Hakenkreuz und Rotes Kreuz - Gerald Steinacher - E-Book

Hakenkreuz und Rotes Kreuz E-Book

Gerald Steinacher

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Beschreibung

Mit seiner 150-jährigen Geschichte gehört das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) besonders in Kriegszeiten zu den ältesten und aktivsten Hilfsorganisationen. Die wertvolle Hilfeleistung des IKRK für Millionen Verwundete und Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg steht außer Zweifel, das Schweigen zum Holocaust wird dem Roten Kreuz aber bis heute zum Vorwurf gemacht. Nicht zuletzt diese Kritik führte in den ersten Nachkriegsjahren zu einer schweren institutionellen Krise der traditionsreichen Genfer Organisation. Mitten in dieser tiefen Imagekrise verhalf das IKRK gleichzeitig Kriegsverbrechern zur Flucht. So konnten sich Adolf Eichmann und viele andere Täter mit neuer oder alter Identität und Papieren des Roten Kreuzes der Justiz entziehen. Gerald Steinacher legt in diesem Buch die Haltung der Hilfsorganisation zum Nazi-Regime, die Hintergründe des Schweigens und die Gründe der späten Hilfsmaßnahmen dar, beschreibt die institutionelle Krise und ihre Überwindung und stellt mit seinen Forschungsergebnissen erstmals die Nazi-Fluchthilfe nach 1945 und das Handeln des IKRK während des Holocaust in einen größeren Kontext.

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Gerald Steinacher

Hakenkreuz und Rotes Kreuz

Offizielles Emblem des Deutschen Roten Kreuzes während der NS-Herrschaft

Gerald Steinacher

Hakenkreuz und Rotes Kreuz

Eine humanitäre Organisation zwischen

Holocaust und Flüchtlingsproblematik

© 2013 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-5722-1

Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Höretzeder

Satz: Studienverlag/Maria Strobl

Umschlag: Studienverlag/Kurt Höretzeder, Büro für Grafische Gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlagabbildung: Eine Delegation des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz unter Leitung des Vizepräsidenten Prof. Carl Jacob Burckhardt besucht sowjetische (?) Kriegsgefangene in Deutschland, August 1941. (Bundesarchiv, Bild 146-1990-009-27, Fotograf: Hartmann)

Frontispiz: Offizielles Emblem des Deutschen Roten Kreuzes 1933–1945, UB Basel Registererstellung: Manuel Rufin

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Idee und Praxis des Roten Kreuzes

Das Rote Kreuz und das „Dritte Reich“

Helfer unter Hitler

Die Schweiz als Basis

Für Juden nicht zuständig

Liebesgaben an die SS

Das Schweigen des IKRK

Das schreckliche Geheimnis

Das Wissen der Humanitarier

Ein Begräbnis erster Klasse

Der beschämendste Augenblick

Kurz bevor der Vorhang fällt

Washington als Einpeitscher des Roten Kreuzes

D-Day als Wendepunkt

Das IKRK schweigt nicht mehr

Die Judenretter von Budapest

Das Rote Kreuz kommt zu spät

Der Wettstreit der Wohltäter

Die Schweden kommen

Menschenleben gegen Lastwagen

Burckhardt versus Bernadotte

Der große Coup bleibt aus

Vor verschlossenen Toren

Das Rote Kreuz in der Krise

Rechtfertigungsversuche nach dem Krieg

Inter arma caritas

Der Kalte Krieg wird heiß

Mission impossible

Nazi-Fluchthilfe wider Willen

Humanität ohne Grenzen

Flucht mit dem Roten Kreuz – Fallbeispiele

Der zweite Sündenfall

Abbildungen

Fazit

Anmerkungen

Bibliographie und Quellenverzeichnis

Personenregister

„On some other world, possibly it is different. Better. There are clear good and evil alternatives. Not these obscure admixtures, these blends, with no proper tool by which to untangle the components.“

Philip K. Dick, The Man in the High Castle

Vorwort

Rotes Kreuz und Hakenkreuz sind zwei bekannte Symbole, die auf den ersten Blick nichts miteinander verbindet. Das Hakenkreuz steht in der westlichen Kultur seit dem NS-Regime für das Böse schlechthin. Hitlers Hakenkreuz wurde zum Symbol für ein totalitäres Regime, das für Krieg, Holocaust und damit den Tod von Millionen von Menschen verantwortlich zeichnet. Im Kontrast dazu steht das Rote Kreuz im weißen Feld seit der Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) für weltweiten humanitären Einsatz und das Gute im Menschen. Bei der Archivforschung stieß ich auf das offizielle Emblem des Deutschen Roten Kreuzes im „Dritten Reich“: Es zeigt den deutschen Reichsadler mit Hakenkreuz auf der Brust, der das Rote Kreuz in seinen Klauen hält. Diese Verbindung von Hakenkreuz und Rotem Kreuz wirkte auf mich irritierend. Erst nach längerer Beschäftigung mit dem Thema realisierte ich, wie symbolträchtig diese Darstellung ist. Dieses Emblem hat mich zum Titel des Buches inspiriert und wurde daher als Frontispiz gewählt.

Im Winter 2009/2010 leitete ich ein Seminar an der Universität Luzern unter dem Titel „Rotes Kreuz und Hakenkreuz. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Schweiz und der Nationalsozialismus“, das bei den StudentInnen auf großes Interesse stieß. Während dieser Zeit entstand die Idee zum vorliegenden Buch. Damals hatte ich auch die Gelegenheit, mich näher mit der Rolle der Schweiz zu befassen. Schweizer Kollegen wie Aram Mattioli halfen mir beim Verständnis der Bedeutung des IKRK im Kontext der Schweizer Politik. Während meines Aufenthalts in der Schweiz wohnte ich im ehemaligen Schwesternheim Theodosianum, einer Schule für Gesundheits- und Krankenpflege des Spitals Limmattal in Schlieren bei Zürich. In der Bibliothek des Theodosianum standen viele populäre Darstellungen der IKRK-Geschichte, die ich mit großem Interesse las. Bei der Lektüre dieser Bücher drängten sich zahlreiche Fragen auf, Fragen, die im vorliegenden Buch ausformuliert und teilweise beantwortet werden. Ich danke daher allen Schweizer GesprächspartnerInnen, meinen StudentInnen und KollegInnen in Luzern und Zürich und besonders Aram Mattioli für die Starthilfe zu diesem Buchprojekt.

Mein besonderer Dank geht an die Archivare des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf, besonders an Fabrizio Bensi, sowie an meinen Kollegen an der Universität Nebraska-Lincoln, David Forsythe, für klärende Hinweise. Günter Bischof, Leopold Steurer und Guy Walters halfen durch Hinweise auf wichtige Sekundärliteratur oder stellten Archivquellen zur Verfügung. Norbert Sparer und Christof Stahel halfen bei der Finalisierung des Manuskripts.

Ein Dank gebührt auch den MitarbeiterInnen des Studienverlags Innsbruck. Wenn nicht anders angegeben, sind alle Übersetzungen von mir, wobei mir in einigen Fällen von Alfred Steinacher, Isabelle Weiss und Christine Schiltz geholfen wurde.

Dieses Buch ist meiner Lebenspartnerin Stas Nikolova gewidmet.

Washington D.C., im März 2013

Einleitung

Das Rote Kreuz hat zum Holocaust geschwiegen und ist jüdischen Opfern kaum beigestanden, hingegen halfen die Humanitarier1 Holocaust-Tätern wie Adolf Eichmann und Josef Mengele bei der Flucht nach Übersee. Das vorliegende Buch stellt als erste Studie die Nazi-Fluchthilfe nach 1945 und das Handeln des IKRK während des Holocaust in einen größeren Kontext.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat während des Zweiten Weltkriegs zum Holocaust geschwiegen. Die Genfer Humanitarier waren aber schon früh über den systematischen Massenmord im Bilde und wurden von den Opfern um Hilfe gebeten. Doch das Rote Kreuz blieb untätig und konnte sich nicht zu einem humanitären Appell aufraffen. Sein Schweigen zum Holocaust wird ihm bis heute zum Vorwurf gemacht. Der Economist bezeichnet diese Entscheidung als „den beschämendsten Augenblick in der Geschichte des IKRK.“2 Damit habe es letztlich seine eigenen Ideale und Prinzipien verraten. Dieses Buch legt die Haltung der Hilfsorganisation zum Nazi-Regime, die Hintergründe des Schweigens und die Gründe zu späten Hilfsmaßnahmen dar. Ein weiterer wichtiger Komplex, den dieses Buch behandelt, ist die organisierte Fluchthilfe des Roten Kreuzes für Tausende Nazis nach dem Untergang des „Dritten Reiches“. Es zeigt auf, dass das IKRK in Genf praktisch von Anfang an genau über den Sachverhalt informiert war. Dennoch blieb man großteils untätig und unterband die Nazi-Fluchthilfe nicht. Die Optik ist daher denkbar ungünstig: kaum Hilfe für Nazi-Opfer, aber engagierte Hilfe für Täter.

Mit seiner 150-jährigen Geschichte gehört das IKRK besonders in Kriegszeiten zu den ältesten und aktivsten Hilfsorganisationen. Laut Statuten kümmert es sich um Kriegsgefangene und Verwundete und leistet Hilfe in Katastrophenfällen. Es geht dabei sehr diskret vor. Öffentliche Anklage gehört kaum zu seinem Instrumentarium. Das IKRK ist auch keine Ansammlung von Pazifisten, den Krieg nimmt man als gegeben hin, versucht aber seine schlimmsten Auswirkungen abzumildern. Bei seiner Arbeit und der Einflussnahme auf die Machthaber dieser Welt muss das IKRK oft Kompromisse machen. Die tägliche Arbeit des Roten Kreuzes ist daher auch immer eine „Gratwanderung zwischen Anpassung und Widerstand, die nicht immer schadlos zu überstehen ist.“3 Unbeschadet hat das IKRK auch den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust nicht überstanden. Wie wir noch sehen werden, wurde das IKRK wegen der ausgebliebenen Hilfe für Juden nach 1945 stark kritisiert. Dieser Imageschaden führte in den ersten Nachkriegsjahren zusammen mit anderen Faktoren zu einer schweren institutionellen Krise der traditionsreichen Genfer Organisation, die zunächst sogar um ihre Existenz und Stellung bangen musste. Das vorliegende Buch beschreibt diese Krise und wie das IKRK sie letztlich überwinden konnte. Mitten in dieser tiefen Imagekrise, ausgelöst unter anderem wegen seines Scheiterns im Holocaust, verhalf das IKRK gleichzeitig Tätern zur Flucht. Die US-Regierung konfrontierte die Genfer damals mit den Vorwürfen und verwies auch auf die Gefahr für das moralische Ansehen des Roten Kreuzes, sollten diese Machenschaften öffentlich werden. Dennoch änderte das IKRK seine Haltung und seine Ausstellungspraxis nicht. So konnten sich Eichmann und viele andere Täter mit neuer oder alter Identität und Papieren des Roten Kreuzes auf einfache Weise der Justiz entziehen. Dieses Buch geht der zentralen Frage nach, warum die Humanitarier bei der Hilfe für die Opfer des Holocaust passiv blieben, den Tätern hingegen wissentlich Hilfe leisteten.

Während des Kalten Krieges war das Schweigen des IKRK zum Holocaust bald kein Thema mehr. Es wurde weder vom IKRK noch von der breiten Öffentlichkeit und der Geschichtsforschung näher untersucht. Erst in den letzten zwanzig Jahren sind einige Bücher zur Geschichte des Roten Kreuzes während des Hitler-Regimes erschienen. Die (wohl ungewollte) Fluchthilfe des IKRK für Täter des Holocaust war dabei allerdings kaum ein Forschungsgegenstand. „Rotes Kreuz und Hakenkreuz“ schließt an diese Arbeiten an; betritt aber in einigen Aspekten bisher unbekanntes Neuland. Vor allem die Hilfe des IKRK für Nationalsozialisten, SS-Offiziere, Holocaust-Täter, Kriegsverbrecher, Faschisten und Nazi-Kollaborateure aus ganz Europa wird in einem größeren Kontext behandelt. Mein Interesse an der Geschichte des Roten Kreuzes erwuchs aus meiner Arbeit am Buch „Nazis auf der Flucht“4, geht aber nunmehr weit über die ursprüngliche Fragestellung hinaus. Nach dem Erscheinen des Buches im Sommer 2008 wurde ich vom Österreichischen Roten Kreuz (ÖRK) kontaktiert und um einen Vortrag zur Rolle des Roten Kreuzes bei der Nazi-Fluchthilfe gebeten. Das ÖRK organisierte einen Vortrags- und Diskussionsabend in Wien, wobei Dr. Jean-Luc Blondel, der langjährige Direktor des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen, als zweiter Vortragender eingeladen war. In Bad Arolsen wird unter der Ägide des IKRK nach vermissten und überlebenden Familienangehörigen des Zweiten Weltkriegs gesucht. Blondel, ein langjähriger IKRK-Delegierter, sollte die Position des IKRK erklären. Die Moderation hatte der stellvertretende Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes, Dr. Werner Kerschbaum, übernommen. Das „Kamingespräch“ am 26. November 2009 war für mich sehr wichtig. Es zeigte mir, wie offen das Rote Kreuz heute mit der jüngsten Vergangenheit umgeht und wie man sich bemüht, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen. Beide Vorträge und die anschließende Diskussion mit anwesenden Rotkreuz-Mitarbeitern waren äußerst befruchtend. Wer ein Wiener Streitgespräch zwischen dem Historiker und dem IKRK-Delegierten erwartet hatte, wurde enttäuscht. Jean-Luc Blondel beantwortete mir auch schriftlich eine Reihe von Fragen, was wesentlich zu meinem besseren Verständnis des IKRK beitrug. Das IKRK begegnet Kritik heute generell mit mehr Offenheit. Geheimhaltung ist im Internet- und Handyzeitalter auch weit weniger möglich als zu Zeiten Hitlers und Stalins. Was die Aufarbeitung der Zeitgeschichte betrifft, setzt auch das IKRK seit den 1990er Jahren vermehrt auf Öffentlichkeitsarbeit. Dazu haben sicher nicht zuletzt die Diskussionen der letzten 20 Jahre über die Rolle des IKRK im Zweiten Weltkrieg beigetragen. Die wertvolle Hilfeleistung des IKRK für Millionen Verwundete und Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg steht außer Zweifel, ist jedoch hier nicht das zentrale Thema.

Das vorliegende Buch ist keine Anklage, sondern der Versuch zu verstehen. Mit meinen Forschungsergebnissen lege ich dar, was damals passiert ist und warum bestimmte Entscheidungen innerhalb des IKRK getroffen wurden.

Idee und Praxis des Roten Kreuzes

Das Internationale Rote Kreuz wurde 1863 auf Initiative des Genfer Kaufmanns Henri Dunant gegründet. Die Motivation zu diesem Schritt kam von einem prägenden persönlichen Erlebnis. Als Dunant 1859 auf Geschäftsreise in Italien war, wurde er Zeuge der Schlacht bei Solferino, südlich des Gardasees. Nach dem Kampf zwischen den Truppen des österreichischen und des französischen Kaisers sowie deren Verbündeten kümmerte sich, wie damals üblich, kaum jemand um die Verwundeten und Sterbenden. Sie waren sich meist selbst überlassen, denn Feldärzte gab es wenige. In manchen Fällen halfen die anwohnende Bevölkerung und Kleriker. Als Zeuge dieses Elends auf einem Schlachtfeld half Dunant spontan so gut er konnte und bat auch die Frauen der umliegenden Orte um Hilfe. Im Verhältnis zum großen Leid konnte sein improvisierter Hilfsdienst wenig ausrichten, aber in Dunant wuchs eine Idee: die Schaffung einer dauerhaften Hilfsorganisation für verwundete Soldaten. Seine Erlebnisse an jenem Tage erschienen 1862 als „Erinnerung an Solferino“ und das Buch wurde sofort zum Bestseller. Eine Idee war geboren und fand Anhänger. So gelang es Dunant, andere Genfer Bürger für seine Vision zu gewinnen. Sie schlossen sich in ihrer Heimatstadt Genf zu einem privaten Verein zusammen und setzten Dunants Ideen in die Tat um. Die Idee zündete im Rahmen humanitärer Agenden des damaligen Zeitgeists – wie die Abschaffung der Sklaverei in den USA oder die Abschaffung der Folter und öffentlicher Hinrichtungen in Europa.5 Obwohl das Rote Kreuz gerne die universelle Gültigkeit seiner Grundideen des säkulären barmherzigen Samariters unterstreicht, basierten seine Ideale ursprünglich auf Wertvorstellungen der abendländischen, jüdisch-christlichen Kultur und vor allem dem christlichen Konzept der karitativen Nächstenliebe.6 Die Tätigkeit des Roten Kreuzes wurde von den Schweizern auch im Zweiten Weltkrieg oft noch als „Beweise christlicher Nächstenliebe“ angesehen.7 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zählt zu den bekanntesten Gleichnissen Jesu im Neuen Testament. Jesus wird gefragt, wie man gottgefällig handeln soll. Daraufhin berichtet er von einem Reisenden, der auf der Straße überfallen, verprügelt und ausgeraubt wird. Zwei Juden, ein Schriftgelehrter und ein Priester, kommen nacheinander an dem Mann vorbei, aber sie ignorieren das Opfer einfach. Schließlich kommt ein Reisender aus Samaria, hilft dem Überfallenen und sorgt und zahlt für seine Pflege. Der Samariter ist kein Jude, kümmert sich aber im Gegensatz zu den beiden Juden, die achtlos vorübergehen, um den Verletzten. Jesus lässt offen, ob der Überfallene Jude war oder nicht, sondern spricht nur von einem Menschen. In der Geschichte geht es daher um die Sorge eines Menschen für einen anderen Menschen, nicht um die Nächstenliebe für die „eigenen Leute“. Diese Beispielerzählung des Jesus aus Nazareth veranschaulicht, wie Christen handeln sollen. Nicht nur die Liebe zu Gott, sondern auch die Nächstenliebe für alle Mitmenschen ist Voraussetzung für eine christliche Lebensführung. Jesus verbindet diese Klarstellung auch mit einem Auftrag für Christen und Juden: „Geh hin und handle ebenso!“ Die IKRK-Prinzipien Barmherzigkeit und Unparteilichkeit wurzeln letztlich in der Tradition des barmherzigen Samariters. Henri Dunant war tief religiös und lebte nach strengen moralischen Prinzipien. Der langjährige IKRK-Präsident Max Huber sah sich gerne als ein Nachahmer des barmherzigen Samariters. Die unparteiische Hilfe für jeden Leidenden, egal ob Freund oder Feind, ist letztlich die fundamentale Idee des Roten Kreuzes.8 Die Statuten des Genfer Vereins von 1921 hielten diese grundsätzlichen Leitideen fest: „Unparteilichkeit, Hilfeleistungen unabhängig von irgendwelchen politischen, religiösen oder ökonomischen Überlegungen; die Universalität des Roten Kreuzes und die Gleichheit aller Mitglieder“.9 Edmond Boissier, ein Komiteemitglied des IKRK, schrieb 1920 über die Grundlagen des IKRK: „Das Prinzip, das immer und von allen Gesellschaften unter dem Banner des Roten Kreuzes anerkannt wurde, ist universelle Barmherzigkeit im Dienst der leidenden Menschheit, ohne Rücksicht auf Religion, Rasse oder Nationalität. Wohltätigkeit, Universalität, zusammen mit Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sind die wesentlichen und distinktiven Merkmale des Roten Kreuzes.“10 Basierend auf seinem Vereinsstatut, kann das IKRK jede humanitäre Initiative ergreifen, die es im Sinne dieser Rotkreuz-Prinzipien für notwendig hält.11

In Anlehnung an die Schweizer Flagge wurde 1864 das rote Kreuz auf weißem Grund zum Symbol dieser humanitären Organisation gewählt. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ist bis heute ein privater Schweizer Verein, der sich laut Statuten aus maximal 25 Schweizer Staatsbürgern, meist einflussreichen Politikern, Diplomaten und hochrangigen Beamten, rekrutiert. International ist also nur der Aktionsradius, nicht die Zusammensetzung des Komitees. Das Komitee trifft regelmäßig zu Sitzungen zusammen, wobei wichtige Agenden beschlossen werden. Die tägliche Arbeit des IKRK stützt sich vor allem auf einen Stab von vollamtlichen MitarbeiterInnen, die großteils am Sitz des IKRK in Genf oder als Delegierte in Krisengebieten tätig sind. Die MitarbeiterInnen waren in der Vergangenheit ebenfalls nahezu immer Schweizer Staatsbürger.12 Wie wir noch sehen werden, war die Beschränkung auf Schweizer Staatsbürger wiederholt umstritten. Doch diese enge Bindung an die Schweiz hatte Gründe. Nicht von ungefähr gab es zwischen dem IKRK und der Schweizer Regierung von Anfang an ein sichtbares Nahverhältnis. Im Prinzip bestand für das IKRK wie für die Schweizer Bundesregierung eine strenge Trennung der Institutionen, wie man sowohl in Bern als auch in Genf betonte. Schweizer Diplomaten wurden normalerweise keine Rotkreuz-Aufgaben übertragen, Rotkreuz-Delegierte hielten sich mit politischen Aussagen oder nationalem Überschwang eher zurück. IKRK-Mitglieder waren aber in nicht wenigen Fällen vor und nach ihrer Zeit beim Roten Kreuz im diplomatischen Dienst der Schweiz tätig. Die Tätigkeit im IKRK war zuweilen ein wichtiger Abschnitt in der Karriere eines Schweizer Diplomaten oder Akademikers. In der Praxis wurde das IKRK von der Bevölkerung daher nicht selten als Schweizer Einrichtung gesehen. Für das Ausland und nicht zuletzt die Eidgenossen selbst stellte die Schweizerische Neutralität eine wichtige Grundlage des Roten Kreuzes dar. Die humanitäre Tätigkeit des IKRK wurde als Hilfe der Schweiz für Konfliktopfer angesehen.13 Die Neutralität des Gastgeberlandes wurde als Voraussetzung für die Arbeit des IKRK angesehen. Hans Haug, der langjährige Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes, fasst dies so zusammen: „Wenn eine Institution kraft ihrer Unabhängigkeit und ihres schweizerischen Charakters für strikte Neutralität und vollkommene Unparteilichkeit einsteht und Gewähr bieten will, so ist es das internationale Komitee. Die dauernde Neutralität der Schweiz bestimmt aber nicht nur die geistige Einstellung und die Haltung des IKRK, sondern sie ist auch Voraussetzung ihrer praktisch-technischen Wirkungsmöglichkeiten.“14 Das IKRK und die Schweiz existierten in einer Art Symbiose. Ohne die Schweizer Neutralität schien die Arbeit des IKRK unmöglich. Das IKRK hatte daher alles Interesse daran, die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz zu verteidigen, wo es konnte. Denn ohne das Domizil Schweiz war auch das IKRK nicht mehr arbeitsfähig. Das Verhältnis zwischen IKRK und der Schweizer Regierung war daher phasenweise recht eng; es gab personelle Überschneidungen, nicht zuletzt engste persönliche wie berufliche Kontakte zwischen Bern und den Humanitariern in Genf. Obwohl das IKRK immer seinen übernationalen Charakter betonte, war es „gegen die Sirenenklänge des Schweizer Nationalismus nicht immer immun.“15 Die Ziele und Interessen der Schweiz und des IKRK waren aber oft unterschiedlich. Was passiert etwa, wenn die Schweiz von der Neutralität abweicht? In diesem Fall muss das Rote Kreuz seine eigenen Prinzipien beugen oder sich gegen das Gastgeberland (und damit als Staatsbürger gegen das eigene Heimatland) stellen. Genau dieser Konfliktfall ist im Zweiten Weltkrieg eingetreten. Grundsätzlich vertreten Staaten egoistische Ziele, die angeblich der Nation oder einer Machtelite dienen. Das Rote Kreuz hingegen vertritt humanitäre Ziele, die auf unparteiischer, selbstloser Nächstenliebe beruhen. Konflikte zwischen dem IKRK und der Schweizer Regierung waren daher unvermeidlich.16

Grundlage für die Arbeit des Roten Kreuzes bilden neben den eigenen Vereinsstatuten vor allem die Genfer Konventionen. Das sind die rechtlichen Rahmenbedingungen, die für unser Thema zentral sind. Auf Anregung Dunants sah die erste Genfer Konvention von 1864 die Verbesserung des Loses der verwundeten Soldaten im Feld vor. Das Vertragswerk bestand aus zehn Artikeln und wurde von zwölf Staaten unterzeichnet, deren Regierungen sich zu dessen Einhaltung basierend auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit verpflichteten. Die Arbeit des Komitees wurde so auf eine internationale Rechtsbasis gestellt und von der Schweizer Regierung, den Mitgliedsstaaten, den nationalen Gesellschaften sowie von Spenden finanziert. Durch die Genfer Konventionen erhielt der Genfer Verein internationalen völkerrechtlichen Status, üblicherweise ein Privileg souveräner Staaten, Staatenbünden oder Organisationen wie der Vereinten Nationen. Allein das IKRK fungiert gleichsam als Hüter der Genfer Konventionen, der internationalen Regeln im Krieg. Nicht zuletzt dadurch unterscheidet sich das IKRK von den nationalen Rotkreuz-Gesellschaften. Gegenüber nationalen Rotkreuz-Gesellschaften betonte das IKRK auch immer gerne seine Unabhängigkeit von Staatsregierungen (auch von der Schweizer). Manch nationale Hilfsorganisationen verstanden sich dagegen sehr bewusst als patriotische Akteure und sahen Helfen als Bürgerpflicht an. So fungierte etwa US-Präsident Franklin Delano Roosevelt bis zu seinem Tod 1945 als engagierter Ehrenvorsitzender des Amerikanischen Roten Kreuzes. Die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften und das IKRK arbeiten in vielerlei Hinsicht zusammen. Doch die nationalen Rotkreuz-Organisationen und das IKRK sind rechtlich vollkommen unabhängig voneinander. So ist das Schweizerische Rote Kreuz eine eigene Organisation nach Schweizer Recht und hat seine eigenen Ziele, Aufgaben und Mitarbeiter. Innerhalb von 20 Jahren wurde der Genfer Vertrag von den meisten Regierungen unterzeichnet und damit fast universell gültig. Der kanadische Historiker Michael Ignatieff fasst die Grundgedanken der Genfer Konventionen so zusammen: „In diesen Konventionen werden keine wohlklingenden Forderungen nach Brüderlichkeit erhoben. Statt dessen wird in ihnen der Krieg als normales anthropologisches Ritual akzeptiert – als der einzige Weg, auf dem bestimmte Konflikte zwischen Menschen gelöst werden können. Die Protokolle versuchen lediglich sicherzustellen, daß sich die Soldaten an bestimmte Grundsätze der Menschlichkeit halten, wobei das Hauptprinzip die Rücksichtnahme gegenüber der Zivilbevölkerung und dem ärztlichen Personal ist. Diese beiden Traditionen – Menschenrechte und Kriegsrechte – leiten zwar die humanitären Aktivisten in den Kriegszonen der Welt, doch handelt es sich in Wirklichkeit um zwei verschiedene Handlungsmaximen. Auch innerhalb des Roten Kreuzes selbst ist der Konflikt zwischen diesen beiden Maximen nach wie vor ungelöst.“17

Bestimmte Aspekte der Kriegsordnung, die für die Arbeit des Roten Kreuzes auch eine wichtige Rolle spielten, wurden in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 festgelegt. Der Erste Weltkrieg schuf die weltweit operierende Organisation des Roten Kreuzes. Das IKRK in Genf wurde zur globalen Zentrale für die Verschickung von Lebensmittelpaketen an Kriegsgefangene, für das Auffinden vermisster Soldaten und für die Koordination der Arbeit der IKRK-Delegierten in aller Welt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in Paris die „Liga der Rotkreuz-Gesellschaften“ (1991 wurde die Bezeichnung „Liga“ durch „Föderation“ ersetzt) gegründet. Die Liga war ein Zusammenschluss aller nationalen Rotkreuz-Gesellschaften, „ein Vereinsverein sozusagen“,18 und konkurrierte mit dem IKRK in vielerlei Hinsicht. Die Liga war eine Idee von Henry P. Davison, damals Präsident des Amerikanischen Roten Kreuzes, um dem IKRK die alleinige Führerschaft innerhalb der Rotkreuz-Bewegung strittig zu machen.19 Nach den Vorstellungen der Liga-Gründer sollte sich die Arbeit des IKRK vor allem auf den Einsatz in Kriegszeiten beschränken. Die Liga als weltweiter Dachverband der nationalen Gesellschaften mit Sitz in Genf würde sich um die Opfer von Naturkatastrophen und um Gesundheitsvorsorge kümmern. An der Gründung der Liga 1919 waren nur die Siegermächte des Ersten Weltkriegs und ihre Verbündeten beteiligt. Die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften der Mittelmächte und des kommunistischen Russland waren anfangs also ausgeschlossen.20 1928 definierten die nationalen Gesellschaften vom Roten Kreuz ihr Verhältnis untereinander und gegenüber dem IKRK in einem eigenen Statut. Demnach bestand die Bewegung des Roten Kreuzes aus dem IKRK, der Liga und den nationalen Rotkreuz-Gesellschaften. Alle vier Jahre treffen sich Vertreter dieses internationalen Roten Kreuzes zu einer Konferenz. Regierungsvertreter der Signatarmächte der Genfer Konventionen nehmen bei diesen Treffen – sofern notwendig – ebenfalls teil. Eine besonders wichtige Neuerung trat 1929 in Kraft. Noch bevor rechte und linke Diktatoren in Europa den Ton angaben, konnte die Genfer Konvention von 1864 um die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs wesentlich erweitert werden. Im Genfer Abkommen von 1929 wurden die Kriegsgefangenen erstmals auch rechtlich geschützt. Das war eine wesentliche und wegweisende Neuerung der Konvention, die den Arbeitsbereich des Roten Kreuzes massiv erweiterte. Ein Ausdruck für den universellen Charakter der Bewegung war die Annahme des roten Halbmondes 1929 als – neben dem (christlichen) Symbol des Kreuzes gleichberechtigtes – Schutzzeichen für die Sanitätsdienste im Krieg.

Durch seine Konstellation ist das internationale Rote Kreuz eine ziemlich komplizierte Bewegung. Es ist daher nicht überraschend, dass die Welt des Roten Kreuzes für die breite Öffentlichkeit oft verwirrend wirkt. Der Jurist James Joyce betonte dies schon 1959 in seinem Buch über das Rote Kreuz: „[…] Für ein internationales Publikum ist es notwendig, sich etwas näher mit der Geschichte des Roten Kreuzes zu beschäftigen, denn zu viele Anhänger und Befürworter des Roten Kreuzes in den 80 Mitgliedstaaten haben generell einen geringen Wissensstand über diese internationale Bewegung. Sie halten daher das Rote Kreuz häufig für eine nationale Institution eines bestimmten Landes. Andere wiederum wundern sich darüber, dass es in Genf zwei Zentralen des Roten Kreuzes gibt. […]“21 Der ehemalige IKRK-Delegierte Daniel Hitzig schreibt über das „Das Kreuz mit dem Kreuz“: „Die Rotkreuz-Bewegung: eine zerstrittene Familie. Das Emblem des Roten Kreuzes gehört zu den besteingeführten Logos überhaupt. Die Umkehrung der Schweizer Flagge als Kennzeichen für Ambulanzen, zivile und militärische Rettungsdienste hat einen Bekanntheitsgrad, wie ihn weltweit nur Konsumgütermarken erreichen. Doch im Gegensatz zu diesen Marken verbirgt sich hinter dem Roten Kreuz kein straff geführter weltumspannender Konzern, sondern eine lose strukturierte, sogenannte ‚Bewegung‘, deren einzelne Komponenten unterschiedlicher kaum sein könnten. Für das große Publikum ist jedoch immer von demselben Roten Kreuz die Rede […].“22

Der US-Politologe David Forsythe meint, dass auch noch 50 Jahre später Erklärungsbedarf besteht: „Es gab viele Gründe, warum man sich mit dem Verstehen des IKRK nicht leicht tat, denn es war eine Organisation voller Widersprüche – und nicht nur, weil es im Grunde eine private Organisation mit einer öffentlichen Dimension ist. […] Die Organisation hält liberale Werte hoch, aber verfolgt diese mit konservativen Mitteln. Das heißt, das Wohl des Individuums ist das höchste erklärte Ziel, aber das IKRK geht langsam, vorsichtig und mit minimalen Erwartungen an die Arbeit und meistens auf der Basis der Zustimmung nationalstaatlicher Behörden. Außerdem nimmt es für sich in Anspruch, unpolitisch zu sein, und ist dennoch integraler Bestandteil internationaler humanitärer Politik. Es beschwört Unparteilichkeit und Neutralität, aber sucht zuweilen erweiterten Spielraum durch die Ausnutzung von nationalstaatlichen oder parteipolitischen Interessen.“23

Der Jurist Maurice Bourquin machte schon 1948 deutlich, dass das Rote Kreuz mit einem scheinbaren Dilemma leben muss: „Das Rote Kreuz, welches auf einem Konzept der Moral basiert, muss idealistisch sein; aber gleichzeitig muss es auch realistisch sein.“24 Der Rotkreuz-Mitarbeiter Robert Dempfer macht in wenigen Sätzen deutlich, was für ihn das Selbstverständnis des Roten Kreuzes ausmacht: „Obwohl das Rote Kreuz für alle offen ist, findet nicht jeder seinen Platz darin: Es setzt sich nicht öffentlich für die Einhaltung der Menschenrechte ein; es verfolgt keine pazifistische Gesinnung; es ist kein Ort für Ungeduldige, denn es ist ein Flugzeugträger und kein Schnellboot.“25

Ignatieff meint zum Wesen des IKRK: „Obwohl die meisten Delegierten des Roten Kreuzes es verneinen würden, haben auch sie ihren Pakt mit dem Teufel des Krieges gemacht. Was die Geschichte seit Dunant uns zu lehren scheint ist, dass der Krieg jede Form der Entrüstung und des Schocks über seine Brutalität überlebt hat, dass es sinnlos ist, sich eine Welt ohne Krieg zu träumen oder eine Welt, in der die Kunst des Kriegers nicht mehr gefragt ist […]: Das Unvermeidliche akzeptieren, manchmal auch den Wunsch nach Krieg und den Versuch, ihn womöglich nach einem gewissen Ehrenkodex zu führen. Es ist durchaus kein aussichtsloses Unterfangen, den Kriegern einen gewissen Ehrenkodex abzuverlangen. Regeln, die mehr durch Zuwiderhandlung als durch Einhaltung gewürdigt werden, haben auch einen Wert. Es gibt menschliche und unmenschliche Krieger, gerechte und ungerechte Kriege, Formen des Tötens, die notwendig sind, und andere, die unehrenvoll sind und uns Schande machen. Das Rote Kreuz ist der Bewahrer dieser Unterscheidungen geworden, der Wächter zwischen dem Menschlichen und dem Unmenschlichen.“26 Forsythe verweist auf die zwei Nobelpreise für den Frieden, die dem Roten Kreuz 1917 und 1944 für seine Arbeit in den beiden Weltkriegen verliehen wurden: Keine andere Organisation wurde so oft geehrt. Dennoch wird weder das IKRK noch die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften nicht einmal in der westlichen Welt immer verstanden.27 Das IKRK bildet für Forsythe somit in dieser Hinsicht eine Art Freimaurerclub des Humanitarismus. Laut der britischen Autorin Caroline Moorehead blieb „das Internationale Komitee irgendwie immer eine seltsame Kreatur“.28

Die Möglichkeiten des IKRK, der Liga und der nationalen Gesellschaften sind begrenzt. Diese Tatsachen muss man sich bewusst machen. Unser aller Wunsch nach einem starken humanitären Schild muss eingebettet werden in die realen Gegebenheiten unserer momentanen Welt. „Völkerrechtlich handelnde Parteien bei internationalen Konflikten sind einzig die jeweils direkt oder als Schutzmacht indirekt beteiligten nationalen Rotkreuz-Gesellschaften und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Doch sie sind Kämpfer ohne Waffen und können ihren Handlungen bestenfalls moralischen, nicht jedoch physischen Druck verleihen. Dies ist der Grund, warum das Versagen des Roten Kreuzes in Extremsituationen vorprogrammiert ist“, schreibt der Journalist Bernd Biege.29

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat nur begrenzte Machtmittel. Es kann öffentlich die Beachtung der Genfer Konventionen einmahnen und so einen gewissen moralischen Druck auf einen Staat ausüben, aber es kann letztlich keinen Staat und keine Bürgerkriegspartei zu deren Einhaltung zwingen. Die Genfer Konventionen sind Verträge zwischen Staaten, und nur Staaten können Vertragsparteien sein. Alles hängt letztlich vom guten Willen und den Interessen der Vertragsparteien, also den Staaten, ab.30 Obwohl das IKRK nicht Vertragspartner der Konventionen ist, geben die Genfer Verträge dem IKRK gewisse Rechte und eine ziemlich einmalige Rechtsstellung. Das IKRK ist insbesondere an der Vorbereitung von diplomatischen Konferenzen und der Weiterentwicklung der Genfer Konventionen wesentlich beteiligt.31

Die Arbeit des IKRK beruht neben den auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit basierenden Konventionen vor allem auf der moralischen Autorität des IKRK. Wie wir noch sehen werden, hat das moralische Ansehen des IKRK durch den Zweiten Weltkrieg schweren Schaden gelitten; insbesondere das Schweigen zum Holocaust wurde ihm zum Vorwurf gemacht. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf eine lange Tradition der „Diskretion“ der Genfer Humanitarier zu verweisen. Öffentliche Proteste waren innerhalb des IKRK nie besonders in Mode.32 Das IKRK war auf das Gastgeberland angewiesen und passte sich in seiner eigenen Arbeitskultur an die Schweiz an. Die Schweiz war wie das IKRK keine eigentliche Macht, zumindest nicht militärisch. Gegen die deutsche Wehrmacht hätte man sich kaum erfolgreich wehren können. Besonders in Krisenzeiten griff man daher zu nichtmilitärischen Strategien des Überlebens. Geheimdiplomatie spielte hier genauso eine Rolle wie die Wirtschaft oder das Bankwesen. Dazu kamen humanitäre Dienstleistungen, wobei dem IKRK eine besondere Stellung zukam. Öffentliche Proteste oder Anklagen gehörten hingegen kaum zum Instrumentarium, weder der Schweiz noch des Roten Kreuzes. Ein gutes Beispiel dafür aus den 1930er Jahren ist das Vorgehen des Roten Kreuzes in Abessinien. Im Oktober 1935 fielen dort die Truppen des italienischen Diktators Benito Mussolini ohne Kriegserklärung ein. Der Widerstand der abessinischen Soldaten und ihrer westlichen Militärberater war hartnäckig, und Mussolini ließ daher im großen Stil Giftgas gegen Soldaten und Zivilisten des ostafrikanischen Kaiserreichs einsetzen. Der Völkerbund erklärte Italien zum Aggressor und beschloss rasch Sanktionen, die allerdings mehr symbolischen Charakter hatten. Die Schweiz wandte die ohnedies schwachen Sanktionen nur teilweise an und verbot aus neutralitätspolitischen Gründen Waffenlieferungen an beide kriegführenden Staaten. Ähnlich zurückhaltend verhielt sich das IKRK: Engagierte IKRK- und nationale Rotkreuz-Delegationen berichteten zwar sehr detailliert von den italienischen Kriegsverbrechen und dem massiven Giftgaseinsatz. Doch die Zentrale in Genf zog es vor, zum Genozid zu schweigen. Auf die Bitte des Völkerbundes, die dem IKRK vorliegenden Berichte zu Kriegsverbrechen in Äthiopien mit der Weltbehörde zu teilen, wurden vom IKRK schlicht abgelehnt.33 Der US-Politologe Forsythe hält zu dieser Problematik Folgendes fest:

„[…] Aber die Genfer Zentrale beugte sich, aus welchen Gründen auch immer, der Mussolini-Regierung. Zum Teil spielte sie etwa die italienischen Luftangriffe gegen Feldlazarette des Roten Kreuzes auch herunter. Die Leiter des IKRK lehnten es jedenfalls ab, die Fakten öffentlich zu machen und Mussolini in Rom damit zu konfrontieren. Während die Berichte der Delegierten vor Ort von außerordentlicher Integrität zeugen, sind die Entscheidungen in Bezug auf Veröffentlichung und intensive stille Diplomatie auf der Basis jener Fakten eher fragwürdig. Diese Dinge berühren natürlich die Neutralität des IKRK.“34 In gewisser Weise ist das Zögern des IKRK mit öffentlichen Mahnungen verständlich. Denn der öffentliche Appell ist oft seine letzte Möglichkeit. Wenn dieser Pfeil verschossen ist, bleibt den Humanitariern nur mehr wenig im Köcher. Dennoch ist das Schweigen bei massiven unbestreitbaren Völkerrechtsverletzungen und gerade angesichts des genauen Wissens um den Völkermord – wie im Falle Äthiopiens – schwer nachzuvollziehen. Yves Sandoz, Experte für humanitäres Recht und IKRK-Mitglied, beschreibt die heutige Position: „Das IKRK wendet heutzutage trotzdem noch immer das gleiche Prinzip an. Es ist bemüht, Verletzungen des humanitären Rechts eher durch Dialog mit den betroffenen Parteien, als durch öffentliches Verurteilen zu lösen. Das soll nicht heißen, dass das IKRK niemals in die Öffentlichkeit geht, aber es tut dies erst, wenn vertrauliche Gespräche und Interventionen ergebnislos sind und wenn ein öffentlicher Protest, nach sorgfältiger Abwägung aller Pro- und Contra-Argumente, im Interesse der Opfer ist.“35

Das IKRK hielt sich dann während des Zweiten Weltkriegs ebenfalls mit Appellen und öffentlichen Anklagen sehr zurück. Konkrete Hilfsaktionen schienen für das IKRK sinnvoller zu sein, auch wenn diese gerade für KZ-Opfer nur sehr begrenzt möglich waren. Die Erfahrungen von Kriegsverbrechen wie in Äthiopien, von Bürgerkriegen wie in Spanien, und schließlich von Massenmorden wie dem Holocaust gingen beim IKRK aber nicht ins Leere. Das IKRK zog daraus Konsequenzen und man machte sich bei Kriegsende sofort an die Reform und Erweiterung des humanitären Völkerrechts. Das IV. Genfer Abkommen von 1949 sah auch den vermehrten Schutz von Zivilisten vor. Denn gerade der Schutz für deportierte und inhaftierte Zivilisten war in den älteren Genfer Konventionen kaum vorgesehen. Während des Zweiten Weltkriegs waren dem IKRK bei KZ-Opfern zumindest völkerrechtlich die Hände gebunden. Man konnte oft nur untätig zusehen, wie Hitlers Regime Zivilisten systematisch mordete. Hans Haug, ehemaliger Zentralsekretär des Schweizerischen Roten Kreuzes, bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt: „In der praktischen Gleichstellung der Zivilinternierten mit den Kriegsgefangenen liegt eine der großen Errungenschaften des IV. Genfer Abkommens.“36 In diesem Abkommen gibt es besondere Bestimmungen über die Behandlung von Zivilisten in besetzten Gebieten. So werden Verschleppungen untersagt, und Zivilisten in besetzten Gebieten können nicht zur Dienstleistung in der Besatzungsarmee gezwungen werden. Auch für den Arbeitseinsatz der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten gibt es strenge Regeln; so müssen die Arbeiter mindestens 18 Jahre alt sein und entsprechend ernährt werden.37 Es waren also vor allem die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, die zu dieser Reform der Genfer Konventionen führten. Das IKRK hat auf seine Weise Konsequenzen aus dem eigenen Schweigen während des Holocausts gezogen. Diplomatische Konferenzen und neues Völkerrecht waren aber kein Ersatz für klare Verurteilungen von systematischem Völkermord wie den Holocaust.

Das Verhältnis zwischen dem IKRK, der Schweiz und Israel war daher wiederholt angespannt. In diesem Zusammenhang wird oft auf das Verhältnis zwischen dem Roten Kreuz und dem Magen David Adom (Roter Davidstern) hingewiesen. Der Rote Davidstern ist eine 1930 gegründete Hilfsorganisation in Israel, welche dort mit offiziellem staatlichen Auftrag für Kranken- und Sanitätswesen sowie Katastrophenhilfe zuständig ist. Kurz nach seiner Gründung 1948 unterzeichnete Israel die Genfer Konvention. Die israelische Tochtergesellschaft konnte aber letztlich nicht aufgenommen werden, da der Rote Davidstern nicht als Schutzzeichen international anerkannt war. Israel wollte aber weder das christliche Kreuz noch den islamischen Halbmond, sondern den Davidstern als Zeichen führen. Es ging auch um Symbole und Identität. Jahrzehntelang blieb die nationale israelische Tochtergesellschaft daher von der internationalen Rotkreuz- und Halbmondbewegung ausgeschlossen. In Zusammenhang mit dem Schweigen des IKRK zum Holocaust war die dadurch entstandene Optik nicht gerade günstig. IKRK-Präsident Cornelio Sommaruga sagte noch 1999 etwas ungeschickt: „Wenn wir den Roten Davidstern anerkennen, dann müssen wir auch ein rotes Hakenkreuz zulassen“.38 Mit dem roten Hakenkreuz meinte Sommaruga nicht etwa Hitlers Rotes Kreuz, denn das Deutsche Rote Kreuz wurde nie von den Genfern ausgeschlossen, sondern das einst vorgeschlagene Symbol der indischen Rotkreuz-Gesellschaft. Das Hakenkreuz ist in Indien und China ein uraltes Symbol für Glück und Leben und keine Erfindung der Nazis. Die Nationalsozialisten und völkische Nationalisten haben das Symbol lediglich für ihre Zwecke missbraucht. Für das IKRK ergab sich lange Zeit das Problem, dass auch die palästinensische Tochtergesellschaft nicht aufgenommen werden konnte, da Palästina kein souveräner Staat war.39 Sommaruga machte seine eher unglückliche Bemerkung just zu jenem Zeitpunkt, als die Schweiz wegen ihrer Komplizenschaft mit den Nazis international am Pranger stand.40 Eine Klärung des Verhältnisses zu Israel schien damals höchst an der Zeit. Bei der 29. Internationalen Konferenz des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes 2005 in Genf wurde schließlich von allen nationalen Gesellschaften und Signatarmächten der Konvention die Aufnahme des israelischen Davidsterns und die Aufnahme der palästinensischen Hilfsorganisation in die internationale Rotkreuz-Familie beschlossen. Zusammen mit dem IKRK als Gründungsverein gibt es (mit Stand: 2004) 182 nationale Gesellschaften mit mehr als 97 Millionen Mitgliedern und 300.000 Mitarbeitern, die mehr als 233 Millionen Menschen auf der ganzen Welt helfen.41 Es gibt nicht wenige dunkle Flecken in der Geschichte des IKRK. Die Gesamtbilanz fällt dennoch positiv aus. In unzähligen Konflikten hat das Rote Kreuz Mut und Einsatz gezeigt. In nicht wenigen Fällen hielt das IKRK einsam die Stellung, während Diplomaten und andere Hilfsorganisationen bereits kapituliert hatten.42

Das Rote Kreuz und das „Dritte Reich“

Helfer unter Hitler

Bald nach der Machtergreifung Hitlers 1933 begann sich das IKRK mit dem Schicksal der politischen Häftlinge in Nazi-Deutschland zu befassen. Zwei Fragen bestimmten die ersten Diskussionen. War das IKRK für die Opfer in den Konzentrationslagern zuständig? Sollte das Komitee aus eigener Initiative handeln? Kam man bei der ersten Frage im Prinzip rasch zu einer positiven Antwort, sah es bei der zweiten Thematik ganz anders aus. Die Meinungen dazu waren von Anfang an geteilt. Der Langzeit-Präsident des IKRK, Max Huber, war unschlüssig, womöglich könnte eine öffentliche Stellungnahme das Komitee in Schwierigkeiten bringen, gab er zu bedenken. Kritik des Roten Kreuzes an den Nazis würde womöglich harsche Reaktionen von Seiten der NS-Regierung provozieren. Schließlich setzte sich die Vorsicht durch: „Das Rote Kreuz ist keine Institution zur Abgabe von Erklärungen, sondern zur Hilfe für die Opfer“, war die offizielle Linie. US-Historiker Monty Penkower fasst die damalige Genfer Position in zwei Sätzen zusammen: „Das IKRK war überzeugt, dass es dem Angriff der Nazis auf die europäischen Juden nicht entgegentreten könne. Erstens betrachteten die deutschen Reichsbehörden die Behandlung dieser Menschen als innere Angelegenheit. Zweitens war der Schutz von internierten Zivilisten in keiner Konvention vorgesehen.“ Die Vorsicht Hubers setzte sich ein weiteres Mal durch. Doch die Position des Abwartens und Zuschauens konnte auf Dauer nicht Bestand haben. Hubers engster Mitarbeiter schlug vor, nach Deutschland zu reisen und das Deutsche Rote Kreuz (DRK) zu Inspektionsreisen in die KZs anzuregen. Gleichzeitig kritisierte das Schwedische Rote Kreuz die Haltung des DRK, das für KZ-Insassen nichts unternehmen wollte bzw. konnte. Huber sah sich daraufhin dazu berufen, die Haltung des DRK zu verteidigen. Die konkrete Arbeit des Deutschen Roten Kreuzes sollte nicht durch Aktionen behindert werden, „die von der öffentlichen Meinung in Deutschland schlecht aufgenommen werden könnten.“ Eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten Deutschlands“ hielt der Jurist für ausgeschlossen. Um die eigene vorsichtige Position abzusichern, stellte Huber dem Komitee sogar die Vertrauensfrage. Von Anfang an wollte er es vermeiden, Hitler gegen das IKRK aufzubringen. Hubers frühe Biographie sagt viel über seine Position als IKRK-Präsident aus. Er stammte aus einer einflussreichen, alteingesessenen protestantischen Zürcher Patrizierfamilie und war vielseitig tätig, darunter als Präsident des Verwaltungsrates zweier Großunternehmen und Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Zürich. Neben seiner publizistischen Tätigkeit war er Berater der Schweizer Regierung zu völkerrechtlichen Fragen. Seit 1923 Mitglied des IKRK, übernahm er 1928 dessen Vorsitz, den er trotz angeschlagener Gesundheit bis Ende 1944 beibehielt. Der christliche Glaube war für ihn der Motor seines Einsatzes im IKRK und besonders als dessen Präsident. Der Titel seines kleinen Büchleins von 1943 definiert sein Selbstverständnis recht gut: „Der barmherzige Samariter. Betrachtungen über Evangelium und Rotkreuzarbeit“. Während des Ersten Weltkriegs wurde er als engagierter Christ Abgeordneter im Zürcher Kantonsrat. Christentum, Nächstenliebe und neutrale Vermittlertätigkeit gehörten für ihn wie selbstverständlich zusammen. Huber war mit dieser Position in der damaligen Schweiz keineswegs alleine: Die Zürcher Landesausstellung von 1939 stand ganz im Zeichen der Vereinigung der drei Kreuze des Evangeliums, der Eidgenossenschaft und des Roten Kreuzes.

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