Auf einem Raumschiff mit Gurdjieff - Bruno Martin - E-Book

Auf einem Raumschiff mit Gurdjieff E-Book

Bruno Martin

4,6

Beschreibung

Eine Entdeckungsreise zum Sinn des Lebens Die herausfordernde Weltsicht des außergewöhnlichen Lebenslehrers G. I. Gurdjieff (1866-1949) hat bis heute eine große Anziehungskraft. Gurdjieffs spirituelle Lebensphilosophie, die in östlichen Weisheitslehren und westlicher Psychologie wurzelt, geht von der Annahme aus, dass die meisten Menschen einen Großteil ihres Lebens "schlafend" verbringen. Daher liegt der Schlüssel für ein waches, aufmerksames und achtsames Leben in der bewussten Entfaltung des eigenen Potenzials, der "harmonischen Entwicklung". Gurdjieff hinterließ ein umfangreiches Vermächtnis an Büchern, Übungsmethoden, Musik und "heiligen Tänzen", die inzwischen auf allen Kontinenten gelehrt werden. Doch das Kernstück seiner Arbeit, die spirituelle Philosophie, ist nicht leicht zugänglich. Gurdjieff hat sie entsprechend der großen Erzähltradition seiner östlichen Kultur in bildhafter, reich ausgeschmückter Erzählweise aufbereitet, was das Verständnis für unsere westliche Denkweise nicht erleichtert - doch das ist auch seine Absicht gewesen: nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem "Herz" denken. Bruno Martin erschließt in diesem Buch einen verständlichen Zugang zu seiner Philosophie und entschlüsselt anschaulich einige der wesentlichen Texte aus Gurdjieffs Werken und erläutert alle wichtigen Elemente der Praxis dieses spirituellen Weges.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Die Frage

Die Transportmittel der Lehre

Fragmente einer unbekannten Lehre

Peter D. Ouspensky

John G. Bennett

Auf einem Raumschiff mit Beelzebub

Beelzebub

Die Pforten der Wahrnehmung

Die Bedeutung und Relativität der Sprache

Lehrgeschichten

Ein neues System von Raumschiffen

Echter Seins-Pflicht bewusst werden

Drei Linien der Arbeit

Die Reise zum Ich

Der vierte Weg

Ist der Mensch unsterblich?

Die Alchemie der Transformation

Das Geheimnis des Wasserstoffs

Die harmonische Entwicklung des Menschen

Sich selbst werden – Selbstverwirklichung

Das „wirkliche Ich”, der Wille

Die Kraft der Liebe

Die kosmische Welt des Bewusstseins

1. Der alltägliche „Schlafzustand”

2. Der alltägliche Wachzustand

3. Bewusstsein seiner selbst - Selbsterinnerung

4. Der „objektive” Bewusstseinszustand

Wir leben in sieben Welten

Energien

Körper, Seele, Geist

Welt 1 - Welt der Funktion

Welt 2 - Die Welt des Seins

Welt 3 - Die Welt des Geistes

Die Quelle der Schöpfung

Intergalaktisches Intermezzo

Die Erschaffung der Welt

Die Relativität des Zeitbegriffs

Das Prinzip der gegenseitigen Erhaltung

Kristallisationen

Das Gesetz der Drei

Der Schöpfungswille

Die Welten des Bewusstseins

Energien und ihre Transformationen

Kosmische Verwirklichungen

Die Substanz der Seele

Der Körper des Bewusstseins

Die Frage der Reinkarnation

Der „Körper” des Willens

Die Einheit von Körper, Seele und Geist

Die Einheit in der Vielheit - das Enneagramm

Das Gesetz der Sieben

Kosmen innerhalb von Kosmen

Die Selbsterneuerung der Kosmen

Die Veränderung der Wahrnehmung

Die sieben Linien der spirituellen Arbeit

Harmonische Entwicklung

Lebenslanges Lernen

Kosmische Schwingungen - Gurdjieffs Musik

Der Kosmos tanzt – Gurdjieffs „heilige Tänze“

Die rituelle Mahlzeit

Zweihundert bewusste Menschen könnten die Welt verändern...

Bibliografie

Diskografie

Adressen

Stichwortverzeichnis

Mulla Nasruddin stand auf dem Marktplatz und wandte sich an die

Menge: Leute! Wollt Ihr bequem und problemlos Weisheit erwerben,

wollt ihr die Wahrheit ohne Falschheit, wollt ihr Erfolg ohne

Anstrengung, wollt ihr Fortkommen ohne Opfer?

Alle riefen begeistert: Ja, Ja, das wollen wir!

Sehr gut, sagt der Mulla. Das wollte ich nur wissen.

Ihr könnt euch darauf verlassen, dass ich euch gleich Bescheid gebe,

wenn mir so etwas über den Weg läuft...

Vorwort

Als ich 1969 die Lehre Gurdjieffs kennen lernte, waren seine Ideen wie eine Offenbarung für mich. Da mir die Theorie allein zu wenig war, machte ich mich auf die Suche nach der Praxis der Lehre. Ich fand John G. Bennett, der Schüler von Gurdjieff gewesen war. Für mich war er genau der „richtige Lehrer“, vielleicht wäre ich sonst gar nicht bei der Sache geblieben. Er war klar und bestimmt. Sein offener, forschender Geist und sein großes pädagogisches Verständnis machten mir ihn von Anfang an sympathisch. Ihm war bewusst, dass eine neue Zeit angebrochen war, die keine Oberlehrer-Attitüden brauchte, sondern Einfühlungsvermögen für die Bedürfnisse vieler junger Menschen, die von den politischen und anarchistischen Bewegungen der 1968er Jahre beeinflusst waren. Er verstand es, auf sie einzugehen und in die Arbeit zu integrieren. Er hatte keine Probleme mit meinem rebellischen Verhalten und ging großmütig auf mich und die anderen Zwanzigjährigen ein, die ohne Angst vor Autoritäten alles hinterfragten. Keiner sollte in eine bestimmte Form und Verhalten angepasst werden. Einzig der Wunsch nach persönlicher Entfaltung zählte für ihn.

Er war natürlich nicht der einzige, der die Lehre Gurdjieffs vertrat. Es gab auch die traditionalistische und hierarchische Ausprägung der Gurdjieff-Linie, die vom Gurdjieff-Institut in Paris vertreten wurde und bis heute noch in dieser Form aufrechterhalten wird. Das „Institute Gurdjieff“, in den USA „Gurdjieff-Foundation“ genannt, wurde bis in die 1970er Jahre von Jeanne de Salzmann geleitet, die 1990 im Alter von 101 Lebensjahren starb. Sie war seit den 1920er Jahren Gurdjieffs Mitarbeiterin, seine „rechte Hand“ und auch Geliebte, nachdem ihr Mann und Gurdjieffs Frau gestorben waren. Sie war die treibende Kraft hinter der Bildung einer Gurdjieff-Institution mit dem Anspruch einer „offiziellen“ Folgeorganisation. Aus guten Gründen hatte Gurdjieff selbst jedoch mehrere Personen beauftragt, seine Lehre weiter zu verbreiten, darunter John G. Bennett. Er wollte sicher gehen, dass die Lehre lebendig bleibt und keine feste Form und Interpretation bekommt. Aus diesem Grund schrieb er bereits in den 1920er Jahren sein Hauptwerk Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel, um jegliche dogmatische Auslegung zu verhindern.

Nachdem John G. Bennett 1974 gestorben war, lernte ich auch einige direkte Schüler und Schülerinnen von Gurdjieff kennen, u. a. Michel de Salzmann, der gemeinsame Sohn von Gurdjieff und Jeanne de Salzmann, und Lord John Pentland, der den amerikanischen Zweig leitete. In Frankfurt hatte ich während der Buchmesse das Glück, Louise March, geborene Göpfert, zu begegnen, die langjährige Sekretärin von Gurdjieff, die Beelzebubs Erzählungen ins Deutsche übersetzt hatte. Diese kleine Frau war mit ihren damals 86 Jahren noch richtig fit,1 und ich konnte kaum mithalten als sie mit schnellen energischen Schritten die langen Gänge der Buchmesse durchquerte. Sie lud mich zum Abendessen bei ihrer Schwester ein, was ein sehr beeindruckendes Erlebnis war. Ich erfuhr einiges über Gurdjieff und seine Arbeit, was ich noch nicht wusste.

In Paris hatte ich auch Kontakt mit Valentin Anastasieff, ein Neffe von Gurdjieff, dessen Restaurant gegenüber der Paris Börse lag. Als ich ihn hinter dem Tresen sah, bekam ich einen kleinen Schock, weil ich glaubte, Gurdjieff vor mir zu haben – so ähnlich sah er ihm. Er lud mich und meine Frau und unsere vier Kinder zu einer üppigen Mahlzeit in ein Nebenzimmer des Restaurants ein. Nebenbei machten wir ein kleines Geschäft: Er hatte tausend Exemplare der ersten gebundenen Ausgabe auf Dünndruckpapier von Beelzebubs Erzählungen geerbt, die 1950 in Wien gedruckt worden waren und noch in der dortigen Druckerei lagerten. Ich kaufte sie ihm ab und schnell fand ich dafür in Deutschland Interessenten, denn das Buch war im normalen Buchhandel damals nicht erhältlich. Hätte ich doch nur einige behalten, ich könnte diese heute teuer verkaufen!

Ich lernte weitere Menschen kennen, die direkt bei Gurdjieff waren wie Vivian und Pierre Eliott oder Wilhelmine und Arnold Keyserling, von denen ich vieles gelernt habe. Auch Schülerinnen und Schüler von Menschen, die bei Gurdjieffs direkten Schülern aus seiner Pariser Zeit gelernt hatten, halfen mir, seine Lehre besser zu verstehen, wie z. B. der herausragende Interpret seiner Musik, Wim van Dullemen. Bei ihm lernte ich weitere der vielen „Movements“,2 die ich vorher nicht kannte.

Nach vielen Jahren der Vermittlung von Gurdjieffs Lehre in Theorie und Praxis kam ich zu der Überzeugung, dass diese Ideen heute neu erklärt und dargestellt werden müssen. Denn Gurdjieff kam aus einer östlichen Kultur mit einer großen Erzähltradition, die sehr bildhaft und verschnörkelt ist, denken wir nur an die verschachtelten Erzählungen von „Tausendundeine Nacht“. Dieses Muster griff Gurdjieff auf, um seine Lehre in Beelzebubs Erzählungen darzustellen. Seit er dieses Werk in den 1920ern geschrieben hatte, sind über 80 Jahre vergangen und die Welt und die Menschen haben sich völlig verändert, insbesondere auch, was ihre Lesegewohnheiten angeht. Nach Umfragen lesen in Deutschland nur noch 25% der Menschen mehr als ein Buch im Jahr! Wer heute seine Schriften liest, ohne die Praxis zu kennen, gibt daher schnell auf, einfach weil die meisten Menschen kaum noch gewohnt sind, sich auf verschlüsselte und „umständliche“ Gedankengänge einzulassen. Wenn Gurdjieffs Ideen jedoch nicht verloren gehen sollen, bedürfen sie deshalb einige Schlüssel zum Verstehen und auch einen gewissen Anreiz, sich damit überhaupt zu beschäftigen.

Gurdjieff wollte viele Menschen erreichen. Er war ein Meister der Propaganda und ließ keine Gelegenheit ungenutzt, um seine Lehre im großen Stil zu verbreiten. Daher ließ er seine Gruppe öffentliche Aufführungen seiner Tänze machen, hielt viele Vorträge in großen Sälen und sprach mit der Presse. Sogar Jeanne de Salzmann, die sonst gerne im Verborgenen wirkte, unterstützte den Film Meetings with Remarkable Men von Peter Brook über Gurdjieff, der ihn einer breiten Öffentlichkeit in den 1970er Jahren nahe brachte.3

Mit vierzig Jahren der Erfahrung mit Theorie und Praxis der Lehre Gurdjieffs denke ich, dass zum einen seine Theorien verständlich dargestellt werden sollten und zum anderen, dass ich selbst darüber zu entscheiden habe, wie ich die Sache verstehe und was ich veröffentliche. Meine „Seins-Erfahrung“ – und das ist das einzige Kriterium – hat mich gelehrt, dass es keine „Geheimnisse“ gibt, die man nicht veröffentlichen sollte. Nur die „Arbeit an sich selbst“ kann jedem das vermitteln, was er oder sie erfassen kann. Wie Gurdjieff selbst sagt, hängt das „Wissen vom Sein“ ab. Die esoterischsten Lehren oder Übungen nützen nichts, wenn ein Mensch nicht in der Lage ist, damit zu arbeiten und immer tiefer in die verborgenen Dimensionen des Seins vorzudringen. Es ist ganz natürlich, dass ich nur das vermitteln kann, was ich selbst verstanden habe – ein Anderer mag das nicht zu beurteilen. Das bedeutet nicht, dass ich nun alles „richtig“ verstanden habe. Aber es gibt immer auch die „besserwisserischen Idioten“,4 die genau wissen, was in den Köpfen der großen Meister auch nach derem Tode vorgeht und meinen, ich dürfe Gurdjieff nicht erklären… Ich halte mich da lieber an die Aussage des japanischen Zenmeisters Basho: „Suchet nicht das, was die Alten gelehrt haben, sondern das, was sie selbst gesucht haben.“

Jedem steht es frei, die veröffentlichen Originalschriften zu lesen, sein eigenes Verstehen zu erwerben und die Lehre selbst zu interpretieren. Ich habe jedenfalls viel Zuspruch der bisherigen Leserinnen und Leser dieses Buches erhalten. Sie waren froh, dass sie so einiges mehr verstehen konnten, was ihnen ohne meine Interpretation und Hinweise nicht zugänglich geworden wäre. Die Zeit hat sich verändert und auch die Menschen. Angesichts der weltweiten Probleme in allen Bereichen, Politik, Wirtschaft, Ökologie sind wir auf viele Menschen angewiesen, die an der Entwicklung ihres Seins und Bewusstseins arbeiten, um in der Lage zu sein, in die Zukunft zu schauen, größere Zusammenhänge zu erkennen und entsprechend zu handeln. Außerdem brauchen die meisten Suchenden heute eine klare, verständliche Darstellung, um was es bei einem spirituellen Weg geht – und insbesonders dem „Vierten Weg“, den Gurdjieff begründet hat.

In meinen Augen war Gurdjieff – und noch mehr mein Mentor John G. Bennett – in der Lage, die östliche Spiritualität mit der westlichen Wissenschaft, oder anders ausgedrückt: spirituelles Wissen mit den Erkenntnissen über die Funktionsweise der materiellen Erscheinungen zu verbinden. Der Mensch ist das einzige Wesen, das diese ungewöhnliche Fähigkeit hat – zumindest in unserem Teil des Universums -, nicht nur darüber nachzudenken, sondern auch in die Dimensionen des Bewusstseins einzutauchen, in dem mit Gewissheit erfahren werden kann, dass die natürliche Evolution und die Evolution des Menschen insbesondere im großen kosmischen Geschehen auch eine Bedeutung und einen Sinn hat.

Das ist auch eines der zentralen Anliegen der Lehre Gurdjieffs: Wir sollten danach streben, immer mehr über die Gesetze der Weltentstehung und Welterhaltung zu verstehen. Daher steht seine „spirituelle Wissenschaft“ nicht im Gegensatz zur „materiellen Wissenschaft“. Beide sind Teil einer ganzheitlichen Erkenntnis und nur Aspekte des Ganzen. Die Welt der Natur und des Menschen und der unendliche Kosmos gehören zusammen. Wir Menschen können mit immer tieferem Verstehen etwas zur Evolution des Ganzen beitragen. Daher ist es eine der Aufgaben, die wir in unserer kurzen Lebenszeit im Verhältnis zur Evolution und zum Kosmos haben, herauszufinden, welchen Sinn und Bedeutung das Leben im Allgemeinen und das menschliche Leben im Besonderen hat. Das zu erkennen ist auch das, was Gurdjieff selbst gesucht hat. Wenn ich mit diesem Buch einige Lichter für diese Aufgabe anzünden kann, hat sich diese Arbeit schon gelohnt…

Bruno Martin, Winter 2008

1 Louise March, 1900-1987, begegnete Gurdjieff 1929 in New York und reiste dann nach Frankreich, wo sie seine Schülerin und Sekretärin wurde.

2 Siehe Kapitel 9

3 Da Frau de Salzmann ihre besondere Verehrung Gurdjieffs ausdrücken wollte, wurde sein Leben in diesem Film auch entsprechend mystifiziert…

4 Zu Gurdjieffs „Wissenschaft der Idioten“ siehe mein Buch Der verwirklichte Idiot.

Einleitung

„Wir waren im Begriff, eine Hängebrücke zu überqueren, über die man nicht reiten und die man auch nicht zu zweit nebeneinander passieren konnte. Man musste allein gehen, und das war mit verbundenen Augen unmöglich... Diese Brücken haben fast nie ein Geländer und sind so schmal, dass nur jeweils ein Gebirgspferd sie passieren kann. Außerdem schwingen sie so, dass man den Eindruck hat, auf einer Sprungfedermatratze zu gehen. Über die Ungewißheit hinsichtlich ihrer Haltbarkeit möchte ich lieber nicht reden...”5

Die Metapher der gefährlichen Hängebrücke führt uns in die „wirkliche Welt”: Sie ist das Ziel der „Suche nach der Wahrheit”, die uns Georges I. Gurdjieff mit seiner Lehre ans Herz legt. Seine Erzählung Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen enthält sicherlich einige reale Schilderungen. Doch die Art, wie er seine Reise ins Zentrum des Wissens beschreibt, das irgendwo in unzugänglichen Gebieten liegt, ist vor allem allegorisch, es ist eine „Lehrgeschichte“ im klassischen Sinne. Sie gipfelt darin, dass Gurdjieff nach langer anstrengender Suche und vielen Reisen zum abgelegenen Kloster - das an das Zentrum der Welt, Schambala, erinnert - gelangt, wo er schließlich das praktische Wissen erhält, das seine Lehre wesentlich prägt – der klassische Heldenmythos.6 Das geht auch aus dem Hinweis hervor, in dem Gurdjieff sagt, dass wirkliche Einweihung „Selbsteinweihung” ist. Die Suche nach der Wahrheit erfordert Mut und Einsatz. Wir dürfen nicht darauf warten, „dass uns die gebratenen Tauben in den Mund fliegen”, ein Lieblingsspruch Gurdjieffs.

Alles in seinem Leben war ungewöhnlich. Geboren wurde Gurdjieff 1866 im griechischen Viertel der Stadt Alexandropol, heute Gjumri, im damals russischen Armenien.7 Als ältester von sechs Geschwistern musste er früh seinem griechischstämmigen Vater, Ioannas Giorgiades, einem einfachen Bauern, Handwerker und Geschichtenerzähler zur Hand gehen. Von seiner armenischen Mutter ist leider wenig überliefert. Er bekam eine gute Schulbildung in einer russischen Schule, später Privatunterricht. Das harte Leben mit vielen Entbehrungen und die strenge, aber gütige Erziehung machten ihn zu einem hartgesottenen, erfinderischen und lebensbejahenden Menschen. Schon als junger Erwachsener war sein Leben äußerst abenteuerlich, wovon seine Erzählung Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen einen Einblick gibt. Der Biograph James Moore: „In Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen machen wir eine Reise ins Innere, und zwar zusammen mit Gurdjieffs Freunden - Priestern, Ingenieuren, Ärzten, Fürsten -, die alle in irgendeiner Hinsicht außergewöhnlich waren, deren Wissen, Selbstlosigkeit und Mitgefühl das normale menschliche Maß sprengten.” Die Gruppe nannte sich „Sucher nach der Wahrheit”, ein Thema, dem Gurdjieff auch einen Teil seiner Musikstücke gewidmet hat. Nach dem Studium aller ihm zugänglichen esoterischen und philosophischen Literatur und seiner Unzufriedenheit damit, machte er sich mit dieser Gruppe in den Jahren von 1889 bis 1911 auf die Suche nach „wirklichem Wissen”, auch mit dem Gefühl, dass die Zivilisation das alte Wissen der Schamanen, Derwische und Mönche wegfegen würde. „Gurdjieff war von seinem Ziel geradezu besessen. Keine Wüste war zu heiß und kein Gebirge zu steinig, wenn sie auf der ‚Reise zu unzugänglichen Orten’ durchquert werden mussten. Fragt man nach seinem speziellen Beitrag zum gemeinsamen Ziel: Er konzentrierte sich auf etwas, das man in der Physik als Vibrationen bezeichnete, in der Musik als Tonhöhe oder Tonalität, beim Menschen als Aufmerksamkeit, Energie und Seelenzustand. Aus seiner - neuen - Sicht betrachtet, war alles und jedes Schwingung. Um dieses ‚Etwas’ zu erkennen und zu durchdringen, stürzte Gurdjieff sich aufs Studium von Kunst, Musik, Gestik, Körper- und Geisteshaltung - vor allem die traditionellen religiösen und weltlichen Tänze betrachtete er als Fundgrube auf diesem Gebiet.”8

Gurdjieff absolvierte ab 1914 die erste Phase seiner Lehrtätigkeit in St. Petersburg und Moskau. Während dieser Zeit stießen später für ihn so bedeutende Schüler wie der russische Journalist P. D. Ouspensky, der Komponist Thomas und die Pianistin und Tänzerin Olga de Hartmann in seine Gruppe. Besonders diese drei waren maßgeblich an der Verbreitung seiner Lehre beteiligt. Ouspensky popularisierte seine Lehren in England in den 1920er bis 1940er Jahren, aber insbesondere nach der Veröffentlichung seines Werks über die Lehre Gurdjieffs, Auf der Suche nach dem Wunderbaren, das 1950 erschien. Thomas de Hartmann hatte maßgeblichen Anteil an der Bekanntheit Gurdjieffs durch die Kompositionen von Gurdjieffs Musik und der Entwicklung der „heiligen Tänze“. Wie viele Frauen spielte Olga de Hartmann ihre bedeutende Rolle mehr im Hintergrund. Nach dem Tod ihres Mannes 1956 lebte sie in den USA und leitete eigene Gruppen.

Auf der Flucht vor der russischen Revolution stießen in Tiflis, Georgien, der Bühnenbildner Alexandre de Salzmann und die Rhythmiklehrerin Jeanne de Salzmann zu seiner Gruppe, mit der er 1918 vor der Russischen Revolution geflohen war und sich jeweils kurze Zeit an verschiedenen Orten wie Tiflis und Istanbul niederließ. Beide spielten eine wichtige Rolle in Gurdjieffs weiterer Arbeit. Als die Gruppe schließlich 1921 nach Deutschland kam, führte Alexandre de Salzmann Gurdjieff zur „Bildungsanstalt Jacques-Dalcroze“ in Hellerau bei Dresden, wo Salzmann 1916 ein Bühnenbild für eine Aufführung einer Oper mit der Tanzform der Rhythmik nach Emile Jacques-Dalcroze kreiert hatte. Dort versuchte Gurdjieff sein geplantes Institut anzusiedeln, was aus verschiedenen Gründen nicht gelang. Jeanne de Salzmann und später noch weitere Schülerinnen von Jaques-Dalcroze waren maßgeblich an der Entwicklung der Movements beteiligt, in die viele Elemente der Rhythmik einflossen. Als Gurdjieff weder in Berlin noch Hellerau eine Heimat fand, zog er weiter nach Frankreich. In Paris hörte er von einem Grundstück in der Nähe von Fontainebleau bei Paris, das er dann kaufte und wo er 1922 sein Institut für die „Harmonische Entwicklung des Menschen“ begründete.

Viele damals berühmte Frauen und Männer aus Kultur und Wissenschaft wie die Schriftstellerinnen Margaret Anderson, Jane Heap und Katherine Mansfield, A. R. Orage, der Herausgeber des Literaturmagazins New Age, mit großem Einfluss in der damaligen amerikanischen Literaturszene, Denis Saurat, Professor an der Akademie Française, Maurice Nicoll, ein Freund von C. G. Jung und Tiefenpsychologe, John G. Bennett, ein britischer Mathematiker u. v. a.9 besuchten das Institut und nahmen an diesem einmaligen Experiment teil, eine unbekannte und außerordentliche Lehre in die Praxis umzusetzen. Sein über tausendseitiges Hauptwerk All und Alles - Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel10 begann er, nachdem er 1924 einen schweren Autounfall hatte.

Als die alte Prieuré, das Gebäude und die Ländereien des Instituts 1933 verkauft werden mussten, fand jemand unter einem Abfallhaufen einen Stoß Musiknoten. Es waren die Noten zur wunderbaren Musik, die Gurdjieff zusammen mit dem Komponisten und Pianisten Thomas de Hartmann geschrieben hatte, darunter auch Noten zu den Tänzen, die Gurdjieff von seinen Reisen mitgebracht, choreografiert oder neu entwickelt hatte. Was für einen Verlust für die Menschheit wäre es gewesen, wären diese Noten auf einer Müllhalde gelandet! Wer die Musik und die Tänze kennt, kann sich diesen Verlust vorstellen!11

Jeder Mensch hinterlässt Spuren für seine Nachkommen, Erinnerungen, Bilder, ein Lebenswerk, auf dem andere weiterbauen. Manche Menschen hinterlassen ein Lebenswerk, das für viele Menschen, die damit in Berührung kommen, eine andere Zukunft, eine lebendige, kreative Zukunft bedeuten kann. Sechzig Jahre nach Gurdjieffs Tod bekommen wir eine Ahnung davon, wie weit ein Lebenswerk allen Widernissen zum Trotz sehr viele Menschen heute noch berühren und verändern kann. Es ist ein Werk für unsere geistige Gegenwart und die Zukunft unserer Nachkommen - wenn es ebenso kreativ weitergegeben wird. Wird es nur konserviert, bleibt es zwar bestehen, doch irgendwann wird es zur leeren Hülle.

Gurdjieff setzte viel Energie in die vielseitige Vermittlung seiner Arbeit, damit seine Lehre auch in Zukunft von Bedeutung bleibt. Eine geistige Tradition bleibt nur bestehen, wenn sie die innere Kraft hat, um über den Zeitgeist hinauszugehen. Selbstverständlich kommt es auch auf die Kraft der Menschen an, die eine Idee am Leben halten und weitergeben. Aber das allein reicht nicht aus. Denn eine echte geistige Überlieferung hat ihre eigene Energielinie, in der Sufi-Tradition Baraka genannt, „Befähigungskraft“. Gurdjieffs Lehre und Überlieferungslinie trägt diese Kraft zweifellos in sich, auch wenn sie keinem der klassischen Wege folgt, sei es des Buddhismus oder Sufismus. Sie enthält zwar Elemente aus diesen Traditionen, doch der von Gurdjieff in Europa begründete Weg hat einen ganz eigenen Ursprung. Gurdjieff sagte einmal, dass er von Meistern geschickt wurde, die viel bedeutender sind als er. Henri Tracol, der in den vierziger Jahren bei Gurdjieff war, schreibt: „Es möge genügen, daran zu erinnern, dass der ‚vierte Weg’ sich auf keinen anderen Weg zurückführen lässt oder ihm entgegengestellt werden kann. Im Gegenteil, er fließt frei dorthin, wo es die Bewusstseinsdimension gestattet, über die scheinbaren Widersprüche und Unvereinbarkeiten hinauszugehen... Herr Gurdjieff bemühte sich, uns zu Wahrheitssuchern zu machen. Natürlich, diese Wahrheit - nach ihr sucht er zunächst in sich selbst, doch er erkennt dann, dass diese einsame und spezifisch individuelle Suche ihre Bedeutung nur im Kreise einer umfangreicheren Suchergemeinschaft gewinnt, die empfänglich ist für einen qualitativ höheren Einfluss...“12

Die Frage

Gurdjieffs Suche war bestimmt durch seine zentrale Frage, die ihn innerlich wie ein Mantra bewegte: „Was ist der Sinn und Zweck des Lebens und des menschlichen Lebens im Besonderen?” Diese Fragestellung bringt uns zum Kern eines Weges, bei dem die menschliche Evolutionsmöglichkeit, die eine wichtige Rolle in der Gesamtevolution spielt, von wesentlicher Bedeutung ist. „Wenn wir von Evolution sprechen, müssen wir von Anfang an verstehen, dass keine mechanische Evolution möglich ist. Die Evolution des Menschen ist die Evolution seines Bewusstseins. Und Bewusstsein kann sich nicht unbewusst entwickeln.“13

Jede gute Frage enthält bereits die Antwort in sich: Wenn das Leben nicht zufällig aufgrund materieller Entwicklungen entstanden ist, dann muss es einen Zweck erfüllen. John G. Bennett, einer der bedeutendsten Schüler, die Gurdjieffs Arbeitslinie nach 1949 weitergeführt haben, fragt darüber hinaus: „Wenn der Mensch wie alles Lebendige und Nichtlebendige, das im Weltall existiert, ein Apparat zur Umwandlung von Energien ist, was ist dann Besonderes an ihm? Wenn wir unsere kosmische Funktion ausführen, wonach können wir für unsere eigene individuelle Erfüllung streben?”14

Für Gurdjieff bargen die Konsequenzen seiner Frage ganz pragmatische Lösungen. Er suchte nach Mitteln und Wegen, wie wir die Möglichkeiten erwerben können, beides zu erfüllen, den kosmischen Zweck sowie die individuelle Erfüllung. Gurdjieffs Beitrag für eine neue Weltanschauung ist, dass alles Existierende sich gegenseitig erhält und einem Zweck dient. Die Rolle des Menschen ist dabei die bewusste Umwandlung von Energien. Darauf werde ich in mehreren Kapiteln des Buches unter verschiedenen Aspekten näher eingehen.

Der zweite, wichtige Teil dieser Erkenntnis ist, dass wir als Menschen uns zumeist nicht dessen bewusst sind, dass wir - ob wir es wollen oder nicht - nur diesem kosmischen Zweck dienen und ohne eigene Anstrengung nichts für unsere seelische Entwicklung übrig bleibt. Denn wir sind durchaus in der Lage, eine besondere Qualität und Intensität in unser Leben zu bringen, so dass wir einen Teil der Energie für den kosmischen Zweck abgeben und einen anderen Teil für unsere eigene Entwicklung behalten können. „Die harmonische Entwicklung des Menschen, wie Gurdjieff sie verstand, ist ein außergewöhnlicher Vorgang, der es uns ermöglicht, die Grenzen unserer gewöhnlichen menschlichen Natur zu überschreiten, in andere Bewusstseinszustände einzudringen, neue Kräfte des Verstehens zu erlangen und über die Bedingtheit unserer irdischen Existenz hinauszugehen.”15

Für diesen Zweck hat Gurdjieff Methoden eingeführt, die allen suchenden Menschen helfen sollen, aus dem alltäglichen „Schlaf” aufzuwachen, der sie nur zu einer Herde von Schafen macht, deren Fell ohne unsere Zustimmung auf dem Markt des gesellschaftlichen und kosmischen Geschehens verschachert wird. Darüberhinaus sollen diese Methoden auch helfen, die notwendige innere und äußere Arbeit für unsere harmonische Evolution bewusst ins Leben zu integrieren.

Die Transportmittel der Lehre

Jeder Weg benötigt „Transportmittel“, die es ermöglichen, dass die Lehre ihre Kraft entfalten kann. Gurdjieffs Überlieferungslinie beruht auf mehreren Transportmitteln:

Vielfältige Methoden und Techniken für die harmonische Entwicklung des ganzen Menschen;

rituelle Tänze, allgemein Movements gennant;

Konzertmusik;

Gurdjieffs Bücher

Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel, Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen

und

Das Leben ist nur dann wirklich, wenn ICH BIN

;

seine Vorträge und die Schriften von direkten Schülern wie z. B. P. D. Ouspensky, John G. Bennett, Maurice Nicoll u. a.;

dem Enneagramm und

der rituellen Mahlzeit mit den Toasts auf die „Idioten”.

16

Insbesondere Beelzebubs Erzählungen, die Tänze und die Musik sind eng miteinander verwoben. Ursprünglich hatte Gurdjieff sogar vor, zu allen Kapiteln des „Beelzebub“ ein Musikstück als Begleitung zur Vorlesung zu schreiben. Einige wenige Stücke sind eindeutig zuzuordnen.

Das verbindende Element, das die gesamte praktische wie theoretische Lehre trägt, ist das „Werk”. Der Begriff hat mit Wirkung und Wirklichkeit zu tun, mit der es uns verbindet. Das „Werk” ist das Wirken der geistigen Welt und entfaltet seine Kraft durch die bewusste Mitarbeit seiner aktiven Teilnehmer. Jede/r einzelne, jede Gruppe, die durch bewusste Arbeit Energien transformiert und konzentriert, ist ein Träger der Kraft des „Werks“ – und gemeinsam erschaffen sie die Wirklichkeit. John G. Bennett erläutert: „Das Werk ist nicht alles und es mag etwas jenseits davon geben. Worauf es ankommt ist, dass wir im Werk für uns etwas Wirkliches finden. … Es kann nicht allein in einer Methode enthalten sein oder mit einer Kraft identifiziert werden.“17

Gurdjieffs Lehre ist in keiner Weise dogmatisch – auch wenn manche vieles zu Dogmen gemacht haben, doch das geschieht mit jeder eigenständigen Lehre… Er selbst nannte das Wissen, das er vermittelte einfach „Ideen”. Ideen sind geistige Bilder oder Vorstellungen, die jeder Mensch auf seine Weise verstehen kann, wenn er damit arbeitet. Sie sind nicht statisch. Der Inhalt seiner Lehre beruht einzig auf folgenden Prämissen oder „verpflichtenden Strebungen für Menschen mit dem Funken des göttlichen Gewissens in sich” wie er es nannte:

„Das erste Streben ist ... alles für ihren planetischen Körper wirklich Notwendige zufriedenstellend zu haben.18

Das zweite Streben ist, immer ein unablässiges instinktives Bedürfnis nach Selbstvervollkommnung im Sinne des Seins zu haben.

Das dritte, das bewusste Streben ist, die Gesetze der Welterschaffung und Welterhaltung immer mehr und mehr kennenzulernen.

Das vierte Streben ist, so bald und so rasch als möglich die Schuld für ihr Entstehen und die Individualität ihrer Existenz abzuzahlen, um danach frei zu sein, soviel als möglich den Kummer UNSERES GEMEINSAMEN VATERS erleichtern zu helfen.19

Das fünfte Streben ist, der schnelleren Vervollkommnung anderer Wesen, sowohl der uns ähnlichen als auch der Wesen anderer Formen beizustehen...”20

An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass ich sein Vokabular wie „unseres gemeinsamen Vaters” oder ähnliche „patriarchalische” Formulierungen, die in seinem Werk vorkommen, für mich nicht annehmen kann. „Gott“ ist für mich keine „Person“ oder Aktion, die völlig außerhalb von mir ist. Wenn ich den Begriff überhaupt benutzen würde, dann mit der Vorstellung einer schöpferischen Intelligenz und liebenden Kraft, die in allem Existierenden wirkt und nicht getrennt davon in einem Paralleluniversum allmächtig alles bewirkt und bestimmt. Die kreative und intelligente Kraft, der wir das Leben zu verdanken haben, ist für mich eine spirituelle Qualität, die es zweifellos gibt, aber mit dem Verstand nicht zu begreifen ist – und zugleich sind alle Lebewesen „göttlich“ auf ihrer eigenen Ebene, sei es ein Bakterium oder ein Mensch. Für mich ist alles Existierende und Nicht-Existierende ein kreativer Prozess, der sich wie ein Gesamtkunstwerk entwickelt und sich immer wieder neu „erfindet“. Wir Menschen sind ein Teil dieses Prozesses und sind auch in seiner Entfaltung mit unseren begrenzten Möglichkeiten als „Mitwirkende“ daran beteiligt.

Gurdjieffs Formulierungen sind mir selbstverständlich nachvollziehbar. Er war bis zu seinem Lebensende griechischorthodoxen Glaubens und er kam aus der patriarchalischen Kultur des Orients. Für die neuen Ideen, die er in die Welt setzte, sind meiner Meinung nach diese Begriffe heute nicht mehr notwendig und können neutral formuliert werden. Ich ziehe es deshalb vor, von einer „kreativen Intelligenz” oder von einer „unendlichen schöpferischen Kraft” zu sprechen.21 Das ist sogar in seinem Sinne, denn er sagte einmal, „er sei gekommen, um das Bild eines Gottes mit weißem Bart und einem Kamm in der Jackentasche zu zerstören und eine neue Weltsicht zu erschaffen“. Ich denke, dass Gurdjieff trotz seines Hintergrundes ein Freidenker war und in allem, was er gesagt und getan hat, die Menschen von blinder Gefolgschaft an einen Menschen oder eine politische oder religiöse Institution befreien wollte. Jeder Mensch sollte seinen eigenen geistigen Weg finden. Deshalb bin ich überzeugt davon, dass ich mit seinen Ideen und seinen Methoden arbeiten kann, ohne jeden seiner Gedanken oder Formulierungen unkritisch übernehmen zu müssen.

Fragmente einer unbekannten Lehre

Mit Gurdjieffs Lehren können wir viele bekannte Ideen und Philosophien unter einem neuen Blickwinkel sehen. Sie regen uns an, alles, was wir wissen, immer wieder zu hinterfragen. Sie regen uns auch an, mit Forschergeist an seine Lehren heranzugehen, denn sie sind in keiner Weise vollständig. Sein Schüler P. D. Ouspensky gab seinem Buch über Gurdjieffs Lehre deshalb ursprünglich auch den Titel: Fragmente einer unbekannten Lehre. In seiner unnachahmlichen Art sagte Gurdjieff einmal: „Wenn Sie wirkliche Aufmerksamkeit auf Beelzebub22 richten können, können Sie wirkliche Aufmerksamkeit im Leben haben. Dieses Geheimnis kannten Sie nicht. In Beelzebub steht alles, sogar wie man ein Omelett zubereitet.“ Auch das wird unter anderem erklärt, doch gleichzeitig steht kein Wort über das Kochen in Beelzebub…

Die Erforschung der unendlich reichen Ideenwelt Gurdjieffs ist eine andauernde Arbeit und hat gerade erst begonnen. Es gibt allmählich immer mehr Menschen, die die Bedeutung dieser Lehre erkennen und bereit sind, eigenständig und in Gruppen sich dieses Wissen zu erarbeiten. In diesem Buch werde ich wie ein unbefangener „Enkel” einfach daran gehen, aus meiner vierzigjährigen Erfahrung mit Theorie und Praxis der Gurdjieff-Lehre die Erkenntnisse und „Highlights” darzustellen, die für mich mit meinem jetzigen Wissensstand das Wesentliche an Gurdjieffs Vermächtnis sind.

Dabei werde ich die Erkenntnisse hinzufügen, die andere durch die Arbeit mit Gurdjieffs Methoden und Ideen hinzugewonnen haben. Ich nehme einfach meine Verantwortung aus dem „fünften Streben” an, das Wissen und die Einsichten weiterzugeben, die mir persönlich eine neue Welt geöffnet haben. Für mich hat sich - auch durch Bekanntschaften mit anderen Lehren und Wegen - immer wieder gezeigt, dass ich mit Gurdjieffs Ideen und Methoden mein Leben zutiefst bereichert und verändert habe. Dennoch ist es meine Überzeugung, dass wir nicht irgendeinem vorgegebenen Weg folgen müssen, es geht letztlich immer darum, den eigenen Weg zu finden. Aber in einem unbekannten Terrain benötigen wir einen Reiseführer, bis wir uns besser auskennen und den Weg alleine finden können. Jede wesentliche Idee, jede Methode und jede spirituelle Tradition kann eine vorübergehende Hilfe sein, den eigenen Weg zu finden, doch gehen müssen wir den eigenen Weg selbst!

Gurdjieff macht deutlich, dass wir „nicht versuchen, etwas Neues zu entdecken, sondern nur das wiederherstellen, was wir verloren haben.”23 Seine Ideen helfen uns jedoch, die „Gesetze der Welterschaffung und Welterhaltung” auf eine neue Weise zu verstehen. Wenn wir anfangen, die kleinen Dinge des Alltags wirklich zu verstehen, eröffnen sich langsam die großen Gesetze vor unserem inneren Auge. Doch wir sollten seine Erkenntnisse nicht als endgültige Wahrheiten annehmen, sie sind eine Grundlage, um das eigene Denken in eine andere Perspektive zu bringen. Die Arbeit am Verstehen kann uns niemand abnehmen. Wie Goethe schon sagte: „Der Mensch soll streben zu werden, was er ist.”

Ich sehe mich in diesem Sinne auch als „Enkel”, den er mit seinem Werk Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel anspricht. Herrn Gurdjieff habe ich nie selbst kennengelernt. Als er starb, war ich gerade drei Jahre alt. Ich „kenne” Gurdjieff aber aus seinen eigenen Werken, aus seiner intensiven, wunderschönen Musik und seinen großartigen rituellen Tänzen. Ich kenne ihn aus den Erzählungen seiner Schüler, und insbesondere aus seinen Schulungsmethoden, übermittelt durch Lehrer, die direkt mit Gurdjieff gearbeitet haben. Aus all dem ist mir Gurdjieff so nahe, als ob ich selbst bei ihm gewesen wäre - und manchmal bin ich froh, dass ich es nicht war, denn mit Gurdjieff war kein leichter Umgang, so klingt es durch viele Schilderungen... Aber wer weiß das schon? Gerade bei Gurdjieff kann nichts verallgemeinert werden, zu jeder Person verhielt er sich anders, auf deren jeweilige Bedürfnisse zugeschnitten. Ich denke sogar, dass er unterschiedlichen Leuten unterschiedliche Botschaften vermittelt hat, so dass nach seinem Tode niemand behaupten könne, sie oder er sei der einzige „wahre“ Nachfolger. Und Gurdjieff soll, egal wie sein äußeres Verhalten war, jede seiner Handlungen mit vollem Mitgefühl den Menschen gegenüber getan haben. Jeder seiner Schüler und jede seiner Schülerinnen berichten etwas anderes über ihn, so als ob er genau das gespiegelt hat, was für diese Person wichtig war. Er war die Verkörperung dessen, was ich „Meister des Augenblicks” nenne. Viele Geschichten, die man über ihn hört, könnten auch von einem Sufi- oder Zenmeister stammen. Genau das sagt auch seine langjährige Schülerin Solange Claustres: „Er war ein Samurei, ein Zen-Meister.“24

Die Menschen, die beim Umgang mit Geld Probleme hatten (und das sind meistens diejenigen, die genug haben) berichten ausführlich darüber, wie er sie ständig um Geld anpumpte. Andere berichten von seinen sexuellen Eskapaden (besonders die Amerikaner, die dazu ein sehr gespaltenes Verhältnis haben, wie wir wissen). Wieder andere berichten über seine rauhen Umgangsformen. Bei seinen rituellen Mahlzeiten machte er sich deshalb auch mit Witzen immer über die Besonderheiten einiger Nationalitäten lustig. Einer seiner berühmten Witze war: „Zwei Engländer ... hatten einen hohen Berg bestiegen. Sie saßen schweigend für eine Stunde auf dem Gipfel und dann sagte einer: ‘Ich denke, es wird heute noch regnen.’ Eine weitere Stunde wurde wieder geschwiegen und dann sagte der zweite Engländer: ‘Ich denke, es wird nicht regnen.’ Daraufhin sagte der erste nach langem Schweigen: ‘Ich mag diese Art Konversation nicht’.”25

Pjotr D. Ouspensky

Ohne Pjotr Demianovich Uspenskii26 (1878-1947) wäre Gurdjieffs Lehre nicht über kleine Gruppen von „Eingeweihten” hinaus bekannt geworden. Ouspensky war Journalist und hatte sich intensiv mit Mathematik und Physik beschäftigt, beides Wissenschaften, die Anfang des 20. Jahrhunderts große Umbrüche erfuhren. 1912 veröffentlichte er sein Buch Tertium Organum, das großes Interesse gewann. Als er 1914 in seinem Büro in Moskau Material für die nächste Ausgabe einer Zeitung redigierte, stieß er auf eine Anzeige: „Sie bezog sich auf das Szenario eines Balletts mit dem Namen Der Kampf der Magier, das von einem gewissen ‚Inder’ stamme. Die Handlung des Balletts sollte ganz in Indien spielen und ein vollständiges Bild orientalischer Magie geben, unter Einschluss von Fakirwundern, heiligen Tänzen und so fort.” Ouspensky schnitt die Anzeige aus, und als er ein halbes Jahr später in Moskau war, hörte er von Bekannten, dass es eine Gruppe gäbe, die durch einen gewissen G., einen kaukasischen Griechen, geleitet würde, den gleichen „Inder”, der das Ballettszenario verfaßt hatte. Irgendetwas an dieser Information ließ Ouspensky aufhorchen. Die Zeitungsnotiz schien mehr zu bedeuten, als sie zu sein schien.27

Schließlich konnte er ein Treffen mit G. vereinbaren. Nach einigen intensiven Gesprächen gewann Ouspensky die Überzeugung, dass Gurdjieff mehr war und wusste, als er vorgab. Auf die Frage, ob es nützlich sei, esoterische Literatur zu studieren, antwortete Gurdjieff: „Sehr viel kann durch Lesen gefunden werden. Nehmen Sie zum Beispiel sich selbst: Sie würden schon eine ganze Menge wissen, wenn Sie eine Ahnung hätten, wie man lesen muss. Ich meine, wenn Sie all das, was Sie in Ihrem Leben gelesen haben, wirklich verstanden hätten, wüssten Sie bereits das, nach dem Sie suchen.”28 Ouspensky schloss sich Gurdjieffs Gruppen an und unternahm auch die Aufgabe, weitere Interessenten zu finden.

Obwohl sich Ouspensky bereits um 1921 von Gurdjieff trennte, ist sein Einfluss auf das Interesse an seiner Lehre von großer Bedeutung. Ouspensky ließ sich in den zwanziger Jahren in England nieder, hielt erfolgreich Vorträge über den „Vierten Weg“29 und leitete allein und auch zusammen mit seiner Frau Sophie Grigorevna Gruppen auf Grundlage von Gurdjieffs Lehren an. Madame Ouspensky, wie sie von ihren Schülern genannt wurde, arbeitete weiterhin auch mit Gurdjieff in Frankreich zusammen, so dass Gurdjieffs Hand „unsichtbar” über ihrer Arbeit lag. Ouspensky zog sehr viele Intellektuelle an, wie zum Beispiel die Schriftsteller Aldous Huxley und Arthur Koestler. Durch Ouspenskys Arbeit stieg Gurdjieffs Bekanntheitsgrad vor allem in den angelsächsischen Ländern. Doch von grundlegender Bedeutung wurde Ouspenskys Buch über Gurdjieffs Lehre mit dem Titel Auf der Suche nach dem Wunderbaren, das kurz nach Gurdjieffs Tod veröffentlicht wurde. Dieses Werk ist ein außerordentliches Dokument, weil Ouspensky es geschafft hat, alle wesentlichen Ideen Gurdjieffs klar und verständlich in einer starken Sprache darzustellen.

Ouspensky gibt die Lehren genau so wieder, wie Gurdjieff sie zwischen 1915 und 1920 vorgetragen hat. Als Gurdjieff das Buch vorgelesen bekam, bestätigte er, dass es genauestens das wiedergibt, was er damals sagte. Wenn wir dieses Buch mit voller Aufmerksamkeit lesen, eröffnen sich immer neue Welten des Verstehens. Dazu möchte ich noch bemerken, dass sich die Bedeutung dieses Werkes erst erschließt, wenn man praktische Erfahrungen mit der Lehre macht. Das Verstehen, das sich dabei im Laufe der Zeit entwickelt, entfaltet sich erst durch die Arbeit. Ohne Praxis bleibt die Theorie „grau”, wie Johann Wolfgang von Goethe sagte.

Ouspensky behielt auch die Form und Reihenfolge bei, in der Gurdjieff seine Ideen vermittelte. Diese Tatsache ist besonders wichtig für unsere eigene Arbeit mit diesen Ideen. Für alle, die diese Ideen ernsthaft studieren möchten, kann ich den Hinweis geben, dass in Gurdjieffs Beelzebubs Erzählungen diese Methode in einer neuen Form auf einer anderen Ebene wiederholt wird.

Da sich Ouspensky 1921 von Gurdjieff getrennt hat, konnte in seinem Buch nicht die Entwicklung von Gurdjieffs Ideen und seiner Arbeit bis 1949 berücksichtigt werden. In dieser Zeit hat G. viele Konzepte und Darstellungen geändert. Das sind immerhin 30 fehlende Jahre, ganz abgesehen von den kreativen Nachfolgern, die nach Gurdjieff mit seinen Ideen und Methoden weitergearbeitet haben. Nachdem Ouspensky sich von Gurdjieff getrennt hatte, gründete er seine eigene Schule in London, die zwar auf Gurdjieffs Lehre basierte, aber doch eine andere Richtung einschlug. Außerdem hat Ouspensky in seinen Gruppen weder Gurdjieffs Tänze und Musik genutzt, noch viele der Übungen, die Gurdjieff später eingeführt und vermittelt hat.30 So ermangelt Ouspenskys Weitergabe vieler Methoden, die zum praktischen Kern der Lehre Gurdjieffs gehören. Hinzu kommt, dass Gurdjieff ein „Meister des Augenblicks” war und ständig mit neuen Formen und Ideen operiert hat.

Dennoch hat Ouspensky Gurdjieffs Lehre einen großen Dienst erwiesen, indem er sie in einer präzisen und verständlichen Weise veröffentlichte. Als er Gurdjieff 1915 kennenlernte, war er bereits ein berühmter Journalist und Schriftsteller. Als eigenständig denkender Mensch war er auf der Suche nach der „wahren” esoterischen Lehre und hatte Indien und andere Länder des Ostens bereist. Als Gurdjieffs Arbeit einen Weg einschlug, der nach Ouspenskys Meinung von dem ursprünglichen Ansatz, wie ihn Gurdjieff in Russland gelehrt hatte, abwich, trennte er sich von Gurdjieff. Es gab viele Spekulationen und sogar kürzlich eine Veröffentlichung zu diesem Thema.31 Viele, die sich mit Gurdjieff beschäftigen, wundern sich immer, warum es diese Trennung gab. Doch diese Trennung ist auf einen einfachen Nenner zu bringen: Jeder Mensch muss seinen eigenen Weg finden. Ein großer Meister kann für den eigenen Weg sehr hinderlich sein. Insofern sehe ich in Ouspenskys Schritt eine Emanzipation von der beinahe erdrückenden Kraft seines Lehrers. Es gab noch andere, sehr persönliche Gründe für die Ablösung von Gurdjieff, aber Ouspensky hat immer unter dieser Trennung gelitten. Aus gekränkter Seele hat Ouspensky seine Schüler davon abgehalten, mit Gurdjieff zu arbeiten. Seine Frau Sophie, die immer zu Gurdjieff gehalten hatte, forderte schließlich nach Ouspenskys Tod im Jahre 1947 alle seine Schüler auf, zu Gurdjieff zurückzugehen.

Auch für mich war Ouspenskys Werk der Einstieg in Gurdjieffs „wunderbare Welt”. Denn es blieb nicht beim Lesen, ich kam bald darauf in Kontakt mit der lebendigen Lehre, mit der Praxis. 1971 lernte ich einen der bedeutendsten Schüler von Ouspensky und Gurdjieff, John G. Bennett, kennen, an dessen „Akademie für lebenslanges Lernen” in Sherborne, Gloucestershire, England, ich 1972/73 an einem Intensivkurs teilnahm, der mein Leben grundlegend veränderte.

John G. Bennett

John G. Bennett (1897-1974), lernte Gurdjieff bereits 1921 in Istanbul kennen, besuchte ihn in der Prieuré 1923, konnte aus beruflichen Gründen aber nicht lange dort bleiben. In den dreißiger und vierziger Jahren arbeitete er mit Ouspensky zusammen. Nach dessen Tod 1947 nahm Bennett sofort Kontakt mit Gurdjieff auf, ganz erstaunt darüber, dass dieser noch lebte - durch den Krieg war ja jeglicher Kontakt mit dem von den Nazis besetzten Frankreich abgebrochen.

John G. Bennett hatte immer einen eigenständigen Forschergeist. Auch nach Gurdjieffs Tod hat er an den Ideen Gurdjieffs gearbeitet und dessen Methoden verfeinert. Er suchte den Kontakt mit einigen der Quellen Gurdjieffs. Er lernte Sufis und Derwische kennen und traf Hasan Shushud, der in der Tradition der „Meister der Weisheit” stand. So konnte Bennett einige wirksame Techniken und Methoden in seine Praxis integrieren, die Gurdjieff nicht gelehrt hat. Außerdem hat er viele neue Erkenntnisse, die er durch seine Lebensarbeit gewonnen hat, in das Gerüst von Gurdjieffs Philosophie eingefügt, die einiges von Gurdjieffs kryptischen Ideen verständlicher machen.32

John G. Bennett schreibt in seiner Autobiographie: „Ich war zu der Auffassung gelangt, dass Gurdjieff mehr als ein Lehrer und weniger als ein Prophet war. Er war ein Mensch mit einer echten Botschaft, und er widmete ihr sein ganzes Leben. Er brauchte Menschen, die seine Botschaft verstanden, und gab sich doch alle Mühe, sie dunkel und schwer verständlich zu machen. Nur so konnte er die finden, die fähig waren, den nötigen Scharfblick und die nötige Entschlossenheit zu gewinnen, um sein Werk fortzuführen.”33

Ich habe sehr viel von Bennett gelernt. In meinen Augen war er außerordentlich begnadet für ein tieferes Verständnis von Gurdjieffs Ideen, die er in vielen Aspekten kreativ weitergeführt hat. Wie kaum ein anderer verstand er, Gurdjieffs Lehre verständlich darzulegen und in die Praxis umzusetzen. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar.

Er hat mich dazu motiviert, diese Arbeit in Deutschland fortzuführen.34 Wenn ich heute mit Gurdjieffs und Bennetts Methoden und Ideen in Gruppen arbeite, leitet mich vor allem der Gedanke, „das Feuer weiterzugeben und nicht die Asche anzubeten.” Meine Lebensstationen sind vielleicht typisch für einen Teil der Nachkriegsgeneration, aus der ich komme. Wir können heute viel unbefangener mit Gurdjieffs Ideen umgehen als die Generation, die mit ihm direkt arbeitete und seine Lehre an uns weitergab. Und wenn Sie sogar zur Generation der Urenkel gehören und durch dieses Buch das erste Mal mit Gurdjieff in Berührung kommen, erfahren Sie, warum es sich lohnt, sich auf einen spirituellen Weg zu machen. Und allen jungen Menschen, die heute nach einem Sinn im Leben suchen, sei gesagt: das Leben hat einen Sinn - aber wir müssen diesen Sinn zuerst für uns selbst suchen und ihn in uns und durch uns lebendig werden lassen. Doch fertige Antworten gibt es nicht! Als der Dalai Lama einmal nach dem Sinn des Lebens gefragt wurde, lachte er erst einmal eine Weile und sagte dann: „Das weiß ich auch nicht.“

Niemand kann behaupten, Gurdjieffs Ideen in aller Tiefe zu verstehen. Doch je länger wir mit seinen vielfältigen Techniken und insbesondere den „heiligen Tänze” arbeiten, desto mehr reift unser Verstehen und unsere eigenen Qualitäten können sich herausbilden. Mir wird immer deutlicher, welchen Schatz uns Gurdjieff hinterlassen hat. Ich spüre eine tiefe Dankbarkeit und großen Respekt vor diesem Lebenswerk - und bin froh darüber, dass ich die Gelegenheit habe, damit arbeiten zu können.

Nachdem ich nach langjähriger Arbeit mit Gurdjieffs Methoden und Lehren „das Feuer” gefunden habe, gehe ich heute wieder frisch mit dem „Zen-Anfänger-Geist” an Gurdjieffs Ideenwelt heran. Und dabei werde ich mich an Bennetts Maxime halten: „Solange uns bewusst ist, wie wenig wir verstehen, können wir vor der Dummheit bewahrt werden, zu denken, wir seien besser als jene, die wir etwas lehren.”

5 G. I. Gurdjieff: Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen, München 1997, S. 199.

6 Siehe dazu: Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt 1999. Zu der Idee eines spirituellen Weltzentrums siehe das Buch von René Guenon: Der König der Welt.

7 Neuere Recherchen eines armenischen Bekannten im Meldeamt von Gjumri haben ergeben, dass Gurdjieffs Geburt erst 1886 eingetragen ist. Die Eintragung erklärt sich leicht dadurch, dass G.s Familie sich womöglich erst zu diesem Zeitpunkt dort angemeldet hat. Denn würde dieses Geburtsjahr stimmen, dann wäre Gurdjieff bei seinem ersten Auftreten in Russland 1914 erst 29 Jahre alt gewesen sein – wenig Zeit für seine Forschungsreisen! Und Ouspensky, der damals sein Schüler geworden ist, hätte diese Tatsache sicherlich bemerkt. Es passt auch nicht zu G.s eigenen biografischen Hinweisen. Siehe auch die Bemerkungen von James Moore in seiner Biografie „Gurdjieff“, München 1992, S. 351

8 James Moore: Gurdjieff – Eine Biographie, München 1992, S. 33

9 Siehe: Moore, a.a.O. und Paul Beekman Taylor: Shadows of Heaven, York Beach 1998. Weitere bekannte Namen in Moore, a.a.O.

10 G. I. Gurdjieff: All und Alles - Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel, Wien 1950. In folgenden Zitaten abgekürzt als BE.

11 In den vergangenen Jahren unternahm der berühmte Notenverlag Schott in Mainz die Herausgabe des gesamten Ouevres von Gurdjieffs und de Hartmanns Musik. Allerdings nicht der Tänze, auch „Movements” genannt. Und das ist gut so. Denn die Familie Gurdjieffs will nicht, dass die Tänze durch Rechtsmittel blockiert werden. Ausführlich zu den Tänzen siehe Kapitel 9. Siehe auch Diskographie.

12 Henri Tracol: Die wahre Frage bleibt, Freiburg 1999, S. 266

13 P. D. Ouspensky: Auf der Suche nach dem Wunderbaren, Weilheim 1966 - im Folgenden mit ASW abgekürzt, S. 83. Siehe auch mein Buch Intelligente Evolution, Berlin 2010

14 John G. Bennett: Gurdjieff – Aufbau einer neuen Welt, Freiburg 1976, S. 253

15 John G. Bennett: Gurdjieff, a.a.O., S. 257

16 Diese Themen werde ich im Laufe des Buches ausführlich darstellen. Punkt 1 und 2 habe ich ausführlich in meinem Gurdjieff Praxisbuch behandelt.

17 John G. Bennett: Harmonische Entwicklung, Salzhausen 1982, S. 7

18 In der französischen Fassung heißt es „das Notwendige und Befriedigende...”, was einen anderen Sinn ergibt...

19 Anmerkung: Ursprünglich bedeutet „Schuld“ eine Verpflichtung, d. h. dass wir durch unsere Arbeit etwas zurückgeben sollten.

20 Dieses Streben ist sicherlich identisch mit der buddhistischen Vorstellung des Bodhisattva. Siehe dazu BE 410.

21 In Zitaten werden seine Formulierungen selbstverständlich beibehalten.

22 Damit meint er sein Werk Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel, a.a.O.

23 C.S. Nott: The Teachings of Gurdjieff, London 1961, S. 134

24 In: La Prise de Conscience et G. I. Gurdjieff, Editions Eureka, Utrecht 2003

25 Rina Hands: Diary of Madame Egout Pour Sweet, Aurora, OR, 1991

26 Ich behalte im Folgenden die damalige deutsche Transkription bei.

27 Es gibt einen sehr interessanten Film über diese Begegnung: In Search of the Miraculous von Z. Nicolic, 1998. Nicolic stellt Gurdjieffs erste Aktivitäten in den Kontext der Zeit des 1. Weltkriegs und der russischen Revolution.

28 ASW, S. 26

29 Über den „Vierten Weg“ siehe Kapitel 3

30 Tatsächlich gibt es eine Gruppe in England, die von Ouspenskys Frau Sophie begründet wurde, die als Schülerin Gurdjieffs die Movements weitergegeben hat. Persönliche Übermittlung von Wim van Dullemen. Siehe auch dessen Booklet zur CD.

31 William Patrick Patterson: Struggle of the Magicians - Why Uspenskii left Gurdjieff, Fairfax, CA 1996 (Arete). Viele bedeutende Schüler haben Gurdjieff verlassen, sogar einer der für ihn wichtigsten: Thomas de Hartmann (1927).

32 Bennett hat mehrere Bücher dazu veröffentlicht, siehe Bibliografie.

33 John G. Bennett: Das Durchqueren des großen Wassers, Autobiographie, S. 389 (S. 508 in der mit vielen Fotos ergänzten Neuausgabe 2011)

34 Der einzige und sehr treffend erzählte Bericht eines Teilnehmers an Bennetts Schulungsexperiment ist das Buch von Allen Roth: Sherborne - An Experiment in Transformation, Santa Fe 1998 (Bennett Books).

1. Auf einem Raumschiff mit Beelzebub

„Ältester meiner Enkel, höre und erinnere Dich immer an mein strenges Vermächtnis: Tu nie im Leben, was die anderen tun... Entweder tue nichts - geh nur in die Schule, oder tue etwas, was sonst niemand tut.”35

Diesen Ratschlag, den ihm seine Großmutter am Totenbett auf den Weg gab, hat Gurdjieff sein ganzes Leben lang beherzigt. Auch als er sein Werk Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel mit dem Untertitel „Eine objektiv unparteiische Kritik des Lebens der Menschen” schrieb, beherzigte er diesen Rat. Denn Beelzebubs Erzählungen hat einen ganz eigenen Stil und eine eigenartige Erzählweise. Zum Teil ellenlange Sätze und eine eigene Terminologie36