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Gloria Gray

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Beschreibung

Ein Handy als Mordwaffe? Ja, da schaust! Dass der Großunternehmer Adi Dietz seinem Kumpel Olaf eine Privatnachricht schickt, in der er die Vikki mit einem bestimmten unflätigen Begriff beleidigt, kann der Vikki wurst sein. Bis, ja bis leider der Olaf die Nachricht öffentlich macht (mit besten Absichten, natürlich!) und Vikki dadurch mitten in einen Publicitystrudel zieht, der sich gewaschen hat. Als Vikki dann genau diesen Olaf tot in seinem Homeshopping-Sender-Chefbüro auffindet, macht die Polizei sie flugs zur Hauptverdächtigen. Um ihre Unschuld zu beweisen, sucht die Vikki nach dem echten Mörder, wobei da mehrere Gestalten infrage kommen. Und dann taucht auch noch die Rotlichtlegende Erwin »Dampfhammer« Faltermeyer auf und mischt mit. Da reicht's einem doch schon wieder ...

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Seitenzahl: 456

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Ähnliche


Gloria Gray

Grüße aus Bad Seltsham

Vikki Victorias zweiter Zwischenfall

Krimi

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

»Wenn es überhaupt eine gute Idee gibt,

dann die Idee der Skepsis gegenüber allen guten Ideen.«

Gerhard Polt

 

 

»Ich hasse es, Gerüchte zu verbreiten.

Aber was sonst kann man mit ihnen machen?«

Amanda Lear

1

Meine Güte, ist der Markus Keil heute wieder aufgekratzt. Wie eine Wespe sitzt er auf der Kante seines Sessels, inmitten des ovalen ZDF-Studios, und widmet jedem der vier Talkgäste abwechselnd seine volle Aufmerksamkeit. Dabei wirkt er, als würde er permanent auf der Lauer liegen, fixiert einen aber gleichzeitig derart herzlich, als säße man einem engen Freund gegenüber. Darin ist er groß.

Ich bin mir gar nicht sicher, wie ich das finde.

Aber jetzt hock ich nun mal hier. Selber schuld.

»Wir sprechen dabei ja von einem regelrechten Wechselbad der Gefühle, sag ich mal …«, weht mir ein Satzfetzen um die Ohren, der mich aber gerade nicht betrifft. Keine Sorge.

Ich recke mich unmerklich und werfe einen verstohlenen Blick in die Runde, einmal zu jeder Seite, um mich zu vergewissern, was ich mir da eingebrockt habe. Der Keil thront doch immer ganz links, wenn man daheim auf den Bildschirm schaut, und rechts von ihm sitzen die mehr oder weniger prominenten Gäste des Abends. Ja, und ich bin heute die Mittlere der Anwesenden.

Zwischen dem Keili und mir kauert ein graugesichtiger Schriftsteller matt im weichen Polster, bestimmt manisch-depressiv. Jeden seiner Sätze beginnt er mit einem grüblerischen Stottern, das hundertprozentig gefaked ist, ihn aber gleichzeitig sehr sympathisch macht. Er riecht nach Rauch und sieht auch so aus, genau wie seine Anzughose den Eindruck vermittelt, ihm oft auch als Pyjamahose zu dienen.

Rechts von mir sitzen eine junge, aufstrebende Politikerin (Gießkannenstimme, hat für alles Verständnis, duldet aber keinen Widerspruch) und ein ehemaliger Fußballspieler, von dem ich noch nie gehört habe. Was nix heißt. Für mich sehen die alle gleich aus. Er wirkt wie ein Gefolterter, der keine Ahnung hat, wieso er eigentlich hier ist.

Das weiß allerdings auch sonst keiner der Mitwirkenden.

»Bei allem Respekt, sollte uns das nicht zu denken geben, wenn so ein Hass …«, erschallt Keils überdrehte Stimme.

Die automatisierten Kameras surren hin und her, auch mal über unsere Köpfe hinweg, und ich bade mich in der Gewissheit, dass das hervorragende Studiolicht, das vielleicht das gnädigste Studiolicht auf der ganzen weiten Welt ist, mich nicht mal ansatzweise wie zweiundvierzigeinhalb wirken lässt. Da schmelzen die Runzelchen um Augen und Mundwinkel nur so weg. Sogar bei Nahaufnahmen. Allein schon deshalb hab ich zugesagt. Bei Markus Keil sieht wirklich auch der vergilbteste Komapatient frisch und appetitlich aus. Nicht, dass ich Ähnlichkeit mit einem vergilbten Komapatienten hätte – auch wenn ich heute einfach nicht in Topform bin. Haare und Make-up sind eigentlich okay, trotzdem habe ich ein zerzaustes Gefühl, weiß der Teufel, woran das liegt – nein, ich meine das mit dem Komapatienten eher so allgemein, eher … du weißt schon, wie ich das meine.

Was drucks ich denn rum? Ich fühl mich halt scheiße!

Die ellenlange Frage vom Markus Keil ist an den ehemaligen Profifußballer adressiert und betrifft den bombastischen Shitstorm, der momentan von überall her auf mich einprasselt und der auch das Thema dieser Sendung ist. Bloß gibt dieser frühere Spitzenkicker darauf eine derart kryptische Antwort, dass selbst der Keil etwas verdutzt kuckt und erst mal auf jegliches weitere Nachbohren verzichtet. Alle sind ein bisschen baff. Dabei kann man so eine, sagen wir mal, geistige Unberührtheit einem Sportler in Frührente überhaupt nicht zum Vorwurf machen, finde ich. Der hat doch ganz andere Schwerpunkte. Berufliche Neuorientierung (Trainerschein, schon zweimal durchgefallen), Insolvenzabwicklung (Fehlinvestition in ein Autohaus in Dinslaken), Klage der Ex (toxische Beziehung).

Außerdem: Jedes Mal, wenn ich zufällig sehe, wie ein Fußballer einen Kopfball ausführt, denke ich mir, dass da doch was beschädigt werden muss. Das kann doch gar nicht anders sein. Deshalb: Nonsens hin, Ballaballa her – was dieser wirklich makellos frisierte, verrentete Nationalspieler im Laufe des Abends noch so alles zu unserer Diskussion beitragen wird, man darf gespannt sein.

Der Keil wendet sich erneut mir zu, und ich stoße beinah mein Wasserglas um, nach dem ich gerade greifen will, weil ich gar nicht damit gerechnet habe, so schnell wieder an die Reihe zu kommen.

»Frau Victoria, können Sie die ganze Aufregung denn wirklich nicht verstehen, die Ihre Reaktion auf die Veröffentlichung der WhatsApp von Herrn Kreischke ausgelöst hat?«, hakt er bereits zum dritten Mal innerhalb von fünf Sendeminuten nach. Ständig kommt er damit an. An seiner Schläfe klopft eine Ader. Ich bin mir ziemlich sicher, die sieht man nur aus der Nähe.

»Bis zu einem gewissen Grad vielleicht schon. Ich wundere mich aber nach wie vor, Herr Keil, dass die Menschen da draußen, die so lauthals Skandal schreien, nicht auch der Meinung sind, dass Privates privat bleiben muss, wie schon gesagt. Dieses Recht sollte ebenso für Herrn Dietz gelten«, antworte ich.

»Soll dieses Recht auch dann gelten, wenn ein Herr Dietz, der eine solch verantwortungsvolle Position innehat, verbal derart über die Stränge schlägt?«, stichelt er weiter und beugt sich blinzelnd nach vorn: »Er hat ja, bitte schön, auch eine gewisse Vorbildfunktion zu erfüllen.«

Ich beharre: »Aber Herr Dietz hat seine Bemerkung doch nicht öffentlich kundgetan, sondern …«

»Das schon, aber er hat Sie dennoch indirekt schwer beleidigt, Frau Victoria, indem er Sie höchst abwertend als, ähm, Quotentranse tituliert hat … oder besser diffamiert hat, wenn ich das noch einmal zitieren darf.« Darf er eigentlich nicht, vor allem, weil er es bereits vier Mal getan hat, aber jetzt ist es schon zu spät. »Da ist es doch durchaus legitim, wenn die Öffentlichkeit durch Herrn Dietz’ Geschäftsführer Olaf Kreischke von einer solchen moralischen Verfehlung erfährt … und entsprechend rigoros reagiert. Und demzufolge ist es auch kein Wunder, dass Ihr anschließendes Verhalten massiv in der Kritik steht, Frau Victoria«, platzt es weiter aus dem Keil heraus. »Finden Sie nicht?«

Ganz und gar nicht. Jetzt reg ich mich doch wieder ein bisschen über dieses bewusste Missverstehen auf und muss dabei vermelden, dass meine Brüste vor lauter Entrüstung ganz leicht hin- und herwiegen. Der gibt einfach keine Ruh, der Keil. Ich muss ein steinernes Gesicht machen, sonst sieht man mir mein Inneres an. Furchtbar. Und das auch noch, bei dem tollen Licht.

Adi Dietz, Olaf Kreischke, ominöse WhatsApp, Quotentranse … jetzt wirst du sagen, was redet der Markus Keil da? Ich versteh nur Bahnhof! Aber es ist gar nicht so kompliziert. Eigentlich überhaupt nicht. Weil nämlich folgendermaßen:

Seit ziemlich genau einem Monat habe ich meine eigene Sendung auf dem brandneuen Teleshopping-Kanal Shop til you Drop TV. Wahnsinnsname, oder? Der sagt alles.

Drei Mal pro Woche präsentiere ich dort meine Produktlinie Vikki Victorias Wham! Bam! GLAM! Mam!

Wahnsinnsname, oder? Wobei ich den eher so mittel finde. Eigentlich Mist. War eine Marketingentscheidung des Senders. Lässt sich nur bedingt drauf Einfluss nehmen. Das ganze Leben, ein einziger Kompromiss.

Jetzt bitte nicht vorschnell schreien: »Sag a mal, ist die Vikki jetzt total verrückt geworden und macht plötzlich auf Glitzerpraline im g'spinnerten Homeshopping-Kosmos?«

Überhaupt nicht.

Inhaltlich ist meine Produktpalette nämlich hochqualitativ und tippi toppi. Meine Linie besteht, Achtung, aus zwei edlen Duftkreationen in Flakons, die als kurvige Ganzkörper-Silhouetten in unterschiedlichen Glasfarben erhältlich sind. Eau de Parfum de la Vikki! Wahlweise auch – und das ist der Clou – in Form eines rosé oder gold lackierten High Heels mit spitzem Absatz. Ein Stöckelschuh deluxe mit wohlriechendem Inhalt zum Aufsprühen. Natürlich biete ich zusätzlich auch noch meine eigene Make-up-Kollektion an, bestehend aus Mascara, Lippenstift, Lidschatten, Nagellack, Puder, und vielem mehr. Logisch. Und wir erweitern unser Angebot in Kürze. Stay tuned. Also, wenn’s dich interessiert.

So.

Aber jetzt: Ernüchterung. Ab ins Tal der Tatsachen.

Eigentlich ist Teleshopping ja gar nicht mein Ding. Überhaupt nicht. Ich würde mich sogar eher davon distanzieren, weil es nämlich wirklich ein bisserl peinlich ist, seh ich genauso.

Allein die Präsentatoren!

Bestimmt sind all die überpflegten Moderatorinnen und augenbrauengezupften Moderatoren superliebe Menschen, und so. Aber jetzt weiß ich nicht, wie du das siehst … mei, hinter der Hand würde ich mich schon flüstern trauen, dass die alle ausschauen wie die Handtuchwechslerinnen und Saunaaufgießer in einem mittelklassigen Großstadtpuff. Wogegen natürlich rein gar nix zu sagen ist.

Kurz und gut, bei einem Shopping-Kanal zu arbeiten, wäre mir zuvor nie in den Sinn gekommen. Im Gegenteil. Ich hätte eher einen großen Bogen drum herum gemacht. Bis, ja, bis eine Kosmetikfirma bei mir angefragt hat, ob ich Interesse daran hätte, eine genau auf mich zugeschnittene Kosmetikkollektion zu bekommen und die dann auf Shop til you Drop TVeigenhändig zu präsentieren.

Und jetzt Obacht. Von wegen Vorbehalte und Vorurteile, wie ich sie ja gehabt hab. Shop til you Drop TV ist ein brandneuer Kanal, der sich deutlich absetzen möchte von den mittlerweile ein wenig angestaubten Sendeformaten von, was weiß ich, HSE24, QVC, 1-2-3.tv und Ähnlichem.

Denn nachdem der Einzelhandel heutzutage nicht mehr bloß durch das Internet bedroht wird, sondern sich mittlerweile auch durch neue Hygienebefindlichkeiten kaum mehr auf seine Stammkunden vor Ort verlassen kann, dachte sich ein findiges Konsortium aus der Schweiz, so eine Milliarden-Holding AG, man könnte den Teleshopping-Markt irgendwie neu aufpeppen und revitalisieren. Aufmischen eben. Und zwar, indem man das Ganze zeitgemäßer und attraktiver gestaltet, und damit nicht nur die Kunden abholt, die bislang noch aufs physische Einkaufen geschworen haben, sondern auch die längst verloren gegebene Internet-Shoppingsucht-Community gewinnt, die am Handy hängt, als wär’s ein Körperteil.

Back to television. Zurück zum Fernsehen. Und da im Speziellen zum superhippen, megatrendy Shop til you Drop TV. Was Neues durch was Altes inspiriert. Innovation durch Rückbesinnung. Oder umgekehrt. Es kann gar nicht schlau genug klingen …

Die Optik der Kulissen bei Shop til you Drop TV ist den Blogger-Studios auf YouTube und den schicken Designwohnungen auf Instagram nachempfunden. Und die Mädels und Jungs, die durchs Programm führen: von wegen aufgebrezelte Schlachtrösser ausm Bordell oder abgehalfterte ehemalige Boyband-Mitglieder Ende vierzig, die ausm letzten Loch pfeifen, von den Zinsen ihrer Schulden leben und so Phrasen vor sich hin röcheln wie: »Liebe ZuschauerInnen, jetzt raten Sie mal, was ich hier im Angebot für Sie habe – gleich zugreifen ist da angesagt! Denn aufgepasst! Nur noch neunzig Stück auf Lager, höre ich gerade!«

Das ist passé.

Dieses besagte Schweizer Konsortium hat endlos Geld in ihr bahnbrechendes TV-Konzept gesteckt und dabei natürlich nicht an den Gagen und Lockangeboten für die etablierten Influencer und Internetberühmtheiten gespart. Da wird geklotzt, das kannst du glauben.

Eine Instagram-Influencerin mit über zwei Millionen Followern bekommt für eine einstündige Show bei Shop til you Drop TV … also diese Beträge würde mir niemand abnehmen. Echt. Unwirklich.

Die Schweizer pumpen Euros in dieses Projekt, als gäb’s kein Morgen. Hauptsache, der Plan kommt ins Laufen.

Ich bekomm natürlich nicht so viel wie eine neunzehnjährige Style-Bloggerin mit einer Followerzahl, die im siebenstelligen Bereich liegt. Ich hab auf Instagram gerade ein paar tausend Abonnenten.

Und sollte da gleich jemanden rufen: »Und neunzehn bist du ja auch nicht mehr so unbedingt, gell, Vikki?« Da muss ich leider sagen, das stimmt! Es ist natürlich meine anders getaktete Erscheinung, die mich für den Sender interessant macht. Die Casting-Leute von Shop til you Drop TV haben nach einer Transgender-Person wie mir geradezu händeringend gesucht. Findet man ja auch nicht an jeder Ecke.

Ist jetzt eben mega in. LGBTIQ* (nochmal nachrechnen: L, G, B, T, I, Q und die Sternderlmenschen_Innen. Haben wir alle? Sind alle an Bord? Fühlt sich jemand ausgeschlossen?). Zeitgeist. Wer hätte das gedacht, noch vor ein paar Jahren. Damals geächtet, jetzt hofiert und in Watte gepackt.

Diversität wird regelrecht kultiviert, wird zum Kult. In jede Richtung.

Du findest weit und breit kein einziges Werbeplakat mehr, auf dem nicht mindestens eine von drei Personen asiatisch ist (mit Mittelscheitel, tendenziell super drauf), eine Person dunkelhäutig (samt voluminöser Lockenpracht, fast noch besser drauf) und eine Person rothaarig (inklusive Sommersprossen, eher schüchtern, devot). Und genauso besetzt man im TV derzeit auch nach Auswahlkriterien, die kategorisch alle gängigen Randgruppen überberücksichtigen, als wär’s ein Fetisch. Ist dir sicher auch schon aufgefallen. Geht ja gar nicht anders.

Zusätzlich dazu werden gern auch noch drei weitere Arten von Menschen involviert: eine Person mit hundertfünfzig Kilo auf den Rippen (die total zu ihrem Gewicht steht), eine transidente Person mit mindestens zweitausend Tattoos (jedes einzelne erzählt eine Geschichte!), und eine Person mit nur einem Bein (rechts oder links, egal). Wahlweise auch mal mit nur einem Arm. Hauptsache, schwerbehindert. Oder auch mal eine frischgebackene Mutter Ü50, eigentlich Ende50 (»Ich glaube an die Zukunft, wissen Sie!«). Das alles am besten vereint in einer einzigen Person.

Stichwort Vielfalt in Großbuchstaben.

Beinah schon zu viel des Guten.

In seiner Vordergründigkeit fast wieder stigmatisierend.

Die ganze Menschheit wirkt wie hypnotisiert.

Wobei ich natürlich die Letzte bin, die sich über diese Modeerscheinung beschweren würde, nach all dem aufwühlenden Gegenwind auf meinem eigenen Lebensweg. Ausgrenzung, Erniedrigung, Gewalt. Ich sag nur: Jugend im beschaulichen Niederbayern in den Achtzigern und Neunzigern. Mir muss man da nix erzählen.

Nee, nee, alles in bester Ordnung mit der gegenwärtigen Entwicklung, keine Frage. Bevor aber jetzt gleich wieder jemandem der Kragen explodiert, weil er sich fragt, warum ich denn dann so rumstichel, Abteilung Was denn jetzt?:

Schau, es ist wie immer ein zweischneidiges Schwert.

Richtige Richtung ist nämlich das eine, aber muss denn immer gleich überreagiert werden? Dieses völlig unverhältnismäßige Anwanzen an Minderheiten feuert nämlich auch schnell zurück.

Auf tausend verschiedene Arten.

Sowas würde ich natürlich niemals beim Keil sagen. Oder generell öffentlich. Das ist zu feinteilig. Das äußere ich nur vertrauensvoll unter uns.

Warum ich da jetzt so abschweife? Na, na, na, na, na, na, na, na, na. Das kommt einem nur so vor. Dass sich die aktuelle gesellschaftliche Umarmung von Menschen wie mir (wow!) nämlich manchmal auch derart krass und erniedrigend auswirken kann, dass einem angst und bange wird, wirst du gleich sehen.

Nun geht’s nämlich weiter.

Ich bin also seit einem Monat Präsentatorin meiner eigenen Marke bei Shop til you Drop TV. Seit Anbeginn funktioniert unsere Zusammenarbeit wie geschmiert. Das Zuschauer-Feedback ist überragend. Alle sind happy. Mit dem Geschäftsführer Olaf Kreischke versteh ich mich ebenfalls bestens. So weit, so gut.

Aber!

Vor vier Tagen bekommt mein geschätzter Geschäftsführer Olaf Kreischke abends eine ziemlich launige WhatsApp vom Adi Dietz, das ist der Vorstandsvorsitzende des Schweizer Konsortiums, dem der ganze Shop til you Drop TV-Laden gehört, in der er schreibt:

Hey Olaf, ich schau gerade die Sendung mit dieser Vikki Victoria. Grandiose Brüste. Hast Du die rekrutiert? Ist das jetzt unsere Quotentranse? 

2

Quotentranse!

Der höchste Chef aus Zürich schickt also seinem befreundeten Geschäftsführer von Shop Drop TV eine kumpelmäßige Privatnachricht, in der er mich despektierlich als jemanden bezeichnet, der bloß angeheuert wurde, um die Vielfaltsquote des Senders zu erfüllen.

Klar kann man dem jetzt entgegnen: Also alles, was recht ist! Geht’s noch?

Oder: So reden Cis-Männer alter Schule eben untereinander! Hemdsärmelige Geschwätzigkeit, nichts weiter!

Quotentranse!

Mal ganz abgesehen davon, dass ich keine Transe bin, mit Verlaub. Wie abschätzig das schon klingt, mich würgt’s fast. Eine Transe ist in der Regel ein Mann, der sich aus Leidenschaft Frauenkleider überzieht und im Bedarfsfall »I Will Survive« zum Playback schmettert. Ich hingegen bin längst ganz und gar Frau. Mit allem, was dazugehört. Und was eben nicht mehr dazugehört. Das ist etwas ganz anderes.

Von der ignoranten Ungenauigkeit von Adi Dietz’ Formulierung also mal abgesehen, ist die Verwendung dieses Ausdrucks ein starkes Stück, zugegeben. Wie man das aber schlussendlich findet, spielt eigentlich überhaupt keine Rolle, glaub’s mir, weil jetzt kommt’s!

Tada!

Unmittelbar nach Erhalt dieser witzig gemeinten WhatsApp, fällt doch meinem Senderchef Olaf Kreischke tatsächlich nichts Besseres ein, als genau diese Nachricht schnurstracks auf seinem Instagram-Account zu veröffentlichen und dabei explizit darauf hinzuweisen, von wem der Text stammt.

Nämlich vom Adi Dietz!

Olafs Instagram-Post mit besagter WhatsApp ging natürlich direkt viral. Eruption.

Die Medien haben Olafs Anprangerung sofort aufgegriffen, spinnst du, so schnell konntest du gar nicht schauen. Züricher Medienunternehmer und Mobilfunkmogul Adi Dietz diskriminiert Transgender-Mitarbeiterin! Es stand überall. Die letzten drei Tage war da derart Dampf drauf, dass du dem gar nicht mehr ausgekommen bist. Das Unwort Quotentran-und-so-weiter war ein gefundenes Fressen für die Pressegeier, denn der Adi Dietz ist ja Multimilliardär und in der Schweiz ein absoluter A-Promi. Er sitzt in zahllosen Aufsichtsräten, ist Eigentümer von Hightech-Unternehmen, Lebensmittelfabriken und Softdrink-Marken, Großaktionär bei Audi und, ach, noch unendlich mehr.

Im Nu gab es einen Aufschrei und eine Welle der Political Correctness, da kannst du dich mittlerweile darauf verlassen.

Adi Dietz’ Privatsphäre wurde dabei politically aber eher incorrect behandelt, muss man sagen.

Er konnte einem fast leidtun. Innerhalb von zwei Tagen wurde er zum Kanonenfutter und von ziemlich allen Posten, die er innehatte, gefeuert. Sein Leben geriet komplett aus den Fugen. Keiner will mehr was mit dem Adi Dietz zu tun haben. Er ist innerhalb von achtundvierzig Stunden zur absoluten Unperson mutiert. Lebenslang abgestempelt, so viel ist jetzt schon sicher.

Der Olaf Kreischke, Initiator mit besten Absichten, geriet natürlich auch unter Beschuss. Von der entgegengesetzten Fraktion der Gschaftlhuber und Trolle, die ihn wiederum des Verrats ohne Not an seinem Kumpel Adi Dietz angeklagt haben. Was ja für sich genommen ebenfalls ein stichhaltiges Argument ist. Der Scheißeregen über dem Olaf blieb zwar vergleichsweise harmlos, reicht aber immer noch für einen Kollaps.

Menschenskinder. Immer was los da draußen.

Und wer steckt mittendrin in diesem furiosen Zweiklang aus dem Olaf Kreischke und dem Adi Dietz? Mittendrin in der Misere?

Die Vikki. Immer noch beim Markus Keil im ZDF-Studio in Hamburg-Altona auf dem Sofa, aufgezeichnet wird seit zwanzig Minuten. Die Countdown-Uhr im Eck läuft durchgehend mit, während die Klimaanlage die Raumtemperatur auf kuschelige fünfzehn Grad runterpumpt. Nur eine Schätzung. Hier drinnen fängt’s bestimmt gleich an zu schneien. Gut, dass ich nur ein dünnes Etwas anhab.

Draußen brennt’s dir den Schädel weg, verstehst, und hier im Studio herrscht Eiszeitsimulation. Die werden sich schon was dabei gedacht haben. Bloß was?

Der Markus Keil sagt zu mir, mit einer Hingabe, als sei er wahnsinnig geworden, was übrigens auch der Fall ist: »Frau Victoria, noch mal zurück zum eigentlichen Thema: Sie sind in der Causa Adi Dietz«, wenn jemand schon Causa sagt, »ebenfalls heftigen Anfeindungen ausgesetzt, weil Sie kurioserweise ausgerechnet Herrn Dietz in Schutz nehmen, obwohl der Sie ja als – ich will das Wort nicht noch ein weiteres Mal in den Mund nehmen – Punkt Punkt Punkt abgekanzelt hat. Trotzdem verteidigen Sie ihn, oder vielmehr sprechen ihn eines moralischen Vergehens frei, was vielen völlig unverständlich erscheint. Warum ist das so?«

»Der entscheidende Punkt ist letztlich, dass der Olaf Kreischke …«

»Das ist der Chef bei dem Sender, bei dem Sie arbeiten und der wiederum Adi Dietz gehört, nur zur Klarheit«, grätscht der Keil erklärerisch dazwischen.

»Genau. Der entscheidende Punkt ist, dass der Herr Kreischke meiner Meinung nach die vertrauliche WhatsApp von Herrn Dietz nie hätte veröffentlichen dürfen.«

»Aber er wollte, dass es zu einer öffentlichen Diskussion zum Thema Diskriminierung kommt.«

»Das hat er auf beeindruckende Weise auch geschafft«, scherze ich lahm, ohne den Keil anzusehen.

»Lenken Sie jetzt nicht ab«, belehrt er mich, auf zwar charmante Art und Weise, aber natürlich zum Kotzen, und wiederholt: »Kreischke wollte das Thema Diskriminierung mit seiner Veröffentlichung sichtbar machen, Frau Victoria, richtig?«

»Bloß hat er dabei seinen Freund … ähm, verraten! So muss man das auch sehen«, versuche ich zu vermitteln. Deswegen bin ich ja hier. (Wie anstrengend.)

»Ich befinde mich gerade in der schwierigen Situation, den Menschen zu verteidigen, der sich herablassend über mich geäußert hat«, säusle ich. »Aber das erscheint mir nur folgerichtig, weil er es ja nicht mir gegenüber getan hat, sondern in einem Privatgespräch mit einem Freund. In seinem geschützten Innenverhältnis darf er über mich witzeln oder lästern, wie er will. Das dürften Sie auch, Herr Keil. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Es hat mich nichts anzugehen. Ich meine, wo ziehen wir denn grundsätzlich die Linie? Ab wann sehen wir uns berechtigt, eine Privatnachricht an die Öffentlichkeit weiterzugeben und jemanden bloßzustellen?«

Der Keil schaut mich aalglatt an, als würde er mich als Störfaktor betrachten. Also antworte ich mir selbst: »Nie! Privates darf niemals indiskret behandelt werden. Und deshalb sollte alles, was unrechtmäßig preisgegeben wird, als gegenstandslos betrachtet werden. Ich verstehe gar nicht, weshalb wir hier eine Diskussionsrunde veranstalten, wo es aus meiner Sicht gar nichts zu diskutieren gibt.«

»Stoßen Sie mit Ihrer Haltung nicht wiederum Herrn Kreischke vor den Kopf, der ja mit besten moralischen Absichten und quasi zu Ihrer Inschutznahme diese Nachricht ins Netz gestellt hat?«, flötet der Keil. Das kann man wohl sagen.

In meinem malvenfarbenen Kleid mit dem mitteloffenherzigen Ausschnitt zirpe ich: »Aber natürlich hat er es gut gemeint«, und denke: Eher hat er sich wichtig gemacht. »Und ich will seine Aktion auch gar nicht verurteilen …«, klar, ich lüge. Das größte Unheil passiert immer unter dem Vorwand bester moralischer Absichten. »Unterm Strich glaube ich nur, dass der Herr Kreischke den Ruf vom Herrn Dietz dauerhaft ruiniert hat. Das ist wirklich bedauerlich. Da kann einen das Gewissen schon einholen, früher oder später …« Ich spreche in meinem gepflegtesten Münchnerisch, nix Muttersprache Niederbayerisch. Nicht, dass man mich noch Hochdeutsch untertiteln muss.

Es entsteht eine ganz kurze Pause, während der der Keil feierlich dreinschaut, Moderationskarten in der Hand, alles in allem wie aus dem Ei gepellt. Dann kommt sein typisches »Verstehe!«, und es klingt etwas zu ungezwungen. Er quengelt: »Und genau für diese Meinung kassieren Sie gegenwärtig ganz schön Kritik aus der LGBTIQ*-Gemeinde … dort sind Sie ziemlich in Ungnade gefallen.«

»Das ist noch milde ausgedrückt. Es wird regelrecht gehetzt gegen mich, weil ich nicht bereit bin, mich als empörtes Opfer zu sehen, was in den Augen mancher aber meine Pflicht zu sein schei…«

»Okay, verstehe«, knattert mir der Keil mitten in den Satz rein und wird dabei wiederum gleich von dem Schriftsteller zu meiner Rechten unterbrochen, der butterweich stammelt: »Entschuldigen Sie, wenn ich mich da einmische …«

»Nein, nein, bitte, bitte«, ist der Keil gezwungen, die Bescheidenheitssimulation des Schriftstellers aufzufangen. Da sind ja die zwei Richtigen beianand.

»I…, i…, i…, ist das nicht ein gar sensationeller Twist, dem wir hier, äh, äh, bei… beiwohnen?« Das linkische Benehmen von dem Herrn Schriftsteller mit Adelstitel ist wirklich grandios. Noch grandioser wäre es, wenn es echt wäre. Er kommentiert weiter: »Wir müssen uns das mal vorstellen: Frau Victoria sieht sich gezwungen, die Verteidigung des Täters zu übernehmen, der sich verbal an ihr vergangen hat, da ihr dessen Aufdeckung nicht rechtens erscheint … Ein beinah poetischer Akt der Täter-Opfer-Umkehrung, finden Sie nicht? Doch nun wird Frau Victoria gerade dieser Rollenwechsel nicht zugebilligt, weil unsere Gesellschaft einer solchen Dialektik nicht zu folgen vermag. Opfer hat Opfer zu bleiben, und Täter Täter. In der öffentlichen Wahrnehmung erscheint jede Form von Dualismus ausgeschlossen. Ist das nicht bezeichnend?«

Niemand fühlt sich von der rhetorischen Frage angesprochen, und ich schon gleich gar nicht, weil der Schriftsteller von mir in der dritten Person redet, obwohl ich exakt einen Meter fünfzig links von ihm sitze.

Veranlasst durch die Großartigkeit seines Beitrags, schlägt der Schriftsteller die Augen nieder und kratzt sich mit einem seiner nikotingegerbten Fingernägel im absichtlich ungepflegten Dreitagebart, dieser haargewordenen Petrischale. Der Keil nickt bezuglos, sagt: »Okay! Perfekt zusammengefasst. Ich denke, unsere Zuseher, äh, Zuseher*innen können …«, blablabla, und ich frage mich, ob der Keil auch daheim am Esstisch gendert. Und ob er’s dann auch beim Wort Taschendieb macht.

Das braun lackierte Hochglanzparkett im Studio ist weniger rutschig, als es aussieht, stelle ich fest, während ich mit den Sohlen meiner Pumps drüberfahre und dabei der letzte Rest meiner Gelassenheit verfliegt. Die Ermüdung quillt mir aus jeder Pore, das Thema der Sendung hängt mir zum Hals raus, und urplötzlich kann ich mit dem Wechselbad meiner Gefühle kaum noch mithalten und spiele kurz mit dem Gedanken, eine Ohnmacht vorzutäuschen. Aber sowas muss sitzen. Ich behalte mir diese Idee als Notlösung für später im Hinterkopf.

Da jetzt offensichtlich Fahrt in die Runde kommt, knurrt die noch ziemlich junge Politikerin mit dem geraden Rücken etwas von »Alles sollte geteilt werden und jedem zugänglich sein. Jederzeit!«, was sie groteskerweise bereits nach zwei Sätzen zum Thema Klimaschutz führt. Keine Ahnung, wie sie das so schnell hinbekommen hat. Nach einer Kaskade erfrischend themenfremder Mini-Monologe, sie trägt mächtig auf, schließt sie ihre Ansprache ab mit: »Aber man muss an das große Ganze denken«, womit sie natürlich völlig richtigliegt. Was aber beim besten Willen keinen Sinn ergibt. Die meisten Menschen halten sich selbst zwar für geistreich, aber wenn man ehrlich ist …

Sie ist so eine Wutausbrüche-vom-Blatt-Ableserin. Dieser Typus Mensch, der auf »Danke!« mit »Nicht dafür!« antwortet, und der »Urlaub auf Balkonien machen« sagt. Kennt man. Ich wäre gespannt, wie sie es finden würde, wenn jemand ihre internen WhatsApps veröffentlicht. Die Leute sind dem Leid anderer gegenüber wirklich erstaunlich unempfindlich.

Ich wünsche ihr alles Gute. Was immer das gerade auch für eine Vorstellung war. Ich meine, sie gilt als die Zukunft der jungen Politik. Enorm. Lang kann das alles nicht mehr gut gehen.

Es ist so kalt hier drinnen. Das rote Licht über Kamera 1 wechselt zu Kamera 4, und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich inzwischen auch noch die Kontrolle über meine Mimik verloren habe und mein Atemrhythmus gefährlich nachlässt. Und leider kommt er da auch schon des Weges: ein massiver Gähner. Mein Anzeichen für mentale Erschöpftheit. Ich versuche, ihn zu unterdrücken, ziehe die Luft scharf zu den Seiten meiner zusammengepressten Lippen ein und stoße dieselbe Luft sachte zwischen den Vorderzähnen wieder aus. Besser geht’s nicht. Ich hoffe inständig, dass während diesem Spektakel keine Kamera auf mich gehalten hat. Weder die 1 noch die 4. Vikki Victoria als Backenhäschen mit unmerklich zitterndem Kinn und starren Augen.

Vielleicht doch Ohnmacht vortäuschen? Jetzt? Ich bin heute einfach zu früh aufgestanden. Und morgen hab ich auch noch Sendung, das heißt, ich muss bei Sonnenaufgang heim nach München fahren. Nichts, was man sich antun sollte.

Unser sicherlich steinreicher Moderator und sein dichter Haaransatz, der bei Männern über fünfzig einen wahren Glücksfall darstellt (und dessen sich solche Männer vermutlich gar nicht bewusst sind), ebendieser Markus Keil lenkt uns also wieder zum eigentlichen Motto des Abends zurück, indem er mit der Daumenspitze, die oben aus seiner geballten Faust ragt (sollte er sich schützen lassen, machen inzwischen alle), auf mich zeigt und sagt: »Leider stehen uns weder Herr Dietz noch Herr Kreischke für unser heutiges Gespräch zur Verfügung. Beide haben unsere Interviewanfragen abgelehnt. Wirklich schade. Wäre interessant gewesen, ihre Meinungen zu hören, oder?« Er lächelt mich an, und zuerst frage ich mich, ob er womöglich gerade einen seiner unverständlichen Scherze gemacht hat, aber dann beschleicht mich das überdeutliche Gefühl, dass er vielleicht findet, mich heute Abend ganz schön in die Mangel genommen zu haben. So eins-zu-null-mäßig. Es ist, als sollte ich mit meiner Haltung zu unserem Thema kein Land gewinnen dürfen. Oder täusche ich mich? Jedenfalls nicke ich sicherheitshalber derart neutral, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank, der Keil gurrt, »Da sind Sie wirklich zwischen sämtliche Fronten geraten, Frau Victoria …«, und völlig ohne Vorwarnung merkt der Exfußballer von der Seite auf: »Ey, ganz ehrlich, also ich kapier das alles irgendwie nicht.«

Oops.

Stille.

Der Keil schaut, die anderen auch. Und ich erst! Mit so einem Ausbruch hat niemand gerechnet. Unser Hirnbatzl. Vonwegen zu viele Kopfbälle und so! Ich finde, das ist der erste vernünftige Satz heute Abend.

3

Die Garmischer Autobahn ist landschaftlich die schönste, die von München rausführt, wenn du mich fragst.

Der Wolf und ich, wir brettern in meinem Mini durch den nachmittäglichen Sonnenschein Richtung Süden. Weißt schon, in der Stadt erst noch das einspurige Nadelöhr Luise-Kiesselbach-Platz hinter sich bringen, und dann zügig durchfließen. Jetzt haben die aus den ersten Autobahnkilometern eine Sechzigerzone gemacht, na schön. Aber wir natürlich exakt zwanzig km/h drüber, Klassiker. Hauptsache, keine Punkte.

Auf der Überholspur an Forstenried vorbei, dann Fürstenried rechts liegen lassen, die saftig grünen Bäume links und rechts der Fahrbahn, der sträucherbewachsene Mittelstreifen, unser Dahingleiten im gleißend hellen Sonnenlicht. Vollgas bis Starnberg, kein Blitzer am Autobahndreieck, die Wiesen und Wälder hören nicht auf, es wird hügeliger und kurviger. Durch den schmalen Fensterspalt zieht ein leichter Luftzug rein. Musik läuft.

»I mach mal lauter«, krächzt der Wolf gegen die bereits ganz schön laute Soundwand an. »Physical is mei Lieblingssong von der Dua Lipa!« Er tippt mehrfach auf die Volume-Taste am Radio. Physical? Dua Lipa?

Ich bin immer wieder überrascht, wie der Wolf sich auskennt mit aktuellem Pop. Er ist zwar vier Jahre älter als ich, aber bei mir geht seit einiger Zeit auch ein zehn Jahre alter Titel gut und gern als neu durch. Ich bin musikalisch ein bisserl hängengeblieben. Komisch, dass man die eigene Teenagerzeit immer für den kulturellen Höhepunkt der gesamten Menschheitsgeschichte hält.

»Klar, mach lauter«, sage ich souverän, weil das von einer gewissen Sachkenntnis zeugt. Als ob! Du bist das Produkt deiner Prägungsjahre. Für immer. Und aus.

Bei 192 km/h grooven wir mit den Schultern vor uns hin, als uns ein offenes Cabrio wie ein Geschoss rechts überholt, mit locker 220, und ich denke mir, dass eigentlich gar nicht so viele Unfälle passieren, wie man annehmen könnte.

Die beiden Cabrio-Insassen haben Mützen, Schals und Handschuhe an, damit sie sich nichts holen in ihrer windigen Kiste. Wintermode im August gegen Erkältungs- und Sonnenbrandrisiko. Sieht nach einer Menge Spaß aus. Ohne Dach zu fahren ist einfach ein faszinierendes Konzept.

»Ja, solchene Wichser, glabst as a!«, kommt der Wolf in Rage und dreht das Radio wieder leiser, weil er schon ein kleiner Streithammel ist. Aber dann sagt er doch nichts mehr dazu, sondern fährt sich nur mit der Hand über den Kopf, um den Sitz seines grau melierten Zopfes zu kontrollieren. Gleich darauf prüft er auch noch, ob sein Salz-Pfeffer-farbener Bart nach wie vor da ist. Ist er.

Eindeutige Übersprungshandlung.

Ich glaube nämlich, dass der Vorsitzende des berüchtigten Münchner Motorrad-Clubs Switch Blades, der da neben mir sitzt, und der dir mühelos sagen kann, für welchen Roman der Thomas Mann den Nobelpreis verliehen bekommen hat und wann der Popocatépetl das letzte Mal ausgebrochen ist, dass genau dieser gebildete, kultivierte, braungebrannte Mann dem Cabriofahrer von eben in Gedanken geradeeinen schweren Magenschwinger verpasst. Mit allem Drum und Dran.

Und noch einen. Und noch einen. Mindestens.

»Jetz bin i gspannt, wie der Olaf sich dir gegenüber verhält«, murmelt der Wolf vor sich hin, oha Themenwechsel, während er sich den Beifahrersitz noch ein Stück nach hinten ruckelt. Wolfs Tonfall lässt erkennen, dass der Olaf gleich den nächsten Magenschwinger abbekommen könnte, Junge, Junge. Das Testosteron laugt die Spezies Mann buchstäblich aus. Wie das bei mir wohl wäre, wenn ich meine regelmäßigen Hormondosen weglassen würde? Manchmal frag ich mich das schon. Mei, ich stell mir noch ganz andere Fragen, brauchst nicht glauben.

Was hat der Wolf gerade gesagt? Ah ja, dass er gespannt ist, wie der Olaf sich mir gegenüber verhält.

»Das bin ich auch«, antworte ich, gefolgt von einem langen Seufzer. Tja, was erwartet mich wohl, wenn ich den Olaf gleich treffe, nachdem ich gestern Abend beim Keil in der Sendung war und über die elendige Quotentransen-WhatsApp vom Adi Dietz gesprochen hab, die der Olaf so mir nichts, dir nichts veröffentlicht hat. Also ich wüsste, wie ich an Olafs Stelle reagieren würde. Aber man darf nie von sich auf andere schließen. Die Leute sind einfach unberechenbar.

»Mach dir keine Sorgen, i pass scho auf, auf dich«, hat der Wolf gerade eine heroische Anwandlung. Das kann jetzt nicht sein Ernst sein. Mia ziagt’s fast ois zsamm.

»Des is aber nett«, entgegne ich sarkastisch. Ich mein, der Olaf wird mich schon nicht gleich killen, bloß weil ich beim Keil gemeint hab, dass er den Adi Dietz nicht hätte bloßstellen sollen. Und ganz nebenbei, ohne Olafs ganzem Veröffentlichungsquatsch wäre es mir erspart geblieben, dass der Begriff Quotentranse überhaupt erst in Umlauf kommt – und jetzt an mir klebt … womöglich bis in alle Ewigkeit.

Mein edler Ritter und Bodyguard Wolf Wolff (Name nicht erfunden, nur am Rande) wird mit meinem Personenschutz also nicht allzu viel zu tun haben.

Außerdem bin ich nicht so naiv, dass ich nicht merken würde, dass der Wolf mich auch deshalb zu Shop Drop TV begleitet, weil er ein Auge auf die Mindy geworfen hat und mal wieder die Gelegenheit wahrnehmen will, ihr dort ganz zufällig über den Weg zu laufen. Die Mindy hat auch eine eigene Sendung bei Shop Drop und ist … ach, das wirst du ja gleich sehen. Wir sind fast da.

»Du, man weiß nie, wie der Olaf sich gibt. Sicher ist sicher«, erklärt der Wolf, offenbar weder verärgert noch ertappt, und schaut aus dem Fenster.

»Ja, wir werden sehen«, nuschle ich gedankenverloren. Ich bin natürlich trotzdem froh, dass der Wolf zur moralischen Unterstützung an meiner Seite ist. Mir schlottern schon ein wenig die Knie, so ist es nicht.

Etwas arg rasant nehme ich die Ausfahrt Bad Seltsham, wo sich das Firmengelände von Shop til you Drop TV befindet, dem Verkaufssender, in dem ich drei Mal die Woche einen eigenen Programmplatz habe. Die Gründer hatten sich damals entschieden, die Produktionshallen nicht an einem der üblichen Münchner Medienvororte wie Ismaning oder Unterföhring anzusiedeln, sondern das Gebäude etwas weiter außerhalb zu errichten, auf medial unbeflecktem Terrain sozusagen.

Ich brauch gute zwanzig Minuten von meiner Wohnung in der Münchner City bis hierher. Das geht. Zu manchen Stoßzeiten benötige ich länger, um innerhalb von München von A nach B zu gelangen.

Die Sonne hat die Teerdecke der Autobahnabfahrt aufgeweicht, und ich frage mich, ob der zu Brei gefahrene Vogel auf der Fahrbahn tatsächlich von einem Wagen überrollt oder vielleicht doch eher direkt vom Bodenbelag gekocht wurde.

Das kurze Stück Landstraße bis zur Ortseinfahrt Bad Seltsham führt durch einen schattigen Waldstreifen, macht eine sanfte Biege, und nach einem kleinen Aufwärtshügel schießt man aus dem Wald direkt auf das abgesenkte Ortspanorama zu.

Was man hier vor sich liegen sieht, ist eine idyllische Landschaft von Spielzeugeisenbahn-Charakter, die rechter Hand, in schwer einzuschätzender Ferne, von der sich in die Endlosigkeit erstreckenden Alpenbergkette flankiert wird.

Im Zentrum dieses gemäldehaften Stilllebens liegt Bad Seltsham, eine typisch bayerische Gemeinde mit bäuerlichen Einzelhäusern und verwinkelten Straßenzügen, deren bauliche Anordnung seinerzeit keinen allzu strengen Vorschriften unterworfen gewesen sein dürfte (ein einziges Durcheinander). Zur Gemeinde gehört eine Kirche samt spitzem Turm, eine gut erkennbare Fußgängerzone im Ortskern, der obligatorischer Fluss, von dem ich mir jetzt gar nicht sicher bin, ob er was mit der Isar zu tun hat, früher oder später, sowie einige weitläufige Areale aus Fußball-, Bolz- und Tennisplätzen an den Ortsrändern, die wiederum in Wiesen und Felder ausfransen.

Bitte keinen falschen Eindruck bekommen: Bad Seltsham hat achtzehntausend Einwohner. Nur, damit das klar ist.

Logisch ist das ein Dorf, wo die Spielhalle noch Fair Play heißt und die Fahrschule sich First Drive nennt und wo der Lehrer noch als Intellektueller gilt. Aber gleichzeitig ist das auch ein konsumorientierter Tourismusmagnet (das »Bad« im Ortsnamen steht für »heilklimatischer Kurort«, Gott weiß, wie viel Schmiergeld für so einen Titel abgedrückt werden muss – und an wen). Gleichzeitig mausert sich das Städtchen neuerdings eben auch zum modernen Industriestandort.

Der Mini, in dem der Wolf und ich unserem Ziel entgegensausen, wird langsamer, weil ich nicht mehr aufs Gaspedal drücke, und wir sehen schon das ziegelrote, zweistöckige Backsteingebäude von Shop til you Drop TV samt Namensschriftzug, der an der Frontseite angebracht ist.

Das Grundstück ist dem eigentlichen Ort vorgelagert, was uns eine Weiterfahrt durchs Ortsinnere erspart. Gleichzeitig prägt die prominente Positionierung des Sendergeländes nun natürlich auch das ganze Stadtimage von Bad Seltsham, kannst du dir ja vorstellen.

Spitze Zungen nennen Bad Seltsham bereits Bad Shopdrop.

Als sich herauskristallisierte, dass eine Schweizer Investorengruppe plant, sich mit ihrem neuen Projekt ausgerechnet hier anzusiedeln, mei, leicht auszumalen, was da los war, im erzkonservativen Gemeinderat. »Brauch ma ned«, »Hamma ja noch nie ghabt«, »Des fang ma uns jetzt ned a no an«! Es gab also erst Widerstand und Proteste. Und, man ahnt es: Am Ende waren alle Entscheidungsträger mehr als besänftigt, weil, jetzt profitieren alle. Der Bürgermeister hat sich wundersamerweise ein neues Haus gebaut (Palast zu sagen wäre noch untertrieben), das Bauamt wurde geschmiert bis in die einzelnen Unterhosen der Beamtenschaft, was man so munkeln hört, und die ganzen Einzelhandelsläden, Supermärkte und Gastronomen grinsen bis über beide Ohren.

Welcome Shop Drop TV! Ganz Bad Seltsham loves this fuckin’ Teleshopping-Firlefanz bis in das tiefste Heart, ahm, Herz hinein.

So schnell geht das.

Und so schnell waren wir da. Der Wolf und ich.

Ich parke auf einem der grob gepflasterten Stellplätze, und wir trotten zum Haupteingang, einem in die Ziegelwand eingelassenen Glaskubus, bestehend aus einer automatischen Doppelschiebetür und mehreren darüber befindlichen Kameras, die keinen Hehl daraus machen, dass du bereits aus einer Entfernung von zehn Metern gesichtserkennungstechnisch gescannt wirst.

Ich besitze zwar eine Codekarte, allerdings benötige ich die nur für den Fall, dass das Betriebssystem der biometrischen Personenerkennung mal ausfallen sollte.

Was noch nie vorgekommen ist.

Wolfs Eintritt ist ebenfalls safe. Wenn ich vorweg Bescheid gebe, dass er mitkommt, wird ihm ebenfalls vollautomatisch Zutritt gewährt.

Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich finde das ganze Hightech-Tracking unheimlich. Aber jetzt schau: Wie wir alle wissen, heißt zu leben, sich peu à peu vom Leben zu entfremden: Wäre ich nämlich zwanzig Jahre jünger, wäre mir diese Durchleuchtung keine einzige Bemerkung wert.

Genauso wenig wie die beiden Grazien, die uns entgegenkommen. Die Pia und die Selina.

Die Pia ist auf Instagram ein Megastar als Fashion-Bloggerin. Dreizehn Millionen Follower. Hier bei Shop til you Drop TV führt sie einmal die Woche durch ihre dreistündige Show, wofür sie jedes Mal extra aus Berlin einfliegt. Limo-Service inklusive, zahlt alles das Haus.

Ihre Taille und ihr Hintern sind phänomenal, und ich kann am Grad von Wolfs bewusster Ignoranz einschätzen, wie recht ich damit habe. Er tut völlig unbeeindruckt von den beiden Mädels. Als wäre er extrem kurzsichtig (mindestens minus zwanzig Dioptrien, auf beiden Augen), starrt er nur hölzern vor sich hin, mein Pappenheimer.

Selinas Armreifen rasseln die ganze Zeit, während sie uns simultan mit der Pia ein strahlendes »Hai-ieh« entgegenquiekt.

Die Selina ist schon Ende zwanzig und hat deshalb diese Art hysterischer Torschlusspanik, die sie durch Botox-Orgien und Aufspritzungen einzudämmen versucht. Sie ist eine dieser blonden Frauen, die ebenso gut dunkelhaarig sein könnten, und sie wäre ohne die Eingriffe derart schön, dass ich gleich Komplexe krieg. Mit den Eingriffen ist sie schon auch noch eine Bombe, so ist es nicht. Aber halt in bizarr.

Oder Wolf? Ach, der sieht ja nix. Der gschamige Kasperl schaut die ganze Zeit gradaus, wie durch Scheuklappen.

»Hey, Süße«, variiert die Pia ihr »Hai-ieh« von gerade eben, als wir uns direkt gegenüberstehen.

»Hi, Pia, mein Schatz. Wie lief die Sendung?«, sage ich und stöhne beinah, als ich mich so reden höre. Aber kennst du das, wenn dir jemand eine bestimmte Art abnötigt? Ich steuer eh schon so weit dagegen an, wie ich nur kann …

»Mega lief’s. Kleiner Verkaufsrekord bei den Leggings! Vierstellig innerhalb von zehn Minuten«, frohlockt die Pia, und ich frage mich, ob sie sich innerlich auch so windet wie ich, wenn sie sich selbst derart aufgesetzt reden hört. Oder ist ihr unecht längst ihr echt geworden?

Ich sage »Gratulation, wie schön!«, und jetzt kann sich auch die Selina nicht mehr länger zurückhalten, mir aufs Auge zu drücken: »Du, ich hab dich gestern bei Keil gesehen, Mausi. Uh! Ganz toll, wirklich«, und mir läuft’s eiskalt den Rücken runter. Ihr folgendes Grinsen erreicht ihre Augenpartie nicht.

Genau wie die Pia ist auch die Selina äußerst angesagt auf Insta und führt bei Shop Drop TV fünf Mal die Woche durch die Mittagssendung Ganz in Glanz | Glücksmomente aus Schmuck.

Dauerbrenner unter ihren selbst designten Edelklunkern ist ein Goldimitat-Kettchen fürs Dekolleté, dessen Herstellungskosten in China 92Cent betragen. Der Verkaufspreis von 79 Euro hingegen erklärt wiederum Selinas vollausgestatteten Tesla, neben dem ich meinen gebrauchten Mini, Jahrgang 2013, gerade eben geparkt habe.

Zur gesunden Gewinnspanne ihrer Kollektion sagt die Selina immer, natürlich schonungslos ehrlich zu sich selbst: »Mein Design ist das Entscheidende, Vikki. Nicht der Materialwert. Mein Design!«

So viel dazu. Einen gewissen Teil davon spendet sie an internationale Hilfsorganisationen, die dafür sorgen, dass die fleißigen Kinder in Asien, die Selinas Schmuck in Handarbeit herstellen, eine bezuschusste Altersversorgung erhalten, wenn sie mit Ende dreißig vollinvalide im Seniorenheim liegen. Die Selina hat also nicht nur Geschäftssinn, sondern auch ein großes Herz.

»Das ist lieb«, sage ich anstandshalber zu ihr, und zur Pia irgendwie auch, und das lässt uns nahtlos in ein flüssiges »Also dann, Tschüü-üüs«, »Ja, Tschüü-üüs«, mit vier Üs münden, woraufhin wir winkend von der Mitte des Shop Drop-Parkplatzes in entgegengesetzte Richtungen stöckeln.

Und der Wolf? Der hat immer noch nix gesehen. Wenn du den jetzt fragen würdest: »Sag mal, wie fandest du die beiden?«, dann würde der überrascht sagen: »Waaas? Weeen? Ich hab niemanden bemerkt.«

Und während der Wolf versucht hat, sich diese Reizüberflutung nicht anmerken zu lassen, habe ich versucht, gegenüber der Pia und der Selina ganz entspannt zu tun, wenn auch aus einem vollkommen anderen Grund. Ich weiß doch, dass jeder, der mich derzeit trifft, an nichts anderes denkt als an den Shitstorm, der mir gerade zuteilwird. Man kommt ihm einfach nicht aus. Und ich wiederum halte es für möglich, dass alle, denen ich begegne, vielleicht auch schon was dazu beigetragen und womöglich erst vor wenigen Minuten was ganz Abscheuliches über mich gepostet haben. Die Leute um einen herum schauen ja meistens ganz normal aus und tun recht freundlich – aber du kannst dir nie sicher sein.

Du merkst schon, man wird ganz paranoid, wenn Tausende von Hassnachrichten auf einen einprasseln. Ich will nicht sagen, dass ich mich aufgrund meiner ganz persönlichen Geschichte an ein gewisses Maß an Konfrontation als Normalzustand gewöhnt habe, daran gewöhnt man sich nicht, aber: Ich halt das schon aus.

»Hübsche Mädels, oder?«, frage ich den Wolf jetzt einfach doch (a bisserl Provokation), weil er, der Schlawiner, sich ganz beiläufig umdreht, als wir den Eingang erreichen. Was ansteckend ist, weshalb auch ich gleich noch mal schauen muss. Die Mädels stehen vor Selinas Tesla. Mit geknicktem Handgelenk halten beide ihr Handy hoch und machen Schulter an Schulter, eng an eng, die Köpfe aneinandergepresst, ein Doppelselfie von sich, wie sie vor der tiefblauen Kühlerhaube stehen, mit der goldgelben Frühabendsonne im Gegenlicht. Und ich frage mich, ob nicht vielleicht irgendwann die Seele verschwindet, wenn man sich so oft selbst fotografiert.

»Nicht halb so schön wie du«, beantwortet der Wolf meine Frage und unterbricht damit meine Gedanken. Natürlich ist das die einzig gewiefte Antwort. Und gleichzeitig eine Unverschämtheit! Wofür ich ihm sogleich mit großer, ladyliker Geste links und rechts eine unserer patentierten Schattenwatschen verabreiche. Daraufhin wirft sich der Kindskopf von Wolf, mit seinen eins neunzig zu hundertzwanzig Kilo und in schwerer Lederjacke mit archaischem Springmesser-Motiv auf dem Rücken, theatralisch zur Seite, legt sich die Hand auf die völlig unberührte Wange und stößt einen leisen, herzzerreißenden Schmerzensschrei aus, während er torkelt, sich dann aber gerade noch abfängt und dabei wimmert, als ginge es um Leben und Tod.

Genau dieser total kindische Unsinn (den wirklich keiner sehen darf), dieses Sich-für-nichts-zu-blöd-sein-und-wenn-es-noch-so-albern-ist, also eben diese innere Freiheit ist der Grund, warum der Wolf einer der wenigen echten Erwachsenen ist, die ich kenne.

4

Klappt wieder reibungslos. Der gläserne Vorbau, der in die Backsteinfassade des Shop Drop TV-Gebäudes eingelassen ist, gewährt uns vollautomatisiert Zugang. Erst öffnet sich die erste Schiebetür mit einem leisen Surren. Und gleich darauf die zweite, einen Meter dahinter. Wolfs und meine Gesichtszüge wurden erfolgreich vom Erkennungssystem abgetastet. Guten Tag. Immer dieses seltsam erleichternde Gefühl, als wäre man an einem unsichtbaren Türsteher vorbeigekommen. Grad, dass ich nicht in die Luft Danke sag.

Wir betreten die hohe, kreisförmige Lobby und haben sofort den Eindruck, in einer futuristisch-stylishen Parallelwelt zu schweben. Alles weiß in weiß, ultramodern und nihilistisch ausgestattet, der großflächige Fliesenboden glänzt wie in der Werbung. Neben dem neonblau an der Stirnwand prangenden Shop til you Drop TV-Leuchtlogo befindet sich ein großer Monitor, auf dem die aktuell ausgestrahlte Livesendung übertragen wird. Ohne Ton.

Unsere Mindy führt gerade durch ihre Sendung B-B-B-B-Baby | Kids Trend Accessoires und zeigt ihren Zuschauern begeistert ein wollenes Babylätzchen mit den mittig aufgestickten Buchstaben: GRLPWR. Was wohl so viel wie Girl Power heißen soll. Abgekürzte Parolen für Kleinkinder, da kommt was auf uns zu. Freu mich schon.

»Ui, schau, die Mindy«, melde ich dem Wolf und zeige mit einer Kopfbewegung auf den Bildschirm, und er antwortet sehr schnell »Ach ja?«, weil er schon die ganze Zeit nur darauf gewartet hat, sie zu entdecken. Mit einem unterkühlten »Hmm!« spielt er seine kleine Überreaktion sofort runter, als käme das jetzt völlig überraschend, weil er mit der Mindy ja gleich gar nicht gerechnet hat, und warum ich ihren Namen überhaupt erwähne. Auf den Monitor schaut er natürlich trotzdem.

Schräg links, wenn man die Lobby durch den Glaskubus betreten hat, befindet sich die Rezeption, auf deren reinweißer Frontplatte ein mit Airbrush aufgesprühter Hirschkopf samt Geweih funkelt.

Ist jetzt nicht sonderlich originell als Reminiszenz an das bayerische Umfeld, finde ich. Dieses urtümelnde Motiv gibt es bereits seit Jahren bei Ikea auf Leinwand. Und nun eben genauso bei Shop Drop TV. Muss aber wohl sein, aus Gründen der Authentizität … so richtig authentisch ist dagegen der Aloisi, der hinter dieser Empfangstheke mit dem Geweih sitzt. Das passt. Er stellt einen derartigen Gegenpol zu den ganzen hippen, modischen und karrieristischen Leuten dar, die hier bei Shop Drop rumlaufen, dass der Kontrast nicht größer sein könnte.

Der Aloisi stammt aus Bad Seltsham und wurde bei Shop Drop TV als Portier eingestellt, weil die woke Firmendirektive besagt, dass keine Frauen hinter der Rezeption arbeiten dürfen, schließlich würde dadurch ein veraltetes Rollenbild kultiviert, was wiederum diskriminierend wirken könnte.

Ich glaube, das war ursprünglich nicht mit Gleichberechtigung gemeint, und böse Gemüter könnten es eher unter feministischem Anspruchsdenken als unter Balance einordnen, aber nun hat eben ausschließlich ein Mann hinter der Theke von Shop Drop zu sitzen, und basta.

Jetzt ist der Aloisi aber nicht bloß irgendein Mann, der bei Shop Drop hinter der Theke sitzt – sondern eben der Leingschwendner Alois. Zweiunddreißig, ledig, grillt gern, Zombiefilme-Fan, guter Kerl.

Die bei Shop Drop haben sich gedacht, nehmen wir doch am besten einen Portier ausm Ort vor Ort. Dann hat der keine weite Anfahrt, keine Akklimatisierungsproblemchen, und alles ist easy.

Das stimmt ja auch mehr oder weniger. Zudem passt der Aloisi perfekt zum nihilistischen Interieur. Zumindest mental. Da ist der Aloisi nämlich auch eher nihilistisch. Nicht, dass er nur einen Hauch einer Ahnung hätte, was das Wort bedeutet, aber siehst du, genau das meine ich mit Nihilist. Wenn man es etwas näher beschreiben wollte, könnte man auch sagen, der Aloisi gilt in Bad Seltsham als kleiner intellektueller Sonderfall. Weil, leicht unterbelichtet.

Der Wolf nennt ihn Dorfdepp, aber der Wolf ist schon manchmal auch ein gscherter Hammel.

Aber jetzt nur unter vier Augen: Ganz falsch liegt der Wolf vermutlich nicht.

Vom ersten Eindruck her, also in Sachen Optik, und damit fängt es ja immer an, kriegt man davon zunächst eigentlich nur eine leise Ahnung: gelblich blondierte, sich langsam lichtende Haare, immer ein bisserl fettig, unreine, schlampig rasierte Haut, dazu Augenlider, die ständig auf Halbmast hängen und den daueroffenen Mund abrunden. Jetzt sagst du bestimmt gleich: »Moment Vikki, das ist aber gerade ein wenig arg oberflächlich, wie du ihn da beschreibst, ja hallo!, es geht doch wohl zuallererst ums Innere.« Und da gebe ich jedem, der das sagt, selbstverständlich uneingeschränkt und zu hundert Prozent … so halb recht. Ab einem gewissen Grad muss man nämlich miteinberechnen, dass sich das Innere immer auch zu einem gewissen Teil im Äußeren abzeichnet. Das muss man wissen, wirklich, sonst schießt man in vielen Beurteilungen gleich von vornherein daneben.

Für eine angemessene Einschätzung brauchst du ein Gesamtbild.

Und außerdem, ja meinst du, ich schilder dir irgendwas, wenn ich mich davor gedanklich zensier? Des bringt doch nix. Sonst kann man sich ja gleich mit einer Plastiktüte unterhalten.

Aber gut, das mit dem Aloisi geht freilich noch weiter. Und damit mein ich jetzt nicht, dass du unbedingt noch wissen solltest, dass er immer mit dem Liegerad zur Arbeit kommt. Was er aber übrigens tut! Liegerad!

Nein, vielmehr erzähl ich das alles, weil man sich doch, wenn man einen Portier sieht, immer generell fragt: Wer wird denn Portier? Welcher Typus Mensch sagt sich: »Ui, da ist eine Stelle zum Tresenbetreuer ausgeschrieben, da muss ich acht Stunden hinter einem Balken hocken und den Grüßaugust geben und halt einigermaßen sicherstellen, dass ich nicht gleich beim Schichtbeginn wegpenn.« Ja, also, und wenn man diese Gattung Mensch in einem Lehrbuch zusammenfassen wollte, dann wäre das Paradebeispiel eben der Aloisi mit seinen Kapuzenpullis in Übergröße und den untertassengroßen Hartplastik-Inlays in seinen Ohrläppchen. Riesenoschis. Und ich sage dir, auch wenn ich keine Hellseherin bin: Eines Tages wird er wieder normale Ohrläppchen haben wollen, aber da wird er sich umschauen.

Egal.

Dass es den Aloisi gibt, der so einen Kontrast zu den anderen Wichtlhubern, Gschaftlern und Beautys hier bei Shop Drop TV darstellt, ist für mich richtig beruhigend. Vielleicht, weil er in diesem mondänen Umfeld wie ein Underdog wirkt und ich mich inwendig ähnlich fühle. Als würde ich mein Dazugehören immer nur spielen und so tun, als wüsste ich, wie’s zu laufen hat. Dabei hab ich keine Ahnung, und kuck dem ganzen Treiben nur als Beobachterin zu.

Kurz und gut: Ich mag den Aloisi, und wir halten immer einen kleinen Plausch, wenn ich einchecke. Allerdings ist heute der Wolf dabei …

»Servus, Aloisi, wie geht’s dir?«, rufe ich dem Aloisi fröhlich zu, der den Wolf und mich ganz aufmerksam hinterm Tresen studiert. Der Tresen ist ziemlich hoch, und der Aloisi hat seinen Stuhl wie immer zu tief justiert, weshalb man von ihm nur den Kopf sieht, und davon ist die untere Kinnhälfte auch noch abgeschnitten. Passt also perfekt.

»Griaß di, Vikki, Servas nachhad, ja sehr guad geht’s, danke der Nachfrage, kkchrha«, brüllt der Aloisi mich freundlich an, und wenn du denkst, dass mein bayerischer Dialekt im Überschwang schon mal deftig daherkommen kann, dann hast du Aloisis kracherds Bayerisch noch nicht gehört. Jedem Satz lässt er dann auch noch ein seltsames Knackgeräusch folgen, aus dem Hals, guttural, ganz tief drin im Rachen. Einsame Spitze.

»Hast du auf Netflix wirklich noch mal von vorn angefangen mit Walking Dead?«, erkundige ich mich beim Aloisi, weil er Zombie-Serien doch so liebt und ich immer versuche, ihn small-talk-mäßig kurz einzubinden, denn dann freut er sich, und das freut mich auch.

»I bin scho wieder bei Staffel drei, kkchrha«, kräht der Aloisi stolz, und ich sage, »Sauber! Dann bist ja wieder mittendr…«, aber da schneidet mir der Wolf in den Satz rein. Er dröhnt dem Aloisi ein »Servus, Aloisi« entgegen und zieht dabei die Worte unausstehlich in die Höhe, weil er und der Aloisi nicht mehr so gut miteinander können, seit der Aloisi den Wolf vor zwei Wochen mal aufgefordert hat, seinen Ausweis vorzuzeigen, weil er ihn halt nicht gleich erkannt hat.

Der Wolf war ja als Besucher registriert, und das hätte sich bestimmt alles ganz schnell klären lassen. Aber der Wolf und der Aloisi, beide stur, beide erlebnishungrig, steigerten sich gleich rein, point of no return, verstehst, und der Aloisi pampte rum: »I hol die Security, kkchrha.«

Und der Wolf, der bei der Geburt bestimmt irgendeinen seiner Monde im Widder und im Skorpion gleichzeitig hatte, so jähzornig, wie der werden kann, fauchte: »I gib dir gleich Security. Dei Security stopf i dir hochkant in den Arsch nei.«

Der Wolf ist wirklich ein Choleriker-Prototyp Marke Caligula. Da hat es der Aloisi mit der Angst bekommen und tatsächlich die Security alarmiert. Woraufhin so ein Manschgerl in Fantasieuniform angetrippelt kam und der Wolf zu lachen angefangen hat, weil er zwei Kopf größer als der Schnuller von der Security war, und auch noch einen Meter breiter, verstehst, lächerlich. Die Situation hat sich dann relativ schnell aufgelöst, weil der Wolf ja eben sehr wohl als Besucher eingetragen war.

Und beim Wolf ist’s auch immer wieder ganz schnell vorbei mit der enormen Wut, die da aus ihm rausbricht – das ist ganz gut zu wissen. Aufbäumen, Aufplustern, aber gleich auch ein Ende in Sicht.

Seit dem Vorkommnis können der Wolf und der Aloisi sich jedenfalls nicht mehr besonders leiden. Der Aloisi hält den Wolf für rabiat, und der Wolf hält den Aloisi für einen Schwachkopf. Womit beide letztlich recht haben.

Hoffentlich vertragen sie sich heute.

»Ach, der Herr Wolf Wolff, schau an, kkchrha«, höhnt der Aloisi von hinterm Tresen. Jetzt geht des scho wieder los. »Heute wieder in … äh«, der Aloisi sucht nach etwas, das schön bissig klingen soll, das merkt man, »heute wieder in … Securitylaune? Kkchrha.«

Aaah, schade, diese Spöttelei ist natürlich in die Hosen gegangen. Jetzt siehst du, womit ich mich rumschlagen muss. Ich seufze unhörbar.

»Wie meinen?«, imitiert der Wolf einen zerstreuten Professor mit hochgezogenen Augenbrauen, um zu unterstreichen, dass er den Aloisi kein bisschen für voll nimmt. Dabei mustert er den Aloisi von der Stirn bis zur oberen Kinnhälfte. Mehr ist ja nicht zu sehen von ihm.

»Heute … hast du … bist Sie … kkchrha, bist du denn angemeldet? Hä? Kkchrha?«, holpert der Aloisi rum, aber solches Gegockel sollten wir unter allen Umständen vermeiden, ehrlich.

»Du pass amoi auf, Spezi, jetzt sag i dir was …« Der Wolf droht dem Aloisi spielerisch mit dem Finger. Also spielerisch im Sinne von: Er sticht ihm beinah das Auge aus. »I werd dir gleich sowas von dei’ Fotzn …« Jetzt reicht’s aber. Resolut schlage ich dem Wolf seinen ausgestreckten Zeigefinger weg und schüttle den Kopf. Der Wolf kapiert und gibt a Ruh, wobei er den Aloisi schlagartig ignoriert. Selbstverständlich hält sich der Aloisi deshalb sofort für den klaren Sieger, nickt grinsend und macht noch mal »Kkchrha«.

»Aloisi, ist der Olaf denn noch da?«, erkundige ich mich, Ablenkung und Interesse in einem.

»I glab scho, kkchrha«, entgegnet er mir völlig unvoreingenommen. Siehst du, das ist das Schöne: Alle anderen in diesem Dickicht, das der Shop Drop TV-Kosmos darstellt, alle anderen hier drinnen, die immer so übertrieben freundlich tun, die durchleuchte ich intuitiv danach, ob sie mir wohlgesonnen sind oder es nur heucheln. Ob sie mich gestern beim Keil gesehen haben und vielleicht Vorbehalte gegen mich hegen oder sogar anonymisierter Teil des Shitstorms sind. Man weiß nie, jeder ist zu allem fähig. Aber beim Aloisi, da mach ich mir keine Sorgen, der hat andere Sorgen.

»Alles klar, danke dir«, sage ich zu ihm und wende mich an den Wolf: »Ich bring’s gleich hinter mich und geh hoch zum Olaf. Ich möchte noch vor meiner Sendung klären, ob das gestern beim Keil okay für ihn war und wie wir jetzt generell zueinanderstehen.«

»Ja, mach das. Das ist vernünftig.«

Oh, ich bin so nervös. Schlagartig überrollt mich eine Welle der Erschöpfung, obwohl ich um die Zeit eigentlich noch gar nicht so groggy sein dürfte. Noch dazu bin ich gezwungen, Befindlichkeiten abzuklären, für die ich nicht verantwortlich bin. SOS, rette mich.

Hilft nichts, ab zum Olaf ins Büro.

Der Wolf und ich laufen zum Aufzug, vorbei am Bildschirm, auf dem die Mindy gerade ein Designer-T-Shirt aus ihrer Mutter-Baby-Kind-Kollektion mit dem Strass-Druck FU2präsentiert. Ich glaube, das steht für Fuck you too