ich erinnere mich gut an Zeichnungen und Miniaturbauten. Geborgenheit, Wärme und Urvertrauen sind die Schlagworte gewesen, die Gestaltung und Farbauswahl begleitet haben, die daraus entstandene Anmutung eines Uterus ist jedoch so dezent umgesetzt worden, dass darin nichts Abstoßendes liegt. Gute Arbeit. Das Innere der Kabine erscheint trotz aller Modernität äußerst gemütlich, eine gelungene Umsetzung des Konzepts, das werde ich in meinem Bericht lobend erwähnen. Efeu macht mich mit den technischen Gegebenheiten vertraut, erklärt die Handhabung der drahtlosen Konsole und hilft mir dabei, mein Abendessen auszuwählen, welches später vollautomatisch durch eine Klappe in die Kabine geliefert werden soll. Dass die Patienten nicht gemeinsam essen, habe ich mir schon gedacht. Dergleichen ist vor mehr als zehn Jahren allgemein aus der Mode gekommen. Mit jemandem gemeinsam zu speisen, gilt mittlerweile in Zusammenhängen wie diesen als zu persönlich. Tatsächlich ist zusammen zu Essen für viele moderne Menschen heutzutage intimer als Geschlechtsverkehr, zumindest wenn man den Umfragen mancher Unterhaltungssendungen Glauben schenken darf. Efeu beobachtet mich bei meinen Eingaben, erläutert weitere Funktionen und lobt mich gönnerhaft, während ich ein Bild mit blauem Mais als Inhalt für den Dekorationsrahmen aussuche. Für einen kurzen Moment bemerke ich, wie sich die Kapsel bewegt, und als ich aufmerksam aus dem Bullauge sehe, stelle ich fest, dass sich die Aussicht verändert hat. Mit stolzgeschwellter Brust berichtet Efeu, dass sich die Kabinen beständig bewegen, „damit alle Patienten die gleiche Reise tun und keiner die Bevorzugung einer besonderen Lage bekommt.“

„Sie sollten daher immer genau auf die Kabinennummer achten“, ermahnt er mich künstlich heiter und redet noch vieles weitere über die Philosophien des Gesundheitszentrums und Feng-Shui-Prinzipien. Obwohl ich diesem Efeu gegenüber Vorbehalte habe, bewundere ich den Enthusiasmus. Oder klingt seine Rede nicht doch auswendig gelernt und routiniert reproduziert? Das meiste daran ist, nebenbei gesagt, ohnehin ziemlicher Blödsinn. Als Efeu gerade gehen will, halte ich ihn auf und erkundige mich danach, ob ich meinen Gesundheitsplan ebenfalls über die Konsole finden und auf dem Schirm ansehen kann. Er gibt sich irritiert, auch das scheint mir Bockmist, da ich wohl kaum die Erste sein kann, die ihn je danach befragt hat.

„Wie meinen?“

„Ich habe an der Rezeption keinen Plan bekommen“, erkläre ich, „und weiß daher nicht, wann ich mich wo einzufinden habe.“

„Einzufinden?“ So redselig Efeu zuvor gewesen ist, so einsilbig gibt er sich jetzt.

„Wann Untersuchungen stattfinden oder es Gruppenaktivitäten gibt“, versuche ich es weiter, und er lässt mich eine Weile zappeln, bevor er sagt: „Machen Sie sich keine Gedanken. Es gibt hier keine Stundenpläne. Es ist alles freiwillig, schließen Sie sich einfach an, wann immer Ihnen der Sinn danach steht.“ Er lässt es wie eine Heilsbotschaft klingen. Doch da schwingt deutlich noch etwas anderes mit, das ich nicht greifen kann.

„Und wenn ich einen Arzttermin habe?“, beharre ich. „Den will ich doch nicht versehentlich verpassen. Deshalb bin ich doch schließlich hier!“ Efeu wird ungeduldig.

„Das medizinische Personal wird Sie schon finden, wenn etwas ist“, sagt er unwirsch.