Gullivers Reisen - Jonathan Swift - E-Book

Gullivers Reisen E-Book

Jonathan Swift

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Beschreibung

Nach Liliput, ins Land der zwergenhaften Liliputaner - Nach Brobdingnag, ins Land der Riesen - Nach Laputa, Balnibarbi, Glubbdubdrib, Luggnagg und Japan - Ins Land der Houyhnhnms und Yahoos Gullivers Reisen (englisch Gulliver's Travels) ist ein großer satirischer Roman des irischen Schriftstellers, anglikanischen Priesters und Politikers Jonathan Swift. In der Originalfassung besteht der Roman aus vier Teilen und wurde 1726 unter dem Titel Travels into Several Remote Nations of the World in Four Parts By Lemuel Gulliver, first a Surgeon, and then a Captain of Several Ships veröffentlicht. Deutsche Ausgabe des Klassikers.

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Jonathan Swift

Gullivers Reisen

Berlin 1910

idb

ISBN 9783962242213

Reisen in mehrere ferne Nationen der Welt in vier Teilen von Lemuel Gulliver, erst Arzt, dann Kapitän mehrerer Schiffe

I.

Pope, Gay, Arbuthnot und Swift bildeten im »Scriblerus Club« des Jahres 1714 in London ein »Viermännerkomitee« des Witzes; sie kamen auf den Gedanken, gemeinsam das Leben des Martinus Scriblerus zu schreiben; auch Schriften dieses imaginären Herrn sollten verfasst werden. Er war gedacht als eine Art Personifikation all dessen, was an der damaligen Gelehrsamkeit lächerlich war. Ohne Zweifel war Swift bei diesem gemeinsamen Werk die Aufgabe zuerteilt worden, die Reisen des Scriblerus zu beschreiben; aber der Plan als solcher scheiterte, weil der Klub sich auflöste und die Freunde sich in alle vier Winde zerstreuten. Nur die »Memoiren des Scriblerus«, in deren Autorschaft vor allem Arbuthnot und Pope sich teilten, erschienen 1741. Jene Reisen werden im 13. Kapitel erwähnt, und die Stelle beweist, dass in diesem Plan der Keim zu unserm Buch gegeben war.

Um das Jahr 1720 etwa nahm Swift den alten Gedanken wieder auf. In Briefen an Swift ist von ihm die Rede; und Miss Vanhomrigh (siehe Einleitung zum 3. Band der »Prosaschriften«) liest Teile des Manuskripts.

Man beachte, dass dies die Zeit ist, um die Swift in Irland seinen Riesenkampf für die Nationalität eines geknechteten Volks begann und führte: vielleicht liegt darin eine Erklärung der ungeheuren Sachlichkeit, mit der sich jenes Geplänkel auswuchs zum Duell um eines Einzelnen, den nichts als Beifall stützte, wider ein Ministerium und ein ganzes Volk. Erbitterung, Menschenhass und zynische Verachtung schlugen in diesem Vulkan, als den wir Swift heute sehen, immer höhere Wogen und fanden schliesslich ihren Ausfluss, ihren verheerenden Durchbruch in diesem Buch, das dasteht als ein Riesenmonument jener drei Empfindungen.

In den folgenden Jahren werden die Anspielungen in der Korrespondenz des Autors seltener. Aber 1725 begannen sie von neuem. Im Juli 1726 schreibt Bolingbroke (St. John) einen Brief an Swift, Pope und Gay als an die »drei Yahoos von Twickenham«.

Kaum aber war das Buch am 28. Oktober 1726 erschienen, so beginnt das Verleugnen. Eben die Freunde, die durch ihre Briefe bewiesen hatten, dass ihnen selbst Einzelheiten des Werks vom Verfasser mitgeteilt worden waren, ergehen sich nun in Vermutungen über die Autorschaft. Swift selber schreibt im November an Pope:

»Ich habe eben einen Brief der Mrs. Howard beantwortet, der in so mystischen Wendungen geschrieben ist, dass ich den Sinn niemals herausbekommen hätte, wäre mir nicht gleichzeitig ein Buch zugegangen, das sich »Gullivers Reisen« nennt, und von dem auch Sie in Ihrem Brief soviel reden. Ich habe das Buch gelesen und finde im zweiten Band mehrere Stellen, die offenbar zusammengeflickt und geändert sind; ich müsste mich sehr irren, oder der Stil wird da ein ganz anderer. Usw.«

Es war wohl schwerlich allein die Furcht vor den gefährlichen Folgen, die Swift zu dieser Heimlichkeit trieb. Ein Autor, der »Isaac Bickerstaff«, »M. B.«, den Tuchhändler, und »Samuel Gulliver« erfand und zu individuellen Persönlichkeiten ausgestaltete, um ihnen seine Werke in die Taschen zu schieben, muss eine groteske Freude darin gefunden haben, unbekannt den Erfolg zu kosten und nur den Beifall seiner Freunde zu geniessen.

Aber jener zweite Passus des oben zitierten Briefes deutet schon darauf hin, dass nicht der treue Text gebracht worden war. Wie ging das zu?

Von allen Büchern, die Swift schrieb, ist dieses das einzige, das seinem Verfasser nachweisbar Geld einbrachte. Nun schreibt Swift in einem Briefe vom 12. Mai 1735 an Pulteney (s. »Prosaschriften« Bd. I, S. 337): »Ich habe nie durch irgend etwas, was ich geschrieben habe, einen Heller verdient, ausgenommen vor etwa 8 Jahren, und das lag nur an Herrn Popes klugen Verhandlungen in meinem Interesse.« Also war Pope derjenige, der sich unter dem Pseudonym von Richard Sympson verbarg [*] .

Die kurze Korrespondenz zwischen Pope und Motte, dem Verleger, die diese Verhandlungen beleuchtet, folge hier in wörtlicher Übersetzung.

London, den 8. August 1726.

Geehrter Herr!

Mein Vetter, Herr Samuel Gulliver, hat mir vor einiger Zeit ein Manuskript seiner »Reisen« anvertraut; was ich Ihnen schicke, ist ein Viertel, denn ich habe sie, wie Sie aus meiner Vorrede an den Leser erkennen werden, stark gekürzt. Ich habe sie vielen Leuten von grosser Urteilskraft und trefflichem Verstand gezeigt, und sie sind überzeugt, dass sie einen guten Verkauf erzielen werden. Und obgleich einige Teile dieses und der folgenden Bände an ein oder zwei Stellen als ein wenig satirisch gelten können, so sind sie sich doch darüber einig, dass sie keinen Anstoss erregen werden; aber darüber müssen Sie selbst urteilen und den Rat Ihrer Freunde einholen; und wenn dann Sie oder Ihre Freunde andrer Meinung sind, so wollen Sie es mich wissen lassen, sobald Sie diese Blätter zurückgeben; ich erwarte, dass das in spätestens drei Tagen geschieht. Das gute Bild, das man mir von Ihnen entworfen hat, treibt mich, ein so wertvolles Objekt vertrauensvoll in Ihre Hände zu legen; und ich hoffe, Sie werden mir keinen Grund geben, es zu bereuen; in dieser Zuversicht wünsche ich auch, dass Sie diese Blätter keine Sekunde aus den Augen lassen.

Da der Druck dieser Reisen Ihnen wahrscheinlich grossen Verdienst eintragen wird, so erwarte ich, als Bevollmächtigter meines Freundes und Vetters, dass Sie ein gebührendes Honorar dafür zahlen werden, denn ich weiss, dass der Verfasser den Verdienst für den Nutzen armer Seeleute bestimmt, und man hat mir geraten, Ihnen zu sagen, dass 200 Pfund die niedrigste Summe sind, die ich für ihn annehmen werde; sollte sich aber herausstellen, dass der Verkauf meiner Erwartung und meinem Glauben nicht entspricht, so soll alles, was, selbst nach Ihrer eigenen Angabe, als zuviel gezahlt gelten kann, treulich zurückgezahlt werden.

Vielleicht werden Sie finden, dass ich einem Kaufmann gegenüber merkwürdig vorgehe; doch da ich mit einem so grossen Vertrauen Ihnen gegenüber, den ich doch nie auch nur gesehen habe, beginne, so scheint mir, als sei es nicht zuviel verlangt, dass Sie mir ein gleiches Vertrauen entgegenbringen; wenn Sie es also nach drei Tagen der Lektüre und Überlegung für gut befinden, meinem Vorschlag zuzustimmen, so können Sie mit dem Druck beginnen; und die folgenden Teile sollen Ihnen nacheinander in weniger als einer Woche zugehn; vorausgesetzt, dass Sie unmittelbar, nachdem Sie sich zum Druck entschlossen haben, innerhalb dreier Tage eine Bankanweisung über zweihundert Pfund, verpackt in Form eines Paketes, eben der Hand übergeben, aus der Sie dieses erhalten werden; der Mann wird genau in der gleichen Weise am Donnerstag, das heisst, am 11. des laufenden, präzise 9 Uhr, zu Ihnen kommen.

Wenn Sie dem Vorschlag nicht zustimmen, so geben Sie diese Papiere dem Mann, der am Donnerstag kommen wird, zurück.

Wenn Sie sich dafür entscheiden, die Papiere zurückzugeben, so machen Sie weiter keinen eignen Vorschlag, sondern schreiben Sie nur auf einen Zettel, dass Sie mein Angebot nicht annehmen.

Ich verbleibe, geehrter Herr, Ihr ergebner Diener R. Sympson.

PS. Ich möchte, dass beide Bände zugleich herauskommen und spätestens bis Weihnachten erscheinen.

Geehrter Herr!

Ich gebe Ihnen Ihr Manuskript mit vielem Dank zurück und versichere Ihnen, dass ich mich, seit es in meiner Hut war, der guten Meinung von meiner Zuverlässigkeit, die Sie aussprachen, würdig gezeigt habe; aber Sie haben mein Vermögen stark überschätzt, wenn Sie glaubten, ich könne in den Hundstagen (der totesten Zeit des Jahres) in so kurzer Frist eine so beträchtliche Summe, wie 200 Pfund es sind, hinterlegen. Indem ich die Papiere dem Überbringer zurückgebe, stelle ich die Lage wieder her, in der sie waren, ehe ich sie sah; wenn Sie aber meinem Versprechen trauen oder irgendeine Sicherheit, die Sie sich denken oder wünschen können, annehmen wollen, dafür, dass das Geld in sechs Monaten gezahlt wird, so will ich mich jedem Ausweg, den Sie in diesem Sinne vorschlagen mögen, fügen. Inzwischen will auch ich Ihrer Ehrenhaftigkeit und Ihrem Versprechen vertrauen, dass zurückgezahlt werden soll, was den Wert des Erfolges übersteigen mag; genau wie Sie sich auf gebührende Honorierung verlassen können, wenn der Erfolg der Erwartung entspricht oder sie übersteigt.

Auf Grund dieser Bedingungen erfolgte der Abschluss. Am 27. April 1727 erhielt dann Motte folgenden, wahrscheinlich von Swift selbst in verstellter Handschrift geschriebenen Brief:

Herrn Motte!

Ich schicke Eingeschlossenes durch einen Freund, damit es Ihnen übergeben werde. Wollen Sie sich in das Haus des Erasmus Lewis, Cork Street, hinter Burlington House, begeben und ihm sagen, Sie kämen in meinem Auftrag; besagtem Herrn Lewis habe ich Vollmacht erteilt, über meines Vetters Gulliver Buch zu unterhandeln; was er und Sie abmachen, dem werde ich beistimmen; in diesem Sinne habe ich ihm geschrieben. Sie suchen ihn am besten frühmorgens auf.

Ich verbleibe Ihr ergebener Diener Richard Sympson.

Auf demselben Blatt folgt dann die Notiz:

London, den 24. Mai 1727. Ich bin vollauf befriedigt. E. Lewis.

Durch dieses Verfahren bei der Publikation ist die Möglichkeit der Verstümmelung zur Genüge erklärt. Einige weitere Zitate werden diesen Punkt noch deutlicher beleuchten. Charles Ford, ein Freund Swifts, schrieb schon am 3. Januar 1727 aus Dublin an Motte:

Geehrter Herr!

Ich habe hier die »Reisen des Kapitäns Gulliver« gekauft, die Sie herausgegeben haben, sowohl weil ich viel von ihnen hörte, wie auch infolge eines Gerüchts, dass ein Freund von mir im Verdacht steht, der Verfasser zu sein. Ich habe das Buch zweimal mit grosser Sorgfalt und unter vielem Vergnügen durchgelesen; zu meinem Bedauern muss ich Ihnen sagen, dass es von groben Druckfehlern wimmelt; ich schicke Ihnen eine Liste derer, die ich finden konnte, nebst den Verbesserungen, zu denen der klare Sinn führen muss; ich hoffe, Sie werden sie berücksichtigen, wenn Sie eine neue Ausgabe veranstalten.

Ich habe die grösste Hochachtung vor dem Andenken der verstorbenen Königin, und ich freue mich stets, wenn andre desgleichen bekunden; aber der Abschnitt, der sich auf sie bezieht, scheint mir so sehr nebens Ziel zu treffen, dass ich nicht glauben kann, er sei von demselben Verfasser geschrieben. Ich wollte, Sie und Ihre Freunde erwögen das, und er bliebe in der nächsten Ausgabe fort. Denn er irrt peinlich sogar in den Tatsachen, da alle Welt weiss, dass die Königin während ihrer ganzen Regierung stets durch Vermittlung des einen oder andern Ministerpräsidenten regierte [*] . Auch sehe ich nicht, dass der Verfasser irgendwo der Schmeichelei ergeben wäre oder sich überhaupt irgend einem Fürsten oder Minister günstig zeigte.

Ich teile Ihnen das aus dem grössten Wohlwollen für den Verfasser und Sie heraus mit, und ich hoffe, Sie werden mich verstehen, der ich verbleibe,

geehrter Herr, Ihr treuer Freund und Diener Charles Ford.

Im Jahre 1733, als Faulkner seine vierbändige Dubliner Ausgabe von Swifts Werken vorbereitete und offen zugab, dass er sie auch gegen Swifts Wunsch drucken würde, schrieb Swift im Juni an Ford: »Sie wollen sich gefälligst entsinnen, wie sehr ich mich darüber beklagte, dass Motte einen seiner Freunde (ich vermute, es war Herr Tooke, ein jetzt verstorbener Geistlicher) nicht nur allerlei streichen liess, was seiner Meinung nach Anstoss erregen konnte, sondern auch vieles hinzufügen, was dem Wesen, dem Stil und der Absicht des Verfassers widersprach ...« In einem andern Brief sagt er: »Vielen Stellen, die man mildern wollte, fehlt der ganze Stachel. Der Stil ist gemein, der Humor vernichtet, der Inhalt fade.«

Faulkners Ausgabe widersprach in jeder Hinsicht Swifts Wünschen. Er wollte nichts mit ihr zu tun haben. Aber als Gulliver gedruckt werden sollte, konnte er es doch nicht übers Herz bringen, ihn weiter so umlaufen zu lassen, wie Motte ihn herausgegeben hatte. Denn wenn auch die kleinen Druckfehler Fords oben zitiertem Brief gemäss verbessert worden waren, so entsprachen viele Stellen doch längst noch nicht Swifts Absicht. Nun liess Ford ein Exemplar mit Schreibpapier durchschiessen und stellte den Text wieder her. Dieses Exemplar, das wohl nicht sehr übersichtlich war (siehe Fords Brief vom 6. Nov. 1733), sollte auf Swifts Wunsch Faulkners Druck zugrunde gelegt werden, und so geschah es angeblich; aber Faulkners Ausgabe war trotzdem kaum korrekter als die Mottes: das ist leicht nachweisbar, da Ford sein durchschossenes Exemplar herstellte nach einem breitrandigen Exemplar der ersten Ausgabe; in dieses hatte er nach eigner Anweisung Swifts handschriftlich alles eingetragen, was geändert werden sollte, und dieses breitrandige Exemplar ist erhalten (Forster Collection, South Kensington).

Sonderbarerweise ist aber bis zum Jahre 1905 selbst in England keine einzige Ausgabe erschienen, die die authentischen Verbesserungen Fords, die durch mehrere Briefe Swifts beglaubigt werden, konsequent benutzt hätte. Selbst Sir Walter Scott hat die grosse Stelle im 3. Kap. der Reise nach Laputa (von »About three years ...« bis »... change the government«) nicht an ihren Platz gerückt. 1905 veröffentlichte Temple Scott seine Ausgabe, die den Gulliver zum ersten Mal so brachte, wie Swift ihn geschrieben hat. Die vorliegende deutsche Ausgabe bringt im Jahre 1909 diesen ersten korrekten und vollständigen Text (von den hunderttausend »Bearbeitungen« ganz zu schweigen) als überhaupt erste vollständige Übersetzung eines in der ganzen Welt berühmten Buches in irgend eine fremde Sprache! Nil admirari ...!

II.

»Gulliver ist in jedermanns Händen.« »Ich gratuliere Ihnen zunächst zu dem, was Sie Ihres Vetters wundervolles Buch nennen, das schon jetzt »publica trita manu« ist, und ich prophezeie, dass es dereinst die Bewunderung aller Menschen sein wird.« Das sind zwei Zeugnisse über den Erfolg, die aus den ersten drei Wochen nach der Veröffentlichung stammen. Der Erfolg war durchschlagend und ganz spontan. Er glich allen Erfolgen, die Swift als Schriftsteller in solcher Fülle einernten konnte, aber er übertraf sie durch seinen Umfang. Die kristallklare, unvergleichlich logische Sprache, durch die die ungeheure Plastik erreicht wurde, nahm jedermann gefangen. Man las Gulliver vom Hof herab bis zu den Ladenbesitzern und kleinen Händlern. In London wie in Dublin folgte eine Ausgabe der andern. Und fast sofort begann die Tätigkeit der Übersetzer. Im Januar 1727 erschien die erste französische Ausgabe im Haag. Im Februar begann der Abbé des Fontaines seine Übertragung, die noch im Frühjahr in Paris erschien. Im Sommer folgte eine holländische Übertragung, die gleichfalls im Haag erschien. So begann der Siegeslauf dieses einzigen Werks. Und doch lief es hinkend durch die Welt. Bezeichnend für alles, was folgen sollte, ist die Ausgabe des Fontaines.

Des Fontaines schickte Swift im Juli 1727 ein Exemplar der zweiten Auflage seiner Arbeit und schrieb dazu: »Nicht alles, was in England gefällt, hat auch hier denselben Reiz; sei es, weil die Sitten verschieden sind; sei es, weil die Anspielungen und Gleichnisse, die in einem Lande verständlich sind, im andern unverständlich werden; sei es schliesslich, weil der Geschmack der beiden Nationen nicht der gleiche ist. Ich wollte den Franzosen ein Buch geben, das für sie passt; das hat mich zu einem freien und wenig treuen Übersetzer gemacht. Ich habe mir sogar erlaubt, in dem Masse hinzuzufügen, in dem Ihre Phantasie die meine erwärmte.«

Das blieb das Schicksal des ganzen Werks in der ganzen Welt. Der heutige Herausgeber hat vielleicht zwei- bis dreihundert Übersetzungen in der Hand gehabt, und keine war treu. Swifts Antwort an Des Fontaines rechtfertigt vielleicht diesen jüngsten Versuch, der kein andres Verdienst beansprucht als das, dem Wort des Autors nach bestem Vermögen Schritt für Schritt zu folgen. »Wenn andre Übersetzer dem Werk,« so schreibe er in seinem französischen Antwortbrief, »das sie übersetzen, übertriebenes Lob spenden, so liegt das vorwiegend daran, dass sie glauben, ihr eigner Ruf hängt gewissermassen von dem der Autoren ab, die sie sich erwählen. Aber Sie,« sagt er, »Sie spürten die eigene Kraft, die Sie über solche Vorsichtsmassregeln erhebt. Da Sie imstande waren, ein schlechtes Buch zu verbessern – eine Aufgabe, schwieriger noch als die, ein gutes zu schreiben – so scheuen Sie sich nicht, der Öffentlichkeit die Übersetzung eines Buches zu geben, das voller Possen, Dummheiten und Kindereien steckt!« [*]

Wie es in jenen Zeiten so oft ging (siehe das Beispiel Hollands), wurde die französische Ausgabe das Muster, die Grundlage vieler, wenn nicht aller folgenden. »Es gibt,« sagt Don Ramon Maximo Spartal, der erste spanische Übersetzer des Werks, »Übersetzungen, die dem Original vorzuziehen sind. Die französische Ausgabe dieses Werks geniesst ein solches Vorrecht, und ich werde mich sehr hüten, das Original getreu wiederzugeben, obwohl ich das Englische ausgezeichnet spreche.« Es ist der Schneider, der seinem Kunden einen Buckel ausstopft, weil er den Rock nicht ohne Buckel machen kann, und der nun versichert, der Rock sei ohne Buckel leichter zu machen, aber er sehe nicht halb so gut aus.

In England selber machte sich bald eine Gegenströmung bemerkbar, die sich zwar allmählich immer schärfer gegen einzelne Teile des Werks richtete, aber mit dieser Einschränkung vielleicht niemals stärker war als heute. Von vornherein richtete sie sich gegen das Moralische, gegen die misanthropische Tendenz des Ganzen. »Welche Beredsamkeit haben sie aufgewandt, um den Nachweis zu führen, dass sie Bestien sind!« schreibt eine grosse Dame voll Entrüstung im November 1727. Dann beginnt der Streit um die Frage nach der Originalität. Daraus, dass Swift das eine oder andre aufgreift, handelnd wie alle Grossen, wie Shakespeare, Plautus, Goethe, wird gefolgert, dass er selbst ein Nichts sei. Andre winden sich unter den blutigen Hieben, unter denen ihre Haut zerbirst. Und das schwillt an: Scott findet: »Die Reise zu den Houyhnhnms ist unbestreitbar der gemeinste und unwürdigste Teil des ganzen Werks.« (Wir sehen heute in ihr den genialsten.) Und G. Ravenscroft Dennis, der letzte Herausgeber Gullivers, sagt: »Die Satire richtet sich hier (nämlich gleichfalls in der Reise zu den Houyhnhnms) gegen die menschliche Natur selber, und Swift hat in seinem krankhaften Ringen, die Menschheit zu erniedrigen, jedes Gesetz der Wahrscheinlichkeit verletzt und jeden Kanon der Schicklichkeit durchbrochen.« (Dass die Satire sich gegen die menschliche Natur als solche richtet, bedeutet für uns keinen Einwand; und wir bewundern, rein artistisch betrachtet, nichts so sehr, wie jene ungeheure Einheit der Vision, deren Folge gerade die höchste Wahrscheinlichkeit in allen Details ist.)

Wir müssen fragen: Was wollte Swift? Dann: Hat er es erreicht?

Was er wollte, hat er selber deutlich ausgesprochen. »Das Hauptziel, das ich mir bei all meinen Arbeiten setze,« schreibt er im September 1725 an Pope, »ist eher das, die Welt zu ärgern, als sie zu unterhalten, und wenn ich das erreichen könnte, ohne mir an meinem Leibe oder an meinem Vermögen zu schaden, so wäre ich der unermüdlichste Schriftsteller, den Sie je gesehn haben ... Wenn Sie an die Welt denken, so geben Sie ihr auf meine Bitte noch einen Hieb. Ich habe stets alle Nationen, Berufe und Gemeinschaften gehasst, und meine ganze Liebe gilt Individuen. Ich hasse zum Beispiel das Geschlecht der Juristen, aber ich liebe den Rechtsanwalt Soundso und den Richter Soundso; und ebenso mit den Ärzten – von meinem eignen Gewerbe will ich nicht reden – den Soldaten, den Engländern, den Schotten, den Franzosen und allen andern. Aber im Prinzip hasse und verachte ich jenes Vieh namens Mensch, obgleich ich Johann, Peter, Thomas usw. von Herzen liebe. Das ist das System, nach dem ich mich seit vielen Jahren gerichtet habe, gezählt habe ich sie nicht, und ich denke es weiter zu tun, bis ich mit ihnen fertig bin. Ich habe Stoff gesammelt für einen Traktat, der die Definition eines vernünftigen Tiers widerlegt und beweist, dass es nur rationis capax ist. Auf dieser grossen Grundlage des Menschenhasses ist, wenn auch nicht in Timons Manier, der ganze Bau meiner »Reisen« errichtet; und ich werde nicht eher geistige Ruhe geniessen, als bis alle ehrlichen Menschen meiner Meinung sind.«

Das Swifts Erklärung. Hat der Autor erreicht, was er wollte? Soweit es sich um sein Werk handelt, zweifellos; aber nicht im geringsten, soweit es sich um die Wirkung des Werkes handelt. Vielleicht besagt das nicht viel mehr, als dass seine Zeit noch nicht gekommen ist.f

»Das Buch,« sagt Dennis, »hat seine Popularität eher trotz als wegen seiner Satire bewahrt.« Auch die Erwachsenen haben es als Kinderbuch gelesen; und eben deshalb dürfte es nötig sein, mit immer grösserem Nachdruck auf die Bücher 3 und 4 des Werks hinzuweisen; den Schwerpunkt des ganzen zu verschieben; dahin, wohin der Verfasser ihn mit wunderbarer Kunst gelegt hat. Ein kurzer Blick auf den geistigen Inhalt des Ganzen wird dies zeigen.

Ohne Zweifel ist die Reise nach Lilliput in ihrer Satire am engsten begrenzt. Nur die Übertragung menschlicher Dinge in einen winzigen Massstab richtet sich gegen den Dünkel des Menschen als solchen. Im übrigen sind ganz bestimmte Verhältnisse, Regierungssysteme, Fürstenhöfe und dergleichen gemeint. Wenn man in der Schilderung des Kaisers von Lilliput, der im ganzen etwa 6 Zoll hoch ist, liest: »Er ist fast um die Breite meines Fingernagels grösser als irgendeiner an seinem Hofe; und das allein genügt, um den Zuschauern ehrfürchtige Scheu einzuflössen. Seine Züge sind kräftig und männlich; er hat eine Habsburgerlippe und eine gebogene Nase usw.« – so liegt zweifellos ein wundervoller Humor darin, aber das Ganze ist fast gutmütig: man lacht, aber man lacht versöhnlich.

Die Reise nach Brobdingnag gibt das Gegenstück. Hier werden Ideale aufgestellt: ein utopistischer Hauch durchweht das Werk. Und die politische Satire auf europäische Verhältnisse wird direkter, weil sie sich im einfachen Bericht über die in Gullivers Heimat bestehenden Verhältnisse ausspricht, statt im Spiegel der Schilderung imaginärer Wesen wie der Liliputaner. Aber Stellen wie jene oben zitierte erhalten schon eine seltsame Beimischung von Bitterkeit. Man lacht, aber man lacht voll Mitleid. Da zum Beispiel, wo der König Gulliver in die Hand nimmt, sich an seinen Minister wendet und bemerkt, wie verächtlich menschliche Grösse doch sei, da so winzige Insekten sie nachäffen könnten. »Und doch,« sagte er, »wollte ich wetten, dass diese Geschöpfe ihre Titel und Ehrenauszeichnungen haben; sie entwerfen sich kleine Nester und Höhlenbauten, die sie Häuser und Städte nennen; sie spielen eine Rolle in ihrer Kleidung und ihrem Aufputz; sie lieben und fechten und streiten, betrügen und verraten.«

Dann das dritte Buch mit seiner beissenden Satire auf jede menschliche Leistung. Vielfach verfehlt, stumpfes Produkt blossen Hasses, versagend. Als Ganzes ein wenig zerflatternd, nicht genügend zusammengeschlossen; künstlerisch ungebändigt. Aber in Einzelheiten ganz herrlich und wundervoll: die Büchermaschine: man meint, eine Satire auf unsre »Breviere«, »Auswahlen«, »populären Darstellungen«, eine Satire auf Bölsche und seine sämtlichen Geistes- und Gesinnungsgenossen zu lesen – die Sprachverkürzer und Erfinder der Dingsprache: trifft das nicht Volapük und Esperanto und jeglichen solchen Unfug? Vor allem aber, gleich jenen Stellen, die ich oben anführte, riesenhaft emporwachsend über die ganze Umgebung das Gemälde der Struldbrugs, der Menschen, die niemals sterben: man lacht nicht mehr, einen überläuft ein Schauder.

Und alles gipfelt in dem ungeheuren Bild von den Yahoos: dem Gegenspiel zum Faust: der einzigen Herabsetzung menschlicher Natur, die aus wirklicher Überlegenheit heraus entstanden ist. Es gibt in arabischen Märchen Schilderungen von Länderstrecken, die man nur zu betreten braucht, um von unnennbarem Grauen geschüttelt zu werden; und es gibt dort Menschen, die irgend etwas erlebten, wodurch sie Lachen und Freude verlernten. Wer dieses Land der Houyhnhnms wirklich betritt, den schüttelt solches Grauen; wer hier Swift wirklich erlebt, der verlernt das Lachen und die Freude; und einen Teil dieser Wirkung wird jeder ein wenig ernste Mensch spüren: so gewaltsam ist hier die Wirkung der künstlerischen Geschlossenheit; so zwingend ist die Wirkung dieses Teils, der das Ganze wunderbar krönt.

Drei Namen seien zum Schluss genannt, deren Trägern der gegenwärtige Herausgeber für ihre Hilfe ein Wort des Dankes zu sagen hat: Sir Walter Scott, Dr. W. Cooke Taylor und G. Ravenscroft Dennis.

Der Herausgeber an den Leser.

Der Verfasser dieser Reiseschilderungen, Herr Lemuel Gulliver, ist seit alters mein vertrauter Freund; wir sind auch auf mütterlicher Seite ein wenig verwandt. Vor etwa drei Jahren kaufte Herr Gulliver, da er des Ansturms Neugieriger, die ihm zu Redriff ins Haus liefen, müde war, in der Nähe von Newark in Nottinghamshire, seiner Heimat, ein kleines Stück Land mit einem bequemen Hause, in dem er jetzt zurückgezogen, doch von seinen Nachbarn wohl geachtet, wohnt.

Obgleich Herr Gulliver in Nottinghamshire, wo sein Vater lebte, geboren wurde, so habe ich doch aus seinem eignen Munde gehört, dass seine Familie aus Oxfordshire stammte; das wurde mir bestätigt, als ich auf dem Kirchhof zu Banbury, in eben jener Grafschaft, mehrere Gräber und Grabdenkmäler der Gullivers fand.

Ehe er Redriff verliess, vertraute er mir die folgenden Papiere an, indem er mir erlaubte, über sie zu verfügen, wie es mir gut scheinen mochte. Ich habe sie dreimal sorgfältig durchgelesen; der Stil ist sehr klar und einfach; und der einzige Tadel, den ich auszusprechen habe, ist der, dass der Verfasser, nach Art der meisten Reisenden, ein wenig zu ausführlich ist. Das Ganze macht den Eindruck handgreiflicher Wahrheit; und der Verfasser zeichnet sich denn auch in der Tat so sehr durch seine Wahrhaftigkeit aus, dass man unter seinen Nachbarn in Redriff sprichwörtlich zu sagen pflegte, wenn jemand etwas behauptete, es sei so wahr, als hätte Gulliver es gesagt.

Auf den Rat mehrerer würdiger Leute, denen ich diese Papiere mit des Verfassers Erlaubnis unterbreitet habe, unternehme ich es jetzt, sie in die Welt hinaus zu schicken, und ich hoffe, sie werden wenigstens eine Zeit lang für unsere jungen Adligen eine bessre Unterhaltung abgeben als die gewöhnlichen Sudeleien über Politik und Partei.

Dieser Band wäre mindestens doppelt so stark geworden, wenn ich mich nicht vermessen hätte, zahllose Stellen, die sich auf Wind- und Flutverhältnisse sowie auf die Deklination der Nadel und die Fahrtrichtung während der verschiedenen Reisen bezogen, zu streichen; ebenso habe ich die peinlich genaue Schilderung der Handhabung des Schiffes bei Stürmen, die im Stil der Seeleute geschrieben war, und die Angaben über Länge und Breite gestrichen. Ich habe Grund zu der Besorgnis, dass Herr Gulliver damit ein wenig unzufrieden sein wird: aber ich hatte mir vorgenommen, das Werk so sehr wie möglich dem allgemeinen Verständnis der Leser anzupassen. Wenn mich jedoch meine Unwissenheit in Dingen der Seefahrt dazu verführt haben sollte, ein paar Fehler zu begehen, so trage ich allein die Verantwortung; und wenn irgend ein Reisender auf das Werk in seiner Gesamtheit neugierig sein und es so zu sehn wünschen sollte, wie es aus der Hand des Verfassers kam, so will ich ihm gern zu Willen sein.

Über weitere Einzelheiten aus des Verfassers Leben wird der Leser in den ersten Seiten des Buches Aufklärung finden.

Richard Sympson.

Ein Brief von Kapitän Gulliver an seinen Vetter Sympson.

Ich hoffe, Sie werden bereit sein, wenn man Sie auffordert, öffentlich einzugestehn, dass Sie mich durch Ihr heftiges und häufiges Drängen veranlassten, einen sehr zusammenhangslosen und ungenauen Bericht meiner Reisen zu veröffentlichen; und zwar mit dem Rat, einen jungen Herrn von einer der Universitäten in Sold zu nehmen, damit er ihn ordnete und den Stil verbesserte, wie es mein Vetter Dampier auf meinen Rat mit seinem Buch »Eine Reise um die Welt« getan hat. Aber ich entsinne mich nicht, dass ich Sie ermächtigt hätte, zu erlauben, dass man etwas ausliess, und noch viel weniger, dass man etwas einflickte. Was also die Einschiebsel angeht, so verleugne ich hiermit alles dergleichen, besonders einen Absatz über Ihre Majestät, die verstorbene Königin Anna frommen und glorreichen Angedenkens, wiewohl ich sie mehr achtete und verehrte als irgend jemand aus dem Menschengeschlecht. Aber Sie, oder Ihr Interpolator hätten bedenken müssen, dass es, wie es nicht in meiner Art lag, so auch nicht anständig war, in Gegenwart meines Herrn, des Houyhnhnm, irgend ein Tier unsrer Art zu preisen; und zudem war die behauptete Tatsache falsch; denn meines Wissens (und ich war während eines Teils der Regierung Ihrer Majestät in England) regierte sie sehr wohl mit Hilfe eines ersten Ministers; ja, sogar nacheinander mit Hilfe von zweien, von denen der erste Lord Godolphin, der zweite aber Lord Oxford [*] war; so dass Sie mich etwas sagen lassen, was nicht der Fall ist. Ebenso haben Sie in dem Bericht über die Akademie der Pläneschmieder und an mehreren Stellen meiner Rede an meinen Herrn, den Houyhnhnm, entweder wesentliche Dinge ausgelassen, oder sie so zerstückelt und verändert, dass ich mein eignes Werk kaum wieder erkenne. Als ich Ihnen vor einiger Zeit etwas dergleichen in einem Brief andeutete, beliebte es Ihnen, zu erwidern, Sie hätten gefürchtet, Anstoss zu erregen; die Leute am Ruder überwachten die Presse sehr genau und könnten gar leicht alles, was aussähe wie eine »Anspielung« (so, glaube ich, nannten Sie es), nicht nur auslegen, sondern auch bestrafen. Aber bitte, wie konnte etwas, was ich vor so vielen Jahren und in einer Entfernung von etwa fünftausend Meilen, unter einer andern Regierung gesprochen habe, auf irgendwelche von den Yahoos bezogen werden, die jetzt die Herde regieren sollen, zumal ich damals so wenig daran dachte und so wenig fürchtete, je unglücklich genug zu werden, um unter ihnen leben zu müssen? Habe nicht vielmehr ich am ehesten Grund, mich zu beklagen, da ich sehn muss, wie eben diese Yahoos sich in einem Gefährt von Houyhnhnms ziehen lassen, als wären diese die Bestien und jene die vernünftigen Geschöpfe? Und wahrhaftig, dass ich einen so ungeheuerlichen und abscheulichen Anblick vermeiden wollte, war einer der Hauptgründe dafür, dass ich mich hierher zurückzog.

Soviel schien mir angebracht, Ihnen in bezug auf Sie selbst und auf das Vertrauen, das ich in Sie setzte, zu sagen.

Ferner beklage ich mich über meinen eignen grossen Mangel an Urteil, da ich mich durch Ihre und einiger andrer Leute Bitten und Trugschlüsse sehr gegen meine eigne Ansicht verleiten liess, die Erlaubnis zur Veröffentlichung meiner Reisen zu geben. Vergegenwärtigen Sie sich, bitte, wie oft ich, wenn Sie von dem Motiv des öffentlichen Wohls redeten, Sie bat, zu erwägen, dass die Yahoos eine Tiergattung seien, die jeder Besserung durch Lehren oder Beispiele unfähig sind: und so hat es sich denn auch gezeigt. Denn statt dass alle Missbräuche und Missstände wenigstens auf dieser kleinen Insel sofort abgestellt wurden, wie ich zu erwarten Grund hatte: siehe, da kann ich noch nach sechs Monaten nicht finden, dass mein Buch eine einzige Wirkung gehabt hätte, wie sie meinen Absichten entspräche. Ich wollte, Sie teilten mir durch einen Brief mit, wann Parteien und Spaltungen erloschen, seit wann die Richter gelehrt und rechtschaffen, Prozessführende ehrlich und bescheiden sind, begabt mit einer Spur gesunden Menschenverstands; seit wann Smithfield flammt von Pyramiden juristischer Bücher, wann die Erziehung des jungen Adels von Grund aus geändert und wann die Ärzte verbannt wurden; seit wann die weiblichen Yahoos reich sind an Tugend, Ehre, Wahrhaftigkeit und Vernunft, und die Höfe und Levers grosser Minister gründlich vom Unkraut gereinigt und vom Schmutz gesäubert wurden; seit wann man Witz, Verdienst und Gelehrsamkeit belohnt, und seit wann man die Schänder der Presse in Prosa und Versen dazu verurteilt, nichts mehr zu essen als ihre eigne Baumwolle und ihren Durst mit ihrer eignen Tinte zu stillen. Auf diese und tausend andre Reformen zählte ich nach Ihrer Ermutigung zuversichtlich, wie sie denn auch klärlich abzuleiten waren aus den Lehren, die in meinem Buch vorgetragen werden. Und Sie müssen zugeben, dass sieben Monate eine ausreichende Frist waren, um jedes Laster und jede Narrheit, denen die Yahoos unterworfen waren, abzustellen, wenn ihr Wesen im geringsten zu Tugend oder Weisheit neigte. Aber Sie haben meiner Erwartung in all Ihren Briefen so wenig entsprochen, dass Sie vielmehr jede Woche unsern Boten mit Pamphleten und Schlüsseln, Schmähungen und Schriften und ›zweiten Teilen‹ beladen, in denen man mich, wie ich sehe, der Unehrerbietigkeit grossen Staatsleuten gegenüber, der Erniedrigung der menschlichen Natur (denn sie haben immer noch die Stirn, es so zu nennen) und der Herabsetzung des weiblichen Geschlechts beschuldigt. Ich finde auch, dass die Verfasser dieser Bündel sich untereinander nicht einig sind; denn einige von ihnen wollen nicht zugeben, dass ich der Verfasser meiner eignen Reiseschilderungen bin; und andre machen mich zum Verfasser von Büchern, denen ich völlig fremd gegenüberstehe.

Ich finde ferner, dass Ihr Drucker so unaufmerksam gewesen ist, die Zeiten zu verwechseln und die Daten meiner verschiedenen Reisen und Rückfahrten zu verdrucken; nie hat er das richtige Jahr, nie den richtigen Monat und nie den richtigen Tag des Monats gesetzt; und ich höre, dass das Manuskript seit der Veröffentlichung meines Buches vernichtet wurde. Ich habe gleichfalls keine Abschrift mehr: immerhin habe ich Ihnen ein paar Korrekturen geschickt, die sie einrücken mögen, wenn es je zu einer zweiten Auflage kommt: und doch kann ich mich nicht für sie verbürgen, sondern muss diese ganze Sache meinem verständigen und wohlwollenden Leser überlassen, der berichtigen möge, wie es ihm gefällt.

Ich höre, dass ein paar unsrer See-Yahoos an meiner Seemannssprache allerlei auszusetzen finden; sie stimme vielfach nicht oder sei nicht mehr in Gebrauch. Daran kann ich nichts ändern. In meiner Jugend wurde ich auf meinen ersten Reisen von den ältesten Seeleuten unterrichtet, und ich lernte sprechen, wie sie sprachen. Aber ich habe seither erkannt, dass auch die See-Yahoos wie die Land-Yahoos zu neumodischen Wendungen neigen; denn ich entsinne mich, so oft ich einmal in meine Heimat zurückkehrte, war ihr alter Dialekt so stark verändert, dass ich den neuen kaum noch verstand. Und ich bemerke, dass, wenn irgend ein Yahoo aus London kommt, um mich in meinem Hause zu besuchen, wir beide nicht imstande sind, unsern Gedanken in einer für den andern verständlichen Weise Ausdruck zu verleihen.

Wenn der Tadel der Yahoos mich in irgend einer Weise berühren könnte, so würde ich grossen Grund zur Klage haben, weil manche von ihnen verwegen genug waren, meine Reisebeschreibung für einen meinem eignen Gehirn entsprungenen Roman zu halten; ja, sie sind soweit gegangen, anzudeuten, dass die Houyhnhnms und Yahoos so wenig existierten wie die Einwohner von Utopien.

Ich meinerseits muss freilich gestehn, was die Bevölkerungen von Lilliput, Brobdingrag (denn so hätte das Wort gedruckt werden müssen, nicht irrtümlich Brobdingnag) und Laputa angeht, so habe ich noch von keinem Yahoo gehört, der anmassend genug gewesen wäre, ihnen das Dasein abzusprechen oder all das zu bestreiten, was ich von ihnen berichtet habe; denn die Wahrheit wirkt unmittelbar überzeugend auf den Leser. Und enthält mein Bericht über die Houyhnhnms oder die Yahoos etwa weniger Wahrscheinlichkeit? Ist es doch in bezug auf diese zum Beispiel klar, dass selbst in dieser unsrer Stadt viele Tausende von ihnen leben, die sich von ihren Bruderbestien im Houyhnhnmslande nur dadurch unterscheiden, dass sie in schnatternden Tönen reden und nicht nackt gehn. Ich schrieb, um sie zu bessern, nicht um ihren Beifall zu gewinnen. Das vereinigte Lob der ganzen Rasse hätte für mich weniger zu bedeuten, als das Wiehern jener beiden entarteten Houyhnhnms, die ich in meinem Stall bewahre; denn so entartet sie auch sind, so lerne ich doch von ihnen noch Wachstum in einigen Tugenden, und zwar ohne jede Beimischung des Lasters.

Sind etwa diese elenden Tiere anmassend genug, um zu glauben, ich selbst sei so entartet, meine Wahrhaftigkeit zu verteidigen? Wenn ich auch ein Yahoo bin, so ist es doch im ganzen Houyhnhnmslande bekannt, dass ich vermöge der Unterweisung und des Beispiels meiner erlauchten Lehrer im Laufe von zwei Jahren (obwohl ich gestehn muss, dass es nur mit äusserster Mühe gelang) jene teuflische Gewohnheit des Lügens, Mogelns, Betrügens und Schwindelns, die so tief in der Seele all meiner Gattungsgenossen, zumal der Europäer, wurzelt, abzulegen lernte.

Ich habe noch weitere Klagen aus diesem ärgerlichen Anlass vorzutragen; aber ich möchte weder mir noch Ihnen weitere Mühe machen. Ich muss offen gestehn, dass seit meiner letzten Heimkehr einige Verderbtheiten meiner Yahoo-Natur wieder aufgelebt sind, und zwar, weil ich unweigerlich gezwungen war, mit einigen von Ihrer Gattung, besonders solchen aus meiner eignen Familie, in Verkehr zu treten; sonst hätte ich mich niemals an ein so absurdes Vorhaben gemacht, wie es das ist, das Yahoo-Geschlecht dieses Königreichs bessern zu wollen; aber ich bin jetzt mit all solchen visionären Plänen für alle Ewigkeit fertig.

Den 2. April 1727.

Der Reisen erster Teil. Eine Reise nach Lilliput.

Kapitel I.

Der Verfasser erstattet Bericht über sich, seine Familie und die ersten Anlässe, die ihn zu reisen trieben. Er erleidet Schiffbruch, schwimmt um sein Leben und kommt wohlbehalten im Lande Lilliput ans Land, wo er gefangen genommen und landeinwärts gebracht wird.

Mein Vater hatte einen kleinen Besitz in Nottinghamshire; ich war der dritte von fünf Söhnen. Er schickte mich in meinem vierzehnten Jahr aufs Emanuel College in Cambridge, wo ich drei Jahre blieb und fleissig meinen Studien oblag; da aber die Kosten meines Unterhalts (obwohl ich einen sehr kärglichen Wechsel erhielt) für ein schmales Vermögen zu hoch wurden, gab man mich zu Herrn Jakob Bates, einem hervorragenden Chirurgen in London, in die Lehre; bei ihm blieb ich vier Jahre, und da mein Vater mir von Zeit zu Zeit kleine Summen Geldes schickte, so verwandte ich sie darauf, etwas von der Seefahrt und andern Gebieten der Mathematik zu lernen, wie sie solchen, die reisen wollen, von Nutzen sind; denn ich war stets davon überzeugt, dass Reisen einmal mein Schicksal sein würden. Als ich Herrn Bates verliess, kehrte ich zu meinem Vater zurück. Dort brachte ich mit seiner Hilfe und der meines Onkels Johann, sowie einiger andrer Verwandter vierzig Pfund zusammen, und man versprach mir ferner dreissig Pfund jährlich für einen Aufenthalt in Leyden, wo ich zwei Jahre und sieben Monate lang die Arzneikunde studierte, denn ich wusste, die würde mir auf langen Reisen nützen.

Bald nach meiner Rückkehr aus Leyden wurde ich von meinem guten Meister, Herrn Bates, für die Stellung als Schiffsarzt auf der Schwalbe empfohlen, die vom Kapitän Abraham Pannell befehligt wurde; ich machte während der dreieinhalb Jahre, die ich bei ihm blieb, eine oder zwei Reisen in die Levante und ein paar andre Gegenden. Als ich heimkam, beschloss ich, mich in London niederzulassen, wozu mich Herr Bates, mein Lehrmeister, ermutigte; er empfahl mich auch einigen Leidenden. Ich mietete mir einen Teil eines kleinen Hauses in der Old Jury, und da man mir riet, meinen ledigen Stand zu wechseln, so heiratete ich Fräulein Mary Burton, die zweite Tochter des Herrn Edmund Burton, des Kleiderhändlers in der Newgate-Street, die mir vierhundert Pfund in die Ehe brachte.

Da aber zwei Jahre darauf mein guter Lehrmeister Bates starb, und ich nur wenig Freunde hatte, so begann mein Verdienst zu ebben, denn mein Gewissen erlaubte mir nicht, die schlimmen Bräuche nur zu vieler unter meinen Brüdern nachzuahmen. Nachdem ich mich also mit meinem Weibe und einigen Leuten aus meiner Bekanntschaft beraten hatte, beschloss ich, wieder zur See zu gehn. Ich war nacheinander auf zwei Schiffen Arzt und machte in sechs Jahren verschiedene Reisen nach Ost- und Westindien, durch die ich mein Vermögen ein wenig vermehrte. Meine Mussestunden verbrachte ich damit, dass ich die besten alten und modernen Autoren las, denn ich war stets mit einer reichlichen Anzahl Bücher versehen; und wenn ich an Land war, so beobachtete ich das Wesen und den Charakter des Volks und lernte seine Sprache, was mir vermöge der Stärke meines Gedächtnisses sehr leicht wurde.

Da sich die letzten dieser Reisen als nicht sehr glücklich erwiesen, so wurde ich der Seefahrt müde und beschloss, mit meinem Weibe und den Meinen zu Hause zu bleiben. Ich zog aus der Old Jury in die Fetter-Lane, und von dort nach Wapping, da ich hoffte, unter den Seeleuten Arbeit zu finden; aber es wollte sich nicht lohnen. Nachdem ich drei Jahre darauf gewartet hatte, dass die Dinge sich bessern würden, nahm ich ein vorteilhaftes Angebot des Kapitäns William Prichard an; er führte die Antilope, die eine Reise in die Südsee machen sollte. Wir gingen am 4. Mai 1699 von Bristol aus unter Segel, und unsre Reise war zunächst sehr glücklich.

Es wäre aus bestimmten Gründen nicht ratsam, den Leser mit den Einzelheiten unsrer Abenteuer in jenen Meeren zu belästigen; es genüge, wenn ich ihm sage, dass wir während unsrer Überfahrt von dort nach Ostindien durch einen heftigen Sturm nach dem Nordwesten von Van-Diemensland verschlagen wurden. Nach einer Aufnahme befanden wir uns auf dreissig Grad zwei Minuten südlicher Breite. Zwölf Leute unsrer Mannschaft waren infolge übermässiger Anstrengung gestorben, der Rest in einem Zustand grosser Schwäche. Am fünften November, dem Sommeranfang in diesen Gegenden, erspähten die Seeleute bei sehr nebligem Wetter einen Felsen erst, als er vom Schiff nur noch um eine halbe Taulänge entfernt war; der Wind war so stark, dass wir grade darauf zugetrieben wurden und auf der Stelle zerschellten. Sechs Leuten von der Mannschaft, unter denen auch ich war, gelang es, da sie das Boot aufs Wasser gelassen hatten, vom Schiff und vom Felsen klar zu kommen. Wir ruderten nach meiner Rechnung etwa drei Meilen weit; dann waren wir nicht mehr imstande, noch länger zu arbeiten, denn schon auf dem Schiff waren wir von der Anstrengung erschöpft gewesen. Wir überliessen uns also dem Willen der Wellen, und nach etwa einer halben Stunde kenterte das Boot in einer plötzlichen Bö aus Norden. Was aus meinen Gefährten im Boot, sowie aus denen, die sich auf den Felsen gerettet hatten oder im Schiff geblieben waren, wurde, kann ich nicht sagen, doch ich vermute, dass sie alle umkamen. Ich meinesteils schwamm, wie mich der Zufall führte, und Wind und Flut trugen mich vorwärts. Ich liess oft meine Beine nach unten sinken, doch ohne Grund zu finden; als ich aber fast erschöpft war und kaum noch weiter zu ringen vermochte, fühlte ich plötzlich Boden unter mir, und mittlerweile hatte sich auch der Sturm sehr gelegt. Die Neigung des Bodens war so gering, dass ich fast eine Meile zu gehn hatte, ehe ich die Küste erreichte; es war nach meiner Schätzung etwa acht Uhr abends. Ich ging dann noch etwa eine halbe Meile landeinwärts, doch konnte ich keine Spur von Häusern oder Einwohnern finden; wenigstens war ich so geschwächt, dass ich sie nicht bemerkte. Ich war ausserordentlich müde; und infolge dieser Ermüdung sowie des warmen Wetters hatte ich, zumal ich beim Verlassen des Schiffes auch noch etwa einen Viertelliter Branntwein getrunken hatte, grosses Verlangen nach Schlaf. Ich legte mich auf dem kurzen und weichen Grase nieder und schlief dort besser, als ich mich je in meinem Leben geschlafen zu haben erinnere; mein Schlummer muss nach meiner Rechnung etwa neun Stunden gedauert haben; denn als ich erwachte, war es gerade hell geworden. Ich versuchte aufzustehn, aber ich war ausserstande, mich zu rühren; denn da ich auf dem Rücken lag, so entdeckte ich, dass meine Arme und Beine auf beiden Seiten kräftig an den Boden gefesselt waren, und auch mein langes und dichtes Haar war ebenso gebunden. Ich fühlte auch, dass von meinen Achselhöhlen an bis zu den Schenkeln hinunter mehrere dünne Fesseln quer über meinen Körper liefen. Ich konnte nur nach oben sehn, die Sonne begann zu brennen, und das Licht tat meinen Augen weh. Ich hörte rings um mich ein wirres Geräusch, aber in meiner Lage konnte ich nichts als den Himmel sehn; bald darauf spürte ich, wie sich auf meinem linken Bein etwas Lebendiges bewegte, was vorsichtig über meine Brust weiter stieg und fast bis an mein Kinn herantrat; als ich nun, so sehr ich konnte, meine Augen nach unten drehte, erkannte ich in ihm ein menschliches Wesen von noch nicht sechs Zoll Höhe, das Pfeile und Bogen in den Händen und auf dem Rücken einen Köcher trug. Zugleich bemerkte ich, dass dem ersten mindestens vierzig weitere derselben Art (so vermutete ich) folgten. Ich war aufs höchste erstaunt und brüllte laut auf, so dass sie alle voll Entsetzen zurückliefen; und einige von ihnen, so erzählte man mir später, erlitten, als sie von meiner Seite zu Boden sprangen, im Sturz allerlei Verletzungen. Bald aber kehrten sie zurück, und einer von ihnen, der sich weit genug vorwagte, um mein Gesicht voll überschauen zu können, rief, indem er voll Bewunderung Hände und Blicke emporhob, mit schriller aber deutlicher Stimme: »Hekinah degul!« Die andern wiederholten mehrmals dieselben Worte, doch damals wusste ich noch nicht, was sie bedeuteten. Ich lag derweilen, wie der Leser leicht glauben wird, in grosser Unruhe da: schliesslich aber war ich in meinem Ringen, frei zu kommen, glücklich genug, die Fesseln zu sprengen und die Pflöcke, die meinen linken Arm am Boden festhielten, herauszureissen; denn, indem ich ihn zu meinem Gesicht emporhob, entdeckte ich die Methode, die sie angewandt hatten, um mich zu binden; und zugleich lockerte ich mit einem gewaltsamen Ruck, der mir grosse Schmerzen machte, die Stricke ein wenig, die mein Haar auf der linken Seite festhielten, so dass ich gerade imstande war, meinen Kopf um zwei Zoll zu wenden. Aber die Geschöpfe liefen zum zweitenmal davon, bevor ich sie ergreifen konnte; worauf in sehr schrillem Ton ein lauter Schrei erscholl, und als er verhallte, hörte ich einen von ihnen laut rufen: »Tolgo phonac!« Und im selben Augenblick fühlte ich, wie mehr als hundert Pfeile auf meine linke Hand abgeschossen wurden, wo sie mich wie ebenso viele Nadeln stachen; und alsbald schossen sie noch eine zweite Salve in die Luft, wie wir in Europa Bomben schiessen, und viele Pfeile fielen (so vermute ich, denn ich fühlte sie nicht) auf meinen Körper, einige aber auch auf mein Gesicht, das ich sofort mit der linken Hand bedeckte. Als dieser Pfeilregen vorüber war, begann ich vor Schmerz zu stöhnen; und als ich mich von neuem bemühte, los zu kommen, entsandten sie die dritte Salve, die grösser war als die ersten, und einige von ihnen versuchten mich mit Speeren in die Seite zu stechen; doch zum Glück hatte ich ein Lederwams an, das sie nicht durchstechen konnten. Ich hielt es für das klügste, still zu liegen, und es war meine Absicht, bis zum Einbruch der Nacht so liegen zu bleiben; da meine linke Hand bereits frei war, konnte ich mich dann leicht lösen. Was aber die Einwohner anging, so hatte ich Grund, zu glauben, dass ich den grössten Heeren gewachsen wäre, die sie gegen mich ins Feld führen konnten, falls sie nämlich alle von gleicher Statur waren wie der, den ich gesehen hatte. Aber das Schicksal wollte es anders. Als die Leute sahen, dass ich ruhig blieb, schossen sie nicht mehr mit Pfeilen; doch an dem Lärm, den ich hörte, erkannte ich, dass ihre Zahl zunahm; und etwa vier Ellen von mir entfernt hörte ich länger als eine Stunde hindurch meinem rechten Ohr gegenüber ein Pochen, wie wenn Leute an der Arbeit wären; als ich dann meinen Kopf, soweit es die Pflöcke und Stricke erlaubten, dorthin drehte, sah ich etwa anderthalb Fuss über dem Boden eine Tribüne errichtet, die vier der Eingeborenen fassen mochte und auf die drei oder vier Leitern hinaufführten. Von dort aus nun hielt mir einer von ihnen, der ein Mann von Stande zu sein schien, eine lange Rede, von der ich nicht eine Silbe verstand. Doch ich hätte erwähnen sollen, dass diese vornehme Persönlichkeit, ehe sie ihren Vortrag begann, dreimal ausrief: »Langro dehul san!« (Diese und die früheren Worte wurden mir später wiederholt und erklärt.) Worauf sofort etwa fünfzig der Eingeborenen herbeikamen und die Stricke durchschnitten, die die linke Seite meines Kopfes fesselten; so dass ich nun die Möglichkeit hatte, ihn nach rechts zu wenden und das Wesen und die Gesten dessen, der reden wollte, zu beobachten. Er schien in den mittleren Jahren zu stehn und grösser zu sein, als irgend einer der drei andern, die bei ihm waren; einer von diesen war ein Page, der ihm die Schleppe trug; der schien mir etwas länger als mein Mittelfinger; die beiden andern standen je auf einer seiner Seiten, um ihn zu stützen. Er spielte die Rolle eines Redners, und ich konnte viele Perioden der Drohungen, Perioden der Versprechungen, des Mitleids und der Güte unterscheiden. Ich antwortete ihm in ein paar Worten, doch in der unterwürfigsten Weise, indem ich meine linke Hand und meine beiden Augen zur Sonne hob, als riefe ich sie zum Zeugen an. Und da ich fast verhungert war (denn schon mehrere Stunden, bevor ich das Schiff verliess, hatte ich keinen Bissen mehr gegessen), so machte die Natur ihre Ansprüche so kräftig geltend, dass ich mich nicht enthalten konnte, meine Ungeduld zu zeigen (vielleicht den strengen Regeln des Anstands zuwider), indem ich oft den Finger auf den Mund legte, um anzudeuten, wie sehr es mich nach Nahrung verlangte. Der »Hurgo« (denn so nennen sie, wie ich später erfuhr, einen grossen Herrn) verstand mich sehr wohl. Er stieg von der Tribüne herab und befahl, dass mir mehrere Leitern an die Seiten gelegt würden, auf denen über hundert der Eingeborenen heraufstiegen und, beladen mit Körben voller Speisen, die auf des Königs Befehl besorgt und herbeigeschafft worden waren, sowie er von mir Nachricht erhalten hatte, auf meinen Mund zuschritten. Ich merkte wohl, dass das Fleisch mehrerer Tiere darunter war, aber ich konnte sie durch den Geschmack nicht unterscheiden. Es waren Schultern, Beine und Keulen, geformt wie die der Hämmel, und sehr gut zubereitet, aber kleiner als die Flügel einer Lerche. Ich ass immer zwei oder drei auf einen Bissen und nahm drei Brote, deren jedes etwa so gross war wie eine Musketenkugel, zugleich. Sie gaben mir so schnell wie möglich zu essen und verrieten durch tausend Zeichen ihre Verwunderung und ihr Staunen über meinen Umfang und meinen Appetit. Dann gab ich ihnen einen zweiten Wink, dass ich zu trinken wünschte. Sie hatten schon an der Art, wie ich ass, erkannt, dass mir keine kleine Menge genügen würde; und da sie höchst scharfsinnige Leute waren, so wanden sie mit grosser Geschicklichkeit eines ihrer grössten Oxhofte empor, rollten es bis an meine Hand und schlugen den Deckel ab. Ich trank es auf einen einzigen Zug leer, und das war nicht schwer, denn es enthielt noch keinen Viertelliter; das Getränk schmeckte wie ein Burgunder Landwein, doch viel köstlicher. Sie brachten mir noch ein zweites Oxhoft, das ich auf dieselbe Art und Weise austrank; doch als ich winkte, um ein drittes zu verlangen, hatten sie mir keins mehr zu geben. Sie erhoben ein Freudengeschrei, als ich diese Wunder vollbracht hatte, tanzten mir auf der Brust herum und wiederholten mehrmals wie im Anfang: »Hekinah degul!« Sie winkten mir, die beiden Fässer hinabzuwerfen, doch warnten sie zunächst die Untenstehenden, aus dem Wege zu gehn, indem sie laut »Borach Mivola!« riefen; und als sie die Gefässe durch die Luft fliegen sahen, erhoben sie ein allgemeines Geschrei: »Hekinah degul!« Ich gestehe, ich war oft in Versuchung, während sie auf meinem Leibe hin- und herliefen, vierzig oder fünfzig von den ersten zu ergreifen, die in meinen Bereich kamen und sie auf dem Boden zu zerschmettern. Aber die Erinnerung an das, was ich hatte spüren müssen und was wahrscheinlich noch nicht das schlimmste war, was sie mir antun konnten, und an das Ehrenversprechen, das ich ihnen gegeben hatte (denn so legte ich mein unterwürfiges Benehmen aus), vertrieb diese Gedanken gar bald. Ausserdem sah ich mich jetzt als durch die Gesetze der Gastfreundschaft an dieses Volk gebunden an, das mich unter solchen Kosten und mit soviel Grossartigkeit bewirtete. In meinen Gedanken aber konnte ich mich nicht genug über die Unerschrockenheit dieser winzigen Sterblichen wundern, die es wagten, mir auf den Leib zu klettern und dort umherzugehn, obwohl eine meiner Hände frei war, und zwar, ohne beim blossen Anblick eines so fabelhaften Geschöpfes, wie ich ihnen vorkommen musste, zu zittern. Als sie nach einiger Zeit bemerkten, dass ich nichts mehr zu essen verlangte, erschien im Auftrage Seiner Kaiserlichen Majestät eine hochgestellte Persönlichkeit vor mir. Seine Exzellenz stieg mir unten aufs Schienbein und schritt mit einem Gefolge von etwa einem Dutzend Leuten bis zu meinem Gesicht empor. Und nachdem er seine mit dem Königlichen Siegel versehenen Beglaubigungsschreiben hervorgezogen und sie mir dicht unter die Augen gehalten hatte, sprach er ohne jedes Zeichen des Zorns, aber im Ton fester Entschlossenheit etwa zehn Minuten lang, indem er oft vor sich hin deutete; wie ich später herausfand, lag dort in einer Entfernung von etwa einer halben Meile die Hauptstadt, wohin ich, wie Seine Majestät im Kronrat beschlossen hatte, überführt werden sollte. Ich antwortete in wenigen Worten, die freilich zwecklos waren, und gab ihm ein Zeichen mit meiner freien Hand, indem ich sie an die andre legte (ich hob sie hoch über Seiner Exzellenz Haupt hinweg, weil ich fürchtete, ihn oder einen aus seinem Gefolge zu verletzen) und dann auf meinen Kopf und meinen Körper deutete; ich wollte ihm damit sagen, dass mich nach meiner Freiheit verlangte. Offenbar verstand er mich ganz genau, denn er schüttelte zum Zeichen des Widerspruchs den Kopf und streckte seine Hand in einer Geste vor, die zeigen sollte, dass ich als Gefangener geführt werden müsste. Er gab mir jedoch noch weitere Winke, um mir zu verstehn zu geben, dass ich Speise und Trank in genügender Menge erhalten und sehr gut behandelt werden würde. Mir kam noch einmal der Gedanke, einen Versuch zu machen, ob ich meine Fesseln sprengen könnte; aber als ich den Schmerz ihrer Pfeile auf Gesicht und Händen spürte, die ganz voll Blasen waren, in denen noch viele der Waffen staken, und als ich zugleich erkannte, dass die Zahl meiner Feinde immer anschwoll, gab ich ihnen ein Zeichen, dass sie mit mir tun sollten, was ihnen beliebte. Daraufhin zogen sich der Hurgo und sein Gefolge in grosser Höflichkeit und mit freudigem Gesicht zurück. Bald darauf hörte ich ein allgemeines Schreien, in dem die Worte: »Peplom selan,« häufig wiederholt wurden; und ich fühlte, wie grosse Scharen von Leuten auf meiner linken Seite die Stricke soweit lockerten, dass ich mich auf meine rechte Seite wälzen und mir Erleichterung verschaffen konnte, indem ich Wasser liess; zum grossen Staunen der Leute tat ich das in grosser Fülle; sie hatten an meinen Bewegungen erraten, was ich beginnen wollte und flohen auf dieser Seite sofort nach rechts und links, um den Giessbach zu vermeiden, der mir mit soviel Lärm und Gewalt entströmte. Aber schon zuvor hatten sie mir das Gesicht und beide Hände mit einer Art Salbe bestrichen, die sehr angenehm roch und den Schmerz der Pfeilwunden in wenigen Minuten behob. Das und die Erfrischung, die mir ihre Speisen und ihr Getränk gegeben hatten, denn sie waren sehr nahrhaft, machte mich schläfrig. Ich schlief, wie man mir später versicherte, etwa acht Stunden lang; und das war auch kein Wunder, denn auf Befehl des Kaisers hatten die Ärzte in die beiden Oxhofte Weins einen Schlaftrunk gemischt.

Es scheint, dass der Kaiser, sowie man mich nach meiner Landung am Boden schlafend gefunden hatte, durch einen Eilboten Bericht erhielt und im Rat beschloss, dass ich auf die geschilderte Art und Weise gebunden würde (es geschah in der Nacht, während ich schlief); er ordnete an, dass man mir reichliche Mengen an Speise und Trank schicken und eine Maschine herrichten sollte, um mich in die Hauptstadt zu schaffen.

Dieser Entschluss mag vielleicht als verwegen und gefährlich erscheinen und ich bin überzeugt, dass kein europäischer Fürst ihn bei der gleichen Gelegenheit nachahmen würde; meiner Meinung nach aber war er ebenso klug wie grossmütig: denn angenommen, diese Leute hätten versucht, mich, während ich schlief, mit ihren Speeren und Pfeilen zu töten, so wäre ich sicherlich bei der ersten Schmerzempfindung erwacht, die vielleicht zugleich meine Wut und meine Kraft in einem Grade geweckt hätte, dass ich imstande gewesen wäre, die Stricke, mit denen ich gefesselt war, zu sprengen; und da sie mir dann keinen Widerstand zu leisten vermochten, hätten sie auch keine Gnade erwarten können.

Diese Leute sind vortreffliche Mathematiker, und in der Technik haben sie es durch die Ermutigung und Förderung des Kaisers, der ein berühmter Gönner der Gelehrsamkeit ist, zu grosser Vollkommenheit gebracht. Dieser Fürst besitzt mehrere auf Rädern errichtete Maschinen zum Transport von Bäumen und andern grossen Lasten. Er erbaut oft seine grössten Kriegsschiffe, von denen einige neun Fuss lang sind, mitten in den Wäldern, in denen das Holz wächst, und er lässt sie auf diesen Maschinen drei- oder fünfhundert Ellen weit zum Meer hinunterschaffen. Fünfhundert Zimmerleute und Ingenieure machten sich sofort an die Arbeit, um die grösste Maschine herzurichten, die sie besassen. Sie bestand aus einem hölzernen Rahmen, der sich drei Zoll über den Boden erhob; er war etwa sieben Fuss lang und vier Fuss breit und lief auf zweiundzwanzig Rädern. Der Schrei, den ich hörte, begrüsste das Eintreffen dieser Maschine, die, wie es scheint, vier Stunden nach meiner Landung aufbrach. Sie wurde parallel neben mich gefahren, als ich dalag. Aber die Hauptschwierigkeit bestand darin, mich emporzuheben und auf dies Gefährt zu bringen. Zu diesem Zweck wurden achtzig Pfähle von je einem Fuss Länge errichtet; dann befestigte man mit Hilfe von Haken sehr starke Stricke von der Dicke einer Packschnur an den Binden, die die Arbeiter mir um Nacken, Hände, Leib und Beine gebunden hatten. Neunhundert der stärksten Leute wurden angestellt, um diese Stricke mit Flaschenzügen hochzuwinden, die man an den Pfählen befestigt hatte; und so hob man mich in weniger als drei Stunden empor, schlang mich auf das Gefährt und band mich darauf fest. All das erzählte man mir, denn während die ganze Arbeit vor sich ging, lag ich in tiefem Schlaf, so stark wirkte das Betäubungsmittel, das man in mein Getränk gemischt hatte. Fünfzehnhundert der grössten Pferde des Kaisers, deren jedes etwa viereinhalb Zoll hoch war, zogen mich zur Metropole, die, wie ich schon sagte, eine halbe Meile entfernt war.

Etwa vier Stunden, nachdem wir unsre Fahrt begonnen hatten, erwachte ich durch einen sehr lächerlichen Zufall; denn da der Wagen eine Weile Halt gemacht hatte, um etwas in Ordnung zu bringen, so wurden zwei oder drei der jungen Eingeborenen neugierig, wie ich wohl im Schlaf aussähe; sie kletterten in den Wagen hinauf, und als sie sehr vorsichtig bis zu meinem Gesicht vorgedrungen waren, steckte mir einer von ihnen, ein junger Gardeoffizier, das scharfe Ende seiner Pike in mein linkes Nasenloch; sie kitzelte mich wie ein Strohhalm, so dass ich heftig niesen musste. Sie stahlen sich unbemerkt davon, und erst drei Wochen später erfuhr ich die Ursache meines plötzlichen Erwachens. Wir machten während des übrigen Tages einen weiten Weg, und nachts rasteten wir mit je fünfhundert Wachen zu meinen beiden Seiten, von denen die Hälfte mit Fackeln, die andre Hälfte aber mit Bogen und Pfeilen bewaffnet waren, bereit, mich zu erschiessen, wenn ich Miene machen sollte, mich zu rühren. Am nächsten Morgen setzten wir mit Sonnenaufgang unsre Fahrt fort, und um Mittag waren wir nur noch etwa zweihundert Ellen von den Stadttoren entfernt. Der Kaiser und sein ganzer Hof kamen uns entgegen; aber seine Grosswürdenträger wollten auf keinen Fall dulden, dass Seine Majestät sich in Gefahr begab, indem er meinen Körper bestieg.

An der Stelle, wo der Wagen hielt, stand ein alter Tempel, der als der grösste im ganzen Königreich galt; und da er vor einigen Jahren durch einen unnatürlichen Mord entweiht worden war, sah ihn das Volk in seinem grossen Religionseifer als profan an; man benutzte ihn zu unheiligen Zwecken und hatte alles Gerät und allen Schmuck daraus entfernt. In diesem Gebäude, so wurde es beschlossen, sollte ich hausen. Das grosse nach Norden gerichtete Tor war etwa vier Fuss hoch und zwei Fuss breit, so dass ich leicht hindurchkriechen konnte. Zu beiden Seiten des Tors lag nicht mehr als sechs Zoll überm Boden je ein kleines Fenster; und durch das auf der linken Seite hatten des Königs Schmiede einundneunzig Ketten geführt, die etwa jenen glichen, wie sie in Europa an der Taschenuhr einer Dame hängen, und die auch etwa ebenso stark waren; die befestigte man mir mit sechsunddreissig Schlössern an meinem linken Bein. Diesem Tempel gegenüber stand auf der andern Seite der grossen Strasse in einer Entfernung von etwa zwanzig Fuss ein Turm von mindestens fünf Fuss Höhe. Den bestieg der Kaiser mit vielen grossen Herrn seines Hofs, um, wie man mir später sagte, mich bequem überblicken zu können, denn sehen konnte ich sie nicht. Es wurde berechnet, dass etwa hunderttausend Einwohner zum gleichen Zweck aus der Stadt kamen; und trotz meiner Wachen, glaube ich, konnten es mehrmals nicht weniger als zehntausend Menschen sein, die mir mit Hilfe von Leitern auf den Körper stiegen. Bald darauf aber wurde ein Erlass verkündigt, der das bei Todesstrafe verbot. Als die Arbeiter sahen, dass ich mich nicht mehr befreien konnte, kappten sie all die Stricke, die mich banden, und ich stand in der melancholischsten Stimmung, die ich in meinem ganzen Leben gekannt hatte, auf. Aber der Aufruhr und das Staunen des Volks, als es mich aufstehn und umhergehn sah, lassen sich nicht schildern. Die Ketten, die mein linkes Bein fesselten, waren etwa zwei Ellen lang und erlaubten mir nicht nur, in einem Halbkreis hin und her zu gehn, sondern, da sie nur vier Zoll weit vom Tor entfernt befestigt waren, so konnte ich auch hineinkriechen und mich im Tempel in voller Länge ausstrecken.

Kapitel II.

Der Kaiser von Lilliput kommt, begleitet von mehreren Adligen, um den Verfasser in seiner Haft zu sehen. Schilderung der Erscheinung und Kleidung des Kaisers. Gelehrte werden beauftragt, den Verfasser ihre Sprache zu lehren. Er erwirkt sich durch seine milde Charakteranlage Beliebtheit. Man durchsucht seine Taschen und nimmt ihm sein Schwert und seine Pistolen.