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Wolfgang Ullrich

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Beschreibung

Wie leben wir mit verschiedenen Produkten und warum wollen wir sie überhaupt besitzen? Wer und was wirkt bei ihrer Entwicklung alles mit? Wolfgang Ullrich zeigt, dass sich unsere Konsumkultur verändert hat und was wir dadurch über unsere Werte und Wünsche erfahren können.

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Wolfgang Ullrich

Habenwollen

Wie funktioniert die Konsumkultur?

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Inhalt

EinleitungEntwicklung der KonsumkulturStatussymboleDingkritikZeitenwende der DingkulturDinge für das IndividuumKultur der FiktionalisierungDinge als Biographie-RequisitenDie Konkurrenz von Konsumgütern und GeldÄsthetik der KonsumkulturProduktwandelKomfortVirginitätZeitumkehrPotenzWissenschaftliche Grundlagen der KonsumkulturSchattenwissenschaftVon der Soziologie zur PsychologieDer Wettkampf um das UnbewußteVon der Psychologie zur NeurologieZMETProduktpsychologie und VerfassungsmarketingGeisteswissenschaftenDimensionen der KonsumkulturDer Fuchs und die TraubenVom Bildungsbürgertum zum KonsumbürgertumGrenzen der KonsumkulturDie Zukunft des HabenwollensAnmerkungenDanksagung

Einleitung

An einem Abend im Dezember 2003 fand in einer Wohnung im Münchner Westend ein Gespräch über ›Dingkultur‹ statt. Gastgeber war Rüdiger Belter, der seine Räume seit einigen Jahren auch als »mini salon« nutzt und Künstlern für Ausstellungen zur Verfügung stellt. Zwischen Bücherregalen und Aktenordnern (Belter ist sonst als selbständiger Kaufmann tätig), aber ebenso in der Küche und sogar gelegentlich im Schlafzimmer können die Besucher dann Gemälde, Zeichnungen, Installationen oder einen Videofilm betrachten.

Schon etliche Künstler hatten sich vom ungewöhnlichen Ausstellungsort herausgefordert gefühlt und eine Arbeit oder Aktion entwickelt, die auf Elemente der Wohnung Bezug nahm. Doch noch niemand war so weit gegangen wie Stephanie Senge, die Belter diesmal eingeladen hatte und deren Arbeit sich meist mit Konsum-Phänomenen beschäftigt. Sie gab ihrer Ausstellung den Titel »Hurra, wir ziehen zusammen!« – und sie nahm das ganz wörtlich. Die Besucher fanden die Wohnung also ziemlich voll vor. Im Badezimmer hatten Cremes, Lippenstifte und Haarklammern das Terrain weitgehend erobert, im Schlafzimmer stapelten sich Kartons und ausgepackte Kleidung, und im Küchenschrank gab es auf einmal alles doppelt: zwei Typen von Teetassen und Tellern, sogar Eierbecher in zwei Designs, einmal aus weißem Porzellan, einmal in Pink und aus Plastik. Und nicht nur bei den Eierbechern ahnte man sofort: Hier treffen sehr unterschiedliche Dingwelten aufeinander. Hätte man nicht gewußt, daß es sich um eine Kunstaktion handelte, hätte man sogar besorgt gefragt: Kann das gut gehen? Wie passen zwei Menschen zusammen, die an so verschiedenen Formsprachen Gefallen finden?

Stephanie Senge: Installation »Hurra, wir ziehen zusammen!«, 2003

Hinter diesen Fragen steht die Überzeugung, daß in den Dingen, mit denen sich Menschen umgeben, ihre Persönlichkeit zum Ausdruck kommt. Ein Porträt zu zeichnen, war aber auch das Ziel der Ausstellung. Stephanie Senge wollte darauf reagieren, daß Rüdiger Belter jedesmal, wenn er seine Privatwohnung als Ausstellungsraum öffnet, ebenso seine Dingwelt zur Betrachtung und Beurteilung freigibt: Die Besucher schauen nicht nur Kunst an, sondern machen sich aufgrund dessen, was in der Wohnung steht, gleichermaßen ein Bild vom Kurator, der hier lebt. Was sonst nebenbei oder eher verstohlen passiert, sollte nun also direkt zum Thema werden: Indem die Künstlerin mit ihren Sachen anrückte, so als wollte sie tatsächlich einziehen, erhob sie zugleich die Sachen des Kurators zu Ausstellungsstücken. Die Differenzen zwischen den zwei Lebenswelten inszenierte sie an vielen Stellen der Wohnung eigens und steigerte sie zum offenen Kontrast; aus den Dingkulturen fertigte sie ein Doppelporträt der beiden Protagonisten.

An jenem Abend nun, so war es angekündigt, wollten Stephanie Senge und Rüdiger Belter sich über ihre Dinge unterhalten. Konsumgewohnheiten sowie Gründe dafür, etwas haben zu wollen, standen zur Debatte. Dazu waren die beiden bereits vorab gemeinsam zum Einkaufen gegangen, bis sie schließlich, unter anderem, zwei Spaghettipackungen, zwei Joghurts, zwei Flaschen mit Bademittel und zwei Tafeln Schokolade in ihrem Korb hatten. Die Einkäufe breiteten sie auf einem Tisch aus und ergänzten sie um Gegenstände aus ihrem Hausrat: Flaschenöffner, Löffel, Hausschuhe, Zahnbürste.

Ein Moderator ließ das Publikum zuerst raten, wem wohl jeweils was gehörte. Außer bei den Spaghetti gab es keine unterschiedlichen Meinungen – und alle Zuordnungen stimmten. Das braucht auch nicht zu verwundern, handelte es sich doch nicht nur um eine Frau und einen Mann, deren Produktwelten hier zusammentrafen, sondern zugleich um zwei Menschen mit verschiedenen Berufen, einem ausgeprägten Geschmack und individuellen Interessen. Zudem war klar, daß beide für die Ausstellung noch etwas plakativer auf ihren Lebensstil Wert gelegt hatten als sonst. Dennoch verdient festgehalten zu werden, daß das eigene Naturell offenbar auch bei Joghurt und Zahnbürsten ausgelebt werden und man sich Dritten gegenüber eindeutig zu erkennen geben kann. Es gibt nicht nur jeweils diverse Fabrikate und Marken zur Auswahl, sondern diese unterscheiden sich auch in ihrem Formklima oder Eigenschaftsdesign hinreichend stark, um zu verschiedenen Konsumenten zu passen. Bis hin zu den preiswertesten und scheinbar banalsten Produkten reicht das Bemühen der Hersteller, potentielle Kunden nicht nur mit einem Gebrauchswert oder mit einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis zu überzeugen, sondern ihnen dank der Warenästhetik eine Identifikationsmöglichkeit zu bieten.

So ist Rüdiger Belter wichtig, daß die Dinge in seiner Wohnung dezent sind; sein Mißtrauen gilt allem, was bunt und formverliebt auftritt. Was er kauft, soll kein starkes Eigenleben entfalten und keinen Raum über den hinaus einfordern, den es ohnehin besetzt. Doch dürfen die Dinge andererseits nicht belanglos werden; vielmehr soll ihre entschiedene Schlichtheit dazu beitragen, daß man sich in der Wohnung ruhig und innerlich geordnet fühlt. Belter geht so weit, daß er die Etiketten von Plastikflaschen ablöst, um nicht durch diverse Schriften oder Bildchen abgelenkt zu werden. Sogar der Stiel seiner Zahnbürste ist grau. Entsprechend läßt er sich im Laden auch nicht von einer peppigen Dekoration beeindrucken und zum Kauf von etwas hinreißen, was er nicht auf seinem Zettel stehen hat. Spontankäufe gibt es bei ihm nicht. Vielmehr kann es bei wichtigeren Anschaffungen sogar lange dauern, bis Belter sich für ein Fabrikat entscheidet. Abgesehen von der ästhetischen Nachhaltigkeit ist ihm dann die Funktionalität und praktikable Handhabung wichtig. Ökologische Aspekte und die Produktionsbedingungen spielen ebenfalls eine große Rolle. Um sich gut zu informieren, wälzt er Prospekte, sucht verschiedene Läden auf, prüft Alternativen. Selbst bei Alltäglicherem wie einem Shampoo oder einer Tafel Schokolade überlegt er genau. Hat er sich aber erst einmal für eine Marke entschieden, bleibt er ihr, sofern sie sich nicht ändert, über Jahre hinweg treu. Seine Entscheidungen sind also bereits getroffen, bevor er zum Einkaufen geht.

Entstand der Eindruck, daß Belter sich nur wohl fühlt, wenn er für jedes Ding, das er um sich hat, einen rationalen Grund angeben, seinen Konsum also vernünftig legitimieren kann, spielen für Stephanie Senge Einkaufszettel oder Markentreue keine Rolle. Vielmehr begibt sie sich so vor die Regale eines Supermarkts, wie andere Leute morgens vor ihren Kleiderschrank treten: Sie weiß vorher nicht, wofür sie sich entscheidet. Vielmehr läßt sie sich offen und neugierig auf das ein, was sie vorfindet. Statt des Gebrauchswerts gibt dabei oft die Farbe, die Form, die Verpackung oder ein Slogan den Ausschlag für sie, etwas in den Einkaufswagen zu tun. Die Zahnbürste, die sie damals gerade benutzte, hatte die Form einer Seejungfrau und war neckisch bemalt. Im Joghurtregal wählte sie beim gemeinsamen Einkauf mit Belter einen exotischen Fruchtjoghurt mit einem grellen Bild auf dem Aludeckel, der ›Fitness‹ versprach.

Senges Entscheidungen ergeben sich jedoch daraus, daß sie in einem Supermarkt immer auch Anregungen und Material für ihre Installationen sowie andere Kunstprojekte sucht. So kauft sie Waren wegen einer bestimmten Eigenschaft oder Aussage: In ihrem Atelier stapeln sich Produkte, die mit Vokabeln wie ›Balance‹, ›Happiness‹ oder ›Gourmet‹ auf sich aufmerksam machen und die Senge als Zeugen des Zeitgeists begreift. Oder sie sammelt Artikel, die als ›limited edition‹ gekennzeichnet sind. Häufig macht sie reine Farbeinkäufe oder interessiert sich für Produkte aus einem speziellen Land, aus denen sie dann Stilleben zusammenstellt und fotografiert. Die Grenzen zwischen privatem Konsum und künstlerisch motivierten Kaufentscheidungen sind bei ihr fließend, da manche der Produkte, die sie im Blick auf eine Installation oder Fotoserie erwirbt, von ihr auch zu Hause benutzt werden. Je nachdem, wann man sie besucht, vermittelt ihre Wohnung also einen ganz anderen Eindruck. In ihr finden sich die Erträge und Reste diverser Konsum-Exkursionen – Dokumente eines in aller Spontaneität ebenfalls sehr bewußten Einkaufens.

Rüdiger Belter und Stephanie Senge kaufen also nur, was sie wirklich haben wollen. So unterschiedlich die Kriterien sein mögen, nach denen sie ihre Auswahl treffen, so sehr führt ihr jeweiliger Konsumstil doch vor Augen, was für eine intensive und individuelle Auseinandersetzung das differenzierte Warenangebot erlaubt. Da so viele Dinge eine deutliche Formensprache sprechen, muß man sich sogar spezifisch auf sie einlassen. Selbst der Konsum simpelster Produkte fordert schon klare Entscheidungen. Belter und Senge bewiesen ihre Reflektiertheit dadurch, daß sie an jenem Abend bei jedem Ding mühelos und detailliert erklären konnten, warum sie es gekauft hatten. Nach und nach entstand für die Gäste des »mini salon« somit ein genaues Bild nicht nur von den Konsumgewohnheiten der beiden Protagonisten, sondern von ihrer gesamten Persönlichkeit, ihrem Temperament, ihrer Lebenseinstellung. Das in der Ausstellung angelegte Doppelporträt konkretisierte sich.

Wer den beiden zuhörte, konnte sogar den Eindruck gewinnen, das Konsumieren sei regelrecht eine Profession, eine auf Sensibilität, Gestaltungswillen und Kreativität angewiesene Tätigkeit, bedeute also viel mehr als das Beschaffen und Verbrauchen von Gütern: Wer nicht sorgfältig überlegt, was zu ihm paßt, vermittelt ein schiefes Bild der eigenen Person oder fühlt sich unwohl inmitten von Dingen, die zu Fremdkörpern werden. Mancher mochte an jenem Abend auch Zweifel hinsichtlich des eigenen Konsumverhaltens bekommen haben: Reflektiert man die eigenen Präferenzen sorgfältig genug? Ist man nicht sogar oft überfordert von einer Kaufsituation? Ob es neben logischer, sozialer oder emotionaler Intelligenz vielleicht auch Faktoren gibt, die den Konsum-IQ einer Person bestimmen? Heutzutage kann es jedenfalls überall zu Fehlgriffen kommen, nicht nur bei Büchern oder Musik, sondern genauso bei Schokolade, Zahnbürsten oder einem Korkenzieher.

 

Der Mensch wurde nicht als Konsument geboren. Konsumhistoriker weisen darauf hin, daß es »zunächst einmal notwendig [war], die Menschen vom ›Habenwollen‹ zu überzeugen«.[1] Sie mußten lernen, Interesse an Dingen zu zeigen, die sie nicht unbedingt zum Überleben brauchten.[2] Dem Habenwollen ging und geht ein Habenmüssen voraus, und erst wenn die notwendigen Bedürfnisse befriedigt sind, ist für die Erfüllung – und Entwicklung – von Wünschen Platz.

Dabei verrät es eine zu konsumkritische Einstellung, diese Wünsche nur als ›gemacht‹ zu denunzieren und so zu tun, als gebe es sie ohne die Profitgier der Unternehmen und Verkäufer nicht. Plausibler ist es, ihnen eine Latenz zu attestieren – und es als Fortschritt zu würdigen, wenn die Umstände danach sind, daß sich neben Bedürfnissen auch Wünsche berücksichtigen lassen. Erst eine Gesellschaft, in der man Wünsche entfalten und befriedigen kann, besitzt die Chance, eine Konsumkultur – und nicht nur einen von Notwendigkeiten bestimmten Tauschhandel – zu etablieren. Dazu gehört es aber gerade, Waren über den Gebrauchswert hinaus symbolisch aufzuladen und zu Dingen zu entwickeln, die ihren Besitzern schmeicheln, sie in ihrer Einstellung unterstützen oder sogar transformieren.

Wie aber verspricht ein Ding, daß es eine Persönlichkeit porträtiert, stärkt oder anspornt? Bot schon jener Abend über Dingkultur eine Debatte über Designs, Farben, Materialien und Formsprachen, so stößt man auch in vergleichbaren Diskussionen vor allem auf ästhetische Faktoren: Evozieren nicht Warengestalt und Werbung ein Habenwollen, kann ein Produkt auf keine Karriere auf dem Markt hoffen. Dabei geht es jedoch, anders als konsumkritische Autoren immer wieder unterstellt haben, nicht nur um eine Verführung durch sexuelle Schlüsselreize.[3] Ließe sich die Nachfrage allein damit steuern, wäre Marketing ein einfaches und ziemlich eindimensionales Geschäft; von einer Konsumkultur zu sprechen, besäße dann kaum Berechtigung. Ein Ziel dieses Buchs besteht hingegen darin, die etwas subtileren Methoden und Techniken darzustellen, die sich in einer Gesellschaft entwickelt haben, in der Konsum viel mehr als nur eine Bedürfnisbefriedigung garantieren soll und in der das Verhältnis zwischen Ding und Mensch eine erstaunliche Psychologisierung erfahren hat.[4]

Während das erste Kapitel diese Entwicklung nachzeichnet sowie einige besondere Merkmale der modernen Konsumgesellschaft untersucht, geht es im zweiten Kapitel darum, wie Dinge den an sie gestellten Ansprüchen nachkommen. An Beispielen soll demonstriert werden, wie ein Design eine formatierende Wirkung entfaltet oder eine Lebensform repräsentiert und auf welche Weise eine Werbeanzeige Potenz verspricht oder zu Phantasien erfüllter Zukunft stimuliert. Antworten auf diese Fragen weisen in zwei Richtungen. So tragen sie nicht nur zu einer Stilbestimmung heutiger Warenästhetik bei, sondern verraten auch einiges über die Werte der Wohlstandsgesellschaft.

Da die Anforderungen an Design und Werbung erheblich gestiegen sind, überläßt kaum noch ein Unternehmen allein den Designern, der Marketingabteilung und einer Werbeagentur die Entscheidungen über das Erscheinungsbild seiner Fabrikate. So wichtig die ästhetische Dimension ist, so wenig ist sie noch das Werk einzelner Professionen. Vielmehr sind in den letzten Jahrzehnten zahlreiche weitere Spezialisten herangezogen und keine Kosten gescheut worden, um den Markterfolg von Produkten vorab besser einzuschätzen und um ihn nach Möglichkeit zu steigern. Das dritte Kapitel legt dar, in welchem Ausmaß sich der Entwicklungs- und Vermarktungsprozeß von Konsumgütern mittlerweile Erkenntnissen so unterschiedlicher Fächer wie der Soziologie, der Psychologie und der Gehirnforschung, aber selbst kunst- und kulturwissenschaftlichen Impulsen verdankt.

Da es heute nur noch wenige Produkte gibt, die nicht mit Hilfe verschiedener Wissenschaften auf den Markt gelangt sind, läßt sich die moderne Konsumwelt sogar als Ort interdisziplinärer Forschung beschreiben. Viele Erkenntnisse über den Menschen werden erst im Zuge von Marktuntersuchungen oder bei der Analyse des Konsumentenverhaltens gewonnen. Anthropologie nimmt mittlerweile also von Kaufhäusern sowie den Labors der Konsumforschung ihren Ausgang. Da die Produzenten ihre Kundschaft damit besser denn je kennen, sind auch die Produkte so paßgenau angelegt wie nie zuvor. Selbst wer dafür kapitalistische Gier und einseitig ökonomische Interessen verantwortlich machen mag, kommt nicht umhin, das Ergebnis als eine historisch einmalige Leistung zu würdigen: Erstmals läßt sich der Konsum in Kategorien beschreiben, die bisher allein für Werke der Hochkultur reserviert waren – erstmals ist er selbst zu einer Kultur geworden.

Das letzte Kapitel zieht eine Bilanz dieser relativ neuen, vor allem in der deutschsprachigen Debatte bisher kaum gewürdigten Verhältnisse und untersucht, inwieweit das Bildungsbürgertum, das über zwei Jahrhunderte hinweg die Hochkultur getragen und gefördert hat, inzwischen von einem Konsumbürgertum abgelöst wird. Dabei werden jedoch auch Defizite des heutigen Konsumismus unübersehbar, die zugleich anzeigen, wohin die weitere Entwicklung gehen könnte – und gehen müßte, damit der Begriff einer Konsumkultur auch wirklich gerechtfertigt wäre. Am Horizont erscheint so bereits die Zukunft des Habenwollens.

 

Stellenwert und Differenziertheit der heutigen Dingkultur läßt sich sogar noch dort erahnen, wo es um die Abfälle der Konsumwelt geht – um das, was vom Habenwollen bleibt. Ein Gegenstück zu der Aktion im »mini salon« lieferten im Sommer 2004 zwei Fotografen aus Frankreich, Pascal Rostain und Bruno Mouron, die in einer Galerie in New York postergroße Bilder ausstellten, auf denen, jeweils ausgebreitet auf schwarzen Samt, der Müll prominenter US-Amerikaner fotografiert war. Zu sehen war, was Arnold Schwarzenegger raucht oder welches Mineralwasser in der Familie von Madonna getrunken wird. Außer Müll, der Rückschlüsse auf Krankheiten oder sexuelle Vorlieben erlaubte, präsentierten die beiden Fotografen alles, was sie, mit viel Aufwand und Geduld, aus den Abfalltonnen erbeutet hatten. Immerhin brauchten sie rund fünfzehn Jahre, bis sie das Material für ihre Ausstellung beisammen hatten. Ihr Interesse, so erklärten sie, gelte der Konsumkultur, die sich nirgendwo so klar abbilde wie im Müll. Er liefere »ein wahres Porträt unserer Gesellschaft«. Wenn man festhalte, was jemand esse, trinke und in seinem Haushalt habe, könne man dessen »Persönlichkeit sehen«. Daher zeige das beste, da aussagekräftigste Foto von Brigitte Bardot auch nicht ihr Gesicht, sondern ihren Abfall.[5]

Pascal Rostain/Bruno Mouron: Der Müll von Madonna, 2004

Entwicklung der Konsumkultur

Statussymbole

Noch nie hat sich das Verhältnis der Menschen zu ihren Dingen so stark verändert wie in der Moderne. Die Gründe dafür haben verschiedene Namen, wobei ihre Auswahl davon abhängt, ob man einer hegelianischen oder einer marxistischen Tradition der Geschichtsphilosophie anhängt: Identifiziert man Bewußtsein und Ideen als treibende Kraft, wird man Individualisierung, Säkularisierung und Demokratisierung verantwortlich machen. Wer hingegen das Sein und die realen Lebensbedingungen als das Primäre setzt, führt Industrialisierung, freie Marktwirtschaft und Massenwohlstand als entscheidende Faktoren an.

Es herrscht unter Historikern jedoch Einigkeit darüber, daß sich eine differenzierte Konsumkultur erst seit dem 18. Jahrhundert zu entwickeln begann.[1] Bis dahin hatte die Mehrheit nicht nur aus ökonomischen Gründen kaum Wahlfreiheit. Vielmehr gab es in den meisten Bereichen keine Angebotsvielfalt. Außerdem sind seit der Antike und für nahezu alle Länder und Kulturen Gesetze überliefert, in denen der Gebrauch von Kleidung oder Schmuck geregelt wurde: Auch wer das Geld dazu besaß, durfte nicht einfach Seidenstoffe oder Perlen tragen – außer der gesellschaftliche Status erlaubte es. In Venedig wurde 1430 festgelegt, wie hoch die Absätze von Stöckelschuhen sein durften; allein Prinzessinnen und Gräfinnen war in Frankreich im 16. Jahrhundert das Tragen von Seidenkleidern gestattet, und Elisabeth I. von England bestimmte 1564, daß nur ein Vicomte oder noch höherer Adeliger dazu berechtigt war, Gold- oder Silberfäden in sein Gewand einzuarbeiten.[2]

Zwar wurden diese Gesetze häufig unterlaufen und nur selten angewendet, doch beweist schon ihre Existenz, wie wenig Spielraum für den einzelnen vorgesehen war, sich über seinen Konsum variabel auszudrücken – wie bewußt Dinge aber zugleich als Statussymbole eingesetzt wurden. Die Gesetze stellen sogar den Versuch dar, ihre statusindizierenden Qualitäten eindeutig zu codieren. Ziel war eine Sprache der Dinge, bei der Kleidung und Accessoires allgemeinverständlich und eindeutig signalisieren, welchen gesellschaftlichen Rang eine Person innehat. Kaum jemand konnte jedoch der Versuchung widerstehen, sich der Öffentlichkeit etwas geschönt zu präsentieren. Die Konsum-Gesetze, die die sozialen Verhältnisse eigentlich stabilisieren sollten, waren also auch ein Unruhefaktor.

In einer Satire auf eine Schicht römischer Neureicher, dem Satyricon des Petron, geschrieben um 60 n. Chr., geht es darum, wie man sich durch die Wahl seiner Dinge von anderen – weniger Wohlhabenden – abheben kann und wie sich zugleich gegenüber den Etablierten Mimikry betreiben läßt. Aufgrund von Ungeschicklichkeit und zu großer Ambition mündet dieses Unterfangen jedoch in karikaturenhaften Übertreibungen. So legt der Emporkömmling Trimalchio Wert darauf, überall das Teuerste zu besitzen und durch Gesten offener Verschwendung seinen Reichtum zu bekunden. Für ein Brettspiel benutzt er keine einfachen Steine (in Weiß und Schwarz), sondern Stücke aus Gold- und Silbermünzen (»pro calculis  (…) albis ac nigris aureos argentosque habebat denarios«).[3] Hier wie auch sonst definiert über Jahrtausende hinweg fast immer der Materialwert den Unterschied zwischen begehrten und bloß alltäglichen Gegenständen. Aus ihm ergibt sich, was zum Statussymbol geeignet ist. Andere Kriterien sind Aufwand und Professionalität der Materialbearbeitung, gelegentlich auch die Person, die etwas hergestellt oder verkauft hat. Letzteres ist bereits eine Vorform von Markenbildung, wo ein Ruf – oder Image – wichtiger werden kann als die materielle Verfaßtheit des Produkts.

Soweit der Materialwert im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, mußten die Konsumenten immer über gute Warenkenntnisse verfügen, um die Qualität eines Produkts einschätzen zu können. Seit dem späten 18. Jahrhundert wurde an den Schulen und Hochschulen sogar eigens Warenkunde unterrichtet. Johann Beckmann, ein Göttinger Professor für Weltweisheit, war einer der ersten, die, beseelt von Gedanken der Aufklärung, Wissen über Waren sammelten und in Lexika oder Ratgebern weitergaben.[4] Infolge der Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts gewann die Warenkunde weiter an Wichtigkeit, da nun zahlreiche bisher unbekannte Materialien und Güter importiert wurden, deren Eigenschaften oder Verarbeitungsweisen erst gelernt und vermittelt werden mußten. Noch das frühe Kunststoffzeitalter führte zu zusätzlichen Herausforderungen für die Warenkunde, doch in den letzten Jahrzehnten verschwand sie aus den Lehrplänen: Konsumprodukte definieren sich mittlerweile oft über anderes als ihre Materialeigenschaften; wie teuer etwas ist, hängt nur noch zum Teil mit dem Wert oder der Bearbeitung seines Materials zusammen.

Als Statussymbole vermochten Konsumgüter in der Vergangenheit nur eingeschränkt zu porträtieren. Sie verrieten lediglich, wie reich und sozial angesehen jemand war, nicht jedoch, welche politische Einstellung und was für ein Temperament er oder sie besaß. Als Beispiel hierfür sei auf Thorstein Veblens Theorie der feinen Leute (The Theory of the Leisure Class) verwiesen, ein erstmals 1899 publiziertes und oft nachgedrucktes Buch, das den repräsentativen Konsum Wohlhabender untersuchte. Veblen trennt nicht zwischen antiken, neuzeitlichen und damals zeitgenössischen, auch nicht zwischen westlichen und außereuropäischen Gesellschaften, da aus seiner Sicht das, wofür Statussymbole stehen, überall vergleichbar ist: Immer gehe es um den »Beweis der Zahlungsfähigkeit«, der am besten durch »demonstrative Verschwendung« erbracht werde; ferner solle kundgetan werden, daß man selbst nicht arbeiten müsse, also über »demonstrative Muße« verfüge.[5] Nobilität beweist daher, wer sich Dinge aus Materialien kauft, die teurer sind als Werkstoffe, welche den Gebrauchswert des Gegenstands genauso oder gar besser garantieren. Ein handgeschmiedeter Silberlöffel, so Veblens Beispiel, ist ungefähr »hundertmal mehr wert« als ein maschinell gefertigter Aluminiumlöffel, ist aber »meist sogar weniger gut für seinen angeblichen Zweck«.[6] Wer ihn dennoch kauft, verrät, daß er nicht aufs Geld schauen muß und daß er genügend Zeit (oder Bedienstete) hat, um nicht auf die praktischste Lösung angewiesen zu sein.

Mehr als eine mühelos verfügbare Kaufkraft gaben Statussymbole zu Veblens Zeiten also genausowenig zu erkennen wie in der Epoche Petrons. Zwar haben Kaufhauskataloge des späten 19. Jahrhunderts bereits für viele Gebrauchsartikel zahlreiche Varianten im Angebot, doch kommen auch hier erst relativ wenige Unterscheidungskriterien zum Tragen. Vor allem wurde zwischen Designs für Männer und Frauen getrennt, ebenso sahen Dinge für Kinder und Jugendliche anders aus als die für Erwachsene. Feinere soziale Abstufungen und erst recht Mentalitätsdifferenzen bildeten sich hingegen nicht ab.[7]

Vorzeichen für das, was sich im 20. Jahrhundert entwickeln sollte, gibt es aber bereits in der Literatur des späten 19. Jahrhunderts. So konfrontiert Henry James in seinem Roman Portrait of a Lady (1881) die Titelheldin Isabel Archer mit der Ansicht einer älteren Freundin, Madame Merle, wonach die Identität einer Person sich wesentlich durch ihre Dinge konstituiere, man darauf also auch besonders achten müsse. Die eigene Persönlichkeit sei sogar nichts anderes als das, was man durch die Wohnung, die Möbel, die Gewänder, die Bücher, die man lese, und die Gesellschaft, in der man sich befinde, zum Ausdruck bringe. (»I've a great respect for things! One's self – for other people – is one's expression of one's self; and one's house, one's furniture, one's garments, the books one reads, the company one keeps – these things are all expressive.«) Isabel ist eine solche Auffassung jedoch unheimlich; für sie sagen Besitzgüter nichts über den Besitzenden aus – im Gegenteil behindern sie das Individuum sogar darin, sich auszudrücken, sind sie doch gesellschaftlichen Normen oder den Launen der Hersteller und nicht dem Charakter dessen geschuldet, der sie erwirbt. (»Nothing that belongs to me is any measure of me; everything's on the contrary a limit, a barrier …«).[8]

Entspricht Isabels Haltung genau dem Befund, daß Dinge auch im 19. Jahrhundert noch vor allem auf soziale Rollen festlegten und kaum einmal als fein steuerbare Medien und sensible Indikatoren fungieren konnten, erkennt Madame Merle in einem Schrank oder Kleid schon so viel wie in einem Buch: etwas, das den Charakter des Besitzers offenbart und auch konstituiert. Die Dinge, mit denen man sich identifiziert, sind für sie sogar genauso Teil der eigenen Person wie Haare oder Augen. Entsprechend empfände sie einen Diebstahl – wie es viele Menschen heute tun – als persönlichen Angriff: mehr als Körperverletzung denn als materiellen Schaden.[9] Damit ist Madame Merle eine Pionierin der entwickelten Konsumkultur – eine der ersten, die den Dingen mehr Bedeutung verlieh, als sie lange besaßen.[10]

Dingkritik

Die Moderne ist auch die erste Epoche, in der Kritik an den Dingen geübt wird. Dabei geht es nicht um Einwände gegen einzelne Produkte – ihr Design, ihre Materialeigenschaften, ihren Nutzwert oder ihren Luxus –, sondern allgemeiner um ein Unbehagen, das ihre Beziehung zu den Menschen betrifft. Dieses Unbehagen signalisiert ein Bewußtsein markanter Veränderungen; in ihm drücken sich sowohl Angst und Trauer über drohende Verluste, aber auch hohe Ansprüche gegenüber den Dingen aus.

Ein Argument, das im Zuge der Industrialisierung immer wiederkehrt, betrifft den Charakter der Produkte. Man beklagt die Unpersönlichkeit dessen, was mit Hilfe von Maschinen in größeren Auflagen oder gar massenhaft hergestellt wird. Es muß für viele Menschen im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert verstörend gewesen sein, mit Dingen konfrontiert zu werden, die nicht als Einzelstücke erkennbar, sondern anonymer Herkunft waren. In zahlreichen Äußerungen drückt sich dieses Mißfallen aus, oft auch in Verbindung mit anderen Vorbehalten gegenüber der Modernisierung. Wenn der Philosoph Friedrich Theodor Vischer 1843 beklagt, daß »der tote Mechanismus vollends jede lebendige Teilnahme der Individualität von der Hervorbringung der Produkte ausscheidet«, und wenn er weiter »das gemütliche Einleben der Seele in den Charakter der Arbeit« vermißt, beurteilt er die Produzenten nach dem Vorbild des Künstlers: Sie sollten idealerweise ihre jeweils unverwechselbare Art originell zum Ausdruck bringen.[11]

So sehr er zuerst nur aus der Sicht der Hersteller spricht, die er einem Prozeß der Entfremdung ausgesetzt sieht, so sehr hebt er aber auch die Folgen dieser Entwicklung für die Konsumenten hervor. Sie drohen ihrerseits, so Vischer, zu maschinenhaften Wesen zu werden, die farblos, langweilig und dressiert vor sich hinleben. Er befürchtet, daß sich der »mechanische Charakter  (…) im weitesten Sinne allen Formen aufgedrückt hat« und nennt den »Maschinenlauf des ganzen Staatswesens« oder die »falschen Anstandsfesseln der Gesellschaft« als Beispiele. Soweit er den modernen Dingen eine in negativer Weise formatierende Kraft unterstellt, empfindet er seine Zeit sogar als so starken Rückschritt gegenüber früheren Perioden, daß man sich – drastisch – »geradezu erhängen müßte«.[12]

Beklagte Vischer, um wie viel »poetischer« die alten Dinge waren[13], so vermißte drei Generationen später der Architekt und Kulturkritiker Paul Schultze-Naumburg an den neuen Dingen, daß sie nicht in der Lage wären, »selbständig Glück zu verleihen«.[14] Andere Konservative wie Ernst Rudorff, eine führende Figur der Heimatschutzbewegung der vorletzten Jahrhundertwende, schrieb, daß »die Welt  (…) häßlicher, künstlicher, amerikanisierter mit jedem Tag« werde.[15] Demselben Topos folgte auch Rainer Maria Rilke, der 1925 in einem Brief einen Nachruf auf eine untergehende Dingkultur, eine Klage über »das immer raschere Hinschwinden von so vielem Sichtbaren« formulierte: »Noch für unsere Großeltern war  (…) fast jedes Ding ein Gefäß, in dem sie Menschliches vorfanden und Menschliches hinzusparten. Nun drängen, von Amerika her, leere gleichgültige Dinge herüber, Schein-Dinge, Lebens-Atrappen  (…). Die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge gehen zur Neige und können nicht mehr ersetzt werden. Wir sind vielleicht die Letzten, die noch solche Dinge gekannt haben. Auf uns ruht die Verantwortung, nicht allein ihr Andenken zu erhalten  (…), sondern ihren humanen  (…) Wert«.[16]

Da die alten, von Hand gefertigten Dinge für Rilke mit Leben erfüllt waren, nahmen sie die Rolle von Freunden an. Je länger man mit ihnen Umgang pflegte, desto inniger wurde die Beziehung, desto mehr vom eigenen Leben ging in sie ein. Dabei zeichneten sie sich – auch das gehört zu Freunden – durch Diskretion aus: Statt der Umwelt zu signalisieren, wie ihr Besitzer denkt und fühlt, waren sie ›mitwissend‹, also verschwiegene Komplizen. Die Moderne hingegen wird als Epoche eines Erkaltens beschrieben: Aus der Intimität im Verhältnis zwischen Mensch und Dingen sei eine triste Beziehungslosigkeit geworden.

Allerdings neigen Kulturkritiker auch dazu, die Vergangenheit zu idealisieren. Ihre Ansprüche und Hoffnungen machen sie dringlicher, indem sie darauf beharren, diese seien bereits einmal erfüllt gewesen. So ändert sich an der Art der Argumentation über hundertfünfzig Jahre hinweg auch nichts: Immer wieder wird suggeriert, der Dingverlust sei ganz akut eingetreten. »Die Dinge als solche haben keine Substanz«, stellte etwa Erich Fromm in den 1970er Jahren fest und bemängelte, daß man ihnen gegenüber »gleichgültig« geworden sei; es bestünden »keine tieferen Bindungen an sie«.[17] Und nochmals einige Jahre später bemerkte Peter Handke, »keine Achtung mehr vor den meisten täglichen Gegenständen« haben zu können, »weil sie nicht von Menschen gemacht sind«.[18]

Wer für die Dinge Substanz und Belebtheit voraussetzt, mißt sie aber an denselben Ansprüchen, die spätestens seit dem Klassizismus gegenüber Kunst erhoben wurden. Wie ein großes Kunstwerk Humanität verkörpern und die Rezipienten mit seiner Kraft formen und beleben sollte, so verlangten Philosophen und Kunsttheoretiker, aber auch Künstler den Dingen ähnliche Stärke und positive Wirkungen ab. Rilkes Brief liefert hierfür ein typisches Beispiel. Als »Gefäß« soll ein Ding für ihn zudem mit Lebenssinn aufgefüllt sein und damit eine beglückende Ganzheit besitzen. Dieselbe Metapher hatte rund hundert Jahre zuvor Georg Wilhelm Friedrich Hegel verwendet, um den besonderen Charakter eines Kunstwerks – konkret: eines Gedichts – zu beschreiben: Es sei ein »Gefäß«, in dem sonst »zersplittert und zerstreut« vorhandene »Vorstellungen, Gefühle, Eindrücke, Anschauungen« zusammengetragen würden, was zu einer »Totalität« führe und wobei »das empfindende Herz das Innerste und Eigenste der Subjektivität« erfahre.[19]

Die Kritik, der die Dinge in der Moderne ausgesetzt sind, liest sich also wie ein aus der Kunsttheorie abgeleiteter Forderungskatalog. Vermißt werden dabei aber Erfahrungen, die für heutige Konsumenten selbstverständlich sind. Käufer elitärer Markenartikel berichten davon, wie ihr Leben dadurch intensiver und bewußter werde und sich eigene Rituale entwickelten. Wer einen teuren Füller erwirbt, will damit vielleicht die große Bedeutung des Schreibens für sein Selbstverständnis – und als Quelle seines Selbstwertgefühls – würdigen. Der Füller soll dann dabei helfen, die eigene Identität zu stabilisieren. Oder er hilft sogar über eine Lebenskrise hinweg, in der man einen Partner verloren hat. Die Vorstellung, was man mit ihm alles schreiben könnte, eröffnet Zukunftsaussichten, die sonst eine Freundin oder ein Ehemann zu garantieren hätten.

Viele Menschen können sich heutzutage also durchaus in ihren Dingen wiederfinden und mit ihnen darstellen; sie werden von ihnen verändert und bereichert. Einzelne flüchten sogar vor den neuen Dingen, weil sie zu enge Beziehungen scheuen. Sie umgeben sich dann lieber mit geerbten Möbeln und Sachen, die sie in Secondhand-Shops und auf Flohmärkten finden, müssen sie bei ihnen doch nicht erst überlegen, ob ihr Design zum eigenen Temperament paßt. Ältere Dinge empfinden sie nicht als so aufdringlich und charakterstark, daß man sich ihnen fügen müßte. Die meisten heutigen Artikel hingegen – so der neue Argwohn – nehmen Einfluß darauf, wie man sich bewegt und kleidet, vielleicht sogar, wie man denkt und welche Werte man ausbildet, was man sich vom Leben erwartet und wie man sich seine Zukunft vorstellen soll. Für das Urteil, die Dinge hätten keine Substanz, gibt es also offenbar keine guten Gründe mehr.

Dabei wird heute ungleich mehr maschinell und massenweise produziert als zu den Zeiten, als die Kulturkritiker ihre Stimmen am lautesten erhoben. Doch scheinen die Produzenten auf die langwährenden Klagen reagiert zu haben. Dann wäre die paßgenaue Differenzierung der Konsumgüter, die selbst bei Zahnbürsten und Joghurts auf verschiedene Mentalitäten Rücksicht nimmt, die Antwort auf das Lamentieren über das unpersönliche Wesen mechanisch produzierter Dinge. Vielleicht waren die Defizite, die als typisch für jede industrielle Fertigung angesehen wurden, also nur deren Kinderkrankheiten. Und sie konnten mittlerweile nicht nur behoben, sondern sogar überkompensiert werden, weshalb Dinge heute bindender geworden sind. Dadurch hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Dingkultur entwickelt, die Waren in einer Analogie zu Kunstwerken begreift. Der Bezug der Menschen zu ihren Dingen scheint nach einer Phase der Krise nun also wieder geklärt. Vielleicht verschwindet nun auch noch der Topos vom Verschwinden der Dinge.

Zeitenwende der Dingkultur

Wer die Moderne voller Emanzipationseuphorie als Zeitalter der Individualisierung beschreibt, übersieht oft, daß diese auch große Verluste bereitete. Um es zugespitzt und paradox zu formulieren: Die Lebenserwartung der Menschen hat durch die Individualisierung erheblich abgenommen. Der zum Individuum gewordene Mensch ist ganz auf sich selbst zurückgeworfen; er erfährt sich zuerst als begrenzt und ohnmächtig. Statt eingebettet in eine selbstbewußte, generationenüberdauernde Familie oder Sippe zu leben und als Teil eines großen Ganzen, als Glied einer langen Kette zu fungieren, ist er selbst ein – freilich nur kleines – Ganzes. Das Individuum kann sich nicht damit trösten, in einem nahezu unsterblichen Familienkörper aufzugehen, sondern es weiß: Alles, was es hat, ist sein kurzes, verletzliches Leben. Unabhängigkeit und Selbstbestimmung bedeuten also nicht zuletzt eine Minderung der Chance, über die eigene biologische Lebensdauer hinaus zu existieren. Deshalb ist es in der Moderne auch so wichtig geworden, die Lebenserwartung der Menschen mit medizinisch-technischen Mitteln zu steigern, muß doch dieser Verlust annähernd ausgeglichen werden.

Natürlich konnten sich in vormodernen Epochen ebenfalls bei weitem nicht alle Menschen als Teil einer größeren, ihre eigene Lebenszeit überdauernden Einheit erfahren. Sie waren dann allerdings auch klar als defizitär gekennzeichnet. Uneheliche Kinder und Knechte, Ausgestoßene und Waisen irrten als Monaden umher: die Ärmsten der Gesellschaft schon allein deshalb, weil sie schutzlos auf sich gestellt waren und nicht mehr zur Verfügung hatten als Leib und Leben. Doch könnte man in ihnen auch die Vorreiter des modernen Menschen erblicken, der sich zunehmend als Individuum begriff. Ob das freiwillig geschah, hängt wiederum vom Standpunkt ab, den man als Historiker einnimmt. Wo der Realist Industrialisierung, Landflucht und Bevölkerungsexplosion dafür verantwortlich macht, daß alte Sozialgefüge zerstört und die Menschen gleichsam zu Individuen gesprengt wurden, erblickt der Idealist das Streben nach Freiheit und Autonomie als Motor der Individualisierung. Vermutlich weil sie ein optimistisches Menschenbild verkörpert, hat sich diese zweite Lesart überwiegend durchgesetzt.