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Tsetsuya ist der beste Bogenschütze des Landes in einem abgelegenen Tal in Japan. Als ein ehrgeiziger anderer Bogenschütze ihn aufspürt und sich mit ihm messen will, stellt er sich der Herausforderung. Doch seine Lehren gibt er nicht an ihn weiter, sondern an einen unerfahrenen Jungen in seinem Dorf. Mit wunderschönen Zeichnungen von Christoph Niemann
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Seitenzahl: 35
Paulo Coelho
Aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann
Mit Zeichnungen von Christoph Niemann
Diogenes
Für Leonardo Oiticica, der mir, als er mich eines Morgens in Saint-Martin Kyudo praktizieren sah, die Idee zu diesem Text lieferte
Maria, ohne Sünde empfangen, bitte für uns, die wir uns an dich wenden.
Amen
Ein Gebet ohne Absicht ist wie ein Pfeil ohne Bogen.
Eine Absicht ohne Gebet ist wie ein Bogen ohne Pfeil.
Ella Wheeler Wilcox
Tsetsuyas Geschichte oder der Besuch des Fremden
»Tsetsuya?«
Der Junge blickte den Fremden ganz erstaunt an.
»Tsetsuya soll ein berühmter Bogenschütze sein? Niemand in unserer Stadt hat ihn je mit einem Bogen gesehen. Wir kennen ihn alle nur als Tischler.«
Der Fremde ließ aber nicht locker. »Vielleicht hat er ja das Bogenschießen inzwischen aufgegeben, den Mut verloren, was weiß ich. Doch dann verdient er es auch nicht mehr, als der beste Bogenschütze des Landes zu gelten. Aus diesem Grunde habe ich die lange Reise auf mich genommen: um ihn herauszufordern und ihm den Ruhm zu nehmen, den er dann nicht mehr verdient.«
Der Junge merkte, dass es zwecklos war zu streiten. Da brachte er besser den Fremden zum Tischler, damit der sich selbst davon überzeugen konnte, dass er sich irrte.
Tsetsuya arbeitete in der Werkstatt, die im hinteren Teil seines Hauses lag. Als er Schritte hörte, wandte er den Kopf, um zu sehen, wer gekommen war. Beim Anblick der langen Wickelhülle, die der Fremde über der Schulter trug, gefror sein Lächeln.
»Es ist genau, was Ihr denkt«, sagte der Fremde, als er über die Schwelle trat. »Ich bin nicht hierhergekommen, um den Mann zu demütigen, der schon zu Lebzeiten eine Legende geworden ist. Ich möchte nur beweisen, dass es mir nach vielen Jahren der Übung gelungen ist, Vollkommenheit zu erreichen.«
Tsetsuya schickte sich an, seine Arbeit wiederaufzunehmen: Er war gerade dabei, Beine für einen Tisch herzustellen.
Der Fremde aber fuhr fort: »Ein Mann, der das Vorbild einer ganzen Generation gewesen ist, kann nicht wie Ihr einfach so verschwinden. Ich habe Eure Lehren befolgt, habe versucht, den Weg des Bogens zu achten. Deshalb habe ich verdient, dass Ihr Euch mit mir messt. Wenn Ihr dies tut, werde ich wieder gehen und niemandem sagen, wo sich der größte aller Meister aufhält.«
Der Fremde entnahm der Wickelhülle einen langen, aus lackiertem Bambus gefertigten Bogen, dessen Griff mehrere Handbreit unterhalb der Mitte angebracht war. Er verbeugte sich vor Tsetsuya, ging dann in den Garten und verbeugte sich dort erneut, zu einer bestimmten Stelle hin. Dann zog er einen mit Adlerfedern bestückten Pfeil heraus, stellte die Füße so hin, dass er einen sicheren Stand für seinen Schuss hatte. Er hob den Bogen mit einer Hand vor das Gesicht und legte mit der anderen den Pfeil an den Bogen.
Der Junge schaute mit einer Mischung aus Freude und Verblüffung zu. Tsetsuya hatte seine Arbeit unterbrochen und schaute dem Fremden ebenfalls neugierig zu.
Während der Pfeil bereits an der Sehne lag, zog der Mann den Bogen etwas zur Brust hin. Er hob ihn so an, dass der Pfeil über dem Kopf war. Dann öffnete er den Bogen, indem er die Hände senkte.
Als der Pfeil die Höhe seines Gesichtes erreichte, war der Bogen bereits im vollen Auszug. Einen Augenblick lang, der eine Ewigkeit zu dauern schien, verharrten Schütze und Bogen bewegungslos. Der Junge schaute zu der Stelle hin, in die der Pfeil wies, konnte aber nichts erkennen.
Plötzlich löste sich die Sehne von der Hand, der Arm wurde zurückgezogen, der Bogen beschrieb in der anderen Hand eine schnelle Drehung, und der Pfeil verschwand aus dem Gesichtsfeld des Schützen, um in der Ferne wiederaufzutauchen.
»Geh und hole ihn«, sagte Tsetsuya.
Der Junge kam mit dem Pfeil zurück: Dieser hatte eine Kirsche durchbohrt, die in vierzig Metern Entfernung auf dem Boden gelegen hatte.
Tsetsuya verbeugte sich vor dem Bogenschützen. Dann holte er aus einer Ecke seiner Tischlerwerkstatt ein feines, sanft geschwungenes Stück Holz, das mit einem langen Lederband umwickelt war. Langsam wickelte er das Band ab, und zum Vorschein kam ein Bogen, ähnlich wie der des Fremden, nur wirkte er sehr viel abgenutzter.
»Ich habe keine Pfeile, ich werde einen von Euren nehmen müssen. Ich werde tun, worum