Gurdjieff Praxisbuch 2 - Bruno Martin - E-Book

Gurdjieff Praxisbuch 2 E-Book

Bruno Martin

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Beschreibung

Aus dem reichen Erfahrungsschatz seiner Arbeit mit Menschen inspiriert Bruno Martin mit seinem neuen Praxisbuch zur Vertiefung und Stärkung der bewussten inneren "Arbeit an sich selbst". Die Grundlage dieser Erkenntnisse basiert auf den Methoden von G. I. Gurdjieff und John G. Bennett, die der Autor den heutigen Bedürfnissen entsprechend angepasst und weiterentwickelt hat. Die neuen Übungen in diesen Gurdjieff Praxisbuch 2 können "Sucherinnen und Sucher nach der Wahrheit" in bislang unerkannte Erfahrungen der Verbindung mit sich selbst führen. Aus dieser bewussten "Selbsterinnerung" kann eine harmonische Entfaltung des eigenen Seins geschehen, zum eigenen Wohl und zum Wohle der Gemeinschaft. Die Übungen in diesem Praxisbuch erweitern nicht nur das bisherige Spektrum der Wege der inneren Arbeit, sie können auch als "Nahrung für die Seele" dienen.

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Danksagung

Für meine geliebte Frau Nana Nauwald - und vielen Dank für ihre kreativen Impulse!

Ein besonderer Dank gilt meinem spirituellen Mentor John G. Bennett, dessen lebenslange schöpferische Arbeit mit Gurdjieffs praktischen wie theoretischen Lehren mich inspirierte, tiefer zu gehen.

Die Verfeinerung und Anpassung der Übungen für den heutigen Gebrauch verdanke ich all jenen, die im Laufe vieler Jahre meine Seminare besucht haben. So konnte ich immer wieder lernen, die Übungen so zu präsentieren, dass sie auch für andere verständlich sind.

Inspirierende Impulse aus anderen Lehrsystemen und viele bemerkenswerte Menschen haben meinen Weg begleitet. All diesen Menschen gilt mein herzlicher Dank!

Inhalt

Vorwort

1. Selbstbeobachtung

2. Leben im gegenwärtigen Augenblick

3. Das Wunder der Achtsamkeit

4. Aufmerksame Wahrnehmung

5. Zwei Leben

6. Was ist innere Arbeit?

7. Die drei Ebenen der Erfahrung

8. Selbsterinnerung

9. Das Problem der Unklarheit

10. Erwartungen als Hindernis

11. Absicht

12. Die Richtigkeit einer Handlung

13. Der Körper als Instrument der Transformation

14. Der Atem

15. Gegenwärtigsein

16. Nahrung für die Seele

17. Harmonische Entfaltung

18. Bewusstsein

19. Kreative Aktion – Ja, ich kann

20. Intelligenz wirkt

21. Meditation

Übungsprogramm

Liste der Übungen im Übungsteil

Wir sind tatsächlich andere Menschen, wenn wir uns des eigenen Körpers bewusst sind. Denn dann haben wir eine Verbindung mit unserer eigenen Essenz, eine Verbindung zu unseren wirklichen Möglichkeiten.

John G. Bennett

Vorwort

Seit dem Erscheinen meines Gurdjieff Praxisbuch (1) vor einigen Jahren haben sich durch meine regelmäßigen Seminare viele neue praktische Ansätze entwickelt. Das erste Buch erläutert die Grundzüge und Grundlagen der Gurdjieff-Lehre ergänzt mit vielen Weiterentwicklungen und einer Reihe von inneren Übungen. Dieses neue Buch soll all diese Themen vertiefen und neue Impulse für die »Arbeit an sich selbst« geben. Diese Themen wurden in meinen Seminaren gerne aufgenommen und es gab viele Gespräche und Diskussionen darüber, so dass ich denke, dass dieses neue Material auch dir auf dem Weg weiterhelfen kann, auch wenn du keine Seminare besuchst.

Mir ist bewusst, dass Selbststudium, Selbstbeobachtung und Selbsterinnerung – die drei grundlegenden Pfeiler von Gurdjieffs Lehre – nicht leicht durchzuführen sind, wenn man keinen direkten Feedback aus einer Gemeinschaft oder Gruppe hat, die sich regelmäßig trifft. Doch das gilt für alles, was wir im Leben neu lernen. Wir bekommen Anregungen und Hilfe von einer Lehrperson und den Mitlernenden bei einer Ausbildung, aber letztlich müssen wir selbst das Lehrprogramm ausführen, zu Hause üben, lesen, vertiefen und vieles mehr. Das kann uns niemand abnehmen.

Was mir an Gurdjieffs Lehre von Anfang an gefallen hat ist, dass er nicht in die Abhängigkeit eines Gurus oder Meisters und einer festen Gruppe führen wollte, sondern uns genügend Material an die Hand gab, um selbständig damit zu arbeiten.

Die Hilfe durch eine Gruppe kann kurzfristig zusätzliche Energien an die einzelnen Teilnehmerinnen, Teilnehmer übertragen. Auch die gemeinsame Anstrengung bei den Movements ist eine bedeutende Unterstützung, um schneller etwas über sich selbst zu lernen und gezielt an sich selbst zu arbeiten. Doch nicht jede und jeder, die sich dafür interessieren, kann diese Gelegenheit wahrnehmen oder möchte lieber selbst etwas tun, ohne sich in die Abhängigkeit eines Gruppenfeldes zu begeben.

So geht dieses Buch in zwei Richtungen: Zum einen als neue Anregung und Übungsprogramm für den Alltag und zum anderen gibt es denjenigen, die Seminare besucht haben oder bereits einige Übungen aus dem ersten Praxisbuch ausüben, weiteres Übungsmaterial in die Hand. Mir ist bewusst, dass alle veröffentlichten Übungen auch in einem anderen Kontext von Übungsleitern (f/m) verwendet werden können, ohne auf die Quelle hinzuweisen. Viele Jahrzehnte wurden diese Übungen nur in Gruppen bzw. Seminaren der Schüler in der »Bennett-Linie« der Gurdjieff-Arbeit weitergegeben, aber nie schriftlich veröffentlicht.

Heute kann ich aus langjähriger Praxis-Erfahrung sagen, dass es keinen Grund gibt, diese wertvollen Übungen nicht weiterzugeben, denn »die Arbeit schützt sich selbst.« Wer nicht tief genug in diese innere Arbeit eingetaucht ist, hat nur die Oberfläche berührt, und wenn das Verstehen der Sache nicht durch Erfahrung gereift ist, kann niemand die Qualität der inneren Wirklichkeit erreichen. Es erfordert Jahre der Arbeit mit diesem Weg, um in der Lage zu sein, sie für sich selbst zu nutzen oder sie anderen zu vermitteln.

Wenn wir uns auf den Weg der inneren Transformation begeben, dann kommen wir in Kontakt mit einem »zweiten Leben«, das wir durch diese Arbeit immer weiter stärken können. Dieses Thema wird im zweiten Kapitel erörtert.

Ich behandle in diesem Buch verstärkt die Selbstbeobachtung mit Hilfe unterschiedlicher Themenanregungen. So kannst du abwechselnd an bestimmten Aspekten der Übungslehre arbeiten. Ich rege dich an, eine selbstgesetzte Zeit den Fokus auf einen Themenvorschlag zu richten. Wenn es für dich stimmig ist, dann gehe du zum nächsten Thema über. Andere Anregungen beziehen sich auf Atemübungen oder Meditation. Dazu findest du im Teil 2 Übungen und einige ergänzende innere Übungen zu den 14 Haupt-Übungen des ersten Buches.

Diese Neuausgabe wurde etwas überarbeitet und um weitere Kapitel mit Texten aus anderen Büchern von mir ergänzt, die thematisch dieses Buch „abrunden“.

So wünsche ich dir, liebe Leserin, lieber Leser, dass deine Erkenntnis, Weisheit und Entwicklung immer weiter wächst und dein Leben mit Freude erfüllt ist!

Bruno Martin, Frühling 2024

Die Welt muss jeden Augenblick neu erschaffen werden. Deshalb ist jeder Augenblick eine Gelegenheit, die Welt anders zu gestalten. Auf solche Weise arbeitet Intelligenz.

Wenn es keine Neugestaltung gibt, sind wir dazu verurteilt, blind am Aufbau und an der Erhaltung unserer Lebensgewohnheiten teilzunehmen.

Intelligenz befähigt uns, der Welt und uns selbst zu helfen, in die unbekannte Zukunft einzutreten.

Anthony G. E. Blake in: Intelligenz Jetzt

1. Selbstbeobachtung

»Selbst-Studium ist die Arbeit oder der Weg, der zur Selbstkenntnis führt... Die Hauptmethode des Selbst-Studiums ist die Selbst-Beobachtung.«

G. I. Gurdjieff

Ein Thema ist mehr als eine Idee, über die man nachdenkt. Es bietet jeweils einen der vielen Aspekte praktischer Weisheit, die durch eigene Beobachtung erfahren werden kann. Nur diese eigene direkte Erfahrung kann dem Leben eine zusätzliche Qualität geben. Lasse dich von deiner Seele berühren. Beobachtung bedeutet in diesem Zusammenhang Wahrnehmung. Lasse dabei die Idee zu, dass es weder einen Beobachter noch etwas zu Beobachtetes gibt. Unser normales Denken ist zu dualistisch ausgebildet, um etwas ausdrücken und zu verstehen, das jenseits dieser Dualität vorhanden ist.

Das Ziel des Übungsprogramms ist, auf ein anderes Verstehen des Lebens hinzuarbeiten, so dass das Leben reicher wird, eine tiefere Qualität bekommt. Es sind keine Regeln oder Befehle, die Themen müssen im Handeln entdeckt werden, in den allgemeinen Situationen des Alltags. Einen Hinweis solltest du beherzigen: Du gehst ein Risiko ein, wenn du das Programm durchführst: es kann dein Leben verändern.

Manchmal können deine Erkenntnisse eine Erleuchtung sein, ein »Aha-Erlebnis«, an dem es keine Zweifel gibt. Lasse die Anregung auf dich wirken, lernen, zuerst eine Erfahrung zu machen, bevor du ein Urteil fällst. Eine Voraussetzung ist wichtig: Du solltest diesen Themen mit einer ernsthaften Haltung begegnen. Das bedeutet, dass alle Kraft, die du dafür investierst, absichtsvoll eingesetzt wird, mit der Absicht, sich wirklich auf eine innere Arbeit einzulassen.1 Es schadet eher, sich vorzumachen, man würde arbeiten. Immer wieder aufmerksam in die Welt zu schauen kann anstrengend sein, doch es ist eine erfreuende Anstrengung, weil sie dein Leben mit Kraft erfüllt.

Lege dir vielleicht ein Notizbuch an, um Stichworte und Beobachtungen aufzuschreiben, so dass du später sehen kannst, was du entdeckt hast oder was du alles vergessen hast. Dann kannst du diese Beobachtungen durch weitere Erkenntnisse ergänzen. Auf diese Weise überprüfst du deine Arbeitsfortschritte.

Außer den Themen gibt es konkrete innere Übungen, die direkt zur Seinsentwicklung beitragen können. Diese Übungen haben eine tief greifende Wirkung. Gehe verantwortungsvoll damit um. Diese inneren Übungen sind über Jahrzehnte von vielen Menschen erprobt, sie haben den Praxistest bestanden.2 Korrekt durchgeführt sind diese Übungen sicher, einzig das Risiko einer Veränderung ihres Bewusstseins musst du selbst eingehen.

Innere Übungen in einer Gruppe oder unter Anleitung von erfahrenen Menschen haben erfahrungsgemäß eine stärkere Wirkung. Lasse dich deshalb nicht entmutigen, wenn du allein arbeitest, es dauert dann einfach etwas länger, bis sich tiefere Erfahrungen einstellen.

Bei meinen Seminaren üben wir viel mit den Movements, Tanz- und Bewegungsformen, die Gurdjieff choreografiert hat.3 Die Movements sind sehr hilfreiche Werkzeuge für die Selbstbeobachtung und Selbstwahrnehmung und anderer wichtiger Aspekte der ganzheitlichen Entfaltung. Doch sie können nur in einer Gruppe gemacht werden, weil sie durch ihre komplexen Choreografien eine Gruppe von Menschen benötigen. Konntest du die Movements in einer Gruppe erfahren, hast du dir vielleicht Aufzeichnungen über die Bewegungsfolgen gemacht. Mit der veröffentlichten Musik kannst du dann einige Bewegungsabläufe zu Hause üben, aber nicht das ganze Movement erfahren, das meist sehr vielseitig ist, zum Beispiel macht jede Reihe andere Armbewegungen und Schrittfolgen, oft gibt es Versetzungen zwischen den Reihen usw.

Diese Art von Gruppenarbeit hat auch seine Beschränkungen, weil man sich nur sporadisch trifft, um diese Übungen zu machen. Doch in der meisten Lebenszeit sind wir auf uns allein gestellt. Daher sind die Übungen, die ich in meinen Büchern ausführe, wesentliche Bausteine der eigenen Entwicklung. Die »Arbeit an sich selbst« mit Hilfe von Selbstbeobachtung und verschiedenen anderen Übungen ist eine unverzichtbare Grundlage, denn sonst verflachen die Movements zu einer »Tanzübung«, denn sie bewirken auch innere Prozesse, wenn sie mit Absicht und Aufmerksamkeit durchgeführt werden. Die Einsicht in größere Zusammenhänge und das Verstehen neuer Gedanken, wie zum Beispiel über die sieben Linien der Arbeit, die ich im Kapitel »Harmonische Entfaltung« ausführe, sind ein ebenso wichtiger Bestandteil der inneren Arbeit.

Nur wenige Menschen haben erfahrungsgemäß ausreichend Willen oder Ausdauer, um für lange Zeit bei einer Sache zu bleiben. Es ist sehr schwer, ohne Führung und neue Impulse durch einen Lehrer, einer Lehrerin oder einer Gruppe zu arbeiten. Aber es ist möglich, wenn du die Entscheidung triffst, auf dein "höheres Selbst" zu hören. Außerdem gibt es eine wirkliche Freiheit, weil du allein dir selbst den Anstoß zu dieser Arbeit gegeben hast! Ausdauerfähigkeit ist eine Willenssache. Innere Arbeit ist kein Stress, es ist eine selbstgestellte Aufgabe, die in dem Sinne »lustvoll« ist, dass du dich immer mehr als ganzer Mensch annehmen kannst.

Du solltest auch davon ausgehen, dass viele Dinge, die hier vorgeschlagen werden, keine unmittelbaren Auswirkungen haben – wirkliche innere Veränderungen sind nicht greifbar im materiellen Sinne. Das kann unsicher machen. Innere Arbeit wirkt wie ein homöopathisches Mittel. Zuerst kommt die so genannte Erstverschlimmerung – im Falle des Übungsprogramms möglicherweise Frustration oder Ärger, weil anfangs nichts Konkretes, Greifbares geschieht. Doch das »Mittel« wirkt weiter, und nach und nach stellen sich Veränderungen ein. Die Übungen sind angewandte »Quantenphysik«: Aus etwas, das wahrscheinlich war, wird auf einmal etwas Wirkliches und Bewusstes, und dieses hat sich dabei ebenfalls verändert.

Wenn du mehr Erkenntnis in Form von »Bewusstseinsquanten« in dein Leben bringst, stärkst du dein inneres Sein. Das wirkt sich nicht nur auf Geist und Wesen aus, sondern auch auf das körperliche Befinden. Du beginnst zu verstehen, dass dein inneres Wachstum von deiner eigenen Absicht, dem Wunsch, an dir selbst zu arbeiten, abhängt. Kein äußerer Meister oder Guru ist im Spiel – nur das »wirkliche Ich«. Dadurch schafft diese Arbeit keine neuen Abhängigkeiten, sondern erweitert deine Möglichkeiten für selbstverantwortliches Handeln.

Aufmerksamkeit ist die Schnittstelle zwischen dem Tatsächlichen und dem Möglichen. Mit Aufmerksamkeit kann ich an der Grenze zwischen den zwei Welten stehen. Erst mit Aufmerksamkeit ist es mir möglich, zu wählen.

Der gegenwärtige Augenblick besteht nicht nur aus dem, dessen wir uns bewusst sind, sondern auch aus dem, was bereits ein Teil von uns geworden ist durch unseren Willen und unsere Entscheidungen.

Wenn du dich zu einer inneren Übung mit deiner eigenen Zeitvorgabe hinsetzt und deine Aufmerksamkeit über diesen Zeitraum hältst, wird eine Energietransformation in dir vor sich gehen und zum Wachstum deines Wesens beitragen. Das ist keine sofortige Ernte, sondern vergleichbar mit einem fruchtbaren Samen in dir, der sich im Laufe der Zeit verwirklicht, und wenn die Zeit reif ist, kannst du die Früchte ernten.

aus: John G. Bennett, Zitatensammlung Fallen Leaves, 1979

1 Siehe Kapitel 8

2 Das betrifft sowohl die Übungen in diesem Buch sowie im ersten Praxisbuch

3 Ausführlich im ersten Praxisbuch beschrieben.

2. Leben im gegenwärtigen Augenblick

»Meine wunderbare magische Kraft liegt im Wasserholen und Holzhacken.«Zen-Weisheit

Wenn der »gegenwärtige Augenblick alles ist, was wir haben«, wie es einer meiner Lehrer, John G. Bennett sagte, müssen wir uns fragen: Was ist der gegenwärtige Augenblick? Ist es eine Momentaufnahme mit einem Foto, das wir bei einem schönen entspannten Ballspiel am Meer mit Kindern oder Freunden aufnehmen - oder einem schrecklichen Ereignis, wie dem Einsturz der Bürotürme durch den Terroranschlag von 9/11, das wir im Fernsehen beinahe »live« miterleben konnten?

Bennett sagt auch, dass sich der »gegenwärtige Augenblick« ausdehnen oder zusammenziehen kann. Das bedeutet, dass es bei dem Begriff nicht um eine Zeitsekunde geht, sondern vielmehr um ein waches Gegenwärtigsein, um eine bewusste Wahrnehmung des Lebens im »Jetzt«. Die Zen-Erkenntnis des Anfangszitats bringt auf den Punkt, dass der Mensch im alltäglichen Leben wach sein, gegenwärtig in dem was er tut und sich dabei seiner selbst gewahr sein sollte - nicht nur im Rückzug, im geschützten Raum, in dem alle in Stille meditieren. Selbstverständlich hilft diese Art der Besinnung sich innerlich zu beruhigen und zu regenerieren. Doch erst im Alltagsleben zeigt sich dann, ob wir »bei uns selbst« sind, egal welche Dinge uns ablenken.

Je intensiver die Erfahrung dieses Zustands ist, umso mehr spielt die Zeit dabei keine Rolle: Wir sind mit voller Aufmerksamkeit in uns zentriert und erleben den Augenblick als eine zeitlose Dimension. Wir sind bei uns selbst. Und dadurch »verweilen wir im Augenblick«, wie es der deutsche Dichter und Philosoph Johann Wolfgang von Goethe ausdrückt. Verweilen finde ich einen sehr schönen Ausdruck für das bewusste Gegenwärtigsein, das nicht von der Uhr abhängt. Je tiefer wir in unserem Wesen verwurzelt sind, umso tiefer und zeitloser ist unsere Erfahrung.

Das Entscheidende dabei ist, ob wir eine aufmerksame, bewusste Erfahrung machen oder ob die Erfahrung unbewusst, gewissermaßen von unserem Wachbewusstsein unbemerkt geschieht. Vielleicht bleibt etwas in unseren Gehirnzellen haften, so dass wir uns später daran erinnern, doch nur eine bewusste Erfahrung hinterlässt einen Eindruck in unserem inneren Sein.

Hui-neng (638-713), einer der Zen-Begründer, sagte: »Es gibt weder Erreichen, noch Erkennen«. Diesen Satz würde ich interpretieren als »im gegenwärtigen Augenblick« zu leben. Es bedeutet jedoch nicht, dass wir keine Anstrengung oder Übung machen, um eine Erkenntnis zu gewinnen. Doch die Suche nach Selbsterkenntnis geht nicht durch einen zwanghaften Wunsch, sich selbst zu erkennen. Sie ist vielmehr eine Öffnung für die Möglichkeiten, die ein inneres Gewahrsein bietet, sei es beim Holzhacken oder beim Boden wischen.

Die Themen dieses Kapitels möchten Anregungen geben, um die Fähigkeiten der Aufmerksamkeit zu stärken, so dass die eigenen Erfahrungen tiefere, intensivere Spuren in deinem Wesen hinterlassen.

Die Welt ist heute zu einem großen Teil von Leuten dominiert, die anderer Leute Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sei es in Erziehung, Wirtschaft, Politik oder Religion. Inmitten all dieser Aufmerksamkeit heischenden Aktivitäten kommt der einzelnen Person eine passive Rolle zu,

sie reagiert nur auf das, was von außen kommt. Dies ist unfreiwillige Aufmerksamkeit. Was uns hier interessiert, ist freiwillige Aufmerksamkeit, bei der wir selbst die Initiative übernehmen.

John G. Bennett, Die inneren Welten des Menschen, S. 49

3. Das Wunder der Achtsamkeit

»Achtsamkeit ist ein aufmerksames Beobachten, ein Gewahrsein, das völlig frei von Motiven oder Wünschen ist, ein Beobachten ohne jegliche Interpretation oder Verzerrung.«

Jiddu Krishnamurti (1895-1986)

Vor rund 2500 Jahren lehrte Gautama Buddha Achtsamkeit als ein wesentliches Element seiner Lehre. Er sagte in einem Vortrag: »Aufmerksamkeit ist der Weg, der zur Befreiung vom Tode führt; Unbedachtsamkeit ist der Weg, der zum Tode führt.«

In den vergangenen zwanzig Jahren ist Achtsamkeitstraining bis hinein in viele Wirtschaftsunternehmen gelangt und wird dort in Seminaren für Manager angeboten. Kein Wunder: Denn wenn die Mitarbeiter achtsamer in ihren Tätigkeiten sind, geschehen weniger Fehler, und wenn sie entspannter und achtsamer sind, steigt auch die Produktivität. Ich erlebe immer wieder, wie wenig achtsam Menschen im Allgemeinen sind. Ein junger Mann half uns, ein Badezimmer zu streichen. Nicht nur, dass er die Kanten nicht mit Malerband abklebte (obwohl gesagt), damit die Farbe nicht auf Stellen kam, wo sie nicht hingehörte, sondern auch, dass er alles unaufgeräumt hinterließ, den Pinsel nicht abwusch... Verzeihlich, weil er ja nicht an Achtsamkeit arbeitete - aber auch Menschen, die das üben, machen ähnliche Dinge...

Achtsamkeit und Aufmerksamkeit werden oft gleichbedeutend gebraucht, doch sie sind ein „Geschwisterpaar“. Achtsamkeit bedarf der Aufmerksamkeit. Beide haben jedoch unterschiedliche Qualitäten, die aber zusammengehören:

Achtsamkeit wird vom buddhistischen Hintergrund ausgehend definiert als ein empfängliches, urteilsloses Beobachten und Gewahrsein dessen, was innen und außen im gegenwärtigen Moment vorgeht ohne sofort irgendeine Reaktion darauf zu haben. Für mich beinhaltet sie aber auch, auf etwas oder jemanden zu achten, möglichst vieles zu beachten, achtsam mit etwas oder jemandem umzugehen (seien es Dinge, Pflanzen, Tieren oder Menschen). Achtsamkeit ist so eine sensitive Wachheit, Einfühlungsvermögen und ein feines Gespür für eine Situation.

Um jedoch achtsam zu sein, bedarf es der Aufmerksamkeit. Diese kann ich fokussieren, auf etwas richten. Sie ist die Fähigkeit, etwas zu bemerken, wahrzunehmen, konzentriert und absichtsvoll zu handeln. Mit geschulter Aufmerksamkeit habe ich außerdem die Fähigkeit, nach innen zu schauen, zum Beispiel den eigenen Körper, die eigenen Gefühle und Gedanken wahrzunehmen – und gleichzeitig sich selbst und die Umwelt wahrzunehmen. Dafür ist Achtsamkeit allein nicht ausreichend. Aufmerksamkeit kann in jeder Situation entweder selektiv, konzentriert, erweitert, geteilt und anhaltend sein, manchmal sogar alles zugleich.

Bei beiden Definitionen geht es letztlich um aufmerksame Wahrnehmung der inneren wie äußeren Abläufe. Und meiner Erfahrung nach bedeutet das auch, dass die Selbstwahrnehmung nicht von der Wahrnehmung der Außenwelt getrennt werden kann. Versuche selbst herauszufinden, wie du diese Erkenntnisse für dich fruchtbar machen kannst.

Bin ich in tiefer Meditation versunken, schalte ich natürlich mehr oder weniger die Wahrnehmung der äußeren Welt ab und bin nur bei mir selbst.

Intuition hat auch mit innerer Aufmerksamkeit zu tun. »Sie hat wohl den sechsten Sinn«, höre ich oft jemanden sagen, wenn meine Frau etwas ausspricht, was kurz darauf eintrifft - sei es die Reaktion oder Aktion eines Menschen oder ein Ereignis im nahen Umfeld. Die Bemerkung mit dem »Sinn« stimmt schon, doch ist es nicht der sechste, sondern es sind alle Sinne, über die im Zustand von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit kleinste Veränderungen sensorisch wahrgenommen werden können. Menschen, die in therapeutischen und heiltätigen Berufen arbeiten und auch Künstlerinnen oder Künstler haben oft diese Art von »sechstem Sinn«, der sich aus erhöhter Aufmerksamkeit und Achtsamkeit zusammensetzt, wobei eine Intuition auch eine »Übersinnliche« Fähigkeit sein kann.4

Jeder Mensch hat diese sensorische Fähigkeit, sie ist nicht auf Berufsgruppen beschränkt. Grundsätzlich ist es für jede/jeden möglich, fein-sinnig zu sein, denn Achtsamkeit und Aufmerksamkeit lassen sich trainieren.

Wie geht es dir, wenn du diesen Qualitäten in sich nachspürst? Empfindest du dich als ein Mensch, der hauptsächlich aufmerksam und achtsam ist im alltäglichen Leben? Verspürst du das Bedürfnis, beides zu sein - aufmerksam und achtsam?

Verfeinerte Achtsamkeit im Allgemeinen und eine bewusste, erweiterte Aufmerksamkeit im Besonderen können in eine Lebensqualität des Wohl-Seins in allen Wirklichkeiten führen.

Jiddu Krishnamurti (1895-1986) sagte: »Bei der Förderung der geistigen Entwicklung sollte nicht die Konzentration, sondern die Aufmerksamkeit im Mittelpunkt stehen.«

Bewusstes Gehen

Nehme bei einem Spaziergang durch einen Wald den Weg wahr, auf dem du gehst. Spüre die Steinchen auf dem Weg, die Sonne (oder den Regen...), die durch Blätter oder Nadeln der Bäume scheint, den Himmel über dir, die vielfältigen Farben des Waldes, das grüne Moos und die vermodernden Äste, die herumliegen. Atme bewusst durch die Nase ein und aus, spüre, wie die »Lebensenergie« der Luft in dich und alle Zellen strömt. Vielleicht kannst du auch wahrnehmen, wie es sich anfühlt, durch ein »Meer aus Luft zu schwimmen«. Du kannst diese Übung noch intensivieren, wenn du einmal Kieselsteine mittlerer Größe in beide Hände nimmst und die Arme beim Gehen damit einige Minuten hinauf und herunter bewegst. Dabei nimmst du auch deinen Körper wahr, nicht nur die Umgebung. So kannst du ganz einfach eine erweiterte Aufmerksamkeit trainieren.

Erhöhte Achtsamkeit in allen Lebensbereichen kann in eine Wachheit führen, aus der heraus das Leben in zunehmend größerer Gelassenheit und mit tieferem Verständnis für seine Eigenheiten gelebt werden kann.

Aufmerksamkeit und Achtsamkeit bergen noch eine weitere »Zauberqualität« in sich: je mehr wir sie intensivieren, umso weiter und erfahrungsreicher wird unsere äußere und innere Welt. Das Training der »Wandlungsqualitäten« Achtsamkeit und Aufmerksamkeit kann zum Schlüssel werden, der die Schatztruhe öffnet, in der die Möglichkeiten der eigenen Verwirklichung darauf warten, beachtet zu werden.

Richtet sich die Aufmerksamkeit jedoch zu sehr auf die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse und ist die Achtsamkeit auf Mitmenschen und Umwelt gering, dann schrumpft nicht nur die innere Welt - auch die äußere wird kleiner, trotz angesammelter »miles and more«. Dieser Mangel an Achtsamkeit bringt auch die erstaunliche Wirkung mit sich, dass sich die Empfindung von Zeit verändert: sie wird »weniger«, rauscht vorbei anstatt sich im eigenen Wesen zu weiten und zu wachsen. Sich dieser »Zauberqualitäten«, die »das Nichts zu Allem« machen kann, bewusst zu sein und sie zu entfalten, ist nicht nur in Hinblick auf eine kreative und intensive Lebensgestaltung weise. Achtsamkeit und Aufmerksamkeit zu leben nährt auch die Quelle, aus der der Lebensfluss der Weisheit entspringt.

Das Wunder der Achtsamkeit

Der buddhistische Achtsamkeitslehrer Thich Nhat Hanh zitiert Buddhas Lehrrede über die vier Grundlagen der Achtsamkeit:

»Wenn er geht, muss der Übende sich bewusst sein, dass er geht. Wenn er sitzt, muss der Übende sich bewusst sein, dass er sitzt. ... Gleichgültig in welcher Haltung sich der Körper befindet, muss sich der Übende dieser Haltung bewusst sein.« Und Thich Nhat Hanh ergänzt: »Die auf die Körperhaltung gerichtete Achtsamkeit reicht aber noch nicht aus. Wir müssen uns jedes Atemzugs bewusst sein, jeder Bewegung, jedes Gedankens und Gefühls, all dessen, was in irgendeiner Beziehung zu uns steht.«5

Versuche das eine Woche lang, nicht einfach...

4 Siehe ausführlicher dazu mein Buch Der Wunderland-Effekt.

5 Thich Nhat Hanh: Das Wunder der Achtsamkeit, S. 20. Dieses Kapitel habe ich teilweise übernommen aus: Nana Nauwald, Bruno Martin, Weisheit.

4. Aufmerksame Wahrnehmung

»Wir können die Wirklichkeit nicht sehen, weil es uns an Aufmerksamkeit fehlt.« John G. Bennett

Im allgemeinen Sprachgebrauch sprechen wir von »bewusster Wahrnehmung« wenn wir mit »wacher« Aufmerksamkeit bei einer Sache oder »in Berührung« mit einer Situation sind. Tatsächlich ist es unser Bewusstsein – einschließlich des Unterbewusstseins –, welches die meisten Eindrücke verarbeitet, das aus den vielen Schwingungen und Informationen, die ständig in unser Gehirn gelangen, die Zusammenhänge und Bedeutungen unserer Wahrnehmungen erkennt.