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Ein Handbuch und spiritueller Wegweiser mit Coelhos eigenen Reflexionen und denjenigen seiner persönlichen Wegbegleiter, die von Sun Tsu und Lao Tse über das I Ging, Gandhis Schriften und Herrigels Zen in der Kunst des Bogenschießens bis zu chassidischen Meditationen, islamischen Weisheitsbüchern und christlichen Pilgerlegenden uns Mut und Lust machen, jenseits der Alltagsverstrickungen unser Schicksal anzupacken, den eigenen Lebenstraum zu finden und beharrlich dafür zu kämpfen.
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Seitenzahl: 85
Paulo Coelho
Aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann
Diogenes
Heilige Maria,
ohne Sünden empfangen,
bete für uns,
die wir uns an dich wenden.
Amen.
Für S.I.L., Carlos Eduardo Rangel und Anne Carrière, Meister der Disziplin und des Mitgefühls
Der Jünger ist nicht über
den Meister erhaben;
wenn er aber ganz
vollendet ist, so wird
er sein wie sein Meister.
Lukas 6:40
Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.
Sie kommen durch euch, aber nicht aus euch.
Und auch wenn sie mit euch sind, gehören sie euch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihrem Körper eine Wohnstatt geben, aber nicht ihrer Seele,
Denn ihre Seele wächst auf im Hause der Zukunft, das ihr nicht einmal in euren Träumen besuchen könnt.
Ihr dürft danach streben, so zu sein wie sie, aber versucht nicht, sie euch gleichzumachen.
Denn das Leben geht weder rückwärts noch verweilt es in der Vergangenheit.
Ihr seid der Bogen, den eure Kinder als lebendige Pfeile verlassen.
Der Schütze visiert das Ziel auf dem Pfad des Unendlichen an, und Er spannt euch mit Seiner Macht, damit Seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Lasst euch gerne von der Hand des Schützen spannen;
Denn so wie Er den fliegenden Pfeil liebt, so liebt Er auch den beständigen Bogen.
Khalil Gibran, Der Prophet
»Vom Strand östlich des Dorfes aus kann man eine Insel sehen, auf der sich eine riesige Kirche mit unzähligen Glocken erhebt«, sagte die Frau zu dem kleinen Jungen.
Er hatte sie noch nie zuvor in der Gegend gesehen; ihm fiel auf, dass sie fremdartige Kleider und über dem Haar einen Schleier trug.
»Kennst du diese Kirche?«, fragte sie ihn. »Schau sie dir an, und erzähl mir dann, wie du sie findest.«
Von der Schönheit der Frau betört, machte sich der Junge sogleich auf den Weg zum Strand. Er setzte sich in den Sand, suchte den Horizont mit den Blicken ab, sah aber nichts als das, was er immer sah: den blauen Himmel und den Ozean.
Enttäuscht lief er zum nächsten Weiler und fragte die Fischer, ob sie etwas von einer Insel und einer Kirche gehört hätten.
»Ja, vor langer Zeit wohnten meine Urgroßeltern dort«, antwortete ihm ein alter Fischer. »Aber dann kam ein Erdbeben, und die Insel ist versunken. Dennoch hören wir noch heute manchmal, obwohl wir sie nicht sehen können, die Glocken der Kirche, wenn das Wogen der Wellen sie unten auf dem Meeresgrund erklingen lässt.« Das Kind kehrte zum Strand zurück: Es wartete den ganzen Nachmittag, aber da war nichts als das Tosen der Wellen und das Kreischen der Möwen.
Bei Einbruch der Dunkelheit kamen die Eltern das Kind holen. Doch schon am nächsten Morgen kehrte es wieder zum Strand zurück. Das Bild der Frau ließ ihm keine Ruhe, und es kam ihm undenkbar vor, dass ein so schöner Mensch nicht die Wahrheit gesagt haben könnte. Wenn sie eines Tages wiederkäme, wollte es ihr sagen können, dass es die Insel zwar nicht gesehen, aber die Kirchenglocken gehört habe, die die Wellen zum Klingen brachten. So gingen die Monate ins Land: Die Frau kehrte nicht zurück, und der kleine Junge vergaß sie; aber die versunkene Kirche vergaß er nicht, denn eine Kirche birgt immer irgendwelche Reichtümer und Schätze. Wenn der Junge die Glocken hören könnte, würde er die Gewissheit haben, dass die Fischer die Wahrheit gesagt hatten, und wenn er einmal groß war, würde er so viel Geld zusammenbringen, dass er eine Expedition ausrüsten und den verborgenen Schatz heben konnte.
Der Junge verlor das Interesse an der Schule, an seinen Kameraden. Er wurde zur beliebten Zielscheibe des Spottes der anderen Kinder, die ihn verhöhnten und sagten: »Er ist nicht wie wir. Er guckt lieber aufs Meer, und mit uns spielen will er auch nicht, weil er Angst hat zu verlieren.«
Und sie lachten über den kleinen Jungen, der immer am Strand saß.
Obwohl er die alten Kirchenglocken noch immer nicht hören konnte, lernte er doch jeden Morgen etwas Neues dazu. Zuerst entdeckte er, dass er sich nicht mehr von den Wellen ablenken ließ, weil ihm ihr Rollen inzwischen ganz vertraut war. Wenig später hatte er sich auch an das Geschrei der Möwen und das tiefe Summen der Bienen gewöhnt und an das Schleifen der Palmblätter im Wind.
Sechs Monate nach seiner ersten Begegnung mit der Frau ließ sich der Junge von keinem Geräusch mehr ablenken – aber die Glocken der versunkenen Kirche hörte er immer noch nicht.
Andere Fischer gesellten sich zu ihm an den Strand. »Wir, wir hören sie!«, behaupteten sie steif und fest.
Aber der Junge hörte sie nicht.
Nach einiger Zeit aber sagten die Fischer zu ihm: »Du kümmerst dich zu sehr um das Läuten der Glocken, lass gut sein, und geh wieder mit deinen Kameraden spielen. Vielleicht sind wir Fischer die Einzigen, die sie hören können.«
Etwa ein Jahr später beschloss der Junge aufzugeben. »Die Männer haben wahrscheinlich recht. Am besten, ich werde ebenfalls Fischer, wenn ich groß bin. Dann kehre ich jeden Morgen hierher an den Strand zurück und höre die Glocken.« Und er dachte auch: »Vielleicht ist ja alles nur ein Märchen, und die Glocken sind beim Erdbeben kaputtgegangen und erklingen nie wieder.«
An jenem Nachmittag beschloss er, nach Hause zu gehen.
Als er zum Abschied an den Ozean trat, schaute er noch einmal die Natur ringsum an, und da ihn die Glocken nicht mehr kümmerten, konnte er sich über das Rufen der Möwen, das Rauschen des Meers und das Schleifen der Palmenblätter im Wind freuen. In der Ferne hörte er die Stimmen seiner Spielkameraden, mit denen er bald wieder freudig herumtollen würde. Sie hatten ihn lange verspottet, doch das würden sie bald vergessen und ihn wieder mitspielen lassen.
Der Junge war froh und dankbar, am Leben zu sein. Er wusste nun, dass das Warten nicht umsonst gewesen war, da er gelernt hatte, die Natur zu beobachten und sich an ihr zu erfreuen.
Und da hörte er, weil er dem Meer, den Möwen, dem Schleifen der Palmenblätter und den Stimmen seiner Spielkameraden lauschte, die erste Glocke.
Und noch eine.
Und noch eine weitere. Bis alle Glocken der versunkenen Kirche zu läuten begannen und ihn mit Freude erfüllten.
Jahre später kam er als erwachsener Mann in das Dorf seiner Kindheit zurück. Er hatte nicht vor, irgendeinen Schatz zu heben, der auf dem Meeresgrund lag, denn vermutlich war das alles nur kindliche Träumerei gewesen, und er hatte die versunkenen Glocken nie läuten hören. Trotzdem beschloss er, zum Strand hinunterzugehen, um dem Rauschen des Windes und den Rufen der Möwen zu lauschen.
Da sah er zu seiner Überraschung die Frau, die ihm von der Insel und der Kirche erzählt hatte, im Sand sitzen.
»Was machst du hier?«, fragte er.
»Ich habe auf dich gewartet.«
In all den Jahren hatte sie sich nicht verändert. Derselbe Schleier verbarg ihr Haar und war von der Zeit nicht zerstört worden.
Sie reichte ihm ein blaues Heft mit leeren Seiten.
»Schreib: Ein Krieger des Lichts achtet auf den Blick eines Kindes, weil Kinder die Welt ohne Bitterkeit sehen können. Wenn er wissen möchte, ob ein Mensch sein Vertrauen verdient, schaut er ihm mit den Augen eines Kindes ins Gesicht.«
»Was ist ein Krieger des Lichts?«
»Du weißt es«, entgegnete sie lächelnd. »Es ist derjenige, der das Wunder des Lebens zu begreifen weiß, der um das, woran er glaubt, bis zum Letzten kämpft und auch die Glocken hören kann, die das Meer in seinen Tiefen festhält.«
Er war nie auf den Gedanken gekommen, dass er ein Krieger des Lichts sein könnte. Die Frau schien seine Gedanken zu erraten.
»Jeder Mensch ist dazu in der Lage. Und niemand hält sich für einen Krieger des Lichts, obwohl jeder einer sein könnte.«
Er schaute auf die Seiten im Heft. Die Frau lächelte wieder.
»Schreib!«, sagte sie abermals.
Ein Krieger des Lichts vergisst niemals, dankbar zu sein.
Die Engel haben ihm im Kampf beigestanden; die himmlischen Heerscharen haben einem jeden Ding seinen rechten Platz zugewiesen und dem Krieger des Lichts erlaubt, sein Bestes zu geben.
Seine Gefährten meinen: »Was hat er doch für ein Glück!« Denn ein Krieger des Lichts erreicht oft mehr, als seine Fähigkeiten erwarten lassen.
Daher kniet er bei Sonnenuntergang nieder und dankt dem schützenden Mantel, der ihn umgibt.
Aber seine Dankbarkeit beschränkt sich nicht auf die spirituelle Welt. Er vergisst niemals seine Freunde, weil ihr Blut sich auf dem Schlachtfeld mit seinem vermischt hat.
Einen Krieger des Lichts braucht man nicht an von anderen erwiesene Hilfe zu erinnern. Er erinnert sich von allein daran und teilt die Belohnung mit ihnen.
Alle Wege der Welt führen mitten ins Herz des Kriegers: Er taucht, ohne zu zögern, in den Strom der Leidenschaften ein, der durch sein Leben fließt.
Der Krieger weiß, dass er frei ist, zu wählen, was er wünscht. Seine Entscheidungen trifft er mutig, uneigennützig und zuweilen auch mit einer kleinen Prise Verrücktheit.
Er nimmt seine Leidenschaften an und genießt intensiv. Er weiß, dass er auf die Begeisterung der Eroberungen nicht verzichten muss. Sie gehören zum Leben und erfreuen alle, die daran teilhaben.
Dagegen verliert er die dauerhaften Dinge und die festen Bande, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben, nie aus den Augen.
Ein Krieger des Lichts weiß zu unterscheiden zwischen dem, was vergänglich ist, und dem, was endgültig ist.
Der Krieger verlässt sich nicht nur auf seine eigenen Kräfte. Er nutzt auch die Energie seines Gegners.
Zu Beginn des Kampfs besitzt er nichts als seine Begeisterung und die Schwertparaden, die er sich durch lange Übung angeeignet hat; bald stellt er jedoch fest, dass Übung und Begeisterung zum Siegen nicht ausreichen; es braucht dazu noch die Erfahrung.
Da öffnet er sein Herz dem Universum und bittet Gott, ihn zu erleuchten, damit er die Schwerthiebe des Feindes umkehren und zu seiner eigenen Verteidigung nutzen lerne.
Seine Gefährten werden ihn abergläubisch finden und höhnen: »Er hat den Kampf unterbrochen, um zu beten, und er respektiert die Finten seines Gegners.«