Gullivers Reisen - Jonathan Swift - E-Book
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Gullivers Reisen E-Book

Jonathan Swift

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Beschreibung

Nie war er aktueller als heute – Swifts «Gulliver» in der gültigen deutschen Übersetzung

Gullivers Reisen nach Lilliput und zu den Riesen kennt jedes Kind. Und doch ist Swifts Fantasy-Saga vor allem ein eindrucksvolles Leseabenteuer für Erwachsene – tiefsinnig, amüsant, subversiv und desillusionierend –, eine zeitlos gültige Generalabrechnung mit menschlicher Dummheit und Selbstüberschätzung, ja eine besonders frühe Form der Polit-Satire: Die mit unerschöpflicher Fabulierlust bis ins Detail realistisch gestalteten Erlebnisse Gullivers in fremden Reichen sind gespickt mit polemischen Seitenhieben auf Staat, Kirche oder Rechtswesen.

Ein Klassiker, wie er gegenwärtiger gar nicht sein könnte!

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Seitenzahl: 731

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«Gullivers Reisen bedeutet mir mehr als irgendein anderes Buch!» George Orwell

Nie war Swifts Gulliver aktueller als heute! Fantasy-Saga, Politsatire und launiges Leseabenteuer für Alt wie Jung, ist dieses kanonische «Weltbuch» (Hellmuth Karasek) eine tiefsinnige Generalabrechnung mit menschlicher Bos- und Dummheit.

«Überall ist Liliput, wo ein großer Mensch unter kleine Menschen gerät.» Heinrich Heine

Gullivers Reisen nach Liliput und zu den Riesen kennt jedes Kind. Und doch ist dieser Kardinalklassiker viel mehr als eine fantastische Abenteuergeschichte. Die Erlebnisse des Helden, realistisch ausfabuliert, sind gespickt mit Seitenhieben auf Kirche, Politik und Gesellschaft. Swift gelingt das einzigartige Kunststück, seine Leserschaft mit einem «Roman der Menschenfeindschaft» (Herder) bestens zu unterhalten. Denn sein wiehernder Spott gilt unserer ganzen kuriosen Gattung mitsamt ihrer Erbärmlichkeit und Selbstüberschätzung.

«Wie Jonathan Swift unmerklich lehrt, was der Mensch ist, so belehrt uns Christa Schuenke unauffällig, dass es einmal eine deutsche Sprache gab, die weniger stromlinienförmig war als die heutige.» Kurt Flasch, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Jonathan Swift

GULLIVERS REISEN

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von Christa Schuenke

Nachwort von Dieter Mehl

Mit 8 historischen Illustrationen

MANESSE VERLAG

Reisen zu etlichen fernen Völkern der Welt in vier Teilen von LEMUEL GULLIVERvormals Schiffsarzt, alsdann Kapitän auf mehreren Schiffen

Der Verleger an den Leser

Der Verfasser dieser Reisebeschreibungen, Mr. Lemuel Gulliver, ist ein alter und vertrauter Freund von mir. Auch sind wir mütterlicherseits verwandt.1 Als Mr. Gulliver vor ungefähr drei Jahren der vielen neugierigen Leute überdrüssig war, die ihn immerfort in seinem Hause in Redriff#22 heimsuchten, erwarb er in seiner Heimatgrafschaft Nottinghamshire, unweit von Newark, ein kleines Grundstück mit einem behaglichen Hause darauf, wo er nunmehr ein zurückgezogenes Leben führt, bei seinen Nachbarn aber dabei in hohem Ansehen steht.

Er sei zwar in Nottinghamshire geboren, wo sein Vater lebte, habe ich Mr. Gulliver sagen hören, seine Familie stamme jedoch aus Oxfordshire, was durch den Umstand bestätigt wird, dass mir in derselben Grafschaft, auf dem Kirchhof von Banbury, etliche Gräber und Gedenksteine der Gullivers ins Auge fielen.

Ehe er aus Redriff fortging, übergab er die folgenden Aufzeichnungen meiner Obhut und erteilte mir zugleich Vollmacht, über dieselben nach meinem Gutdünken zu verfügen. Ich habe sie mir dreimal gründlich durchgelesen. Der Stil ist äußerst schlicht und einfach, und der einzige Mangel, den ich daran finden kann, ist, dass sich der Verfasser, was bei Reisenden gar häufig vorkommt, ein wenig umständlich auszudrücken beliebt. Doch hat die ganze Sache unverkennbar den Anschein von Wahrhaftigkeit, und des Verfassers Wahrheitsliebe war in der Tat so sprichwörtlich bekannt, dass es bei den Einwohnern von Redriff unterdessen nachgerade ein geflügeltes Wort ist, eine Behauptung zu bekräftigen, indem man sagt, sie sei so wahr, als stammte sie aus dem Munde des Mr. Gulliver.

Wohlberaten von etlichen ehrenwerten Personen, welchen ich diese Aufzeichnungen mit des Verfassers Erlaubnis ausgehändigt habe, will ich nunmehr darangehen, dieselben in die Welt zu entlassen, und tue dies in der Hoffnung, dass sie unseren jungen Edelleuten wenigstens für eine Zeit zu besserer Kurzweil dienen mögen als das übliche Geschreibsel über Politik und die Parteien.

Nun wäre aber dieses Buch fürwahr noch einmal so lang geworden, hätte ich mich denn nicht erkühnt, nicht nur bei den zahllosen Passagen über die Winde und Tiden sowie über allerlei Irrwege und Kursberichtigungen, sondern auch dort, wo recht nach Seemannsart allzu genau beschrieben wird, wie das Schiff den Stürmen trotzt, und ferner bei gewissen Berichten über Längen- und Breitengrade die eine oder andere Kürzung vorzunehmen, obschon ich wohl nicht vollends grundlos annehmen muss, dass Mr. Gulliver darob ein wenig missvergnügt sein möchte. Ich war indes entschlossen, das Werk so weit als möglich dem allgemeinen Begriffsvermögen des Lesers verdaulich zu machen. Sollte mich Unwissenheit in den Angelegenheiten der Seefahrt jedoch zu Fehlern verleitet haben, so stehe ich alleine dafür ein. Und falls irgendein Reisender begierig ist, das ganze Werk in ungekürzter Form zu sehen, wie es von des Verfassers Hand gekommen, so stehe ich nicht an, ihm zu willfahren.

Des Lesers Neubegierde bezüglich der näheren Lebensumstände des Verfassers indes soll auf den ersten Seiten dieses Buches gestillt werden.

Richard Sympson

Reisen zu etlichen fernen Völkern der Welt

I. Teil

Eine Reise nach Lilliput

1. Kapitel

Der Verfasser gibt Auskunft über seine Person und seine Familie sowie über seine ursprüngliche Veranlassung zu reisen. Er erleidet Schiffbruch und schwimmt um sein Leben, erreicht sicher die Küste von Lilliput, gerät in Gefangenschaft und wird ins Landesinnere verbracht.

Mein Vater besaß ein kleines Gut in Nottinghamshire; von seinen fünf Söhnen war ich der dritte. Als ich vierzehn Jahre alt war, schickte er mich nach Cambridge auf das Emmanuel College3, wo ich drei Jahre blieb und mich in meine Studien vertiefte. Indes belastete mein Unterhalt (obschon der mir gewährte Zuschuss äußerst knapp war) seine beschränkten Mittel allzu schwer, weshalb er mich bei dem berühmten Londoner Wundarzt Mr. James Bates in die Lehre gab, bei dem ich mich vier Jahre aufhielt, während deren mir mein Vater ab und an kleinere Summen Geldes zukommen ließ, welche ich darauf verwandte, die Navigation zu erlernen und mir noch andere mathematische Kenntnisse anzueignen, die einem jeden, der zu reisen vorhat, nützlich sind, war ich doch seit jeher überzeugt, dass früher oder später das Reisen mein Los sein würde. Nachdem ich den Mr. Bates verlassen hatte, kehrte ich zurück zu meinem Vater, verschaffte mir mit seiner und der Hilfe meines Onkels John sowie dank einiger anderer Verwandter vierzig Pfund nebst der Zusage auf weitere dreißig Pfund im Jahr – für meinen Lebensunterhalt in Leiden.4 Dort widmete ich mich zwei Jahre und sieben Monate lang dem Studium der Heilkunde, denn ich war überzeugt, dass mir dieselbe auf ausgedehnten Seereisen von Nutzen wäre.

Nicht lange nach meiner Rückkehr aus Leiden empfahl mich mein gütiger Lehrmeister Mr. Bates dem Kapitän der «Swallow», Abraham Pannell, als Schiffsarzt; dort blieb ich dann drei Jahre und ein halbes und nahm an mehreren Fahrten nach der Levante und anderen Gegenden teil. Wieder daheim, fasste ich auf Zureden meines Lehrmeisters Mr. Bates, der überdies nicht wenige Patienten zu mir schickte, den Entschluss, mich in London niederzulassen. Ich mietete ein kleines Haus in der Old Jewry5, und weil man mir zu einer Änderung meines Familienstandes geraten hatte, heiratete ich Mrs. Mary Burton6, die zweite Tochter des Strumpfwarenhändlers Mr. Edmond Burton aus der Newgate Street, von dem ich eine Mitgift von vierhundert Pfund erhielt.

Allein, zwei Jahre später starb mein braver Meister Bates, und weil ich nur wenige Freunde besaß, so gingen meine Geschäfte allmählich immer schlechter, denn mein Gewissen wollte es nicht dulden, dass ich mich der üblen Gepflogenheiten allzu vieler meiner Zunftgenossen befleißigte. Nachdem ich mich also mit meinem Weibe und einigen Bekannten beratschlagt hatte, beschloss ich, abermals zur See zu gehen. Ich heuerte nacheinander auf zwei Schiffen als Wundarzt an und machte sechs Jahre lang mehrere Reisen nach den beiden Indien7, was mir zu einem gewissen Zuwachs meines Vermögens verhalf. Die freien Stunden brachte ich mit der Lektüre der besten Schriftsteller des Altertums sowie der Neuzeit zu, war ich doch allemal mit einer stattlichen Anzahl von Büchern versehen; weilte ich indes an Land, so unterhielt ich mich damit, die Sitten und die Wesenszüge der Menschen zu beobachten und ihre Sprachen zu erlernen, was mir dank meines ausgezeichneten Gedächtnisses mit Leichtigkeit gelang.

Doch meine letzte Reise stand unter keinem guten Stern, und darum verging mir die Lust an der Seefahrt, und ich beschloss, fortan daheim zu bleiben bei meinem Weibe und den Meinen. Ich gab das Haus in der Old Jewry auf und zog erst in die Fetter Lane und dann nach Wapping8, denn ich hoffte, dort unter den Seeleuten Patienten zu gewinnen, doch diese Rechnung ging nicht auf. Nachdem ich drei Jahre lang vergeblich darauf gehofft hatte, dass sich die Dinge zum Besseren wenden möchten, nahm ich ein vorteilhaftes Angebot von William Prichard, Kapitän der «Antelope» an, der eine Reise in die Südsee plante. Am 4. Mai 1699 stachen wir von Bristol aus in See, und zunächst verlief unsere Fahrt auch durchaus glücklich.

Nun schickt es sich aus manchen Gründen nicht, den Leser mit den Einzelheiten unserer Abenteuer auf jenen Meeren zu behelligen. Es mag also genügen zu berichten, dass uns, als wir unsere Fahrt fortsetzten und auf Ostindien Kurs hielten, ein gewaltiger Sturm gen Nordwesten trieb, hinüber nach Vandiemensland9. Nach unseren Berechnungen befanden wir uns 30 Grad 2 Minuten südlicher Breite. Zwölf unserer Männer starben von der harten Arbeit und dem schlechten Essen; der Rest war sehr geschwächt. Am 5. November – in jenen Breiten der Beginn des Sommers –, es war ein ungemein diesiger Tag, erspähten die Matrosen etwa eine halbe Kabellänge10 voraus ein Riff, doch war der Wind so heftig, dass er uns unausweichlich darauf zutrieb und augenblicks daran zerschellen ließ. Rasch setzten wir zu sechsen, fünf der Matrosen und ich selbst, ein Boot aus und schafften es mit größter Anstrengung, von Bord zu kommen – und auch weg von diesem Riff. Wir ruderten nach meiner Berechnung an die neun Meilen, bis wir nicht mehr konnten; steckte uns doch die Plackerei vorher an Bord noch in den Knochen. So überließen wir uns denn der Gunst der Wogen, bis ungefähr nach einer halben Stunde ein jäher Windstoß, der von Norden kam, unser Boot packte und es zum Kentern brachte. Was aus den Gefährten geworden ist, die mit mir in dem Boot gewesen, oder aus denen, die an Bord und auf dem Riff zurückgeblieben waren, vermag ich nicht zu sagen, doch kann ich mir nichts anderes denken, als dass sie allesamt verloren sind. Ich für mein Teil schwamm, von Wind und Flut getrieben, dorthin, wohin das Schicksal mich geleitete. Ein ums andere Mal streckte ich die Beine nach unten aus und spürte keinen Grund, doch als ich fast schon am Ende meiner Kräfte war und nicht mehr weiterkonnte, da hatte ich mit einem Male wieder Boden unter den Füßen, und auch der Sturm war mittlerweile beinah gänzlich abgeflaut. Das Gefälle war so schwach, dass ich bald eine Meile gehen musste, bis ich ans Ufer kam, was nach meiner Vermutung gegen acht Uhr abends war. Alsdann ging ich noch etwa eine halbe Meile weiter, konnte jedoch nirgendwo ein Haus noch irgendwelche Eingeborenen entdecken oder war jedenfalls viel zu geschwächt, als dass ich überhaupt noch in der Lage gewesen wäre, dergleichen zu bemerken. Ich war unendlich müde, und diese Müdigkeit bewirkte denn zusammen mit der Hitze und dem guten Viertel Branntwein, welches ich genossen hatte, ehe ich von Bord gegangen war, dass ich nur mehr schlafen wollte. Und so legte ich mich in das sehr kurze, sehr weiche Gras und sank in den wohl tiefsten Schlummer meines Lebens und schlief nach meiner Schätzung neun volle Stunden lang, denn als ich wieder aufwachte, dämmerte schon der Morgen. Ich wollte mich erheben, doch vermochte ich kein Glied zu rühren, sondern lag auf dem Rücken ausgestreckt und merkte nun, dass meine Arme und Beine auf beiden Seiten fest an den Boden geheftet waren, und auch mein langes, dichtes Haar war in gleicher Weise nach unten gezogen. Desgleichen spürte ich, dass mein Körper von den Achselhöhlen bis hinunter zu den Oberschenkeln mit allerlei dünnen Binden umwickelt war. Ich konnte nur nach oben schauen; die Sonne, die allmählich immer heißer brannte, blendete mich. Ringsumher vernahm ich aufgeregten Lärm, doch in dieser Lage, in der ich mich befand, sah ich nichts weiter als den Himmel über mir. Nach einer kleinen Weile spürte ich, wie mir etwas Lebendiges am linken Bein hochkrabbelte, langsam meine Brust überquerte und beinahe bis hinauf ans Kinn kam; als ich, so gut es ging, die Augen senkte, erkannte ich einen Menschen, der nicht einmal ganz sechs Zoll maß, Pfeil und Bogen in der Hand hielt und auf dem Rücken einen Köcher trug. Unterdessen merkte ich, wie mindestens vierzig von seiner Sorte (so vermutete ich jedenfalls) dem ersten folgten. Ich war aufs Äußerste verwundert und brüllte so laut, dass sie alle miteinander ängstlich davonliefen, und wie man mir später erzählte, wurden einige gar verletzt, als sie rechts und links von meinem Leib hinuntersprangen und zu Boden stürzten. Sie kamen indes gleich wieder zurück, und einer, der sich so weit vorgewagt hatte, dass er mir ins Antlitz schauen konnte, hob voller Verwunderung die Hände, wandte den Blick aufwärts und rief mit schriller, aber klarer Stimme: «Hekinah Degul.»11 Die anderen wiederholten diese Worte mehrmals hintereinander, doch wusste ich dazumalen noch nicht, was sie bedeuteten. Wie sich der geneigte Leser wohl vorstellen mag, lag ich die ganze Zeit in großem Unbehagen da und versuchte die Fesseln abzustreifen, und nach und nach gelang es mir auch glücklich, die Stricke zu zerreißen und die Pflöcke herauszuwinden, mit denen mein linker Arm am Boden befestigt war, und wie ich ihn hochhob und ihn betrachtete, entdeckte ich auch das Verfahren, womit sie mich gefesselt hatten, und lockerte zugleich mit einem mächtigen Ruck, der wilden Schmerz hervorrief, um ein weniges die Stricke, welche mein Haar linkerseits festhielten, sodass ich in der Lage war, den Kopf just zwei Zoll anzuheben. Doch ehe ich die kleinen Kreaturen noch zu packen kriegte, rannten sie ein zweites Mal davon, worauf sich ein großes und überaus schrilles Geschrei erhob; sobald sich dasselbe wieder gelegt hatte, hörte ich, wie ein paar von ihnen laut «Tolgo Phonac» riefen, und gleich darauf trafen mehr als hundert Pfeile meine linke Hand und durchbohrten mir die Haut wie lauter Nadeln, und da schossen diese Kreaturen auch schon die nächste Salve in die Luft, ganz so, wie wir es in Europa mit Granaten tun, und ich vermute wohl, dass viele ihrer Pfeile auf meinen Leib herniederprasselten (wenn ich sie auch nicht spürte), und manche trafen mein Gesicht, welches ich hierauf flugs mit meiner linken Hand bedeckte. Als dieser Pfeilregen vorüber war, ächzte ich vor Kummer und Schmerzen, doch sobald ich abermals versuchte, mich zu befreien, feuerten sie eine neue Garbe ab, noch größer als die erste, und etliche von ihnen rückten mir auch mit Speeren zu Leibe, die sie mir in die Seiten bohren wollten, aber zum Glück trug ich ein Wams aus Ochsenleder, das sie nicht durchdringen konnten. Ich hielt es für das Klügste, still liegen zu bleiben, und nahm mir vor, bis zur Nacht so auszuharren, um mich alsdann mithilfe meiner schon losgewundenen Linken mühelos vollends zu befreien. Und was die Eingeborenen anging, so hatte ich immerhin Anlass zu vermuten, dass ich noch allemal in der Lage wäre, es selbst mit den stärksten Heeren aufzunehmen, die sie zusammenbringen konnten, solange jeder einzelne von ihnen nicht größer war als dieser eine, den ich bereits gesehen hatte. Allein, das Schicksal hatte anderes mit mir im Sinne. Als diese Leute merkten, dass ich Ruhe gab, ließen sie ab und beschossen mich nicht mehr länger mit ihren Pfeilen. Freilich schwoll der Lärm noch an, woraus ich schloss, dass ihrer immer mehr wurden, und bald vernahm ich gut vier Ellen von mir entfernt, auf der Höhe meines rechten Ohres, ein Klopfen, welches über eine Stunde anhielt, als ob da Menschen bei der Arbeit wären, und als ich den Kopf so weit nach jener Richtung drehte, wie die Pflöcke und Stricke es zuließen, sah ich, dass da eine ungefähr anderthalb Fuß hohe Bühne gezimmert ward, die über mehrere angelehnte Leitern zu erklimmen war und auf der vier der Eingeborenen Platz hatten. Von dort aus hielt dann einer ihrer Leute, offenbar ein höchst angesehener Mann, mir eine lange Ansprache, von der ich allerdings keine einzige Silbe verstand. Ich hätte freilich noch erwähnen sollen, dass dieser wichtige Würdenträger, eh er zu seiner feierlichen Rede anhub, dreimal mit lauter Stimme «Langro Dehul san» rief (diese Worte und die vorausgegangenen hat man mir später wiederholt und übersetzt), worauf sogleich an die fünfzig Eingeborene herbeigeeilt kamen und die Stricke durchschnitten, mit denen meine linke Kopfhälfte gefesselt war, sodass ich mich nun ungehindert nach rechts drehen und die Person des Sprechers und sein Gebaren ins Auge fassen konnte. Er war, so schien es mir, in mittleren Jahren und etwas höher gewachsen als die drei anderen, die er bei sich hatte, einer davon ein Page, der ihm die Schleppe hielt und um ein weniges länger als mein Mittelfinger war; die beiden anderen stützten ihn zur Rechten und zur Linken. Er gestikulierte ganz wie ein großer Redner, und sein Tonfall ließ mich ahnen, dass er viel Drohendes hervorbrachte, aber auch allerlei Verheißungsvolles, Mitfühlendes und Freundliches. Ich erwiderte darauf mit wenigen Worten, dieselben freilich vorgetragen in zutiefst ergebungsvollem Ton, hob die Linke und wandte den Blick zur Sonne, als riefe ich sie zur Zeugin an, und weil ich vor Hunger beinahe am Verschmachten war – das letzte Mal hatte ich schließlich mehrere Stunden vor dem Verlassen des Schiffes etwas zu mir genommen –, verlangte die Natur nun so gebieterisch ihr Recht, dass ich (auch wenn ich damit womöglich gegen die gestrengen Regeln der Etikette verstieß) meine Ungeduld nicht länger zu bezähmen vermochte und ein ums andere Mal mit dem Finger auf meinen Mund wies, um ihnen zu bedeuten, dass ich dringend etwas zu essen nötig hatte. Der Hurgo (so nämlich nannten sie den großen Herrn, wie ich hernach erfuhr) verstand mich durchaus. Er stieg von der Bühne und ließ zu meinen beiden Seiten Leitern aufstellen, und sogleich kamen über hundert Eingeborene zu mir heraufgeklettert und näherten sich meinem Munde, schwer beladen mit Körben voller Fleisch, welche der König, kaum dass er von meinem Erscheinen in Kenntnis gesetzt worden war, hatte zubereiten und herbeischaffen lassen. Ich stellte fest, dass das Fleisch von verschiedenen Tieren stammte, vermochte dieselben aber nicht am Geschmack zu unterscheiden. Es gab Schulterstücke, Keulen und Lenden, welche der Form nach vom Lamm hätten sein können und auch sehr schön angerichtet waren, nur kleiner als die Flügel einer Lerche. Ich aß sie, immer zwei, drei Stück auf einmal, und dazu jeweils drei Brotlaibe, ein jeder ungefähr so groß wie eine Musketenkugel. Die Leute brachten, so schnell sie konnten, Nachschub herbei und bekundeten tausendfach ihre Verwunderung und ihr Erstaunen ob meiner riesigen Gestalt und meines Appetits. Alsdann bedeutete ich ihnen, dass ich etwas zu trinken nötig hatte. Angesichts der Mengen an Essen, welche ich verschlang, kamen sie zu dem Schluss, dass mir mit einer kleinen Menge nicht geholfen wäre, und hievten darum, scharfsinnig, wie sie waren, sehr geschickt ein Oxhoft, eines ihrer größten, hoch, rollten es in die Nähe meiner Hand und schlugen ihm den Deckel ab. Ich leerte das ganze Fass auf einen Zug, was mir nicht schwerfiel, denn es enthielt kaum einen Viertelliter Wein, der mich dem Geschmacke nach an einen leichten Burgunder erinnerte, nur war er noch viel köstlicher. Darauf brachten sie ein zweites Oxhoft, welches ich in der gleichen Weise leerte und sogleich um ein drittes bat, aber sie hatten keines mehr, das sie mir geben konnten. Nachdem ich diese Wunder vollführt hatte, kreischten sie vor Vergnügen und tanzten auf meiner Brust herum und wiederholten etliche Male die Worte «Hekinah Degul», die sie schon am Anfang gerufen hatten. Sie bedeuteten mir, ich solle die beiden Fässer hinabwerfen, ermahnten aber zuvor die Leute dort unten, aus dem Weg zu gehen, und dabei riefen sie laut «Borach Mivola», und als sie die Fässer durch die Luft fliegen sahen, schrie alles wie aus einem Munde: «Hekinah Degul.» Ich muss zugeben, dass ich, während sie vorwärts und rückwärts auf mir herumhüpften, mehr als einmal versucht war, mir die ersten vierzig oder fünfzig, die ich packen konnte, zu schnappen und sie kurzerhand zu Boden zu schleudern. Allein, die Erinnerung daran, was ich durchlitten – und vermutlich war es noch nicht einmal das Schlimmste gewesen, dessen sie fähig waren –, sowie an das Ehrenwort, das ich ihnen gegeben hatte, denn als solches deutete ich selbst mein demütiges Betragen, verscheuchte jene Fantasien alsbald wieder. Und überdies fühlte ich mich diesem Volk, das mich so freigebig und prächtig bewirtet hatte, nunmehr durch die Gesetze der Gastfreundschaft verbunden. Insgeheim aber konnte ich mich nicht genug über die Unerschrockenheit dieser winzigen Wesen wundern, die es wagten, obwohl doch meine eine Hand inzwischen frei war, munter an mir emporzuklettern und auf mir herumzuflanieren, ohne beim bloßen Anblick eines so gewaltigen Geschöpfes, als welches ich ihnen doch erscheinen musste, vor Angst zu zittern. Nach einer Weile, als sie merkten, dass ich nichts mehr zu essen verlangte, erschien vor mir ein Herr von hohem Rang und Stand, ein Abgesandter Seiner Kaiserlichen Majestät. Seine Exzellenz war an meinem rechten Schienbein emporgestiegen und schritt mit einem Gefolge von zwölf Leuten auf mein Gesicht zu, wo er sein mit dem herrschaftlichen Siegel versehenes Beglaubigungsschreiben hervorholte und es mir dicht vor die Augen hielt; alsdann sprach er etwa zehn Minuten lang ohne irgendein Anzeichen von Groll, wohl aber mit einer gewissermaßen unumstößlichen Entschlossenheit, und deutete dabei immer wieder nach vorne in die Richtung, in der, wie ich später erfahren sollte, ungefähr eine halbe Meile entfernt die Hauptstadt lag, nach der ich auf Beschluss des kaiserlichen Staatsrates überstellt werden sollte. Ich erwiderte ihm mit wenigen Worten, was aber ganz umsonst war, und gab ihm mit der schon befreiten Hand ein Zeichen, indem ich erst auf meine andere Hand wies (allerdings über dem Haupte Seiner Exzellenz, denn ich war besorgt, ich könnte ihn oder sein Gefolge verletzen) und dann auf meinen Kopf und meinen Leib deutete, um ihm auf diese Weise zu verstehen zu geben, dass ich meine Freiheit wiederzuerlangen wünschte. Er schien sehr wohl begriffen zu haben, denn er schüttelte missbilligend den Kopf und machte eine Gebärde, die besagte, dass ich als Gefangener zu halten sei. Doch dann vollführte er noch andere Handbewegungen, aus denen ich entnehmen konnte, dass es mir an Speis und Trank nicht mangeln solle und man mich auch sonst sehr gut behandeln werde. Worauf ich von Neuem zu sinnieren begann, ob ich nicht doch versuchen sollte, meine Fesseln zu sprengen, aber da spürte ich im Gesicht und an den Händen – beide von Blasen übersät – den stechenden Schmerz ihrer Pfeile, deren Spitzen nach wie vor in großer Menge in mir staken, und merkte ferner, dass die Zahl meiner Feinde noch weiter wuchs, und so gab ich ihnen zu verstehen, dass sie ganz nach ihrem Belieben mit mir verfahren dürften. Was denn den Hurgo und sein Gefolge dazu bewog, unter vielen Artigkeiten und mit lustigem Mienenspiel den Rückzug anzutreten. Nicht lange danach vernahm ich ein allgemeines Geschrei, worin immer wieder die Worte «PeplomSela» erschollen, und merkte, wie ein großer Trupp von diesen Leuten auf meiner linken Seite die Stricke so weit lockerte, dass ich mich auf die rechte drehen und mich durch Abschlagen meines Wassers erleichtern konnte, was ich denn auch im Überflusse tat, und das zum großen Erstaunen der auf dieser Seite stehenden Leute, die schon aus meinen Bewegungen erraten konnten, worauf ich aus war, und sogleich nach rechts und links auseinanderliefen, um sich vor der Springflut zu retten, welche tosend und mit aller Gewalt aus mir hervorbrach. Zuvor aber hatten sie mir das Gesicht und beide Hände mit einer Art Salbe bestrichen, die von sehr angenehmem Geruch war und den stechenden Schmerz ihrer Pfeile in Minutenschnelle linderte. Dies alles bewirkte, zusammen mit der Stärkung, die ich ihren überaus nahrhaften Speisen und Getränken verdankte, dass ich alsbald in einen tiefen Schlummer sank. Wie man mir späterhin versicherte, schlief ich an die acht Stunden, und das war auch kein Wunder, hatten mir doch die Ärzte auf Geheiß des Kaisers einen Schlaftrunk in meinen Wein getan.

Als man mich nach meiner Landung fand, wie ich am Boden lag und schlief, war, scheint’s, der Kaiser gleich in der Frühe durch einen eiligen Boten unterrichtet und im Staatsrate der Beschluss gefasst worden, mich in der beschriebenen Weise zu binden (welches bei Nacht geschah, derweil ich schlief), mir reichlich Speis und Trank zu schicken sowie ein Gefährt heranzuschaffen, welches mich in die Hauptstadt brächte. Ein Beschluss, der einem vielleicht sehr wagemutig und gefährlich vorkommen mag und den, wie ich ganz sicher glaube, wohl nie ein europäischer Fürst bei einer ähnlichen Gelegenheit nachahmen würde, der jedoch in meinen Augen nicht nur überaus klug, sondern auch überaus hochherzig war. Denn angenommen, diese Leute wären bestrebt gewesen, mich, derweil ich schlief, mit ihren Speeren und Pfeilen zu töten, so wäre ich zweifellos mit einem stechenden Schmerz erwacht, der meinen Zorn und meine Kräfte derart aufgestachelt hätte, dass ich es wohl fertiggebracht haben würde, die Bande, die mich hielten, zu sprengen, und alsdann hätten sie, unfähig, Widerstand zu leisten, nicht mehr auf Gnade hoffen können.

Diese Leute sind die vorzüglichsten Mathematiker und haben es mit ihres Kaisers Unterstützung und Ermutigung, denn dieser ist ein sehr berühmter Förderer der Gelehrsamkeit, auch in den Handwerkskünsten zu großer Vollendung gebracht. Jener Herrscher verfügt über etliche auf Rädern befestigte Maschinen, mit denen Bäume und andere schwere Lasten befördert werden können. Seine größten Kriegsschiffe, von denen einige neun Fuß lang sind, lässt er meistens gleich in den Wäldern, wo das Holz wächst, bauen und sie hernach mit den besagten Maschinen drei- oder vierhundert Ellen weit bis ans Meer schaffen. Und so mussten auf der Stelle fünfhundert Zimmerleute und Handwerker an die Arbeit gehen und die größte der vorhandenen Maschinen in Gang setzen. Das war ein hölzernes Gestell, welches sich drei Zoll hoch über dem Erdboden erhob, ungefähr sieben Fuß lang und vier Fuß breit war und sich auf zweiundzwanzig Rädern bewegte. Und das Geschrei, das ich vernahm, galt der Ankunft dieser Maschine, welche anscheinend vier Stunden nach meiner Landung auf den Weg geschickt worden war. Nun manövrierte man sie dergestalt an mich heran, dass sie parallel zu meinem ausgestreckten Körper zu stehen kam, die größte Schwierigkeit aber war, mich auf dieses Fahrzeug hinaufzuhieven. Zu diesem Behufe wurden achtzig Pfähle aufgerichtet, jeder einen Fuß hoch, und alsdann sehr starke Schnüre, ungefähr so dick wie Packschnur, mit Haken an den vielen Binden festgemacht, welche mir die Arbeiter um Hals, Hände, Rumpf und Beine gewunden hatten. Neunhundert der stärksten Männer wurden angestellt, um diese Schnüre mit unzähligen an den Pfählen befestigten Flaschenzügen hochzuziehen, und nach nicht ganz drei Stunden hatten sie mich angehoben und auf die Maschine gehievt und mich daselbst schön fest vertäut. Das alles ward mir erst im Nachhinein erzählt, lag ich doch kraft des meinem Tranke beigemischten Schlafmittels in tiefem Schlummer, derweil die ganze Prozedur an mir vollzogen ward. Fünfzehnhundert von des Kaisers kräftigsten Rossen, ein jedes wohl an die viereinhalb Zoll groß, wurden angespannt, mich nach der Metropole zu ziehen, die, wie ich bereits sagte, eine halbe Meile entfernt war.

Ungefähr vier Stunden nach Beginn unserer Reise weckte mich ein höchst lächerlicher Vorfall, denn als das Gefährt für eine Weile anhielt, damit irgendetwas, das nicht in Ordnung war, gerichtet werden könne, waren ein paar junge Eingeborene neugierig und wollten wissen, wie ich wohl im Schlaf aussehen möchte; sie erklommen also die Maschine und näherten sich behutsam meinem Gesicht, und einer von ihnen, ein Gardeoffizier, schob das spitze Ende seiner Partisane12 ein gutes Stück weit in mein linkes Nasenloch hinein, und weil das Ding mich wie ein Strohhalm in der Nase kitzelte, musste ich heftig niesen, worauf die Übeltäter sich unbemerkt davonstahlen; drei Wochen sollten vergehen, bis ich den Grund für mein jähes Erwachen erfuhr. Während des restlichen Tages legten wir alsdann noch eine lange Strecke zurück und rasteten endlich bei Nacht, ich mit fünfhundert Bewachern an jeder Seite, die eine Hälfte von ihnen mit Fackeln bewaffnet, die andere mit Pfeil und Bogen, bereit, auf mich zu schießen, falls ich etwa Anstalten machte, mich zu regen. Am anderen Morgen bei Sonnenaufgang setzten wir unseren Zug fort und hatten uns gegen Mittag dem Stadttor bis auf zweihundert Ellen genähert. Der Kaiser und sein gesamter Hof kamen heraus, uns zu begrüßen, doch wollten die hohen Beamten bei Hofe unter keinen Umständen dulden, dass Seine Majestät sich in Gefahr brachte, indem er meinen Leib erklomm.

Das Fuhrwerk hielt an einem Platz, an dem ein altertümlicher Tempel stand, welcher als der größte im ganzen Königreiche galt und vor einigen Jahren durch einen abscheulichen Mord befleckt worden war,13 sodass er nunmehr für die Eingeborenen in ihrem Glaubenseifer entweiht war und, nachdem man allen Zierrat und alles Mobiliar daraus fortgeschafft hatte, profanen Zwecken diente. In diesem Gebäude also sollte ich untergebracht werden. Das Haupttor, welches gen Norden wies, war ungefähr vier Fuß hoch und beinah zwei Fuß breit, sodass ich leicht hindurchkriechen konnte. Dieses Tor hatte rechts und links jeweils ein kleines Fenster, allenfalls sechs Zoll über dem Boden. Durch dasjenige auf der linken Seite zogen die Schmiede Seiner Majestät einundneunzig Ketten, ähnlich den Ketten, an denen in Europa die Damenuhren hängen, auch wohl annähernd ebenso lang wie jene, und befestigten dieselben mit sechsunddreißig Vorhängeschlössern an meinem linken Bein. Gegenüber diesem Tempel, auf der anderen Seite der großen Landstraße, befand sich ein Turm von wenigstens fünf Fuß Höhe. Dort hinauf begab sich, wie man mir sagte, denn sehen konnte ich ihn nicht, der Kaiser mit vielen sehr bedeutenden Herren seines Hofes, auf dass sie Gelegenheit hätten, mich zu betrachten. Auch seien, wie es heißt, wohl über hunderttausend Stadtbewohner zum selben Zwecke dort hinausgekommen, und ich möchte meinen, dass zuzeiten nicht weniger als zehntausend Menschen mithilfe von Leitern meinen Leib erklommen, und das, obwohl ich gut bewacht war. Freilich ward alsbald bekannt gemacht, dass dieses bei Todesstrafe verboten sei. Als die Arbeiter sich vergewissert hatten, dass ich mich unmöglich losmachen konnte, durchtrennten sie sämtliche Schnüre, die mich banden, worauf ich mich erhob und in der erbärmlichsten Verfassung meines Lebens mich befand. Doch der Lärm und das Erstaunen der Leute, als sie mich aufstehen und herumgehen sahen, spotteten jeder Beschreibung. Die Ketten, welche mein linkes Bein hielten, waren an die zwei Ellen lang und ließen mir nicht allein genug Bewegungsfreiheit, um im Halbkreis vorwärts und wieder zurück zu schreiten, sondern weil sie vier Zoll neben dem Tor befestigt waren, erlaubten sie mir obendrein, in den Tempel hineinzukriechen und mich darinnen in voller Länge auszustrecken.

2. Kapitel

Der Kaiser von Lilliput kommt in Begleitung etlicher Würdenträger, um den Verfasser in seiner Gefangenschaft zu besuchen. Beschreibung von Person und Aufzug des Kaisers. Es werden Gelehrte berufen, die den Verfasser in ihrer Sprache unterweisen sollen. Sein mildes Wesen trägt ihm Gunst ein. Seine Taschen werden durchsucht, und man nimmt ihm Degen und Pistolen ab.

Als ich nun wieder auf den Beinen war, schaute ich mich um und sah, muss ich gestehen, vor mir ein Bild, wie ich ergötzlicher noch keines je erblickt. Das ganze Land rings um mich her glich einem einzigen Garten, und die Felder, welche darin eingebettet waren und deren jedes ungefähr vierzig mal vierzig Fuß maß, sahen aus wie lauter Blumenbeete. Diese Felder wechselten mit winzigen Streifen Waldes, keiner davon länger als eine halbe Stange14, wo die höchsten Bäume meiner Schätzung nach ungefähr sieben Fuß in die Höhe ragen mochten. Zu meiner Linken lag die Stadt, die aussah wie eine gemalte Theaterkulisse.

Nun verlangte schon seit Stunden die Natur mehr als gebieterisch ihr Recht, und das war auch kein Wunder, war es doch bald zwei Tage her, dass ich mich das letzte Mal erleichtert hatte. So befand ich mich denn in größter Verlegenheit, hin- und hergerissen zwischen Notdürftigkeit und Scham. Der beste Ausweg, der mir in den Sinn kam, war, wieder in mein Haus zurückzukriechen, was ich auch prompt tat. Ich zog das Tor hinter mir ins Schloss, ging so weit nach hinten, wie es die Länge meiner Kette zuließ, und entledigte mich dieser lästigen Leibesbürde. Das war jedoch das einzige Mal, dass ich mich einer derart unreinlichen Handlung schuldig machte, und ich kann nur hoffen, dass der geneigte Leser, wenn er meinen Fall und die Zwangslage, in welcher ich mich befand, reiflich und unvoreingenommen bedenkt, doch immerhin ein wenig Nachsicht mit mir haben wird. Von da an pflegte ich das bewusste Geschäft immer gleich nach dem Aufstehen im Freien zu erledigen, wobei ich die Länge meiner Kette vollends ausnutzte; auch trug man gehörig dafür Sorge, dass die anstößige Materie jeden Morgen, bevor irgendwelche Besucher kamen, von zwei eigens zu diesem Behufe abgestellten Dienern auf Schubkarren fortgeschafft ward. Ich würde mich nicht so lange über einen Umstand verbreitet haben, welcher vielleicht auf den ersten Blick nicht sehr bedeutend erscheinen mag, wenn ich es nicht für geboten hielte, meine Wesensart in puncto Reinlichkeit vor aller Welt zu rechtfertigen, denn wie ich höre, gab es hier und da gewisse böse Zungen, die dieselbe bezüglich der genannten wie auch anderer Angelegenheiten in Zweifel zu ziehen beliebten.

Sobald ich dieses Abenteuer hinter mich gebracht hatte, kam ich wieder aus meinem Haus hervor, denn ich verspürte einen Drang nach frischer Luft. Der Kaiser war schon von dem Turm herabgestiegen und näherte sich mir hoch zu Rosse, was ihn um Haaresbreite teuer zu stehen gekommen wäre, denn das Tier, so vorzüglich es auch erzogen war, bäumte sich ob des durchaus ungewohnten Anblicks auf und glaubte allem Anschein nach, vor ihm bewege sich ein Berg. Der Herrscher aber, der ein ausgezeichneter Reiter war, hielt sich im Sattel, bis seine Bediensteten herbeigeeilt kamen und nach den Zügeln griffen, sodass Seine Majestät in Ruhe absitzen konnte. Als er wieder auf dem Boden stand, musterte er mich voller Bewunderung, trat allerdings nicht in den Radius meiner Kettenlänge. Er befahl seinen Köchen und Dienern, die schon alles fertig zubereitet und auf kleinen karrenartigen Gefährten angerichtet hatten, mir Speis und Trank zu geben, und gleich schoben sie die Karren so nah an mich heran, dass ich danach langen konnte. Ich nahm sie einen nach dem anderen und leerte sie unverzüglich und alle auf einmal; zwanzig waren mit Speisen gefüllt, zehn mit Getränken, wobei die mit den Speisen mir immer zwei, drei ordentliche Happen boten, derweil ich zehn von den Gefäßen voll kleiner irdener Flaschen, worin sich Getränke befanden, in einen einzigen Karren schüttete, den ich auf einen Zug austrank und mit den übrigen auf die gleiche Weise verfuhr. Die Kaiserin15 und die erlauchten jungen Sprösslinge beiderlei Geschlechts saßen, flankiert von ihren vielen Aufwärterinnen, in einiger Entfernung auf ihren Stühlen, doch bei dem Reitunfall, welcher dem Kaiser widerfahren, hatten sie sich erhoben und waren herbeigeeilt und umringten nun seine Person, die ich im Folgenden beschreiben will. Er ist um fast die Breite meines Daumennagels größer als irgendjemand sonst an seinem Hofe, was allein schon hinreicht, dem Betrachter Ehrfurcht einzuflößen. Er hat markige, männliche Züge, eine Habsburger Lippe, eine gebogene Nase, einen olivenfarbenen Teint und hält sich sehr gerade; er ist wohlproportioniert an Leib und Gliedern, in seinen Bewegungen liegt Anmut, und sein Betragen ist hoheitsvoll.16 Mit seinen achtundzwanzigdreiviertel Lenzen, davon bis dato sieben17 überaus glücklicher und alles in allem erfolgreicher Regentschaft, hatte er das beste Mannesalter seinerzeit schon hinter sich. Um ihn bequemer betrachten zu können, legte ich mich auf die Seite, sodass mein Gesicht auf gleicher Höhe mit dem seinen war und die Entfernung zwischen uns nur drei Ellen betrug. Auch hielt ich ihn seit damals viele Male in der Hand und kann mich darum schwerlich täuschen, wenn ich ihn beschreibe. Sein Anzug war sehr schlicht und einfach, der Schnitt ein Mittelding zwischen asiatisch18 und europäisch, auf dem Kopfe aber trug er einen leichten güldenen Helm, der mit Juwelen besetzt war und an dem als Helmzier ein Federbusch prangte. Seinen beinahe drei Zoll langen Degen, dessen Knauf und Scheide von Gold und reich mit Diamanten eingelegt waren, hielt er gezückt, damit er sich verteidigen könnte, falls ich etwa Anstalten machte, mich zu befreien. Seine Stimme war schrill, die Aussprache aber sehr klar und deutlich und auch noch gut zu hören, als ich mich erhoben hatte. Die Damen und Herren seines Hofstaates waren sämtlich über alle Maßen prächtig gekleidet, sodass der Platz, auf dem sie standen, wie ein riesiger, auf dem Boden ausgebreiteter, mit güldenen und silbernen Figuren bestickter Unterrock aussah. Seine Kaiserliche Majestät wandte sich gar oft an mich, und ich antwortete ihm auch, obwohl weder er noch ich auch nur eine Silbe verstehen konnten. Es waren auch etliche seiner Priester und Rechtsgelehrten zugegen (wie ich aus ihrer Tracht erriet), denen er befahl, mich anzusprechen, und ich redete mit ihnen in jeder Sprache, die ich, sei es auch nur gebrochen, zu sprechen imstande war, nämlich in Hoch- und Niederdeutsch19, Latein, Französisch, Spanisch, Italienisch und in der Lingua franca20, doch es half alles nichts. Nach ungefähr zwei Stunden zog sich der Hof zurück und ließ mich in der Obhut einer starken Wache, die mich vor der Zudringlichkeit, wenn nicht gar Heimtücke, der Masse des gemeinen Volkes beschützen sollte, die schon ungeduldigst darauf wartete, sich so nahe, als man sich’s getraute, an mich heranzudrängen, und einige waren gar so keck, mich, derweil ich vor der Türe meines Hauses auf dem Boden saß, mit ihren Pfeilen zu beschießen, von denen einer nur knapp mein linkes Auge verfehlte. Doch der Obrist ließ sechs der Rädelsführer ergreifen und konnte keine passendere Strafe für sie ersinnen, als zu befehlen, dass man sie gefesselt in meine Hände ausliefere, was einige seiner Soldaten auch prompt taten, indem sie die Männer mit dem stumpfen Ende ihrer Spieße in meine Reichweite schoben; ich hob sie allesamt mit der Rechten auf, steckte fünf von ihnen in meine Rocktasche und zog bei dem sechsten ein Gesicht, als wollte ich ihn bei lebendigem Leibe auffressen. Der Arme kreischte ganz entsetzlich, und der Obrist und seine Würdenträger waren in heller Sorge, besonders, als sie mich mein Taschenmesser zücken sahen; ich zerstreute jedoch alsbald ihre Bedenken, indem ich gleich wieder milde dreinsah, die Stricke durchtrennte, die ihn banden, und ihn sachte auf den Boden setzte, worauf er ungesäumt Fersengeld gab; ebenso verfuhr ich mit den übrigen, die ich einen nach dem anderen aus der Tasche holte, wobei mir keineswegs entging, dass meine nachsichtige Geste nicht allein von den Soldaten, sondern auch von allen anderen überaus dankbar aufgenommen ward; auch sprach die Sache sich gar bald bei Hofe herum und brachte mir daselbst nicht wenig Huld ein.

Gegen Abend zog ich mich nicht ohne einige Mühe in mein Haus zurück, wo ich mich auf dem Boden ausstreckte, und das ging ungefähr zwei Wochen so, nämlich so lange, bis das Bett fertig war, welches mir der Kaiser unterdessen hatte bauen lassen. Sechshundert Matratzen von gewöhnlicher Größe wurden auf Wagen herbeigeschafft und in meinem Hause zusammengesetzt; einhundertfünfzig von ihren Matratzen ergaben zusammengenäht die Breite und Länge der meinen, und davon wurden alsdann vier übereinandergelegt, was die Härte des Untergrunds indes nur notdürftig milderte, denn dieser war ein glatter Steinboden. Nach der gleichen Berechnung ward ich mit Leintüchern, Decken und Überwürfen versehen – alles recht wohl zu ertragen für einen wie mich, der ich ja seit Langem gegen Entbehrungen abgehärtet war.

Die Kunde von meinem Auftauchen verbreitete sich überall im Reiche und rief zahllose ebenso wohlhabende wie neugierige Müßiggänger auf den Plan, die es gelüstete, mich zu besichtigen, sodass die Dörfer bald verwaist waren und eine schwere Vernachlässigung der Landarbeit und aller wirtschaftlichen Belange die Folge gewesen wäre, hätte Seine Kaiserliche Majestät nicht mit etlichen Bekanntmachungen und Regierungserlassen Vorsorge gegen derartige Unliebsamkeiten getroffen. Er erließ den Befehl, dass jeder, der mich schon besichtigt habe, nach Hause zurückkehren solle und sich meiner Unterkunft nur mit Erlaubnis des Hofes noch ein zweites Mal weiter als bis auf fünfzig Ellen nähern dürfe, was den Staatsbeamten zu beträchtlichen Einnahmen verhalf.

Unterdessen berief der Herrscher mehrmals seinen Staatsrat ein, um darüber zu debattieren, wie weiter mit mir zu verfahren sei, und wie mir ein spezieller Freund, ein Mann von vorzüglichen Eigenschaften, der als jemand galt, der besser als sonst irgendeiner in alle Geheimnisse eingeweiht war, wie dieser Freund mir also hernach versicherte, gab es bei Hofe mannigfaches Ungemach um meinetwillen. Man war besorgt, ich könnte ausbrechen oder meine Ernährung könnte allzu teuer werden und womöglich gar eine Hungersnot heraufbeschwören. Irgendwann ward der Beschluss gefasst, mich verhungern zu lassen oder wenigstens mit vergifteten Pfeilen auf mein Gesicht und meine Hände zu schießen, was mich alsbald ins Jenseits befördern werde, dann aber räsonierte man darüber, dass der Gestank eines so riesigen Kadavers in der Metropole womöglich eine Pestepidemie hervorriefe, welche sich am Ende über das ganze Königreich ausbreiten könnte. Und während man sich noch beriet, begaben sich mehrere Offiziere des Heeres zur Pforte des großen Ratssaales, und zwei von ihnen wurden vorgelassen und berichteten, wie ich mich den sechs weiter oben erwähnten Verbrechern gegenüber verhalten hatte, was die Herzen nicht allein Seiner Majestät, sondern der ganzen Ratsversammlung so sehr für mich einnahm, dass eine kaiserliche Kommission ausgeschickt ward, welche alle Dörfer im Umkreis von neunhundert Ellen rings um die Hauptstadt herum verpflichten sollte, jeden Morgen sechs Ochsen, vierzig Schafe und andere Lebensmittel für meinen Unterhalt zu liefern, dazu eine entsprechende Menge an Brot und Wein und anderen Getränken, für deren ordnungsgemäße Bezahlung Sorge zu tragen Seine Majestät den Hofkämmerer anwies. Denn dieser Herrscher lebt hauptsächlich von seinen eigenen Krongütern und erhebt nur selten, außer bei bedeutenden Anlässen, irgendwelche Steuern von seinen Untertanen, die keine anderen Pflichten haben als die, ihm auf ihre eigenen Kosten bei seinen Kriegen beizustehen. Auch ward ein Trupp von sechshundert Leuten eingesetzt, die mir als meine Domestiken dienen und für ihren Lebensunterhalt ein Kostgeld erhalten sollten und für die höchst bequemerweise rechts und links von meiner Türe Zelte aufgeschlagen wurden. Gleichfalls ward beschlossen, dass dreihundert Schneider mir einen Anzug nach der Mode des Landes schneidern sollten, dito sollten sechs der größten Gelehrten Seiner Majestät dazu angestellt werden, mich in ihrer Sprache zu unterweisen, und endlich sollte ich recht oft zugegen sein, wenn die Rosse Seiner Majestät wie auch die der adligen Herren und der Wachmannschaften dressiert wurden, damit sie sich an mich gewöhnten. Alle diese Anordnungen wurden auch entsprechend zur Ausführung gebracht, und so hatte ich denn bereits nach ungefähr drei Wochen, in denen mir der Kaiser des Öfteren die Ehre seines Besuchs erwies und es sich ein Vergnügen sein ließ, meinen Lehrern während des Unterrichts zur Hand zu gehen, große Fortschritte im Erlernen ihrer Sprache gemacht. Wir fingen sogar schon an, uns mehr oder minder miteinander zu unterhalten, und die ersten Worte, die ich lernte, brachten meinen Wunsch zum Ausdruck, dass Seine Majestät die Güte haben möge, mir meine Freiheit zu schenken, was ich von da an Tag für Tag auf Knien liegend wiederholte. Seine Antwort, soweit ich sie denn erahnen konnte, war, das wolle eben Weile haben, und an eine Entscheidung sei gar nicht zu denken, ehe er nicht die Meinung seiner Ratgeber eingeholt habe, und überhaupt müsse ich zuerst einmal «Lumos Kelmin pesso desmar lon Emposo», also ihm und seinem Königreiche Frieden schwören. Freilich werde man mir mit aller Freundlichkeit begegnen, versicherte er mir und gab mir überdies den guten Rat, mir durch Langmut und Besonnenheit sein eigenes Wohlwollen und das seiner Untertanen zu verdienen. Er bat mich, es ihm nachzusehen, wenn er ein paar tugendsame Beamte mit meiner Durchsuchung21 beauftrage, denn ich trüge ja vermutlich Waffen bei mir, und falls dieselben dem Körpermaße einer so riesenhaften Person entsprechen sollten, so müssten sie doch ohne Frage ungemein gefährlich sein. Worauf ich erwiderte, Majestät müssten sich keine Sorgen machen, denn ich sei sehr wohl bereit, mich vor ihm zu entkleiden und meine Taschen herumzudrehen. Dieses brachte ich teils in Worten und teils in der Zeichensprache hervor. Er antwortete, nach den in seinem Königreiche geltenden Gesetzen müsse ich von zweien seiner Beamten durchsucht werden, und er wisse wohl, dass es dazu meiner Einwilligung und meiner Mithilfe bedürfe; er habe freilich eine derart hohe Meinung von meinem Großmut und Gerechtigkeitssinn, dass er die beiden Männer getrost in meine Hände gebe. Überdies solle mir alles, war sie mir abnähmen, beim Verlassen des Landes zurückgegeben oder zu dem von mir bestimmten Preis erstattet werden. Da hob ich die zwei Beamten mit meinen Händen auf, steckte sie zuerst in meine Rocktaschen und alsdann in jede andere Tasche, die ich an mir hatte, außer in die beiden Uhrtaschen22 und eine weitere Tasche, die ich nicht durchsuchen lassen mochte und in der ich ein paar nützliche Kleinigkeiten aufbewahrte, die für niemanden als für mich selber von Bedeutung waren. In meiner einen Uhrtasche befand sich eine silberne Uhr und in der anderen eine Börse mit ein paar Goldstücken darin. Diese Herren, die Feder, Tinte und Papier mitgebracht hatten, legten ein exaktes Inventarium von allem, was sie sahen, an, und als sie damit fertig waren, baten sie mich, sie wieder hinunterzulassen, damit sie das Verzeichnis dem Kaiser übergeben könnten. Dieses Inventarium habe ich später Wort für Wort übersetzt; es lautet wie folgt:

IMPRIMIS:23 In des Großen Menschbergs (denn so deute ich die Worte «Quinbus Flestrin») rechter Rocktasche fanden wir nach gestrengster Durchsuchung nichts als ein gewaltiges Stück groben Tuches, lang und breit genug, damit den Fußboden im großen Thronsaal Eurer Majestät vollkommen zu bedecken. In der linken Tasche sahen wir einen mächtigen Silberkasten mit einem Deckel aus dem nämlichen Metalle, welchen anzuheben uns als den Durchsuchern nicht gelang. Wir baten, ihn zu öffnen, und einer von uns stieg hinein und stand bis zur Beinesmitte in einer staubartigen Substanz, welche uns zum Teil ins Gesicht flog und uns beide gleichzeitig etliche Male nacheinander zum Niesen brachte. In seiner rechten Westentasche fanden wir ein mächtiges Bündel von Blättern aus einem dünnen weißen Stoff, welche gefaltet übereinanderlagen, sodass sie einen ungefähr dreifach mannshohen Stapel bildeten, der mit einem starken Tau zusammengeschnürt war; diese trugen viele schwarze Zeichen, welche wir in aller gebotenen Bescheidenheit für Schriftzeichen halten, wobei jeder Buchstabe beinahe halb so groß ist wie die Fläche unserer Hand. In der linken Westentasche befand sich eine Art Maschine, aus deren Rücken zwanzig lange Pfähle ragten, ähnlich den Palisaden vor dem Schlosshof Eurer Majestät, und mit der sich der Menschberg sein Haupt kämmt, wie wir jedenfalls vermuten, denn wir mochten ihn nicht allemal mit Fragen bemühen, weil wir es sehr schwierig fanden, uns ihm verständlich zu machen. In der großen Tasche auf der rechten Seite seines Mittelgewandes (so übersetze ich das Wort «Ranfu-Lo», womit sie meine Kniehosen meinten) sahen wir eine hohle, etwa mannshohe Eisensäule, die an einem dicken Holz befestigt war, welches gar noch höher als die Säule selber sich erhob, und aus dieser Säule ragten auf der einen Seite riesige Eisenstücke von eigentümlicher Gestalt heraus, deren Zweck wir uns nicht erklären können. In der linken Tasche war noch eine zweite Maschine von der gleichen Art. In der kleineren Tasche auf der rechten Seite befanden sich etliche flache, runde, verschieden große Scheiben aus weißem und rotem Metall; von den weißen, die uns wie Silber vorkamen, waren einige so groß und schwer, dass mein Kamerad und ich uns kaum imstande sahen, sie anzuheben. In der linken Tasche waren zwei unregelmäßig geformte schwarze Säulen, zu deren Spitzen wir, auf dem Boden seiner Tasche stehend, nur mit Mühe hinauflangen konnten. Die eine davon stak in einem Futteral und schien ganz aus einem Stück zu sein; am oberen Ende der anderen jedoch trat eine weiße, runde Masse hervor, ungefähr zweimal so groß wie unsere Köpfe. In jede dieser beiden Säulen war eine gewaltige stählerne Platte eingelassen, und wir forderten den Menschberg kraft unseres Amtes auf, uns dieselben vorzuzeigen, denn wir fürchteten, es könnten gefährliche Maschinen sein. Er nahm sie aus ihren Futteralen und erzählte uns, in seinem Lande pflege er sich mit der einen den Bart zu scheren und mit der anderen sein Fleisch zu schneiden. Zu zweien seiner Taschen blieb der Zugang uns verwehrt. Diese nannte er seine Uhrtaschen; es waren zwei lange Schlitze, welche in den oberen Rand seines Mittelgewandes eingearbeitet waren, aber durch den Druck seines Bauches zusammengepresst wurden. Aus der rechten Uhrtasche hing eine große silberne Kette mit einer wundersamen Maschine daran. Wir befahlen ihm, das Ding, welches unten an der Kette befestigt war, herauszuziehen, und siehe da, es entpuppte sich als eine Art Kugel, welche zur Hälfte aus Silber bestand und zur anderen Hälfte aus irgendeinem durchsichtigen Metall. Denn auf der durchsichtigen Seite sahen wir gewisse eigentümliche, im Kreis angeordnete Zeichen und glaubten gar, dieselben berühren zu können, mussten jedoch feststellen, dass unsere Finger diese durchsichtige Substanz nicht durchdringen konnten. Er hielt uns die Maschine an die Ohren; sie machte einen unaufhörlichen Lärm, dem einer Wassermühle gleich. Und wir vermuten, dass es entweder ein unbekanntes Tier ist oder aber der Gott, zu dem er betet, neigen indes eher zu letzterer Ansicht, weil er uns versicherte (wenn wir ihn recht verstanden haben, denn er drückte sich sehr unzulänglich aus), er habe noch selten irgendetwas getan, ohne jenes Ding zurate zu ziehen. Er nannte es sein Orakel und sagte, es zeige ihm in jeder Lebenslage die Zeit an. Aus der linken Uhrtasche zog er ein Netz, beinahe so groß wie ein Fischernetz, doch dergestalt eingerichtet, dass es sich wie eine Börse öffnen und schließen ließ, und zu ebendiesem Zwecke diente es ihm auch. Wir fanden darin mehrere dicke Scheiben aus einem gelben Metall, welche, falls sie von eitlem Golde sind, unschätzbar wertvoll sein müssen.

Nachdem wir also, wie Eure Majestät uns geheißen, eifrig all seine Taschen durchsucht hatten, bemerkten wir um seine Taille einen Gürtel aus der Haut irgendeines riesigen Tieres, von welchem an der linken Seite ein fünffach mannshoher Degen herabhing und an der rechten eine Art Tasche oder ein Beutel mit zwei Abteilungen darin, deren jede wohl drei von Eurer Majestät Untertanen zu fassen vermöchte. In einer dieser Abteilungen befanden sich mehrere Kugeln oder Bälle aus einem ungemein schweren Metall, etwa von der Größe unserer Köpfe, und es bedurfte einer starken Hand, sie anzuheben. Die andere Abteilung enthielt einen Haufen eigenartiger schwarzer Körner, die weder besonders dick noch besonders schwer waren, denn von diesen konnten wir vier oder fünf auf einmal in unseren Händen halten.

Dies ist ein genaues Inventarium von allem, was wir am Leibe des Menschbergs gefunden, der uns mit großer Artigkeit und allem schuldigen Respekt für die Befehle Eurer Majestät begegnete. Gezeichnet und gesiegelt am vierten Tage des neunundachtzigsten Mondes von Eurer Majestät segensreicher Regentschaft.

Clefren Frelock, Marsi Frelock

Nachdem dieses Inventarium dem Kaiser vorgelesen worden war, befahl er mir, wenn auch in überaus sanftem Ton, ihm die verschiedenen Gegenstände auszuhändigen. Als Erstes verlangte er nach meinem Krummsäbel, den ich mitsamt der Scheide und allem Zugehöre abnahm; währenddessen ließ er dreitausend seiner besten Soldaten (welche zu jener Zeit in seinen Diensten standen) in einiger Entfernung um mich herum Aufstellung nehmen und mich mit gespanntem Bogen und schussbereiten Pfeilen umzingeln, was ich indes gar nicht bemerkte, denn ich hatte nur Augen für Seine Majestät. Alsdann befahl er mir, meinen Krummsäbel, der zwar durch das Meerwasser ein klein wenig Rost angesetzt hatte, größtenteils aber blitzblank war, aus der Scheide zu ziehen. Ich tat es, und sogleich entfuhr den Soldaten ein Schrei, halb vor Entsetzen, halb vor Staunen, denn die Sonne leuchtete, und wie ich den Krummsäbel in meiner Hand hin und her schwang, waren die braven Leute ganz geblendet von ihrem Widerschein. Seine Majestät aber ist ein über alle Maßen hochherziger Herrscher und ließ sich davon weniger verzagen, als ich erwarten durfte; er befahl mir, den Säbel wieder in die Scheide zu stecken und ihn so behutsam, als es mir irgend möglich sei, ungefähr sechs Fuß von dem Ende meiner Kette entfernt auf den Boden zu werfen. Als Nächstes verlangte er nach einer der beiden hohlen eisernen Säulen, womit er meine Taschenpistolen meinte. Ich holte sie hervor und erklärte ihm, so gut ich es vermochte, ihren Gebrauch und lud sie, freilich bloß mit Pulver, welches, meinem Pulversack und seiner Dichtigkeit sei Dank, davor bewahrt geblieben war, vom Meerwasser durchnässt zu werden – übrigens ein Ungemach, wogegen jeder kluge Seemann auf das Sorgfältigste seine Vorkehrungen trifft; als ich damit fertig war, warnte ich den Kaiser und bat ihn, keine Angst zu haben, und alsdann feuerte ich in die Luft. Diesmal war das Erstaunen noch weit größer als beim Anblick meines Säbels. Zu Hunderten fielen die Leute um wie tot, und auch der Kaiser selbst, obzwar noch auf den Beinen, brauchte eine Weile, bis er wieder zu sich kam. Ich lieferte meine beiden Pistolen auf die gleiche Weise ab wie vorher schon den Krummsäbel und hernach meinen Pulversack nebst Kugeln, wobei ich Seine Majestät beschwor, den Ersteren nur ja vom Feuer fernzuhalten, weil er durch den kleinsten Funken entflammt werden könne und der ganze Herrscherpalast dadurch in die Luft fliegen würde. Gleicherweise lieferte ich auch meine Uhr ab, die anzuschauen der Kaiser sehr begierig war, weshalb er zwei besonders hochgewachsenen Männern aus seiner Leibgarde befahl, sie an einer Stange auf den Schultern zu tragen wie die Rollkutscher in England ein Bierfass. Er wunderte sich über den steten Lärm, den sie machte, und die Bewegung des Minutenzeigers, den er leicht erkennen konnte, denn sie haben dort wesentlich schärfere Augen als wir, und fragte seine Gelehrten, die sich um ihn scharten, nach ihren Ansichten, die, wie der geneigte Leser sich, auch ohne dass ich sie hier wiederholen müsste, wohl denken mag, ebenso mannigfaltig wie entlegen waren und die ich in der Tat nicht allzu gut verstehen konnte. Alsdann gab ich meine Silber- und Kupfermünzen her, meine Geldbörse mit neun großen Goldstücken und ein paar kleineren, mein Messer und mein Rasiermesser, meinen Kamm und meine silberne Schnupftabakdose, mein Sacktuch und mein Tagebuch. Meinen Krummsäbel, die Pistolen und den Pulversack brachten sie mit Wagen ins königliche Arsenal, meine übrigen Habseligkeiten aber wurden mir zurückerstattet.

Nun hatte ich, wie schon gesagt, noch eine geheime Tasche, welche der Durchsuchung entgangen war und worin sich eine Brille (die ich mitunter meiner schwachen Augen wegen benutze), ein Taschenfernrohr und etliche andere kleine Gerätschaften befanden, welche für den Kaiser von keinerlei Interesse waren, weshalb ich mich auch nicht verpflichtet wähnte, sie um der Ehre willen vorzuzeigen, zumal ich besorgt war, sie könnten womöglich verloren gehen oder beschädigt werden, falls ich sie aus den Händen gäbe.

3. Kapitel

Der Verfasser zerstreut den Kaiser sowie die adligen Damen und Herren auf sehr ungewöhnliche Weise. Beschreibung der kurzweiligen Zerstreuungen am Hofe von Lilliput. Dem Verfasser wird unter bestimmten Bedingungen seine Freiheit gewährt.

Mit meiner liebenswürdigen Art und meinem freundlichen Betragen hatte ich den Kaiser und seinen Hof und in der Tat sogar das Heer und überhaupt alle Leute so sehr für mich eingenommen, dass ich mir allmählich schon Hoffnungen machte, in Bälde freizukommen. Auf jede nur erdenkliche Weise versuchte ich, diesen günstigen Umstand fürderhin noch weiter zu befördern. Nach und nach verloren auch die Einwohner ihre Furcht, es möchte etwa irgendeine Gefahr von mir ausgehen. Bisweilen legte ich mich auf den Boden und ließ fünf oder sechs von ihnen auf meiner Hand tanzen. Und am Ende waren die jungen Burschen und Mädchen gar fürwitzig genug, in meinem Haar Verstecken zu spielen. Im Verstehen und auch im Sprechen ihrer Sprache hatte ich unterdessen gute Fortschritte gemacht. Und eines Tages gefiel es dem Kaiser, mich mit einigen der ländlichen Lustbarkeiten zu unterhalten, bei denen sie allen anderen Völkern, die ich kenne, an Geschicklichkeit und Prachtentfaltung weit überlegen waren. Die Kunst, mit der man mich zu zerstreuen suchte, war nichts Geringeres als der Seiltanz, vorgeführt auf einem dünnen weißen, etwa zwei Fuß und zwölf Zoll über dem Erdboden gespannten Zwirnsfaden. Ein Phänomen, bei dem ich mir mit des geneigten Lesers gütiger Erlaubnis die Freiheit nehmen möchte, noch ein wenig länger zu verweilen.

Ausgeübt wird diese Zerstreuung allein von solchen Personen, die Anwärter auf ein bedeutendes Amt sind und bei Hofe in der höchsten Gunst stehen. Sie werden von Jugend auf in dieser Kunst unterwiesen und sind dabei durchaus nicht immer von edler Geburt oder vortrefflicher Bildung. Sooft nun, sei es durch Tod oder weil (wie es nicht selten geschieht) jemand in Ungnade fiel, eine bedeutende Stellung vakant geworden ist, ersuchen fünf oder sechs dieser Anwärter um die Erlaubnis, Seine Kaiserliche Majestät sowie den ganzen Hofstaat mit einem Tanze auf dem Seil zerstreuen zu dürfen, und die Amtsnachfolge tritt hernach derjenige an, welcher am höchsten springen kann und nicht hinunterfällt. Nicht selten erhalten selbst die obersten Minister den Befehl zu zeigen, wie geschickt sie sind, und so dem Kaiser zu beweisen, dass ihnen ihre Fähigkeiten noch nicht abhanden kamen. Flimnap24, dem Kämmerer, gelingt es, auf dem straffen Seil mindestens einen Zoll höher in die Luft zu springen als sonst ein Lord im ganzen Reiche. Mehr als einmal sah ich ihn auf einem Tranchierbrett, welches auf einem Seil, nicht dicker als in England ein gemeines Stück Packschnur, befestigt war, gleich mehrere Bürzelbäume hintereinander schlagen. Und ich möchte meinen, dass mein Freund Reldresal, seines Zeichens Minister für Innere Angelegenheiten, dem Kämmerer, wenn nicht ebenbürtig, so doch nur um ein Geringes unterlegen ist, und die hohen Würdenträger sind alle mehr oder minder gleich gut.

Oft kommt es bei dieser Kurzweil zu Unglücksfällen mit tödlichem Ausgang, welche in den Annalen zuhauf verzeichnet sind. Ich habe selber mehr als einmal miterlebt, wie sich ein Anwärter die Knochen brach. Viel größer noch ist aber die Gefahr, wenn die Minister höchstpersönlich den Befehl erhalten, ihre Geschicklichkeit unter Beweis zu stellen, denn diese treiben es in ihrem Eifer, die Amtsbrüder zu übertrumpfen, so weit, dass kaum einer von ihnen noch nicht zu Falle kam, manche sogar schon zweimal oder dreimal. Ein Jahr oder auch zwei, bevor es mich hierher verschlagen, so hat man mir versichert, würde sich Flimnap unfehlbar den Hals gebrochen haben, wäre nicht die Wucht des Aufpralls durch eines von des Königs Polsterkissen25, das rein zufällig auf der Erde lag, gemindert worden.

Und es gibt noch eine andere Zerstreuung, welche ausschließlich vor dem Kaiserpaar und dem Premierminister aufgeführt wird und nur zu ganz besonderen Gelegenheiten. Dann legt der Kaiser drei feine Seidenfäden, davon ein jeder sechs Zoll misst, auf einem Tische aus. Einer ist blau, der andere rot und grün der dritte.26 Diese Fäden sind als Preis für einen Mann gedacht, den der Kaiser eines besonderen Zeichens seiner Gunst zu würdigen beliebt. Die Zeremonie findet im Großen Kabinettssaale statt, wo die Geschicklichkeit der Anwärter auf eine Weise, die sich durchaus von der vorigen Prüfung unterscheidet, auf die Probe gestellt wird, und ich habe in keinem anderen Lande, nicht in der Alten und auch nicht in der Neuen Welt, jemals irgendetwas gesehen, was sich damit auch nur im Entferntesten vergleichen ließe. Der Kaiser hält einen Stock so in den Händen, dass er waagerecht zum Horizont zeigt, und die Anwärter treten einer nach dem anderen vor und springen etliche Male bald über den Stock hinüber, bald kriechen sie, mal vorwärts und mal rückwärts, unter ihm hindurch, je nachdem, ob das Stöckchen gehoben wird oder gesenkt. Bisweilen hält das eine Ende von dem Stocke der Kaiser fest, das andere sein Premierminister, bisweilen hält ihn der Premierminister auch alleine. Und wer seinen Part am behändesten ausführt und am längsten hüpfen oder kriechen kann, dem wird der blaue Seidenfaden überreicht; der Zweitbeste erhält den roten Faden und der Dritte den grünen, und diese Fäden tragen sie hernach zweimal rund um die Leibesmitte geschlungen, und es begegnen einem dort bei Hofe nur wenige Herren von Rang und Stand, die nicht ein solcher Gürtel ziert.