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Ist die Münchner Polizei zu langsam, ermittelt die Vikki eben selbst Als eines Morgens zu unchristlicher Zeit (vor 12!) ein Anruf vom Wolf kommt, dass der Toni aus dem Gefängnis ausgebrochen ist, weiß die Vikki, dass sie sich au-gen-blick-lich in Sicherheit bringen muss. Schließlich hat ihr der Toni in den letzten 13 Jahren die schlimmsten Drohungen geschickt. Und wo wird man die Vikki, 41 Jahre, ums Eck vom Münchner Viktualienmarkt lebend und tatkräftige Künstlerin, niemals vermuten? Zu Hause in Übertreibling. Wieso allerdings der Toni denkt, dass die Vikki ihn seinerzeit für den Mord an seiner Frau bei der Polizei angeschwärzt hat, war ihr bislang ein Rätsel. Das sie genau jetzt lösen wird. Mit Wolf im Schlepptau geht es in die Provinz. Nicht ahnend, wie dicht ihr die Gefahr auf den Fersen ist.
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Seitenzahl: 409
Gloria Gray
Zurück nach Übertreibling
Vikki Victorias erster Zwischenfall
Krimi
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Der Mensch is guad,
de Leit’ san schlecht!
Karl Valentin
»Sind Sie Mann oder Frau?«
»Ja.«
Romy Haag
Natürlich hab ich sofort geahnt, dass es sich wohl um was Wichtiges handeln musste, als mein Handy in aller Herrgottsfrüh geläutet hat. Dabei ertönt immer der Refrain von »Back To Black«, mein eingestellter Klingelton. Amy Winehouse, die mit der Bienenkorbfrisur und dem Heroin. Ich steh also auf, schäl mich aus dem Bett, weil mein iPhone im Nebenraum liegt. Wäre mein Schlaf nicht so hauchdünn, hätt ich das Geklimper gar nicht gehört.
Schlurfend beweg ich mich ins Wohnzimmer, schau auf die Uhr, Wahnsinn, kurz nach halb zehn, wirklich unmenschlich, und mach mir jetzt ernsthaft Sorgen, was denn los sein könnte. Wenn ich schlafe, befindet sich das Telefon im Mondscheinmodus, was bedeutet, dass das Besetztzeichen ertönt, wenn jemand mich zu erreichen versucht. Abgesehen allerdings von den Menschen, die ich auf einer extra Liste gespeichert habe, weil sie mir wirklich wichtig sind – die kommen mit ihrem Anruf schon durch. Und jeder, der mir wirklich wichtig ist, weiß auch, dass vor zwölf mittags bei mir launemäßig nix zu machen ist. Biorhythmus, Nachteule, Hormonschwankungen … Wer also trotz dieser Kenntnis derart dreist früh durchklingelt, muss was Dringendes auf dem Herzen haben. Man kann schon sagen, ich befinde mich in Habachtstellung, als ich nach meinem roségoldenen Smartphone greife.
»Morgen«, dröhne ich in den Hörer, ohne mich vorher geräuspert zu haben. Das hole ich unwillkürlich nach, weil ich meine stimmliche Belegtheit gerade wahrgenommen habe, und das ist natürlich scheiße für den Anrufenden. Also das Abhusten, nicht die Heiserkeit.
»Vikki, pass auf, Alarm!«, raunt es mir ohne weitere Einleitung entgegen. Die aufgebrachte Stimme gehört meinem Ex-und-immer-mal-wieder-Lover Wolf, dessen Name auch auf dem Display erschienen ist. Wolf Wolff. Ernsthaft. Er heißt so. Von den Eltern bereits bei der Namensgebung verarscht. Die Taufe als Watschn fürs Leben.
Eine kurze Pause entsteht, während der ich überlege, ob ich vielleicht antworten soll: »So, so, Alarm! Das will ich auch hoffen. Mindestens!«, um Wolf für sein Aufwecken zu tadeln. Aber so bin ich nur manchmal. Heute nicht. Meine Stimmungswechsel sind mir selbst ein Rätsel. Daher sage ich, irgendwie fast zärtlich: »Aha. Brauchst du Hilfe?« Von einem Extrem ins andere. Ob er Hilfe braucht, so ein Schmarrn.
»Vikki, hör zu, der Toni ist ausgebrochen. Gestern Nacht, aus Stadelheim. Ich hab’s gerade erfahren. Großfahndung.«
Oh.
Wie erstarrt blicke ich aus dem Fenster meiner Dachgeschosswohnung in der Utzschneiderstraße, einmal ums Eck vom Viktualienmarkt. Meine halb verdorrte Glückskastanie und ich daneben, wir stehen so da und verschmelzen zu einem Stillleben. Die sengende Hitze, die in meinem Zweizimmer-Refugium herrscht und die mich von Juni bis September nach einer Kellerwohnung sehnen lässt, bemerke ich gar nicht mehr. Das will schon was heißen.
Der Toni ist aus dem Gefängnis geflohen! Ja, dass so etwas überhaupt noch vorkommen kann, rein technisch. Ich hätte derartige Geschichten eher in den Achtzigern verortet. Ausbrüche. Da gab’s auch so viele Filme drüber, irgendwie alle mit Sylvester Stallone. Aber heutzutage?
»Äh«, stammle ich, um den Wolf nicht hängen zu lassen, aber auch, um meiner Ratlosigkeit Ausdruck zu verleihen. Und meinem Bedürfnis nach Vorschlägen, wie ich mich nun verhalten soll.
Ganz klar, ich bin in Gefahr. »Alarm« hat schon gestimmt.
Die Sache ist die: Den Toni, den kenn ich schon seit meiner Schulzeit, da hab ich noch aufm Dorf im Bayerischen Wald gelebt – noch im Körper eines Jungen. Und dieser Toni, der im Ganzen übrigens Toni Besenwiesler heißt – jetzt muss ich mich fast entschuldigen, Wolf Wolff, Toni Besenwiesler, diese ganzen Namen, einer blöder als der andere … aber so is des bei mir. Um mich herum: lauter Namenskuriositäten. Giganten der Phonetik. Nur nebenbei: Mein Vermieter, zum Beispiel, heißt Dr. Markus Wondrazil. Bizarr, oder? Als ob’s mich verfolgen täte. Unwichtig. Jedenfalls hat mich der Toni aufm Schulhof damals ununterbrochen drangsaliert. Und das ist noch milde ausgedrückt. In gewisser Weise würde ich ihn von allen Quälgeistern, die mir während meiner ersten siebzehn, achtzehn, neunzehn Lebensjahre begegnet sind, und da gab es viele, als den schlimmsten bezeichnen.
War es in meinem kleinen streng konservativen Heimatort sowieso schon schwer für mich, nicht durchgehend eins vor den Latz geknallt zu bekommen, so wurde ein Spaziergang durch die Straßen, oder der tägliche Schulbesuch, endgültig zum Spießrutenlauf, nachdem der Toni mich erst mal ins Visier genommen hatte.
Kranke Schwuchtel hat er mich genannt, abartige Tunte, Zwitter und alles, was man sich in dem Zusammenhang vorstellen kann, wenn ein Mensch wie ich geschlechtsspezifisch etwas anders orientiert ist, als Vatermutter Natur das der überwiegenden Mehrheit zuordnet. Wenn Ausformung und Innerlichkeit nicht kongruent gehen, sag ich mal. Wenn er, der damalige Bub vom Land, also ich, halt nicht so ist, wie man’s kennt: die Erscheinung, der Habitus, kernig, markig. Sondern eben eher andersrum.
Bei verbalen Erniedrigungen ist es dann natürlich nicht geblieben, logisch, es wurde körperlich. Der Toni hat mich wirklich richtig aufm Kieker gehabt, sich in meine Zerstörung regelrecht verbissen. Zusammenschlagen, heftig, brutal, ja, ich mag gar nicht mehr drüber reden. Man kann sich’s vorstellen. Das war so um die Zeit rum, als Techno ganz groß war, und Grunge, auch »Always« von Erasure war ein Riesenhit, das hat mir besonders gefallen, mei, da war ich vierzehn und der Besenwiesler Toni sechzehn oder so was, zwei Klassen über mir halt, und das Ganze mit ihm und seinen Kumpels war die Hölle. Doch, doch, die anderen haben da schon auch mitgemacht, quasi gruppendynamisch.
Klar kann man jetzt meinen, ach, die Vikki, die ist eine ganz schöne Heulsuse. Aber da trafen eben Welten aufeinander. Und meine stellte dabei den deutlich fragileren Part dar, sag ich mal. Seinerzeit zumindest.
Ich will auch überhaupt nicht abschweifen, ich schildere das nur, damit man meine Verbindung zum Toni ein bisserl besser begreift.
Immer noch stehe ich neben meiner Zimmerpflanze im obersten Stockwerk des Mietshauses, in dem ich wohne, Augusthitze, Handy am Ohr, Wolf in der Leitung, und sinniere, was Tonis Ausbruch nun, rund ein Vierteljahrhundert nach meiner Teenagerzeit, für mich bedeutet.
Eine ganze Menge.
Meine Berührungspunkte mit ihm gehen freilich noch weiter, so ist es nicht. Der Grund für seine spätere Inhaftierung, und was das mit mir zu tun hat, fußt nämlich auf einer ganzen Verkettung von Begebenheiten.
Gute zehn Jahre später, ich war längst nach München gezogen und bereits eine Frau, hab ich in der WunderBar gearbeitet. Hinter der Theke, zuständig für Getränke und Gespräche, Abteilung Charme vom Dienst, und ein bisschen Aushängeschild und Image für den Laden, Paradiesvogel. Auch Mädchen für alles, inklusive Abrechnungen. Die WunderBar in der Müllerstraße ist eine Tanzbar, der selbst gewählten Bezeichnung nach, was immer das Mitte der Nullerjahre geheißen haben mag. Szeniges gemischtes Publikum, aber weil das ganz früher eher ein schwuler Laden war, tendierte die Mehrheit der Besucher klar in Richtung äußerst offener Menschenschlag, sagen wir es so. Künstlerisch, liberal, höchst solvent, insolvent, vom Leben Angespülte, durchaus auch wichtig-wichtig. Hier fand sich alles, hetero, homo, schick, leger, alt, jung, grundsätzlich breit gefächertes Nachtlebenvolk halt. So. Und eines Tages, wer marschiert rein, ich trau meinen Augen nicht: der Toni. Der Besenwieslertoni. Der Wichser. Eben eine volle Dekade später, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hab.
Wirklich wahr, mir hat’s vor Schreck und Schock, und vor lauter Hilfe-Hilfe-meine-verkorkste-Vergangenheit-tritt-schlagartig-wieder-ins-Bild, rein innerlich alles aufgerissen.
Ich will nicht sagen, ich hätte mich ziemlich bald wieder gefangen, mitnichten, aber so etwas Ansatzweises eben. Nämlich, als ich meine Reflexe wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, hab ich ihn im Schummerlicht beobachtet, wie er in einer Mischung aus neuankömmlerischer Unsicherheit und aufgesetzter Souveränität durch das plüschige Ambiente des Clubs trottete. Der Sound der Anlage dröhnte aus den Boxen, unsere DJane Madame Marougé legte auf (geborene Schwöpf-Trichtlinger. Nee, nur Spaß!), sanfte Strobolichter glitten durch den schwitzigen, rauchgeschwängerten Raum, das war noch vor dem Rauchverbot, ich kann mir schon gar nicht mehr vorstellen, dass man drinnen mal alles vollgequalmt hat, es war zwei Uhr nachts, eine Menge Leute überall, rumstehend, tanzend, redend, flirtend, und der Toni mittendrin. Gorillagang, Raspelbirne, Bluthochdruckschädel, Deutschrapper-Hip-Hop-Outfit, da stimmte alles.
Mich hat er erst mal gar nicht wahrgenommen, obwohl ich hinter der Bar durchaus prominent positioniert und ein Augenfang war. Kein Wiedererkennen beim Umherschweifen seiner Blicke. Es hatte sich in der Zwischenzeit ja eine Menge getan, rein äußerlich. Bei mir. Bei ihm schon auch, aber anders. Zugenommen hatte er ein bisschen, auf diese gedunsene Muckibuden-Pumper-Art. Glücklicherweise aber war das Entscheidende an seiner feudalen Ausstrahlung unverändert geblieben: unterschwellig aggro, martialisch plump, letztlich strunzdumm.
Er cruiste pseudolässig weiter durch den gar nicht mal so großen Raum, aufmerksam, als würde er jemanden suchen. Ich indessen bekam eine Bestellung rein und musste ein frisches Pils zapfen, währenddessen ich dem Toni unausgesetzt weiter zusah und Zeuge wurde, wie er von jemandem versehentlich angerempelt wurde, ungelenk stolperte, sich gerade noch fing und daraufhin dem unbeeindruckten Verursacher erbost hinterherschaute, ganz beleidigte cholerische Leberwurst. Völlig konsequenzlos, natürlich. Was mich diebisch freute, bis mir klar wurde, dass mein Hohn für nichts gut war und umgehend verpuffte.
Ein paar Minuten später ließ der Toni sich von einer unserer mobilen Bedienungen einen Jacky Cola bringen, was auch sonst, und die große Blonde hinterm Tresen blieb erst mal unidentifiziert und konnte ihn in aller Ruhe weiter observieren. Was ich auch tat, bei Gott, kann man sich ja vorstellen, paralysiert und fasziniert, wie ich war.
Im weiteren Verlauf bekam ich Schritt für Schritt mit, wie er sich einem offensichtlich begleitungslosen Typen näherte, mit ihm ins Gespräch kam, ein paar Drinks spendierte, immer angeregter plauderte und gestikulierte, und – ich mach’s kurz –, als es auf die Sperrstunde zuging, ihm schlussendlich die Zunge in den Mund steckte. Etwas verstohlen zwar, nicht ausufernd, und den Speichelaustausch lediglich als Auftakt verstehend, aber eben – gay! Unmissverständlich.
Womit mir innerhalb von eineinhalb Stunden zum zweiten Mal das Herz fast stehen blieb. Wie das jetzt?
Ich war baff. Was für ein grotesker Umschwung.
Ausgerechnet Mustermacho Toni aus dem Bayerischen Wald, der Metzgerssohn und Schulrädelsführer mit den Erniedrigungsparolen und Bloßstellungssprüchen, hegte exakt jene Fantasien, die er sich selbst an mir exorziert hatte, wie mir genau in diesem Augenblick klar wurde.
Ungelogen, ich kann die Wucht dieser Entblößung eines Menschen, der mich einst regelrecht traumatisiert hatte, kaum beschreiben.
Prinzipiell war mir Vergleichbares natürlich zigmal begegnet, auch bereits zum damaligen Zeitpunkt. Die scheinheiligen Hetzer, die doppelmoralischen Frömmler, die bigotten Denunzianten, gerade das waren immer die mit den verheimlichten Bedürfnissen. Nix Neues.
Was hatte ich allein in der WunderBar schon landesweit bekannte Politiker, verheiratete Biederpromis, oder, eh klar, erzkonservative Würdenträger von ganz anderen Seiten kennengelernt. Alles schon erlebt – nur eben nicht mit ihm, unserem guten Toni B.
Na ja, und es kam noch besser.
Als er und sein braun gelockter Aufriss sich schließlich entschlossen, den Laden gemeinsam zu verlassen, passierte es nämlich. Unsere Blicke hatten sich im Laufe des Abends immer wieder mal gestreift, wie Blicke das eben tun, gleitend wie Scheinwerfer, aber erst als er auf dem Weg nach draußen an meinem geschwungenen Tresen vorbeischritt, noch überdreht vom Schäkern, und zum ersten Mal richtig kuckte, machte es Klick. Er stoppte abrupt, seine Mimik erstarb, der Mund blieb ihm offen stehen.
Ich geb schon zu, dass mein hypnotisches Starren das womöglich provoziert haben könnte, denn ich wollte die Chance eines Aufeinandertreffens nicht an mir vorbeiziehen lassen. Hier und jetzt, auf meinem Terrain, mehr oder weniger. (Obwohl ich mich zu gleichen Teilen auch panisch davor fürchtete.) In der Hoffnung auf eine Kräfteverschiebung? Ein Umschreiben unserer gemeinsamen Geschichte? Riskant war es so oder so. Man weiß nie, welche Türen die Vergangenheit in einem öffnet.
Toni stierte mich eine Weile an, vergewisserte sich, indem er die Stirn kräuselte, was Bist du’s wirklich? heißen sollte, ließ seine Begleitung kommentarlos stehen, kam zwei Schritte auf mich zu und stand mir damit einen Meter Luftlinie gegenüber, um in tiefstem Niederbayerisch zu fragen: »Sag amoi, bist du der …«
»Toni, servus«, unterbrach ich ihn sofort, da ich meinen Geburtsnamen nie mehr ausgesprochen hören möchte, schon der Artikel »der« reichte mir. Es genügte, dass ich instinktiv wieder in das hinterländlerische Bayerisch verfiel, das ich längst in ein gepflegtes Münchnerisch umtrainiert hatte.
»Welch Überraschung, dich hier zu treffen«, bemühte ich mich, absolut wertneutral zu formulieren und schnell weiterzuplappern, um nur ja die Oberhand zu gewinnen. »Wie geht es dir? Hattet ihr einen schönen Abend?« Gleich mal klarmachen, dass ich wusste, was Sache war. Ihr beiden Hübschen?, hängte ich nicht noch dran, ganz Dame von Welt.
Es entstand eine kurze Pause, während der Toni mich wie ein Schaf anglotzte, was mich überlegen ließ, ob er gerade einen Schlaganfall erlitt, gleich Amok laufen würde oder einfach nur rotzbesoffen war. Keine Ahnung, was mir lieber gewesen wär. Beinah ergriffen fuhr ich mir durch die Mähne und lächelte. Emotional auf Zehenspitzen.
Toni fasste sich und sagte: »Äh, i hab scho g’hört, dass du …« Indem er mit seinem Kinn auf meinen Körper zeigte, ignorierte er meine Frage komplett. Entweder lenkte er gerade geschickt ab, weil schamvoll ertappt, oder in seinem Bolzenschädel war wirklich nur Platz für einen Denkimpuls pro Konversation.
»… du hast g’hört – dass ich nach München gezogen bin?«, griff ich seinen Angriffsversuch auf und kickte das Thema Angleichung damit kategorisch beiseite. »Ja, ich leb doch schon seit Längerem hier. Und du? Was hat dich in unseren schönen Club verschlagen, Toni?«, stichelte ich weiter in seiner Unfreiwilliges-Coming-out-Wunde rum. Leute am Satzende beim Namen nennen, hat immer was Dominierendes, finde ich.
Sticheln hin, gifteln her, ganz ehrlich, ich war nervlich längst total fertig. Konfrontiert mit dem Albtraum meiner Jugend, obendrein nach der Zungenkussnummer mit dem dubiosen Typen, der wie bestellt und nicht abgeholt hinter Toni wartete: Es war, als machte ich einen Zeitsprung und liefe kurz Gefahr, mich wieder in das hilflose Wesen zu verwandeln, das ich einst gewesen war. Aber das geschah nicht. Immerhin. Natürlich war ich nicht entkoppelt von meinen akut wieder hervorbrodelnden Erinnerungen, aber ich blieb die Höflichkeit in Person und verdeutlichte dadurch die Zäsur zwischen Jetzt und unserer gemeinsamen Vergangenheit. Mit letzten Kräften. Schöne Scheiße.
»I, ahm, i bin ab sofort a öfter in Minga«, eierte Toni herum und wurde von einem quengeligen »Was ist denn jetzt?« seines Neulovers zum Aufbruch gerufen. Tausend Dank an den Herrn im Hintergrund.
»Das freut mich aber. München ist einfach toll, oder? Na, dann wünsch ich euch beiden«, so etwas wie Süßen fügte ich auch diesmal nicht hinzu, wie gesagt: Manieren wie ausm Lehrbuch, »noch einen schönen Abend. War nett, dich wiederzutreffen, Toni.« Jetzt nicht übertreiben, dachte ich mir, und tat es doch, weil ich vor lauter Übermut gleich noch meinte: »Vielleicht sehen wir uns ja bald wieder.« Tja, und damit griff ich der Zukunft voraus. Nur wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nichts davon.
Wir verabschiedeten uns. So also-dann-mäßig, inklusive Kopfnicken. Ganz normal. Freilich fragt man sich, wie sollt’s auch sonst sein, außer normal. Aber normal ist zwischen uns aus meiner Sicht ja null Komma null. Und an der Situation war erst recht nichts Normales. Deshalb war ich halt doch überrascht.
Da ging er dahin, der Toni und sein Stricher. Bye, bye.
Und schwupps waren sie durch den Ausgang der WunderBar entschwunden.
Ganz besudelt vor Erleichterung machte ich die Kasse an diesem Abend besonders gründlich, nur drei Euro fehlten, die glich ich selbst aus, und ahnte nichts davon, was uns beiden schon bald blühen sollte und dass dieser Abend nur der Auftakt zu unserem Intermezzo Grande sein sollte, dessentwegen der Toni am Ende ins Gefängnis kam, nachdem seine Frau ermordet aufgefunden worden war. Richtig gehört, seine Ehefrau. Aber davon berichte ich später, weil jetzt ja der Wolf am Telefon ist und mich gerade gewarnt hat, dass der Toni nach dreizehn Jahren angeblich aus dem Knast ausgebrochen sei.
Was für mich gar nicht gut ist.
Wegen seiner Rachegelüste.
Obwohl ich mit seiner Verhaftung damals rein gar nichts zu tun hatte.
Aber das erzählst’ mal dem Toni.
Wir müssen dich jetzt sofort in Sicherheit bringen, ich komm gleich vorbei und hol dich ab«, brummt der Wolf via Satellit in mein Ohr. Handyverbindungen laufen doch über Satelliten, oder? Siebzigtausend Kilometer hin und zurück. Der Wolf wohnt schätzungsweise sechs Kilometer von mir entfernt. Glockenbach – Sendling, sechs müsste hinkommen.
Dennoch wird der Wolf in persona auf seinem Harley-Davidson-Verschnitt gleich deutlich länger zu mir brauchen als seine sonore Stimme jetzt gerade bis zu meinem Ohr.
Eine Viertelstunde im Vergleich zu einer Viertelsekunde.
Diese Diskrepanz zwischen Handyverbindung und Motorradstrecke würde sich sogar dann kaum verringern, wenn der Wolf nicht immer so langsam fahren würde, wie er es tut, weil er alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen will, wenn er mit seiner schweren Maschine aus China (die viel besser sein soll als eine Original-Harley) betont majestätisch durch die Straßen kurvt. Poser ist das einzig richtige Wort.
Er zu mir: »Pack schon mal …«
»… das Nötigste ein, ist klar«, vervollständige ich altklug und vorschnell seinen Satz, weil der so eine Phrase ist. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass das meiste im Leben nur noch aus dem Floskelsetzbaukasten stammt. Nicht zuletzt auch mein Wolf Wolff selbst. Er ist einer der Menschen, die sich ganz leicht durch Worthülsen schildern lassen. Wobei ich das im allerallerbesten Sinne meine. Wirklich.
Denn der Wolf war mal eine große Liebe von mir, und auch wenn sich unser Verhältnis über die Jahre gewandelt hat, sind wir einander verbunden geblieben. Eine Bezeichnung für unsere Art von Beziehung zu finden, ist mir beim besten Willen nicht möglich. Auf jeden Fall gehen wir vertrauensvoll miteinander um, halten regelmäßig Kontakt, und in unterschiedlichsten Abständen und Gemütslagen machen wir sogar, ganz, ganz selten zwar, aber doch, hin und wieder, nach wie vor, auch ein bisschen Schnucksibucksi.
So.
Was ich aber damit meinte, dass der Wolf leicht mit Plattitüden zu beschreiben sei, ist, dass er genauso aussieht, wie man sich ein Mitglied eines Rocker- und Motorradclubs vorstellt. Mittleres Alter, fünfundvierzig, massiger Muskelprotz, seine inzwischen grau melierten Haare zu einem strengen Zopf am Hinterkopf zusammengebunden, den ehemals dunklen Bart auf Zwei-Zentimeter-Länge-unterm-Kinn geschnitten, sowie eine dunkelbraune Biker-Lederjacke, mit der er verwachsen zu sein scheint, und auf deren Rücken der Schriftzug des Clubnamens prangt – nämlich der der Switch Blades. Das ist französisch und heißt »Schweizer Blödmänner«.
Ist natürlich nur ein Scherz, den ich mal gemacht habe und der für kurze Zeit ein halbherziger Running Gag von uns wurde. Aber manchmal rutscht er mir immer noch raus.
Springmesser auf Englisch, das heißt’s.
Die Switch Blades sind zwar ein kleinerer Verein als die Hells Angels oder die Bandidos, und den meisten auch nicht so geläufig, bei den Behörden und Insidern aber haben sie den Ruf, eine etwas rauere und verwegenere Variante des Konzepts »Motorisierter Krawallhaufen« zu sein. Harte Hunde. Gar nicht meine Welt, und einzig wegen dem Wolf hab ich da überhaupt Berührungspunkte. Wobei der Wolf selbst ein wirklich sanfter Mann ist. Beinah hätte ich mit »raue Schale, weicher Kern« das nächste Klischee rausgelassen. Stimmen tut’s trotzdem.
Ein Hitzkopf kann er aber schon auch sein, so ist es nicht.
Ein Mann, der sich auf eine Beziehung mit mir einlässt, muss sowieso vielschichtig sein. Hirn, Herz, Eier. In beliebiger Reihenfolge.
Allein schon die Außenwirkung und das Feedback der Leute zu verkraften, wenn du mit einer über eins achtzig großen Femme fatale meiner Ausformung an deiner Seite aufschlägst, erfordert Rückgrat, überleg mal.
Dazu muss man sich erst mal bekennen.
»Ich fahr gleich los«, kündigt der Wolf an.
»Du brauchst mich nicht abholen. Ich fahr selber!«, entgegne ich sachlich kühl, weil Schlaftrunkenheit und Knalleffekt langsam nachlassen.
»Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein.« Neun Neins in Hochgeschwindigkeit. Logopäden braucht der Wolf keinen. »Das hier ist ’ne ernste Sache, damit ist nicht zu spaßen.« Klingt eher nach Schienbeinbruch dritten Grades als nach dem Ausbruch eines Straftäters.
Spaß hin, kein Spaß her, fahren könnt ich trotzdem selbst, muss aber nicht sein.
»Also gut, komm vorbei. Aber wo fahren wir dann hin? Wo soll ich mich denn vorm Toni verschanzen, bitteschön? Bei dir? Sicher nicht! Da wissen wir doch, dass wir beide gleich wieder genervt sind voneinander«, sage ich und merke, dass ich, obwohl jetzt auch nicht gerade überall Bomben um mich herum explodieren, immer nervöser werde.
»Ich überleg mir was«, gibt der Wolf mir umgehend recht und schmollt gleichzeitig fast ein bisschen. »Du musst sofort komplett raus aus der Schusslinie, also total! Weil es kann durchaus sein, dass der Toni schon im nächsten Moment bei dir vor der Tür aufkreuzt, vollkommen crazy, wie der ist!«
Der Wolf weiß, wovon er redet, wenn er den Toni als crazy bezeichnet. Er kennt sein Naturell nur allzu gut. Während der ganzen heiklen Angelegenheit mit dem Toni haben der Wolf und ich uns ja damals kennengelernt, und somit hat er sämtliche Einzelheiten hautnah mitbekommen.
Das Fenster, das ich in meinem Wohnzimmer sperrangelweit öffne, ändert an der stehenden Hitze im Zimmer nicht das Geringste. Nicht der kleinste Luftzug. Aber sonst, verstehste, einen auf Nobelhobel machen, huuh, ich hab eine Dachgeschosswohnung, huuh, ganz oben, und ich zahl nur 800 Euro warm, huuh, ich bin die Vikki, und im Adlerhorst über den anderen zu wohnen und niemanden über sich zu haben, ist was Besonderes, huuh, haah, hui. Aber echt wahr: Im Sommer unterm Dach? Hölle! Jedes verdammte Jahr das Gleiche.
»Vikkimaus, wir kriegen das hin«, fühlt sich der Wolf bemüßigt, mich zu beruhigen, ganz selbstständiger Unternehmer und bereits im Krisenbewältigungsmodus. »Mach dir keine Sorgen!«
Wenn jemand das sagt, handelt es sich dabei um den deutlichsten Hinweis, längst größte Sorge haben zu müssen.
»Ich fahr sofort los, okay? Bis glei…«, will sich der Wolf verabschieden und nestelt schon hörbar irgendwo herum, als es an meiner Wohnungstür klopft. Klopft, nicht klingelt.
Ich stocke. Ich sage: »Wolf, bei mir hat’s geklopft.« Kurze Stille. Auch der Wolf ist erschrocken.
Megaunheimlich.
Man interpretiert ja immer seine Gedanken in die unmittelbaren Umstände hinein, obwohl es den Umständen völlig egal ist, wie deine Gedanken sind. Aber klar rechne ich mit dem Toni an der Tür.
»Geh nachschauen«, flüstert der Wolf, als ob das übers Handy einen Unterschied machte.
»Ja. Bleib dran«, sage ich und husche, Handy am Ohr, mit großen Schritten, die dadurch irgendwie hyperleise sein sollen, barfuß an die Wohnungstür, schiebe zeitlupenhaft die Sichtschutzblende des Spions beiseite, luge durch und – es ist die Kathi von unten. Entwarnung.
»Alles okay, ist nur die Kathi«, zische ich dem Wolf zu, endlich ausatmend und erleichtert, wie nur ein echtes Nervenbündel es sein kann.
Am anderen Ende der Leitung höre ich den Wolf Luft durch die Lippen blasen, »Alles klar, bis gleich« hauchen und auflegen. Menschenskinder, da sieht man, wie uns der scheiß Toni am Haken hat.
»Ja, Kathi, was machst du denn so früh hier?«, frage ich, noch während ich mit links die Tür öffne und dabei meinen rechten Handyarm fallen lasse. Ist heute allgemeiner Frühwecktag entgegen allen Regeln? Aber die Kathi darf alles. Sie ist die sechzehnjährige Tochter von der Mieterin unter mir, der Sabine. Die Sabine ist alleinerziehend, war früher Bäckereifachangestellte, dann Taxifahrerin und anschließend, wegen zurückgehendem Umsatz, Fahrerin für Uber. Bis sie das bald auch aufgeben musste, weil die hippen Uber-Kunden noch größere Schwachmaten sind als Taxigäste. Kaum Trinkgeld wegen App-Bezahlung, verhätschelte Anspruchsdenken-Mentalität und rundum praktizierte Rezensionstyrannei, da alle glauben, sie haben dich in der Hand, weil sie dich anschließend per Punktesystem bewerten können, was das Schlechteste im Menschen zutage fördert. Überheblichkeit den ganzen lieben langen Tag, noch dazu im eigenen zur Verfügung gestellten Auto, das ist anstrengend. Außerdem waren die Fahrtstrecken von Uber-Kunden noch kürzer als die der klassischen Taxikundschaft.
Der Verdienst hat am Monatsende einfach nicht mehr ausgereicht.
Sieht schlecht aus für die Sabine derzeit. Sie ist erneut auf Stellensuche und jobbt so lange übergangsweise als Nachtputzfrau in einer Privatklinik. Nacht-, nicht Nackt-!
Ihr einziges Kind, die Kathi, steht nun erwartungsvoll vor mir, im Türrahmen meiner kochenden Wohnung, und ich schimpfe in dem Singsang, der eigentlich Kuscheltieren vorbehalten ist: »Ich schlaf doch immer bis mindestens …«
»Ich hab dich trampeln und telefonieren gehört«, scheißt sich die Kathi nichts und kommt schon mal rein.
Dass sie mitgekriegt hat, dass bei mir bereits Betrieb herrscht, glaub ich ihr aufs Wort. Die Wände und Decken im Haus sind papierdünn. Nacht für Nacht höre ich, mit meinem Oberflächenschlaf, jeden Toilettengang, jede Spülung und jedes Duschen von der Sabine oder der Kathi im Stock unter mir.
»Hast du gerade trampeln gesagt? Unverschämtheit.«
Die Kathi grinst und sagt: »Du, wie schaut’s aus? Ich muss heute Nachmittag weg und wäre deshalb für unsere Aufnahme erst morgen wieder am Start. Aber wenn du magst, könnten wir’s jetzt gleich machen!«
»Ah, nein, verschieben wir lieber … auf morgen. Ich hab gerade gar keine Zeit, ich muss weg … tut mir leid«, druckse ich rum.
»Ach, Vikki, nee, komm, lass es uns sofort machen. Ganz schnell von mir aus. Es ist total wichtig, dass du wirklich jeden Tag Content lieferst. Ohne Mist, wenn du deine Follower nicht regelmäßig bedienst, geht dein Rating sofort runter. Hey, echt, lass es uns gescheit durchziehen, keine Kompromisse, du hast es mir versprochen. Der Algorithmus verzeiht nicht!«
Die Kathi spricht von meinem Instagram-Profil, das sie mit mir auf Trab hält. Neben ihrem eigenen, natürlich. Ihr geht es nur um Followerzahlen. Kein Witz, das ist Lebensinhalt. Alle suchen Reichweite, keiner weiß, wofür.
Ich selbst bin zwar schon seit ein paar Jahren auf Instagram, war da aber, nach Kathis Maßstäben, immer nur halbherzig aktiv. Hab auf meinem Profil alle paar Tage ein paar Fotos oder ein paar Storys mit Bildern oder Grüßen eingestellt. »Hallo, ihr Lieben«-mäßig, das übliche Geplänkel. 2.256 Abonnenten. Kaum der Rede wert. Für meine Kathi wäre diese Zahl ein Selbstmordgrund.
Wohl deshalb hat sie mir letztes Jahr vorgeschlagen, größer zu denken und über Insta schon mittelfristig eine echte Fanbase aufzubauen, weil, Zitat Kathi, »das Gender- und Trans-Thema so mega heiß und fresh ist, dass du einschlagen würdest wie eine Bombe«. Wie eine 41-jährige Bombe mit Bühnenbackground. Hm.
»Du hast alles, was man braucht«, galoppierte sie weiter. »Glamour, Sexiness und, tara, eine Geschichte. Erfahrung, Tipps, verstehst du? Du und deine Identität, das ist gerade super hot. Du könntest einen Trend lostreten.« Na, wenn sie sich da mal nicht täuscht, dachte ich. Ich dachte mir dann aber auch schnell, dass eine Sechzehnjährige Antennen besitzt, deren sensiblen Empfang ich gar nicht mehr nachvollziehen kann, und dass es vielleicht wirklich nichts schaden könnte, wenn ich einfach mal meine Fühler ausstrecke, zumal die Kathi mir angeboten hat, das gemeinsam mit mir zu stemmen.
Es ist sowieso erstaunlich, wie die aktuelle Generation der Unter Dreißigjährigen auf mich und die damit verbundene Thematik reagiert. Es ist nicht nur anders als die Jahrgänge davor, mehr noch, es ist oftmals das genaue Gegenteil. Verbanden ältere Menschen (Ü30!) einen Begriff wie Trans eher mit einer sibirischen Eisenbahn oder Halbwelt, so ist Kathis Umfeld total erpicht darauf, mehr darüber zu erfahren, und auch bereits ganz schön im Bilde. Denen musst du nicht erklären, dass jemand wie ich kein Crossdresser, kein Schwuler und kein Transvestit ist, also ein ab und an als Frau verkleideter Mann. Sondern, dass eine transsexuelle Person die Wandlung vom einen zum anderen Geschlecht mit allen Konsequenen vollzogen hat. So wie ich, in aller Eindeutigkeit. Ein Vollblutweib mit allem Drum und Dran.
Die Kathi schaut mich fordernd an. Ihr Blick schreit: Instagram! Jetzt!
»Kathi, lass mich erst mal ein paar Sachen zusammenpacken, dann sehen wir weiter.« Ich bin a bisserl in Gefahr durch einen Primitivling, der glaubt, eine Rechnung mit mir offen zu haben, sage ich nicht.
»Fährst du weg?«, hakt sie nach und schiebt sich mit beiden Händen ihre brünetten, mittelgescheitelten Haare hinter die Ohren. Nur stundenlanges Studieren von YouTube-Haarpflege- und Styling-Tutorials können eine schulterlange Frisur derart erstrahlen lassen.
»Kann sein, dass ich für ein paar Tage unterwegs sein werde«, hauche ich, schon im Schrank rumwuselnd.
»Nice, und wohin geht’s?«
Das will ich ihr nicht sagen. Erstens, weil ich’s noch nicht weiß, und zweitens, weil ich dann mit dem Grund für die Reise aufwarten müsste. Also lass ich meine Lieblingsvertröstung auf dem Fuße folgen, denn ich bin Profi im Verklausulieren. Das lernt man auf einem Lebensweg wie dem meinen: »Erzähl ich dir gleich in Ruhe.« Das heißt so viel wie: Zeit gewinnen, sich erst mal eine plausible Lüge überlegen. Niemanden belasten und dadurch gar womöglich gefährden. Außerdem halte ich es, sooft es geht, mit der Königin von England: Beschwer dich nicht, erklär dich nicht.
Ich sage: »Dann wolln wir mal!«
Lediglich zwölf Minuten benötige ich fürs Packen. Ich bin deshalb so unrealistisch schnell, weil ich davon ausgehe, dass der Wolf mich in drei Minuten abholen wird. Eben die fünfzehn Minuten von ihm zu mir.
Die Kathi textet mich währenddessen mit ihren Themen zu, wie es eine Schwerstpubertierende tut, und ich bin richtig dankbar für diese Ablenkung, weil ich mental nur eine Viertelstunde, nachdem der Wolf mich aus dem Bett geklingelt hat, bereits auf dem Zahnfleisch daherkomme. Ratterratter in meinem Kopf, Toni Besenwiesler läuft frei herum, verstanden, Kontrollzentrum, ratterratter, gleichzeitig suche ich nach Lösungen.
Als ich mit dem relativ konzeptfreien Verstauen wahlloser Kleidungsstücke fertig bin, stelle ich beide Designer-Sporttaschen in den Flur und sage zur Kathi: »So, das hätten wir. Jetzt muss ich nur noch Vikki werden« und gehe ins Bad, wohin sie mir folgt, ununterbrochen plappernd.
Schwerpunkt liegt heute auf ihren aktuellen Stalkern, die sie über ihre Insta-, Facebook-, YouTube- und TikTok-Kanäle so ansammelt. Es ist nicht zu fassen, was Männer tun, um ihr Interesse zu erregen. Von ausufernden romantischen Nachrichten über Schwanzbilder, schlaff wie erigiert, bis hin zu Sklavenfantasien, ich versteh’s nicht. (Und kenne es doch selbst zur Genüge, wenn auch in anderer Größenordnung …) Und die Typen lassen nicht locker. Einige erkennbar Perverse, ein paar Psychos, eine Menge Pädos, ein paar Hartnäckige vom Kaliber Erst-nett-tun-und-sich-dann-mit-»Du-Fotze-ich-töte-dich-wenn-du-nicht-antwortest«-immer-weiter-und-weiter-steigern.
Die Kathi steckt das locker weg. Mir würde das in dieser hochtourigen Influencer-Verdichtung furchtbar an die Nieren gehen. Aber sie ist da aus anderem Holz geschnitzt.
Gerade belästigen sie vorrangig ein gewisser Laurin (angeblich mal in einem TV-Reality-Format gewesen) sowie ein Dennis P. Ersterer möchte sie heiraten, er ist vermutlich einundzwanzig, Letzterer will sie in Grund und Boden quatschen. Hunderte von Nachrichten täglich. Hunderte!
Und die Kathi: cool wie Sau. Dutzende aufdringliche Online-Verfolger gleichzeitig sind in ihrem Kosmos einfach nichts Besonderes.
Jetzt muss ich dazusagen, dass die Kathi ein Riesenstar im Netz ist. Seit über einem Jahr mittlerweile. Kathi Sweet Allaround ist ihr Profilname. Richtig ab ging es für sie, als sie vor sechzehn Monaten, im ersten Coronafrühling 2020, auf YouTube einen zwanzigminütigen Blog gepostet hat, in dem sie ihren Zuschauern erklärt hat, wie man mit dem richtigen Make-up und der richtigen Mimik seine Augen maximal ausdrucksstark sprechen lassen kann, auch wenn man eine Mund-Nasen-Maske trägt. Wie man richtig lächelt (in zwölf Abstufungen, unter anderem: heiter, lässig, euphorisch), wie man fragend schaut, wie man empathisch (Wort des Jahrtausends) dreinblickt, wie man einen Kaffee bestellt, all so was.
Das Video hieß Der beste Augen-Lifehack aller Zeiten! und ging viral, dass es nur so geraucht hat! Ging ab wie noch mal was.
Untertitel: MMMM – Maximale Mimik mit Maske.
MMMM wurde zum Hyper-Hashtag, zum Titeltrend, zum Alliterations-Aphorismus, kannste nicht planen.
Kathi war danach sogar bei Markus Lanz. Nicht, dass sie jemals fernsehen würde oder dass ihr das Kürzel ZDF was sagt. Kathi gab verschiedenen Printmedien Interviews. Nicht, dass sie in ihrem Leben auch nur einmal eine Zeitung aus Papier in Händen gehalten hätte. Und Kathi wurde in zahllosen Reaction-Videos auf YouTube gefeatured, was weitere Myriaden an Views generierte und so weiter und so fort.
Meine Kathi! Acht Millionen Klicks. Das hat mich sehr für sie gefreut.
Der beste Augen-Lifehack aller Zeiten!
Das genauso erfolgreiche Nachfolge-Video hieß:
Dunkle Schatten unter die Augen schminken – aussehen wie tagelang durchgefeiert (Rockstar Hangover!)
Ehrlich wahr, so hieß das.
Natürlich ist das geistesgestört.
Aber wer bin ich, dass ich … Vielleicht kann man das ja auch so sehen, dass …
Nein, es ist wirklich vollkommen geistesgestört. Restloser Dünnschiss für Wohlstandsverwahrloste. Logisch.
Die Welt ist verloren.
Wurst. Daran ändert keiner mehr was.
Der Blöde weiß ja nicht, dass er blöd ist. Dem steht der Nichtblöde ohnmächtig gegenüber.
Ich hingegen stehe jetzt vor dem Spiegel und lasse mich zu Vikki werden, was ich vor meinem Morgenstyling definitiv nicht bin. Niemand außer Kathi dürfte mich ungemacht sehen. Ohne Schminke und Brimborium. Uns beide verbindet wirklich was. Sie kommt fast jeden zweiten Tag bei mir vorbei, zum kurz Tratschen, manchmal gemeinsam Internet Schauen, so was halt, sie macht das, seit sie zwölf ist, und deshalb sind wir schon alte Freundinnen. Ich mag sie sehr. Wir können miteinander total albern und jenseits jeder Grenze doof sein, ohne dass eine die andere für doof hält. Und ihre Mutter, die Sabine, die ist auch okay.
Ich krieg ja live mit, wie das für sie ist, als alleinerziehende Mutter, immer am finanziellen Rand balancierend. Wie überall verlief die Familiengeschichte anders als geplant. Ehemals unglücklich verheiratet, jetzt glücklich geschieden, aber gleichzeitig unglücklich Single. Flächendeckend dasselbe.
Wolf whatsappt mir, dass er sich etwas verspätet, was mir klarmacht, dass auch extremste Krisensituationen profane Unpünktlichkeitsgesetze nicht außer Kraft setzen.
Muss er noch tanken, einkaufen, zur Darmspiegelung, oder wie?
Was könnte jetzt wichtiger sein, als direkt zu mir zu rasen? Also in seinem Fall erhaben über die Lindwurmstraße schweben, maximal 25 km/h, grad, dass er nicht königlich winkt, so ausm Handgelenk.
Ich schüttle den Kopf und schreibe zurück, dass ich gleich noch zur Kathi gehe und er deshalb bei Röhm klingeln soll.
Wolf, Wolf, Wolf, wirklich, manchmal könnt ich dir links und rechts …
Kathi heißt Röhm mit Nachnamen. Kathi Röhm. Das ist doch mal ein schöner Name, gell?
Find ich auch.
»Du, der Wolf verspätet sich. Vielleicht haben wir doch ein paar Minütchen, um eine kleine Message aufzunehmen, was meinst?«, schlage ich der Kathi vor, nachdem ich vor meinem Badezimmerspiegel abschließend die geschminkten Lippen aneinanderreibe.
Sie ist natürlich dabei.
Ich zieh mir ein kleines Etuikleid an, Farbe: dezent, nicke Kathi »ready« zu, nehme eine der Taschen, sie die andere, und ich folge ihrem spindeldürren Körper übers Treppenhaus ein Stockwerk tiefer, nicht, ohne bei mir noch alle Fenster geschlossen zu haben.
Das ging jetzt echt schnell für meine Verhältnisse.
Weil ich sag dir, wie’s ist: Ich fühl mich schon die ganze Zeit vom Toni verfolgt. Durchweg paranoid. Ablenkung durch die Kathi hin oder her: Mir geht permanent nur im Kopf rum, wo er sich wohl bereits befindet. Jetzt kann man meinen: »Ist ja lächerlich, die steigert sich da in was rein …« Weil doch noch gar nichts passiert ist, und bloß weil der Wolf mich gerade informiert hat und so weiter – warum hab ich mich denn so?
Aber wenn du wüsstest, wie oft und wie vehement der Toni mir aus der Haft heraus mit Vergeltung gedroht hat. Wenn du wüsstest, was für ein Brutalinski das ist. Hör mir auf!
Wenn du das wüsstest, du würdest nur rufen: »Lauf, Vikki, lauf! Schau, dass d’ weiterkommst!«
Durch den Flur und vorbei am Küchenchaos betreten wir Kathis Zimmer, das mittlerweile aussieht wie ein professionelles Videostudio. Auf der linken Seite, wenn man reinkommt, stehen eine Kamera auf Stativ, zwei drehbare Handyhalterungen in der Ecke, drei Scheinwerfer sowie ein Green Screen. Davor das Kondensatormikro mit dem »stabilen Sound«. Am wichtigsten aber: das LED-Ringlicht für bestmögliche Gesichtsausleuchtung.
Der ideale Raum für unsere Eitelkeitsgymnastik.
Die übrig gebliebenen freien Flecken ihres ehemaligen Kinderzimmers sind liebevoll möbliert, und auf jeder freien Wand oder Möbelfläche befindet sich ein Sinnspruch. The best things in life are free. Oder: Man kann alles schaffen, man muss nur dran glauben. Klingt richtig gut, ist aber natürlich Unsinn. Bloß: Wenn du dir als sechzehnjähriges Mädchen irgendwelche unanfechtbaren Wahrheiten an die Zimmerwände pinnst, dann holen die Eltern ja sofort einen Psychologen. Niemand weiß nichts, zum Beispiel! Oder Lebenswege können unter Umständen ganz schön kurvenreich werden, was weiß ich. Undenkbar. Da geht’s direkt mit dem Notarzt auf die Therapeutencouch oder zumindest gibt’s starke Tabletten.
»Magst du einen Espresso?«, fragt die Kathi rhetorisch, weil sie bereits zwei Tässchen unter den Doppelstutzen gestellt hat und die Luxus-Espressomaschine anwirft, die aussieht wie eine kleine Garage, und – natürlich – gesponsert ist. Mit persönlichen Grüßen von Roger Federer. Sagt die Kathi.
Espresso? Ich antworte mit einem Nicken, von dem kein Mensch Notiz nimmt und das auch keine Rolle spielt, und setze mich auf den Hocker vor ihrem Schminktisch, auf dem weitere Produkte liegen, für die sie keinen Cent mehr zahlen muss.
Meine kleine Influencerin der Stunde bekommt haufenweise Sachen zugeschickt, in der Hoffnung, dass sie zufällig eines der Teile mal in die Kamera hält. Aber ohne Bezahlung läuft bei der Kathi längst nichts mehr. Gegenwärtig macht sie geschickt platzierte Werbung für eine geruchsneutrale und atmungsaktive, ökobilanzierte Fairtrade-Casual-Wear-Klamotten-Kollektion aus Mikrofaser. Die Summe, die sie angeblich für ihre schnappschusskurzen, jedoch genau getimten Einblendungen der norddeutschen Marke bekommt, glaube ich ihr nicht. Aber ich bin die Erste, die für Übertreibungen vollstes Verständnis hat.
»Danke dir«, hauche ich ihr zu, als sie mir den Espresso reicht, für den ich werde büßen müssen, auf nüchternen Magen.
»Welchem Topic wollen wir uns heute widmen?« Die Kathi redet von einem möglichen Thema für unseren Blog. »Hast du dir schon was überlegt?« Ihre Energie pegelt meiner Toni-Bedrücktheit ein klein wenig gegen.
»Wenn wir überhaupt was machen, dann nur was Kurzes … der Wolf kommt ja gleich«, dehne ich meine Antwort ein bisschen. Unter anderem auch, weil die Kathi und ich inzwischen ziemlich sensibilisiert sind, was unsere Themenauswahl angeht. Vergangene Woche hatten wir auf meinem Account mal wieder einen Podcast-Dialog geführt, was wir ab und an machen. Sie und ich in angeregtem Zwiegespräch. (Wenn mich die Kathi bei einem meiner YouTube-Videos oder bei einer meiner Instagram-Storys besucht, steigen die Zuschauerzahlen immer exorbitant.) Wir reden dann frei von der Leber weg, über was auch immer uns interessant und aktuell erscheint. Ob Persönliches, Gesellschaftliches, Kulturelles oder auch halbwegs Politisches. Hängt ja alles zusammen.
»Hauptsache, wir machen irgendwas«, sagt die Kathi und klappt ihren Laptop auf. »Nichts machen ist keine Option, Vikki. Community bei Laune halten, Laune halten, Laune halten! Hihi. Wir hatten letzten Monat zwanzigtausend neue Abonnenten, das ist mega!«
Ich versuche, respektvoll zu lächeln, als wäre die Zahl in meinem Koordinatensystem genauso gewichtig wie in ihrem.
Sie mustert mich, analysiert meine Reaktion. Ich glaube, sie durchschaut mich, sie ist ja nicht blöd. Aber weil sie vielleicht mich für ein bisschen blöd hält, gibt sie noch zu bedenken: »Und wichtig, Vikki: Vorsicht! Heute bloß nichts allzu Suwwersives. (Kathi sagt immer suwwersiv statt subversiv. Ich wusste mit sechzehn nicht mal, was damit gemeint ist.) Wir sollten diesmal nichts ansprechen, was zu sehr aneckt, okay?«
Natürlich nicht. Mir hat der Shitstorm letzte Woche wirklich gereicht. Es gab einen Entrüstungsorkan sondergleichen!
Dabei haben wir doch nur über die Einführung der schicken Gendersternchen geredet. Also dass man jetzt immer Leser*innen sagen soll, oder ich geh zur Bäcker*in, und dabei den Stern mit so einem Gluckslaut im hinteren Gaumen miteinbeziehen muss.
Dazu hab ich lediglich gemeint, dass ich das ein wenig umständlich finde (affig hab ich gesagt, glaube ich) und dass das Sternchen ja unter anderem so einen Menschen wie mich abbilden soll, was ich etwas bemüht finde (aufgesetzt hab ich es im Podcast genannt, glaube ich), allein schon, weil ich niemanden in der Transgender-Welt kenne, der darauf Wert legen würde. Ganz abgesehen davon, dass ich mich längst als vollständige Frau sehe und als vollständige Frau genug Abstraktionsvermögen besitze, dass wenn jemand sagt, er gehe zum Bäcker, dass er dann nicht unbedingt zu einem männlichen Bäcker geht, sondern in einen Laden entsprechender Zunft. Weil, so blöd kann doch keiner sein, dass er dafür ein Sternchen braucht.
Auweia.
Das allein hätte schon gereicht, eine Armee aus Hatern auf den Plan zu rufen.
Ja, aber dann hab ich … Ah, ich höre die knarzigen Stufen im Treppenhaus, trotz geschlossener Türen. Falls es noch eines Beweises bedurfte, wie hellhörig die Bude ist – das muss der Wolf sein, erkenn ich schon am erhabenen Gang, obwohl er gar nicht unten geklingelt hat … Trotzdem, das erzähl ich noch schnell: also von wegen Gendersternchen und fragwürdig und so.
Da hab ich mir was eingebrockt.
Gehts ja schon damit los, dass die Kathi die Schreibweise gar nicht so abwegig findet, im Gegenteil. Und da muss ich dann auch wieder sagen, vielleicht hat sie recht und ich bin dafür einfach schon zu festgefahren.
Der Vollständigkeit halber darf man aber nicht vergessen, dass diese modern denkende Kathi gleichzeitig flexibel genug ist, sich als glühende Klimaaktivistin täglich Amazon-Lieferungen per DHL-Diesellaster nach Hause bringen zu lassen. Und von den Pelzkrägen an ihren Winteranoraks lässt sie sich ihren Tierschutz auch nicht kleinreden.
Die Millenials, für alles offen.
Ich hab also in unserem letzten Videopodcast die Kathi auch noch gefragt, so dialogmäßig, wie wir unser Getratsche eben handhaben, wer sich das mit den Sternchen denn ausgedacht hat. Weil, das ist schon rührend, dass sich da jemand Gedanken macht. Zumindest, solang man sich nicht daran stört, dass dieser Jemand das einfach so willkürlich bestimmt und einem als Unterstützung verkauft, was manche ja durchaus missverstehen könnten. Zum Beispiel als Bevormundung derer, denen da zur Seite gesprungen werden soll (also unter anderem mir), und die gar nicht darum gebeten haben.
Ich meine, es ist so, als würde ein junger Mann eine Oma zwingen, sie ohne Not über die Straße führen zu dürfen, damit er im Anschluss behaupten kann, er habe eine gute Tat vollbracht.
Das war’s auch schon. Mehr hab ich gar nicht gesagt.
Aber dann. Ja, und dann.
Ja, bist du verrückt.
Ist das abgegangen.
Ein Sprühdurchfall in den YouTube-Kommentaren, literweise.
Beim Durchlesen hab ich direkt den Kopf eingezogen.
Wie kannst du dich Minderheiten gegenüber nur derart ignorant verhalten, stand da unter anderem – meistens etwas weniger nett formuliert, eher übergriffig, wie es Leute oft tun, die dein Bestes wollen …
Zu berücksichtigen, dass ich einer dieser Minderheiten angehöre, hätte ihre Argumentation freilich nur verwässert.
Dreitausend Kommentare innerhalb weniger Stunden. Die Kathi fand’s mega. Drama ist ihr Ding. Aber klar, wenn du schon mit Stalkern null Probleme hast, dann können dich Hater kreuzweise.
Ich war eher … enttäuscht. So viel Hass, da geht einem die Luft aus.
Aber die Frage bleibt natürlich: In Gottesnamen, wer ist denn das, der verfügt, dass wir jetzt alle mit Sternchen leben sollen?
Wer. Ist. Das? Wo. Sind. Die?
Natürlich werd ich solche Themen nie mehr öffentlich aufgreifen. Mit Stichhaltigkeit machst du dich nur angreifbar.
Macht’s, was ihr wollt’s.
Es klingelt an der Wohnungstür. Die Kathi, die gerade einen Scheinwerfer anschalten wollte, geht und öffnet dem Wolf.
Nach ein paar netten Worten und Küsschen links, Küsschen rechts, kommen die beiden ins Zimmer, und der im Gesicht ganz glänzende Wolf sagt: »Vikki, hi, wie schaut’s aus? Pack ma’s?«, ich nicke »logisch«, und wir drei stehen in Aufbruchsstimmung da. Rechts von mir die Stier*in Kathi, im Türrahmen ein Widder(*in), der Herr Wolf Wolff, und in der Mitte eine Steinbock*öckin, nämlich ich.
Kurze Stille. Während der wir alle etwas ratlos dreinblicken, weil der Wolf und die Kathi sich zwar gut leiden können, aber nie einen Gesprächseinstieg finden. Und als der Ältere und Hinzugekommene müsste ja eigentlich der Wolf der Höflichkeit halber noch schnell smalltalkmäßig was rauslassen.
Ich will das gerade in die Hand nehmen, als dem Wolf in seiner dicken Biker-Lederjacke doch noch einfällt, »Boah, ist das heiß hier drinnen« zu murmeln, und dabei überschneiden wir uns mit dem, was ich zum Besten gebe, nämlich: »Kathi, sei mir nicht bös, der Wolf und ich sollten los, warum genau, sag ich dir, wenn wir uns wiedersehen, okay?«
Für sie ist das völlig okay. »Ich muss sowieso auch bald weiter. Machen wir unsere neue Episode eben das nächste Mal«, flötet sie munter und schaut auf das Armband an ihrem Handgelenk, das so was wie eine Uhr ist – mit Pulsmesser und Vitalfunktionsparameteranzeige. Wurde ihr von einem jungen Start-up zur Verfügung gestellt, dessen Gründer beide neunzehn sind.
Höchste Zeit.
Ich stöckel in meinen halbhohen Schuhen schon Richtung Flur, der Wolf dreht sich in all seiner Breite beiseite, damit ich vorbeipasse, als die Kathi ruft: »Moment, Moment!«, und ich ahne, was jetzt kommt.
Keine zwölf Sekunden später stehen wir drei Arm in Arm nebeneinander, im engen Gang, und die Kathi hält ihr Handy einarmig in die Höhe, die Linse auf uns gerichtet, zählt uns ein, »Smile für Instagram! Wuhuu-uh! Eins, zwei …«, drückt auf »drei« ab, und das Selfie zeigt den Wolf mit aufgerissenem Kampfschrei-Mund und Teufelshörner-Handzeichen, mich in der Mitte, mit gestülpten Lippen und aufgerissenen Augen, und im Bild rechts die Kathi mit schrägem Kopf, eingesogenen Wangen und Peace-Symbol-Fingern.
Sauber.
Unser exemplarisches Porträt für den Istzustand der Menschheit. Nach meiner eigenen inneren Unruhe zu urteilen: die Krone der Erschöpfung.
Die Sonne brennt dem Wolf und mir auf die Schädel, als wir den Gehsteig vor meinem Wohnhaus betreten. Es ist noch nicht mal Mittag.
»Da lang«, sagt der Wolf und schlenkert seinen Kopf nackensteif nach links. Er trägt meine beiden Taschen, wegen denen ich antworte, dass das doch jetzt völliger Blödsinn sei.
»Wie sollen wir das Gepäck auf deine China-Harley schnallen, wenn ich selbst auch noch mit raufmuss.«
»Wird schon gehen, irgendwie.«
So ein Käse. Wenn der Nonsens zu groß wird, krieg ich immer so eine universelle Verzweiflung, stoßweise!
»Jetzt pass auf, wir lagern die Taschen in meinem Wagen zwischen, und wenn wir mit dem Achmet gesprochen haben, schauen wir weiter und holen sie dann ab oder fahren mit dem Auto weiter. Gut?«
»Gut«, erwidert der Wolf superkurz, nur so Gt, und ich zeige ihm, wo ich geparkt habe. Parkplatzsuche Innenstadt, nie unter zwanzig Minuten Lebenszeitverlust.
Dass wir zum Achmet fahren, haben wir eben im Treppenhaus beschlossen. Zackzack. Der Achmet ist unser erster Ansatzpunkt im Fall Toni Besenwiesler.
Wir deponieren beide Taschen in meinem Auto, laufen zurück zu Wolfs Bike, auf dem Weg kickt er noch einen auf dem Gehsteig abgestellten E-Roller um, halt so, weil ihn die echt aufregen, und, wenn du mich fragst, weil der E-Roller heute den Toni symbolisiert, weil der Toni, genau wie ein E-Roller, eine Unnötigkeit darstellt, die gar nicht erst wieder mühsam beseitigt werden müsste, wenn sie gar nicht erst existieren würde – und schon besteigen wir den breiten Ledersitz des in der Sonne brutzelnden Motorrads.
Der Wolf, in seiner vollen »Switch Blades«-Kluft und mit schwarzem Halbschalen-Stahlhelm, steuert die Riesenmaschine durch die Lindwurmstraße, Richtung Laim, ich hinten drauf, meine blonde Mähne weht im heißen Fahrtwind, mit meinen ärmelfreien Armen umklammere ich Wolfs Hüfte, wobei Bauchansatz treffender wäre.
Bevor ich einen Helm aufziehe, friert die Hölle zu. Ehrlich wahr. Irgendwo muss auch Schluss sein.
Ich schrei dem Wolf ins Ohr, gegen das Geknatter des Motors: »Bin gespannt, ob der Achmet uns helfen kann.«
»Oder will!«, kontert der Wolf völlig zu Recht, ohne auch nur einen Kilometer schneller zu fahren. Das könnte nämlich unseren tollen königlich-souveränen Eindruck zunichtemachen, den man mit 27 km/h auf einer ausgewiesenen Raserstraße hinterlässt.
Die anderen Verkehrsteilnehmer zischen nur so an uns vorbei. Gezwungenermaßen rechts, weil der Wolf ausschließlich links fährt. Logo.
»Mal schauen, ob der Achmet überhaupt schon weiß, dass der Toni ausgebrochen ist«, brülle ich unter den Rand von Wolfs Chopper-Helm.
Wegen der akustischen Verständlichkeit neigt der Wolf seinen Kopf leicht zur Seite, blickt aber immer vorbildlich geradeaus: »Wenn jemand auf dem aktuellen Stand ist, dann der Achmet.«
»Dreizehn Jahre sind eine lange Zeit. Vielleicht ist der Achmet inzwischen etwas entspannter, was die Sache angeht, und hilft uns rauszufinden, was damals wirklich geschehen ist. Aus aktuellem Anlass sozusagen!«, krächze ich, weil meine Stimmbänder vom Schreien schon ganz abgewetzt sind. Kann man sich das vorstellen? Weit, weit über ein Jahrzehnt ist der Toni nun weggesperrt gewesen und schiebt auch genauso lange schon seinen Hass auf mich – nur habe ich keinen blassen Schimmer, wie er darauf kommt, dass ich irgendein Komplott gegen ihn geschmiedet hätte, in das auch der Achmet irgendwie verwickelt gewesen wäre. Und wieso der Toni überhaupt seine eigene Frau entsorgt hat.
Das soll in Zusammenhang mit mir stehen?
Zugegeben, ganz abwegig ist es nicht, aber da muss man als Toni schon sehr zum Sich-was-Zusammenspekulieren neigen. Und wenn man sich dann so im Rumspinnen verliert, könnte man schlussfolgern, dass der eine oder andere Hinweis durch meine Hände gegangen ist, weil ich damals auch schon als Vertrauensfrau für die Münchner Kripo tätig war. Vertrauensfrau – weiß man, was damit gemeint ist?
Also V-Mann, das sagt einem was, vermute ich. Dann bin ich das weibliche Pendant dazu, eine V-Frau. Oder ist das nicht mehr politisch korrekt? Müsste es V-Männ*in heißen?
In gewisser Weise eine bezaubernde Wortschöpfung für eine Selbstschöpfung wie mich. Wobei, Vorsicht, nicht, dass sich da gleich wieder jemand auf den Schlips getreten fühlt. Irgendwo.
Jedenfalls werde ich immer wieder undercover eingesetzt, um im bunten Schattenreich der Münchner Szene, je nach Bedarf, ein paar Insider-Auskünfte einzuholen.
Wie das ausschaut? Mal ein Beispiel: Mein letzter Fall war der Promizahnarzt Dr. med. Henry Brezner. Promizahnarzt! Weiß man gleich Bescheid. Stümper mit Schickeria-Neurose. Regionalmedien-Kasper halt. Und dieser Dr. Brezner, weil ich Profi bin, nenn ich ihn im Folgenden nur H.B., wegen dem Anspruch aufs Persönlichkeitsrecht, auch wenn’s mir jetzt aus Versehen schon im Ganzen rausgerutscht ist. Dieser Dr. H.B. hat sich jeden zweiten Sonntag im Hotel Bayerischer Hof mit drei Prostituierten eine Auszeit gegönnt. Entspannung vom Bohren und »Mund bitte weit öffnen«-Sagen.
Im Zimmer 507 gab’s zu diesem Zwecke eben regelmäßig körperlichen Austausch und vor allem eine saftige Kokserei samt sonstigen Substanzen. Und die Polizei hegte ein berechtigtes Interesse, über den H.B. wiederum einen gewissen Kokain-Großdealer zu überführen. Nämlich den Elmar Schütte. Aaah! Schon wieder! Also den E.S.