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Soll ich einen Flüchtling bei mir beherbergen? Ist es sinnvoll, nach Naturkatastrophen zu spenden? Übernehme ich besser die Patenschaft für ein Kind aus Äthiopien oder für ein Kind aus Deutschland? Helfe ich den Betroffenen, oder beruhige ich nur mein Gewissen? William MacAskill hat mit dem Konzept des effektiven Altruismus eine Antwort gefunden. Er nennt die Kriterien für sinnvolles und nachhaltiges Helfen. Oft sind es scheinbar kleine Handlungen, die Großes bewirken: Eine einfache Wurmkur verbessert die Lebensqualität afrikanischer Kinder mehr als eine teure Wasserpumpe fürs ganze Dorf. MacAskill zeigt, warum gut gemeint und gut gemacht zwei verschiedene Dinge sind und wie wir Veränderungen am besten erreichen können. Sein Buch ist eine konkrete Handreichung für alle, die Gutes noch besser tun wollen.
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Das Buch
William MacAskill hat mit dem Konzept des effektiven Altruismus eine Antwort gefunden. Er nennt die Kriterien für sinnvolles und nachhaltiges Helfen. Oft sind es scheinbar kleine Handlungen, die Großes bewirken: Eine einfache Wurmkur verbessert die Lebensqualität afrikanischer Kinder mehr als eine teure Wasserpumpe fürs ganze Dorf. MacAskill zeigt, warum gut gemeint und gut gemacht zwei verschiedene Dinge sind und wie wir Veränderungen am besten erreichen können. Sein Buch ist eine konkrete Handreichung für alle, die Gutes noch besser tun wollen.
Der Autor
William Mac Askill, geboren 1987, hat in Oxford in Philosophie promoviert und war Fulbright Stipendiat in Princeton. Derzeit arbeitet er als Research Fellow an der Cambridge University und ist Professor für Philosophie in Oxford. Er hat die Organisationen Giving what we can und 80 000 Hours, eine Karriereberatung für effektive Altruisten, gegründet.
William MacAskill
Gutes besser tun
Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer
Ullstein
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Doing Good Better. How Effective Altruism Can Help You Make a Difference bei Guardian Faber Publishing, London.
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ISBN 978-3-8437-1339-9
© 2015 by William MacAskill © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin
E-Book: L42 Media Solutions Ltd., Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für Toby Ord, Peter Singer und Stanislav Petrov,
Im Jahr 1989 war Trevor Field noch ein typischer Südafrikaner mittleren Alters, der ein ganz normales Leben führte. Er aß gern Steaks, liebte kaltes Bier und Angelausflüge mit seinen Freunden. Er arbeitete in der Werbebranche für Zeitschriften wie TopCar und Penthouse und hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht, seine Fähigkeiten zum Wohl der Menschheit einzusetzen. Aber dann entdeckte er die PlayPump, und nichts war mehr wie zuvor.
In jenem Jahr besuchte Field gemeinsam mit seinem Schwiegervater, der einen Hof besaß, eine Landwirtschaftsmesse in Pretoria. Dort lernte er einen Wasserwirtschaftsingenieur namens Ronnie Stuiver kennen, der das Modell einer neuartigen Wasserpumpe vorführte. Die Demonstration erinnerte Field an einen Angelausflug, bei dem er die Bewohnerinnen eines Dorfes beobachtet hatte, die stundenlang bei einer von einer Windmühle betriebenen Pumpe warten mussten, bis sie an der Reihe waren, um ihre Wasserbehälter zu füllen. Es war ein windstiller Tag, aber die Frauen, die kilometerweit gelaufen waren, konnten nicht ohne Wasser in ihre Dörfer zurückkehren. Also ließen sie sich auf dem Boden nieder und warteten darauf, dass sich die Mühle in Gang setzte und das Wasser zu fließen begann. Angesichts dieser unfairen Strapazen dachte er: Es muss einen besseren Weg geben, um das zu machen. Nun sah er, wie eine Lösung aussehen konnte.
Stuivers Erfindung schien ihm brillant. Statt der typischen Handpumpe oder eines von einer Windmühle angetriebenen Mechanismus, wie man ihn in armen Ländern in vielen Dörfern findet, funktionierte Stuivers Pumpe gleichzeitig als Spielplatzkarussell. Die Kinder konnten auf dem Karussell spielen und so die Pumpe antreiben, die das Wasser aus der Tiefe nach oben beförderte, wo es in einem Tank gespeichert wurde, der über eine Leitung mit dem Dorf verbunden werden konnte. Die Frauen würden nicht mehr Kilometer weit laufen müssen, um das Wasser mit einer Handpumpe aus dem Brunnen zu holen oder an einem windstillen Tag stundenlang bei einer Windmühle in der Schlange warten müssen. Die »Spielpumpe«, wie Stuiver sie nannte, nutzte die Körperkraft der spielenden Kinder für eine nachhaltige Wasserversorgung der Gemeinde. »Afrikanische Kinder haben fast nichts – nicht einmal Schulbücher, geschweige denn Spielplätze –, und der Zugang zu Wasser ist ein großes Problem«, erzählte mir Field. »Diese Pumpe war die beste Erfindung, die ich je gesehen hatte.«1
Field kaufte Stuiver das Patent für die Pumpe ab und machte sich daran, das Design in seiner Freizeit zu verbessern. Seine Erfahrung in der Werbung brachte ihn auf die Idee, Plakatwerbung auf den Wassertanks anzubringen, um Einnahmen für die Wartung der Pumpen zu erzielen. Im Jahr 1995 konnte er mit Colgate Palmolive einen ersten Sponsor gewinnen, installierte die erste PlayPump und gab seinen Job auf, um sich vollkommen dem Projekt widmen zu können. Mittlerweile war es eine registrierte Hilfsorganisation namens PlayPumps International. Anfangs machte das Projekt nur schleppend Fortschritte, aber Field arbeitete beharrlich weiter und bezahlte mehrere Pumpen von seinem eigenen Geld. Im Lauf der Zeit knüpfte er Verbindungen zu Großunternehmen und staatlichen Stellen im ganzen Land, die weitere Pumpen finanzierten. Bis zur Jahrtausendwende war es ihm gelungen, 50 Pumpen in Südafrika zu installieren.
Sein erster großer Durchbruch gelang ihm im Jahr 2000, als er mit einem World Bank Development Marketplace Award ausgezeichnet wurde, um den sich 3000 Organisationen beworben hatten. Der Preis wird an »innovative Entwicklungsprojekte in einem frühen Entwicklungsstadium vergeben, die ausgeweitet und/oder wiederholt werden können und ein großes Potential zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung haben«.2 Diese Auszeichnung lenkte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Projekt und lockte Geldgeber an. AOL-Chef Steve Case stattete der Organisation gemeinsam mit seiner Frau Jean einen Besuch ab, um sich die Pumpen vor Ort anzusehen. »Sie fanden die PlayPump unglaublich«, erklärte Field. »Nachdem sie die Pumpen in Aktion gesehen hatten, waren sie überzeugt.«3 Im Jahr 2005 willigten die Cases ein, das Projekt zu finanzieren und gemeinsam mit Field den amerikanischen Zweig von PlayPumps International aufzubauen. Das Ziel: Überall in Afrika sollten Tausende Pumpen gebaut werden.
Die PlayPump rückte in den Mittelpunkt einer großangelegten Marketingkampagne. Steve Case nutzte seine Erfahrung als Unternehmensleiter und führte neue Formen der Online-Spendensammlung ein. Die The One Foundation, eine britische Spendensammlungsstiftung, brachte eine Wassermarke namens One Water auf den Markt, deren Verkaufserlös PlayPumps International zufloss.4 Das Produkt war ein großer Erfolg und verwandelte sich in das offizielle Flaschenwasser der Live-8-Konzerte und der Kampagne »Make Poverty History«.5 Die PlayPump verwandelte sich in einen Liebling der internationalen Medien, die mit Schlagzeilen wie »Wasser pumpen ist ein Kinderspiel«6 und »Das magische Karussell«7 spielte. Bill Clinton bezeichnete die PlayPump 2006 in einem Artikel in der Time als »wunderbare Innovation«.8
Prominente sprangen auf den fahrenden Zug auf. Jay-Z sammelte mit seiner Konzerttour »The Diary of Jay-Z: Water for Life« Zehntausende Dollar für das Projekt ein.9 Kurze Zeit später feierte PlayPumps International seinen bis dahin größten Erfolg: Die damalige amerikanische First Lady Laura Bush gewährte dem Programm einen Zuschuss von 16,4 Millionen Dollar zu einer Kampagne, die zum Ziel hatte, bis 2010 Spenden in Höhe von 60 Millionen Dollar zu sammeln, um auf insgesamt 4000 Pumpen zu kommen.10 Im Jahr 2007 hatte sich PlayPump in ein Flaggschiff der internationalen Entwicklungsarbeit verwandelt und Trevor Field in einen Rockstar der wohltätigen Arbeit.
»Das Projekt ist durch die Decke gegangen!«, sagte Field im Jahr 2008, als er nach dem verblüffenden Erfolg von PlayPump International gefragt wurde. »Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass diese Pumpe tatsächlich die Welt verändern könnte.«11 In einem anderen Interview erklärte er: »Es macht mich glücklich, zu wissen, dass wir das Leben vieler Menschen verbessern, die keine der Privilegien kennen, die ich oder meine Familie genießen dürfen.«12 Bis 2009 hatte seine Organisation 1800 PlayPumps in Südafrika, Mosambik, Swasiland und Sambia gebaut.
Aber dann wendete sich das Blatt. UNICEF und das Swiss Resource Centre and Consultancies for Development (SKAT) veröffentlichten vernichtende Berichte über das Projekt.13 Wie sich herausstellte, hatte sich trotz all des Medienrummels und der Millionenausgaben niemand ernsthaft mit dem praktischen Nutzen der PlayPump befasst. Die meisten Karusselle drehen sich eine Weile, wenn sie einmal genug Schwung haben – deshalb machen sie ja Spaß. Aber die PlayPumps müssen unentwegt angeschoben werden, damit sie Wasser pumpen, und die Kinder, die damit spielten, waren rasch erschöpft. In dem UNICEF-Bericht hieß es, dass hin und wieder Kinder vom Karussell fielen und sich Brüche zuzogen, und einigen wurde beim Drehen des Karussells übel. In einem Dorf wurden die Kinder dafür bezahlt, mit der Pumpe zu »spielen«. Meistens mussten am Ende die Frauen selbst das Karussell anschieben, und sie empfanden diese Arbeit als ermüdend und erniedrigend.14
Obendrein hatte niemand die Gemeinden gefragt, ob sie überhaupt eine PlayPump wollten. Als die Experten von SKAT Einwohner fragten, was sie von ihrer neuen Pumpe hielten, antworteten viele, sie zögen die früheren Handpumpen vor. Mit einer Handpumpe des Typs »Zimbabwe Bush« konnte man mit weniger Anstrengung in einer Stunde 1300 Liter Wasser fördern – fünfmal so viel wie mit einer PlayPump mit derselben Zylindergröße. Eine Frau in Mosambik sagte: »Ab fünf Uhr morgens sind wir auf dem Feld und arbeiten sechs Stunden. Dann kommen wir zu dieser Pumpe und müssen sie drehen. Bald schmerzen die Arme. Die alte Handpumpe war viel leichter zu bedienen.«15 Ein Journalist schätzte, dass sich das Karussell 27 Stunden am Tag drehen müsste, um den Wasserbedarf eines typischen Dorfes befriedigen zu können.16
Selbst wenn eine Gemeinde anfangs glücklich über die Pumpe war, währte die Freude nicht lang. Oft brachen die Pumpen innerhalb weniger Monate zusammen, aber anders als bei der Zimbabwe Bush Pump war die Mechanik in einem Metallkasten eingeschlossen, weshalb die Dorfbewohner sie nicht selbst reparieren konnten.17 Stattdessen war vorgesehen, dass sie eine Telefonnummer des Wartungsdienstes bekamen, aber bei den meisten Gemeinden wurde das vergessen, und jene, die tatsächlich eine Nummer erhielten, riefen diese im Schadensfall vergeblich an. Es meldete sich niemand. Die Plakatwände auf den Wasserspeichern blieben leer: Die Dörfer waren zu arm, als dass ein Unternehmen Interesse gehabt hätte, dort für seine Produkte zu werben. Das Fazit: Die PlayPump war den unattraktiven, aber funktionalen Handpumpen in fast jeder Beziehung unterlegen. Trotzdem kostete sie mit einem Preis von 14.000 Dollar pro Stück viermal so viel.18
Es dauerte nicht lange, bis sich die Medien gegen ihr Lieblingskind wandten. In einer Dokumentation vom Public Broadcasting Service (PBS) wurden die zahlreichen Mängel der PlayPump angeprangert.19 (Was sich nicht änderte, war die Vorliebe der Medien für Wortspiele: Die Dokumentation trug den Titel »Südafrika: Die Wogen gehen hoch«, und The Guardian berichtete wiederholt, das in die PlayPumps investierte Geld sei »im Abfluss versenkt« worden.)20 Die amerikanische Niederlassung von PlayPumps International reagierte bewundernswert auf die Kritik: Sie machte dicht, und ihr Geldgeber, die Case Foundation, gestand öffentlich ein, das Programm sei fehlgeschlagen. Aber obwohl sie in Ungnade gefallen ist, lebt die PlayPump weiter. Unter dem Namen Roundabout Water Solutions baut Fields Hilfsorganisation mit Unterstützung von Unternehmen wie Ford und Colgate Palmolive weiterhin überall in Südafrika solche Pumpen.
Die meisten Menschen wollen in ihrem Leben etwas bewirken, und wenn Sie dieses Buch lesen, sind Sie da vermutlich keine Ausnahme. Aber wie Trevor Fields Geschichte zeigt, können gute Absichten nur zu leicht zu schlechten Ergebnissen führen. Wir stehen vor folgender Herausforderung: Wie können wir gewährleisten, dass unsere Bemühungen, anderen Menschen zu helfen, möglichst effektiv sind? Wie können wir vermeiden, ungewollt Schaden zu verursachen, und stattdessen eine größtmögliche Wirkung erzielen?
In diesem Buch werden wir versuchen, diese Fragen zu beantworten. Ich bin überzeugt, dass wir unsere guten Absichten in verblüffend gute Ergebnisse verwandeln können, wenn wir Herz und Hirn kombinieren und gestützt auf Daten vernünftig altruistisch handeln. Um zu veranschaulichen, wie das geht, sollten wir uns eine Geschichte ansehen, die ganz anders endete als die vorhergehende.
Im Jahr 2007, auf dem Höhepunkt der Popularität der PlayPump, gründeten Michael Kremer und Rachel Glennerster eine Hilfsorganisation als Krönung ihrer jahrzehntelangen Forschungsarbeiten zu der Frage, wie das Leben der ärmsten Menschen auf der Erde verbessert werden kann.
Glennerster hatte Wirtschaftswissenschaft an der Universität Oxford studiert, wo sie 1988 ihren Abschluss machte. Sie wollte mehr über die Armutsbekämpfung wissen und entschloss sich, in ein Entwicklungsland zu gehen. Ihr Ziel war Kenia, wo sie einen Sommer verbrachte und Leute befragte, die in der Entwicklungsarbeit tätig waren. Viele dieser Personen hatten all ihre Illusionen verloren und rieten Glennerster, einen genaueren Blick auf die Fehlschläge von Entwicklungsprojekten zu werfen, wenn sie die Ursache dafür herausfinden wolle.
»Ich sah mir einige Projekte an, die gescheitert waren«, erzählte mir Glennerster.21 »Ich fuhr zum Turkana-See im Norden Kenias. Die Bewohner der Region führten im Grunde ein Nomadenleben. Mit verschiedenen Entwicklungsprojekten war versucht worden, ihre Lebensqualität durch eine Ansiedlung am See zu verbessern. Also wurde eine große Fischfabrik gebaut. Es gelang, die Menschen dazu zu bewegen, sesshaft zu werden und auf dem See fischen zu gehen. Aber nach einer Weile war der See überfischt, die Fischbestände brachen zusammen. […] Es war deprimierend.« Glennerster gelangte zu der Überzeugung, es sei unmöglich, in der Entwicklungshilfe etwas Positives zu bewirken. Sie entschloss sich, eine Karriere in der britischen Innenpolitik anzustreben, und nahm einen Job im Finanzministerium an.
Michael Kremer verbrachte nach seinem Grundstudium ebenfalls ein Jahr in Kenia. Wie Glennerster wollte er etwas gegen die extreme Armut tun und mehr darüber lernen. Er zog bei einer kenianischen Familie ein und unterrichtete Englisch an einer Sekundarschule. Auch er sah einige dramatische Beispiele dafür, wie Bemühungen um die Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen scheitern können. Als er nach England zurückkehrte, um sein Studium fortzusetzen, war er entschlossen herauszufinden, wie man die Dinge besser machen konnte.
Im Jahr 1990 lernten sich Kremer und Glennerster an der Harvard University kennen. Kremer arbeitete an seiner Doktorarbeit, Glennerster hatte ein Kennedy-Stipendium erhalten und entschieden, ihre Arbeit im Finanzministerium für ein Jahr ruhen zu lassen. Als Kremer im Jahr 1993 eine Professur am MIT erhielt, waren er und Glennerster bereits ein Ehepaar. Im Urlaub kehrten sie nach Kenia zurück, wo sie die Familie besuchten, bei der Kremer einige Jahre früher gelebt hatte.
Während ihres Aufenthalts traf sich Kremer mit seinem Freund Paul Lipeyah, der für die niederländische Hilfsorganisation International Christian Support Fund arbeitete (mittlerweile Investing in Children and Their Societies, ICS). ICS hatte sich die Unterstützung von Kindern zur Aufgabe gemacht und akquirierte Spender, die regelmäßig einen bestimmten Betrag zahlten, um einem Kind oder einer kleinen Gemeinschaft zu helfen. ICS bemühte sich, die Teilnahme am Unterricht und die schulischen Ergebnisse der Kinder zu verbessern. Die Organisation finanzierte neue Schulbücher, zusätzliche Lehrer und kostenlose Schuluniformen. ICS hatte gerade neue Mittel bekommen, und Paul Lipeyah wollte das Programm auf sieben weitere Schulen ausweiten.
In dieser Situation drängte Kremer seinen Freund, den Nutzen des Programms anhand einer randomisierten kontrollierten Studie zu überprüfen: Er solle Daten zu 14 örtlichen Schulen sammeln und auswerten, wobei die eine Hälfte dieser Schulen das Programm durchführte und die andere wie gewohnt weiterarbeitete. Anschließend solle er die Ergebnisse der 14 Schulen vergleichen, um festzustellen, ob das Programm tatsächlich funktionierte.
Rückblickend ist Kremers Idee naheliegend. Randomisierte kontrollierte Studien sind eine bewährte wissenschaftliche Methode, um Konzepte zu testen, und die Pharmaindustrie bedient sich ihrer seit Jahrzehnten, um neue Medikamente zu testen. Weil den Menschen keine wirkungslosen oder sogar schädlichen Pharmazeutika verkauft werden dürfen, ist es verboten, ein Medikament auf den Markt zu bringen, dessen Wirkung nicht sorgfältig in randomisierten kontrollierten Studien untersucht worden ist.22 Aber bevor Kremer diese Methode vorschlug, war sie in der Entwicklungshilfe noch nie ausprobiert worden.
Mit Unterstützung einiger Mitarbeiter testete Kremer der Reihe nach die verschiedenen ICS-Programme.23 Zunächst sah er sich an, was man bewirken konnte, indem man die Schulen mit zusätzlichen Lehrbüchern ausstattete.24 Oft gab es in einer Klasse nur ein einziges Buch für 30 Kinder, weshalb die Vermutung nahelag, dass die Schüler besser lernen würden, wenn sie mehr Bücher bekamen. Aber als Kremer diese Annahme testete, indem er die Ergebnisse von Schulen, die genug Bücher hatten, mit denen von Schulen verglich, in denen es kaum Bücher gab, stellte er fest, dass kein nennenswerter Effekt zu beobachten war, wenn man von den besten Schülern absah. (Er nimmt an, dass das Niveau der Bücher die Kinder überforderte, vor allem, da sie in Englisch geschrieben waren, das die Schüler erst als dritte Sprache nach Suaheli und ihrer jeweiligen Lokalsprache lernten.)
Als Nächstes sah sich Kremer an, wie sich die Bereitstellung von Flipcharts auswirkte.25 Die Kinder konnten die Lehrbücher nicht verstehen, aber mit Flipcharts konnten die Lehrer den Unterricht den spezifischen Bedürfnissen ihrer Schüler anpassen. Vielleicht würden sich dadurch bessere Lernerfolge einstellen. Aber auch die Flipcharts bewirkten nichts.
Kremer ließ sich nicht entmutigen und wählte einen anderen Zugang. Wenn das Angebot von zusätzlichem didaktischem Material nicht funktionierte, brauchten die Schüler vielleicht eine intensivere Betreuung durch die Lehrer. Schließlich gab es an den meisten Schulen nur einen einzigen Lehrer, der große Klassen unterrichten musste. Doch wie sich herausstellte, verbesserte eine Verkleinerung der Klassen die schulischen Leistungen ebenfalls nicht nennenswert.26
Ein ums andere Mal musste Kremer feststellen, dass naheliegende Programme zur Verbesserung der Bildung schlicht nicht funktionierten. Aber er blieb beharrlich. Er wollte sich nicht damit abfinden, dass es einfach keinen Weg gab, um die Bildung der kenianischen Kinder zu verbessern. An diesem Punkt schlug ihm ein Freund bei der Weltbank vor, einmal die Auswirkungen einer Entwurmung zu untersuchen.
In den entwickelten Ländern sind Darmwürmer kaum bekannt, aber weltweit sind mehr als 1 Milliarde Menschen von einem solchen Parasitenbefall betroffen.27 Darmparasiten sind nicht so dramatisch wie Aids, Krebs oder Malaria und töten nicht annähernd so viele Menschen wie diese Krankheiten, doch sie schwächen Kinder erheblich. Dabei können sie mit sehr geringen Kosten beseitigt werden: In den fünfziger Jahren entwickelte Medikamente, auf die es keine Patente mehr gibt, können in Schulen von den Lehrern verabreicht werden und befreien die Kinder für ein Jahr von Darmparasiten.
Kremer startete ein Experiment, um zu sehen, ob es sich auf das Bildungsniveau der Kinder auswirkte, wenn man ihnen Entwurmungstabletten gab. Das Ergebnis war verblüffend. »Wir hätten nicht erwartet, dass die Entwurmung so wirkungsvoll sein würde«, erzählte er mir. »Wie sich herausstellte, war dies eine der effektivsten Methoden, um die Teilnahme am Unterricht zu fördern.«28
Das Fernbleiben vom Unterricht ist an den Schulen Kenias ein chronisches Problem. Die Entwurmung verringerte die Abwesenheitsrate um 25 Prozent.29 Behandelte Kinder verbrachten zwei zusätzliche Wochen in der Schule, was bedeutete, dass mit einer Investition von 100 Dollar die Zahl der in der Schule verbrachten Zeit um insgesamt zehn Jahre verlängert werden konnte. Es kostete also nur 5 Cent, einem Kind zu ermöglichen, einen Tag mehr zur Schule zu gehen.30 Die Entwurmung der Kinder funktionierte nicht nur, sondern sie funktionierte unglaublich gut.
Obendrein wirkte sich die Entwurmung nicht nur positiv auf die Bildung aus, sondern hatte auch einen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nutzen. Darmparasiten können verschiedenste Beschwerden verursachen, darunter Anämie, Darmverschluss und eine Unterdrückung der Immunabwehr, die den Betroffenen anfälliger für andere Krankheiten wie Malaria macht. Die Entwurmung verringert all diese Risiken.31 Als sich Kremers Kollegen zehn Jahre später fragten, was aus den damaligen Probanden geworden war, stellten sie fest, dass jene, die als Schüler entwurmt worden waren, durchschnittlich 3,4 Stunden in der Woche länger arbeiteten und 20 Prozent mehr verdienten als jene, die als Kinder nicht entwurmt worden waren.32 Tatsächlich war das Entwurmungsprogramm derart wirksam, dass es sich durch die erhöhten Steuereinnahmen selbst finanzierte.33
Zu dem Zeitpunkt, als die Studie über die Entwurmung veröffentlicht wurde, hatte Kremers revolutionärer neuer Zugang zu Entwicklungsprojekten bereits zahlreiche Anhänger gefunden, und Dutzende brillante junge Wirtschaftswissenschaftler untersuchten Hunderte verschiedene Entwicklungsprogramme. In der Zwischenzeit hatte Glennerster ihren Job aufgegeben und die Leitung des neu eingerichteten Poverty Action Lab am MIT übernommen, wo sie ihre politischen Kenntnisse nutzte, um dafür zu sorgen, dass sich die Forschungsergebnisse von Kremer und seinen Kollegen auch wirklich in der Entwicklungsarbeit niederschlagen würden.
Im Jahr 2007 gründeten Kremer und Glennerster ausgehend von ihren Forschungsergebnissen die gemeinnützige Deworm the World Initiative, die den Behörden in Entwicklungsländern technische Unterstützung gewährt und sie in die Lage versetzt, eigene Entwurmungsprogramme durchzuführen. Die Organisation hat mehr als 40 Millionen Entwurmungsbehandlungen durchgeführt, und die unabhängige Bewertungseinrichtung GiveWell stuft sie als eine der kostenwirksamsten Hilfsorganisationen ein.34 Wenn man anderen Menschen helfen möchte, wird man oft wenig bewirken, wenn man zu wenig darüber nachdenkt, wie das am besten geht.
Die PlayPump ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür. Trevor Field und all jene, die ihn unterstützten, gehorchten ihrem Gefühl: Sie stellten sich glückliche Kinder vor, die ihre Dörfer mit Wasser versorgten, indem sie spielten. Die Fakten prüften sie nicht. Die Case Foundation, Laura Bush und Bill Clinton unterstützten das Projekt nicht, weil es Belege dafür gab, dass diese Pumpen Menschen helfen würden, sondern weil es den Anschein hatte, als sei dies eine revolutionäre Technologie. Selbst Kritiker des Projekts wären nicht auf den Gedanken gekommen, Field und seinen Anhängern böse Absichten zu unterstellen, denn zweifellos wollten sie der afrikanischen Landbevölkerung helfen. Aber indem man seine Entscheidungen allein von guten Absichten abhängig macht, beschwört man leicht eine Katastrophe herauf.
Es wäre schön, wenn die PlayPump ein isoliertes Beispiel für nichtdurchdachten Altruismus wäre. Leider ist sie lediglich ein Extrembeispiel für ein sehr verbreitetes Phänomen.35 Wenn es darum geht, anderen zu helfen, denken wir nicht so gründlich nach, wie wir könnten. Der Grund dafür ist, dass wir fälschlicherweise glauben, sobald ein wohltätiges Vorhaben auf Daten und Rationalität beruhe, ginge ebendieser wohltätige Charakter verloren. Und auf diese Art lassen wir uns Chancen entgehen, immens viel zu bewirken.
Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie gingen in Ihrer Heimatstadt eine Geschäftsstraße hinunter. Eine attraktive und beängstigend enthusiastische junge Frau stürzt sich auf Sie und versucht, Sie in ein Gespräch zu verwickeln. Sie hat ein Tablet in der Hand und trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck Dazzling Cosmetics. Sie erklären sich bereit, sich anzuhören, was die junge Frau zu sagen hat, und erfahren, dass sie eine Kosmetikfirma vertritt, die auf der Suche nach Investoren ist. Sie erfahren, wie groß der Markt für Schönheitsprodukte ist, wie großartig die Produkte dieser Firma sind und wie effizient sie arbeitet, weil sie mehr als 90 Prozent ihres Geldes in die Herstellung der Produkte steckt und weniger als 10 Prozent für Verwaltung, Vertrieb und Marketing ausgibt. Daher kann dieses Unternehmen großartige Renditen erzielen. Würden Sie in diese Firma investieren?
Natürlich würden Sie das nicht tun. Wenn Sie vorhätten, in ein Unternehmen zu investieren, würden Sie Investmentexperten zu Rate ziehen oder sich verschiedene Unternehmen ansehen, um ihre Ergebnisse mit denen von Dazzling Cosmetics zu vergleichen. In jedem Fall würden Sie sich möglichst gründlich informieren, um herauszufinden, wo Sie das meiste aus Ihrem Geld machen können. Tatsächlich ist kaum jemand so dumm, in ein Unternehmen zu investieren, das auf der Straße angepriesen wird – deshalb werden Sie nie in eine Situation wie die hier beschriebene kommen.
Und doch spenden jedes Jahr Hunderttausende Menschen Geld für wohltätige Einrichtungen, von denen sie noch nie gehört haben, nur weil sie von einer wortgewandten Spendensammlerin, die sie nicht kennen, dazu aufgefordert werden. Und normalerweise haben sie keine Möglichkeit herauszufinden, was mit dem gespendeten Geld passiert.
Ein Unterschied zwischen einer Investition in ein Unternehmen und einer Spende für einen wohltätigen Zweck ist, dass es in der Welt der Wohltätigkeit oft an geeigneten Feedbackmechanismen mangelt. Wenn Sie in ein schlechtes Unternehmen investieren, verlieren Sie Ihr Geld. Wenn Sie einer schlechten Hilfsorganisation Geld spenden, werden Sie von deren Fehlschlägen vermutlich nie erfahren. Wenn Sie in der Werbung ein Seidenhemd sehen, das Ihnen gefällt, und es kaufen, werden Sie sehr rasch bemerken, wenn dieses Hemd in Wahrheit aus Polyester besteht. Aber wenn Sie eine Packung Kaffee kaufen, die ein Fairtrade-Siegel trägt, werden Sie nie erfahren, ob Sie mit diesem Kauf Menschen geholfen oder geschadet haben – oder ob das Siegel überhaupt etwas bewirkt. Hätte es keine unabhängigen Untersuchungen durch UNICEF und SKAT gegeben, so hätten die Menschen, die PlayPumps International unterstützten, weiterhin geglaubt, ihr Geld in ein sehr erfolgreiches Projekt zu stecken.36 Da wir kein brauchbares Feedback erhalten, wenn wir anderen zu helfen versuchen, können wir unmöglich wissen, ob wir wirklich etwas bewirken.
Kremer und Glennerster waren nicht zuletzt deshalb erfolgreich, weil sie nicht davon ausgingen, sie wüssten, welches die effektivste Methode sei, um Menschen zu helfen. Stattdessen testeten sie ihre Ideen, bevor sie sie in die Praxis umsetzten. Sie waren bereit, ihre Vorstellungen davon, was funktionierte, an der Realität zu messen, und passten ihre Vorgehensweise den Ergebnissen dieser Tests an. Und wie sich herausstellte, war das wirksamste Programm im Gegensatz zur spektakulären PlayPump bemerkenswert langweilig: Grace Hollister, die gegenwärtige Leiterin der Deworm the World Initiative, bezeichnet die Entwurmung als »wahrscheinlich unattraktivstes Entwicklungsprogramm, das man sich vorstellen kann«.37 Aber indem sie sich nicht auf das konzentrierten, was emotional berührte, sondern auf das, was wirklich wirkungsvoll war, erzielten sie spektakuläre Ergebnisse und verbesserten das Leben von Millionen Menschen.
Die Methode Kremers und Glennersters ist ein Beispiel für eine Denkweise, die ich als effektiven Altruismus bezeichne. Der effektive Altruist stellt folgende Frage: »Wie kann ich möglichst viel Gutes bewirken?«, und findet gestützt auf Fakten durch gründliche Überlegung eine Antwort. Um wirksam Gutes zu tun, muss man einen wissenschaftlichen Zugang wählen. So wie der Wissenschaftler einen aufrichtigen und unvoreingenommenen Versuch unternimmt, die Wahrheit zutage zu fördern und sie zu akzeptieren, wie auch immer sie aussieht, unternimmt der effektive Altruist einen aufrichtigen und unvoreingenommenen Versuch herauszufinden, was das Beste für die Welt ist, und zu tun, was auch immer das Beste ist.
Der effektive Altruismus setzt sich also aus zwei Bestandteilen zusammen, und wir müssen vollkommen klarstellen, was sie bedeuten. So wie ich den Begriff verwende, bedeutet Altruismus einfach, das Leben anderer zu verbessern. Viele Menschen meinen, wirklicher Altruismus gehe mit Opferbereitschaft einher. Aber man kann auch Gutes tun, ohne selbst auf ein angenehmes Leben verzichten zu müssen. Altruismus ist auch Altruismus, wenn er unser eigenes Leben nicht beeinträchtigt. Der zweite Bestandteil ist die Effektivität. Effektiver Altruismus bedeutet, mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, möglichst viel Gutes zu tun. Es ist wichtig, dass wir uns über eins im Klaren sind: Beim effektiven Altruismus geht es nicht einfach darum, etwas zu bewirken oder eine gewisse Menge an Gutem zu tun. Es geht darum, so viel wie möglich zu bewirken. Wenn wir uns vornehmen herauszufinden, ob eine Bemühung effektiv ist, gestehen wir uns ein, dass manche Wege, Gutes zu tun, besser sind als andere. Es geht nicht um Schuldzuweisungen oder darum zu behaupten, dass bestimmte Bemühungen, Gutes zu tun, »wertlos« sind. Vielmehr geht es darum, herauszufinden, wie man es am besten tun kann, und dies dann als Erstes umzusetzen. Das ist entscheidend, denn wie wir sehen werden, sind die besten Methoden, um Gutes zu tun, tatsächlich sehr gut.
Als Doktorand an der Universität Oxford beteiligte ich mich an der Entwicklung des Konzepts vom effektiven Altruismus. Ich hatte begonnen, für wohltätige Zwecke zu spenden, und wollte sichergehen, dass meine Spenden anderen Menschen so viel wie möglich halfen. Gemeinsam mit Toby Ord, der als Postdoc in Oxford war, begann ich die Kostenwirksamkeit von Hilfsorganisationen zu untersuchen, die sich der Armutsbekämpfung in den Entwicklungsländern gewidmet haben.38 Die Resultate unserer Studien waren verblüffend. Wir fanden heraus, dass die besten Hilfsorganisationen Hunderte Male effektiver waren als die »guten«. Im Jahr 2009 gründeten Toby und ich gemeinsam Giving What We Can, eine Einrichtung, die Menschen ermutigt, mindestens 10 Prozent ihres Einkommens jenen Hilfsorganisationen zu spenden, die besonders kostenwirksam arbeiten. Etwa zur selben Zeit gaben zwei Hedgefonds-Analysten namens Holden Karnofsky und Elie Hassenfeld ihre Jobs auf und gründeten GiveWell, eine Organisation, die eingehende Studien durchführt, um herauszufinden, welche wohltätigen Einrichtungen mit ihren Spendengeldern am meisten Gutes tun.
Rund um diese Organisationen entstand eine Gemeinschaft. Wir stellten fest, dass der effektive Altruismus auf sämtliche Lebensbereiche angewandt werden konnte: Das Konzept war nicht nur auf die Auswahl einer guten Hilfsorganisation anwendbar, sondern auch auf die Berufswahl, auf die Suche nach einem geeigneten Engagement als Freiwilliger und auf die Entscheidung darüber, welche Produkte man kaufen oder lieber nicht kaufen sollte. Diese Erkenntnis bewegte mich im Jahr 2011 zur Gründung von 80,000 Hours (die Bezeichnung bezieht sich auf unsere durchschnittliche Lebensarbeitszeit)39, einer Einrichtung, die Menschen, die anderen helfen wollen, bei der Suche nach der beruflichen Tätigkeit unterstützt, in der sie am meisten verändern können.
In diesem Buch werde ich genauer erklären, wie man das Konzept des effektiven Altruismus anwenden kann, um mehr Gutes zu bewirken. Ich möchte keine Faktensammlung, sondern eine neue Denkweise anbieten, die Sie sich aneignen können, um anderen Menschen besser zu helfen. Im ersten Teil des Buchs erkläre ich die Grundzüge des effektiven Altruismus. Im zweiten Teil werden wir diese Denkweise auf spezifische Probleme anwenden.
Konkret werden wir uns im ersten Teil in jeweils einem Kapitel mit den fünf Schlüsselfragen des effektiven Altruismus beschäftigen:
Wie viele Menschen profitieren davon – und in welchem Maß?
Ist dies das Wirksamste, das Sie tun können?
Ist dies ein vernachlässigter Bereich?
Was wäre andernfalls geschehen?
Wie gut sind die Erfolgsaussichten, und wie viel wäre ein Erfolg wert?
Indem wir diese fünf Schlüsselfragen beantworten, können wir zahlreiche Fallen umgehen, in die wir leicht geraten, wenn wir versuchen, Gutes zu tun. Die erste Frage hilft uns zu klären, wie verschiedene Maßnahmen das Leben von Menschen verbessern, damit wir unsere Zeit oder unser Geld nicht für Aktivitäten vergeuden, die letzten Endes kaum einen Nutzen haben. Die zweite Frage zwingt uns dazu, unsere Bemühungen nicht auf Aktivitäten zu richten, die lediglich »gut« sind, sondern uns auf die allerbesten zu konzentrieren. Die dritte Frage lenkt unser Augenmerk auf jene Bereiche, die relativ wenig Aufmerksamkeit erhalten, weshalb die Chancen, dort wirklich etwas zu bewirken, noch nicht genutzt wurden. Indem wir die vierte Frage beantworten, vermeiden wir, Gutes zu tun, das auch ohne unser Zutun ohnehin geschehen würde. Die fünfte Frage erleichtert es uns, die Ungewissheit richtig einzuschätzen und zu erkennen, wann wir uns Aktivitäten zuwenden sollten, die nur geringe Erfolgsaussichten haben, im Erfolgsfall jedoch einen gewaltigen Nutzen haben würden, anstatt uns auf Aktivitäten mit einem garantierten, aber geringen Nutzen zu beschränken.
Wenn wir diese fünf Fragen geklärt haben, können wir die zentrale Frage des effektiven Altruismus beantworten: »Wie kann ich möglichst viel Gutes tun?« Von diesen Überlegungen geht der effektive Altruist aus, um etwas zu verändern.
Im zweiten Teil des Buchs wenden wir diese Analysewerkzeuge auf spezifische Fragen an: Wie kann ich herausfinden, welche Hilfsorganisationen mit meinen Spenden am meisten Gutes tun werden? Wie kann ich einen Beruf oder ein Engagement als Freiwilliger auswählen, in dem ich besonders viel bewirken kann? Wie kann ich durch ethischen Konsum möglichst großen Einfluss nehmen? Wie kann ich unter den zahlreichen Problemen der Welt jene auswählen, auf die ich mich konzentrieren sollte? Für jeden dieser Fälle biete ich Ihnen eine Checkliste an, die Ihnen helfen wird, die wichtigsten Fragen zu klären. Ich hoffe, zeigen zu können, dass uns der effektive Altruismus helfen kann, in allen Lebensbereichen größeren positiven Einfluss zu nehmen. Um Ihnen die Orientierung zu erleichtern, habe ich die Checklisten und die fünf Schlüsselfragen im Anhang noch einmal zusammengefasst.
Bevor wir beginnen, möchte ich betonen, warum die Auseinandersetzung mit diesen Fragen so wichtig ist. Im folgenden Kapitel werde ich erklären, warum jeder Einzelne von uns Außergewöhnliches erreichen kann, wenn er nur will.
Als sich die Occupy-Wall-Street-Bewegung im Herbst 2011 ausbreitete, nahmen enttäuschte Bürger der westlichen Welt rasch die Phrase »das eine Prozent« in ihren Wortschatz auf, um sich auf die kleine Gruppe von Spitzenverdienern in den reichen Ländern (insbesondere in den Vereinigten Staaten) zu beziehen. Der Begriff hatte seinen Ursprung in einer Statistik, der zufolge das reichste Prozent der Bevölkerung einen Anteil von 24 Prozent am Gesamteinkommen hat – das entspricht einem Jahreseinkommen von mehr als 340.000 Dollar, zwölfmal so viel wie die 28.000 Dollar, die der typische amerikanische Arbeitnehmer verdient.40 Das Bild vom »einen Prozent«, das den restlichen 99 Prozent der Bevölkerung gegenübersteht, wurde rasch zum Synonym für die Einkommenskluft in den Vereinigten Staaten.
Tatsächlich nimmt die Ungleichverteilung in den Vereinigten Staaten seit Jahren zu: Während das durchschnittliche Haushaltseinkommen zwischen 1979 und 2007 um weniger als 40 Prozent stieg, schwoll das Einkommen des reichsten 1 Prozents der Haushalte im selben Zeitraum um 275 Prozent an.41 Der französische Ökonom Thomas Piketty, der sich mit seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert einen Namen gemacht hat, ist der Ansicht, dass die Ungleichheit in den Vereinigten Staaten ausgeprägter ist als in jeder anderen Gesellschaft in der Welt, und zwar zu jedem Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte.42
Das kann jene unter uns, die nicht dem einen Prozent angehören, ein Gefühl der Machtlosigkeit geben, aber wer sich auf die Spitzenverdiener konzentriert, lässt außer Acht, dass fast alle Mitglieder einer wohlhabenden Gesellschaft beträchtliche Macht besitzen. Wer sich auf die Ungleichheit in den Vereinigten Staaten beschränkt, übersieht einen wichtigen Teil des größeren Zusammenhangs. Um Ihnen zu zeigen, was ich meine, möchte ich das folgende Diagramm zur globalen Einkommensverteilung zeigen:43
Quelle: Branko Milanovic, PovcalNet, Numbeo
In diesem Diagramm ist die gesamte Erdbevölkerung berücksichtigt, geordnet nach Einkommen. Der Bereich zwischen 0 und 25 Prozent zeigt das Einkommen des einkommensschwächsten Viertels der Menschheit, und die Kurve zwischen 75 und 100 Prozent zeigt das Einkommen des einkommensstärksten Viertels der Menschheit. Hätten alle Menschen dasselbe Einkommen, so verliefe die Linie vollkommen gerade und bildete ein sauberes Rechteck unter sich. Aber das Einkommen der ärmsten Menschen ist in dem Diagramm fast nicht zu sehen. Das Einkommen beginnt deutlich zu steigen, wenn wir uns den reichsten 10 Prozent nähern. Und das reichste 1 Prozent? Es sprengt den Rahmen des Diagramms.44 Wollte ich diese Kurve bis zum Ende ziehen, damit Sie sehen können, wo der Einkommensanstieg endet, so müsste dieses Buch so hoch sein wie ein Gebäude mit 23 Stockwerken, das heißt höher als Godzilla.
Wo befinden Sie sich auf der Linie in diesem Diagramm? Zweifellos können Sie es nicht genau bestimmen, denn ich habe die vertikale Achse absichtlich nicht beschriftet, aber raten Sie einmal: Wie viel Prozent der Weltbevölkerung haben ein höheres Einkommen als Sie, und wie viel Prozent verdienen weniger als Sie?
Stellt man diese Frage Bürgern der Vereinigten Staaten oder Großbritanniens, so antworten die meisten von ihnen, dass sie ins 70. oder 80. Perzentil fallen. Die Leute wissen, dass sie in einem reichen Land leben, aber sie wissen auch, dass sie nicht wie die Bankiers und Unternehmenschefs sind, die die globale »Elite« bilden. Daher vermuten sie, dass sie sich in dem Bereich befinden, wo die Kurve steil anzusteigen beginnt, und zu den Superreichen hinaufschauen, die oben an der Spitze der Kurve sitzen. So schätzte ich meine Einkommensposition früher auch ein.
Nun wollen wir die vertikale Achse des Diagramms beschriften:
Quelle: Branko Milanovic, PovcalNet, Numbeo
Wenn Sie mehr als 52.000 Dollar im Jahr verdienen, gehören Sie auf globaler Ebene dem 1 Prozent an. Wenn Sie ein Jahreseinkommen von mindestens 28.000 Dollar haben – dies ist, wie wir uns erinnern, das typische Einkommen von Erwerbstätigen in den Vereinigten Staaten –, gehören Sie zu den reichsten 5 Prozent der Weltbevölkerung.45 Sogar jemand, der in den Vereinigten Staaten unterhalb der Armutsgrenze lebt, das heißt, weniger als 11.000 Dollar im Jahr verdient, ist immer noch reicher als 85 Prozent der Menschen auf der Erde. Da wir daran gewöhnt sind, uns mit den Menschen in unserer Umgebung zu vergleichen, unterschätzen wir leicht, wie gut es uns als Einwohnern der reichen Länder geht.
Vielleicht sind Sie skeptisch. Ich war es, als ich diese Fakten erstmals sah. »Es stimmt schon«, denken Sie vielleicht, »die Armen in den Entwicklungsländern mögen nicht viel Geld haben, aber von diesem Geld können sie sich sehr viel mehr leisten, da die Lebenshaltungskosten in diesen Ländern niedriger sind.«
Tatsächlich kann man sich mit einem Dollar in einem armen Land mehr leisten als in den USA. Während eines Aufenthalts in Äthiopien aß ich in einem der besten Restaurants in Addis Abeba und bezahlte dafür nur etwa 10 Dollar. Ich übernachtete sogar einmal für einen Dollar in einem (allerdings sehr schäbigen) Hotel. Aber im Diagramm zur Einkommensungleichverteilung ist die Tatsache, dass die Kaufkraft eines Dollars in ärmeren Ländern höher ist, bereits berücksichtigt. Sehen wir uns die ärmsten 20 Prozent der Weltbevölkerung an: 1,22 Milliarden Menschen verdienen weniger als 1,50 Dollar am Tag und zählen damit zur riesigen Gruppe derer, die in »extremer Armut« leben.46 Nun könnte man annehmen, »1,50 Dollar am Tag« bedeutete, dass die Armen vom Gegenwert von 1,50 Dollar in ihrer Landeswährung leben. Aber das ist falsch: Sie leben tatsächlich von einem Geldbetrag, der dem entspricht, was man mit 1,50 Dollar (im Jahr 2014) in den USA kaufen könnte.47 Was kann man sich für 1,50 Dollar in den Vereinigten Staaten leisten? Eine Packung Müsliriegel? Ein Kilo Reis?
Vielleicht sind Sie immer noch skeptisch: Vielleicht können die Menschen in armen Ländern ja von weniger als 1,50 Dollar am Tag leben, weil sie viele Güter des täglichen Bedarfs selbst erzeugen. Sie haben nicht viel Geld, aber sie brauchen auch nicht viel, weil sie ihr eigenes Land bebauen und im Wesentlichen von dem leben, was sie ernten. Aber auch das ist ein Trugschluss: Dies ist in unserem Diagramm ebenfalls bereits berücksichtigt. Nehmen wir an, Annette ist eine Bäuerin, die mit dem Verkauf ihrer landwirtschaftlichen Erzeugnisse jeden Tag 1,20 Dollar einnimmt, aber auch Produkte im Wert von 0,40 Dollar verzehrt. Sie lebt also von 1,60 Dollar am Tag, womit ihr Einkommen über der Armutsgrenze von 1,50 Dollar liegt.48
Nun fragen Sie sich vielleicht: Wie können Menschen nur von so wenig Geld leben? Sie müssten doch sterben. Nun, genau das tun sie. Jedenfalls sterben sie sehr viel eher als die Menschen in den entwickelten Ländern. Obwohl die durchschnittliche Lebenserwartung in den Entwicklungsländern in den letzten Jahrzehnten rasant gestiegen ist, liegt sie in den armen Ländern im subsaharischen Afrika bei nur 56 Jahren, während es in den Vereinigten Staaten 78 Jahre sind.49 In anderer Hinsicht ist das Leben dieser Menschen so entbehrungsreich, wie man in Anbetracht ihrer Einkommen erwarten muss. Um ein umfassendes Bild des Lebens in extremer Armut zu zeichnen, haben die Ökonomen Abhijit Banerjee und Esther Duflo vom MIT die Lage in mehr als 13 Ländern untersucht. Das Ergebnis ihrer Studie: Extrem arme Menschen nehmen durchschnittlich 1400 Kalorien am Tag auf, das heißt etwa die Hälfte dessen, was für einen körperlich aktiven Mann oder eine körperlich sehr aktive Frau empfohlen wird. Und dabei geben sie den Großteil ihres Einkommens für Nahrung aus. Die Mehrheit der extrem Armen ist untergewichtig und anämisch. In den meisten Haushalten gibt es ein Radio, aber sie verfügen weder über Strom noch über sanitäre Anlagen oder fließend Wasser. Weniger als 10 Prozent der Haushalte besitzen einen Stuhl oder einen Tisch.50
In einer Beziehung entspricht die Zahl von 1,50 Dollar pro Tag jedoch nicht genau dem, »was man mit 1,50 Dollar im Jahr 2014 in den Vereinigten Staaten kaufen könnte«. Da es in den USA keine extreme Armut gibt, gibt es dort auch keinen Markt für extrem billige Güter. Der minderwertigste Reis, den man in den Vereinigten Staaten kaufen kann, ist immer noch sehr viel besser als billiger Reis, den man in Äthiopien oder Indien erhält. Das Hotelzimmer in Äthiopien, für das ich einen Dollar pro Nacht bezahlte, war sehr viel schlechter als die schäbigste Unterkunft, die ich in den Vereinigten Staaten finden könnte. (Das können Sie mir unbesehen glauben.) Das schlechteste denkbare Haus, das man in den USA kaufen kann, ist um vieles besser als die Lehmziegelhütten, in denen jene Menschen leben, die weniger als 1,50 Dollar am Tag verdienen. Das erklärt, warum jemand, der in extremer Armut lebt, immer noch ein »Eigenheim« haben kann. Aber ein solches Haus ist kaum geeignet, ein Leben in extremer Armut zu verbessern.
Die Tatsache, dass wir im globalen Maßstab zu den Allerreichsten zählen, eröffnet uns eine große Chance, etwas zu verändern. Da wir vergleichsweise reich sind, können wir die Lage anderer Menschen sehr viel deutlicher verbessern als unsere eigene. Wir können zu relativ geringen Kosten ungeheuer viel Gutes tun.
Wie viel können wir bewegen? Nehmen wir der Einfachheit halber an, wir würden uns durch irgendeine soziale Handlung – indem wir für eine Entwicklungshilfeorganisation spenden, Fairtrade-Produkte kaufen oder etwas anderes in der Art tun – um einen Dollar ärmer machen, um einen indischen Bauern, der in extremer Armut lebt, um einen Dollar reicher zu machen. Wie viel größer wäre der Nutzen dieses Dollars für den indischen Bauern als für uns selbst? Es ist eine wirtschaftliche Grundregel, dass Geld einen umso geringeren Wert für uns hat, je mehr wir davon besitzen. Daher darf ich annehmen, dass ein Dollar für einen armen Bauern in Indien einen größeren Wert hat als für mich. Aber wie viel größer ist der Wert für ihn?
Die Wirtschaftswissenschaftler bedienen sich verschiedener Methoden, um diese Frage zu beantworten. Einige dieser Methoden werden wir uns im nächsten Kapitel ansehen, aber an dieser Stelle will ich nur eine erklären: Man fragt die Menschen direkt zu ihrem Wohlergehen.51 (Anhand anderer Methoden vorgenommene Schätzungen würden meine Feststellung ebenso bestätigen wie diese.)52
Um die Beziehung zwischen Einkommen und subjektivem Wohlergehen zu klären, haben die Ökonomen großangelegte Studien über das subjektiv empfundene Wohlergehen auf den verschiedenen Einkommensniveaus durchgeführt. Das folgende Schaubild gibt Aufschluss über die Ergebnisse. Es zeigt die Beziehung zwischen Einkommen und Einschätzung des eigenen Wohlergehens sowohl innerhalb eines Landes als auch länderübergreifend.53
Quelle: Betsey Stevenson und Justin Wolfers.
Die vertikale Achse dieses Diagramms gibt Aufschluss über die Selbsteinschätzung des persönlichen Wohlergehens. Die Befragten sollten auf einer Skala von 0 bis 10 einstufen, wie zufrieden sie mit ihrem Leben waren. Ein Wert von 10 bedeutet, dass sich die Person als vollkommen glücklich einstuft: Sie glaubt, dass ihr Leben realistisch nicht besser sein könnte. Ein Wert von 0 bedeutet, dass sich die Person als vollkommen unglücklich einstuft: Sie ist der Meinung, dass ihr Leben unmöglich schlechter sein könnte. Die meisten Leute sehen sich im mittleren Bereich. Die horizontale Achse gibt Aufschluss über das Jahreseinkommen.54
Interessant an diesem Schaubild ist, dass sich mit einer Verdopplung des Einkommens auch das subjektiv empfundene Wohlergehen stets im selben Maß erhöht. Die Zufriedenheit eines Menschen, der 1000 Dollar im Jahr verdient, und die Zufriedenheit von jemandem, der ein Einkommen von 1000 Dollar mehr erhält, unterscheidet sich im selben Maß wie die Zufriedenheit eines Menschen mit einem Einkommen von 2000 Dollar im Jahr und die Zufriedenheit von jemandem, der 2000 Dollar mehr erhält. Das gilt selbst bei der Verdopplung eines Einkommens von 80.000 Dollar usw.
Dieses Diagramm hilft uns zu bestimmen, wie viel größer der Nutzen eines Dollars für einen in extremer Armut lebenden Menschen ist als für Sie. Stellen Sie sich vor, Ihre Vorgesetzte riefe Sie in ihr Büro und teilte Ihnen mit, im nächsten Jahr werde Ihr Gehalt verdoppelt. Sie würden sich riesig freuen, nicht wahr? Die Ergebnisse der Studien legen den Schluss nahe, dass der Nutzen einer Verdoppelung Ihres Gehalts für Sie genauso hoch ist wie der Nutzen einer Verdoppelung des Einkommens für einen extrem armen indischen Bauern. Wenn Sie das typische amerikanische Jahreseinkommen von 28.000 Dollar beziehen, hat eine Erhöhung um 28.000 Dollar für Sie denselben Nutzen wie zusätzliche 220 Dollar für den Bauern in Indien.
Dies gibt uns einen guten theoretischen Grund zu der Annahme, dass ein und derselbe Geldbetrag für die ärmsten Menschen auf der Erde einen hundertmal höheren Nutzen haben kann als für den typischen Einwohner eines wohlhabenden Landes. Wenn Sie so viel verdienen wie der typische amerikanische Arbeitnehmer, dann sind Sie hundertmal reicher als die ärmsten Menschen der Welt. Folglich kann jedes zusätzliche Einkommen die Lage eines in extremer Armut lebenden Menschen hundertmal mehr verbessern als Ihre eigene Situation. Damit will ich nicht sagen, dass das Einkommen das Einzige ist, was Bedeutung für das Wohlergehen hat – natürlich spielen auch andere Faktoren wie Sicherheit und politische Freiheit eine Rolle. Aber das Einkommen wirkt sich zweifellos entscheidend darauf aus, wie angenehm, lang und gesund wir leben. Indem wir uns ansehen, wie viel Menschen davon haben, dass wir ihr Einkommen erhöhen, können wir uns ein sehr gutes Bild davon machen, wie sehr wir anderen im Vergleich zu uns selbst helfen können.
Wir sind nicht oft in der Lage, zwischen zwei Optionen zu wählen, von denen die eine hundertmal besser ist als die andere. Stellen Sie sich eine Happy Hour vor, in der Sie die Wahl haben, für sich selbst ein Bier für 5 Dollar oder für jemand anderen ein Bier für 5 Cent zu bestellen. Vor diese Wahl gestellt, wären wir vermutlich alle sehr großzügig: Die nächste Runde geht auf mich! Tatsächlich sind wir ständig in dieser Situation. Es ist wie ein Ausverkauf mit einem Preisnachlass von 99,9 Prozent oder eine kostenlose Draufgabe von 10.000 Prozent. Das könnte durchaus das beste Geschäft Ihres Lebens sein.
Diese Erkenntnis scheint mir so wichtig, dass ich ihr einen Namen gegeben habe. Ich nenne sie den 100x-Multiplikator.55 Jene von uns, die in reichen Ländern leben, sind in der Lage, für andere Menschen mindestens das Hundertfache dessen zu tun, was sie für sich selbst tun können.56
Der 100x-Multiplikator sollte uns überraschen. Wer hätte gedacht, dass wir imstande wären, zu für uns selbst derart geringen Kosten anderen so viel Gutes tun zu können? Aber wir leben an einem ungewöhnlichen Ort und in einer ungewöhnlichen Zeit.
An einem ungewöhnlichen Ort, weil Sie, wenn Sie dieses Buch lesen, vermutlich genau wie ich 16.000 Dollar oder mehr im Jahr verdienen, womit Sie zu den reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung zählen. Das heißt, Sie befinden sich in einer bemerkenswerten Lage.
In einer ungewöhnlichen Zeit, weil wir eine Phase mit beachtlichem Wirtschaftsaufschwung hinter uns haben, der in einigen Teilen der Welt zu einem in der Menschheitsgeschichte unvergleichlichen Wohlstand geführt hat. Im Jahr 1800 lag das Pro-Kopf-BIP in den Vereinigten Staaten bei nur 1400 Dollar (zum heutigen Geldwert); mittlerweile ist es auf über 42.000 Dollar gestiegen. Innerhalb von nur 200 Jahren sind wir 30-mal reicher geworden.57 Aber es ist auch eine Zeit des ausgesprochen ungleich verteilten wirtschaftlichen Fortschritts gewesen. Während einige Menschen großen Reichtum angehäuft haben, leben immer noch Milliarden Menschen in tiefster Armut. Das ist schwer nachzuvollziehen, wenn man die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in den letzten 2000 Jahren betrachtet.58
Quelle: Angus Maddison
Fast während der gesamten Menschheitsgeschichte von der Evolution des Homo sapiens vor 200.000 Jahren bis zur Industriellen Revolution vor 250 Jahren lag das Durchschnittseinkommen länderübergreifend bei 2 Dollar oder weniger am Tag.59 Und noch heute lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung von 4 Dollar oder weniger am Tag.60 Aber dank einer glücklichen Fügung des Schicksals sind wir in den Industrieländern die Erben der erstaunlichsten Wachstumsphase in der Geschichte der Menschheit, während der Großteil der Menschen weiterhin so arm ist wie eh und je.
Darüber hinaus leben wir aufgrund dieses Wirtschaftsaufschwungs in einer Zeit, in der wir dank geeigneter Technologie leicht Informationen über Menschen sammeln können, die Tausende Kilometer entfernt sind. Wir sind in der Lage, das Leben dieser Menschen erheblich zu beeinflussen, und wir besitzen die wissenschaftlichen Kenntnisse, um herauszufinden, wie wir ihnen am besten helfen können. Mehr als die Menschen in der Vergangenheit haben wir heute die Möglichkeit, anderen zu helfen.
Manchmal betrachten wir das Ausmaß der Probleme in der Welt und denken: »Alles, was ich tun würde, wäre nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Also warum überhaupt etwas tun?« Aber im Licht der Forschungsergebnisse, die wir uns gerade angesehen haben, erweist sich ein solches Denken als falsch. Nicht die Größe des Steins, sondern die Größe des Tropfens entscheidet, und wir sind imstande, einen sehr großen Tropfen zu erzeugen. Wir haben bereits gesehen, dass wir die Chance haben, für andere einen Nutzen zu schaffen, der hundertmal so groß wäre wie der, den wir mit demselben Geld für uns selbst schaffen könnten. Dass es uns nicht gelingen wird, alle Probleme der Welt zu lösen, ändert nichts an der Tatsache, dass wir das Leben Tausender Menschen verbessern können, wenn wir nur wollen.61
21. Juni 1994, Kigali, Ruanda. Zwei Monate nach einem der furchtbarsten Völkermorde in der Geschichte der Menschheit arbeitete James Orbinski in einem kleinen Rotkreuzlazarett, das eine winzige Quelle der Menschlichkeit in einer moralischen Wüste war.
Das Feld für den Konflikt in Ruanda war Jahrzehnte früher von den belgischen Kolonialherren bereitet worden, die der Meinung waren, die Minderheit der Tutsi sei der Mehrheitsbevölkerung der Hutu rassisch überlegen. Die Tutsi verwandelten sich in Assistenten der Kolonialmacht, während die Hutu zu Zwangsarbeitern gemacht wurden.62 Aber im Jahr 1959 änderte sich die Situation grundlegend: Der ruandische König, ein Tutsi, wurde gestürzt, an die Stelle der Monarchie trat eine von den Hutu dominierte Republik, und Ruanda erklärte seine Unabhängigkeit von Belgien. Doch die Lage wurde nicht besser. Eine Militärdiktatur plünderte das Land aus. Viele Tutsi flohen in die Nachbarländer, und Ruanda verwandelte sich rasch in eines der ärmsten Länder der Welt.
Der schwindende Wohlstand des Landes schürte das Ressentiment der Hutu gegenüber der Minderheit der Tutsi. Es breitete sich eine als »Hutu-Power« bezeichnete extremistische Ideologie aus, deren rassistische Grundsätze sich gegen die Tutsi richteten. Im Jahr 1990 begann das ruandische Regime Hutu-Milizen mit Macheten, Rasierklingen, Sägen und Scheren zu bewaffnen. Ein neuer Radiosender verbreitete Hassparolen, und die Angriffe einer in den Flüchtlingslagern jenseits der Grenze entstandenen Rebellenarmee der Tutsi – der Ruandischen Patriotischen Front – wurden benutzt, um in der Mehrheitsbevölkerung Furcht zu schüren. Im Jahr 1994 explodierte der Hass auf die Tutsi. Am 6. April 1994 wurde der ruandische Präsident ermordet. Die extremistischen Hutu beschuldigten die Ruandische Patriotische Front, was ihnen dabei half, einen seit langem vorbereiteten Genozid zu begehen.
Als Orbinski seine Arbeit im Lazarett des Roten Kreuzes aufnahm, waren Hunderttausende Tutsi ermordet worden. Die Vereinten Nationen blieben untätig; sie wollten nicht eingestehen, dass ein Völkermord stattfand, und hatten praktisch keine Unterstützung gewährt. Nur eine Handvoll Mitarbeiter von Hilfsorganisationen blieben im Land. Orbinski, der später die Leitung von Ärzte ohne Grenzen übernehmen und im Namen der Organisation den Friedensnobelpreis entgegennehmen sollte, versuchte, den Notleidenden zu helfen. Aber was konnte er angesichts so vieler Opfer tun? Später erinnerte er sich:
Es waren so viele, und es kamen immer mehr. Den Patienten wurde ein Pflaster mit einer 1, 2 oder 3 auf die Stirn geklebt: »1« bedeutete, das Opfer musste sofort behandelt werden, »2« bedeutete, dass es innerhalb von 24 Stunden behandelt werden musste, und »3« bedeutete, dass dieser Mensch nicht zu retten war. Die »Dreier« wurden gegenüber des Behandlungszentrums auf einen kleinen Hügel getragen, wo wir es ihnen möglichst angenehm machten und sie sterben ließen. Wir deckten sie zu und gaben ihnen Wasser und so viel Morphin, wie wir erübrigen konnten. Die »Einser« wurden in den OP oder in den Eingangsbereich gelegt. Die »Zweier« wurden im weiteren Umkreis in Gruppen abgelegt.63
Ich kann mir kaum vorstellen, wie es für James Orbinski gewesen sein muss, so viel gebündeltes Leid zu sehen und zu wissen, dass er nur den wenigsten dieser Menschen helfen konnte. Ich bin dankbar dafür, dass ich nie ein solches Maß an Leid sehen werde. Ich nehme an, dass Sie genauso empfinden.
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