Die Hexe von Portobello - Paulo Coelho - E-Book

Die Hexe von Portobello E-Book

Paulo Coelho

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Beschreibung

Die Heldin des Romans ist eine junge Rumänin, die als Kind von libanesischen Christen adoptiert wurde. Jetzt wohnt sie in London und führt dort das Leben einer modernen, erfolgreichen jungen Frau. Durch das Tanzen entdeckt sie plötzlich übernatürliche Kräfte in sich, die sie zutiefst verstören. Und nicht nur sie.

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Seitenzahl: 361

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Paulo Coelho

Die Hexe

von Portobello

Roman

Aus dem Brasilianischen von

Maralde Meyer-Minnemann

Titel der 2006 bei

Editora Planeta, Rio de Janeiro,

erschienenen Originalausgabe: ›A bruxa de Portobello‹

Copyright © 2006 by Paulo Coelho

Mit freundlicher Genehmigung von

Sant Jordi Asociados, Barcelona, Spanien

Alle Rechte vorbehalten

Paulo Coelho: www.paulocoelho.com

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2007 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration nach einem Foto

von Artem Efimov

Copyright © Idee, Barcelona

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23932 4 (2.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60260 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Für S.F.X.,

eine Sonne, die Licht und Wärme verströmt,

wo immer sie hinkommt,

und ein Vorbild für alle,

die über ihren Horizont hinausdenken.

[6] Heilige Maria,

ohne Sünden empfangen,

bete für uns,

die wir uns an dich wenden.

Amen.

[7] Niemand zündet ein Licht an

und setzt es an einen heimlichen Ort,

auch nicht unter einen Scheffel,

sondern auf den Leuchter,

auf dass, wer hingehet, das Licht sehe.

Lukas 11: 33

[8] Ursprünglich hatte ich vor, das, was ich gehört hatte, zu einem ganz traditionellen Buch zu verarbeiten, in dem auf der Grundlage von umfangreichen Recherchen eine wahre Geschichte erzählt wird.

Ich habe eine Reihe von Biographien gelesen und dabei eines begriffen: Die Meinung des Autors über die Hauptperson beeinflusst das Ergebnis der Recherche. Da meine Absicht gerade nicht war, zu sagen, was ich denke, sondern zu zeigen, wie die Geschichte der ›Hexe vonPortobello‹ von den Hauptfiguren der Geschichte gesehen wurde, habe ich den ursprünglichen Plan verworfen. Ich fand es besser, einfach nur niederzuschreiben, was mir erzählt wurde.

Heron Ryan, 44Jahre, Journalist

Niemand zündet ein Licht an und setzt es an einen heimlichen Ort, auch nicht unter einen Scheffel: Licht soll mehr Licht anziehen, die Augen öffnen und die Wunder ringsum zeigen.

Niemand opfert, was ihm am wichtigsten ist: die Liebe.

Niemand gibt seine Träume in die Hände derjenigen, die ihn zerstören könnten.

Ausgenommen Athena.

Lange nach Athenas Tod bat mich ihre ehemalige Meisterin Edda, sie nach Prestopans, eine kleine Stadt in Schottland, zu begleiten. Dort wurde zum letzten Mal ein mittelalterliches Gesetz angewandt, das einen Monat später [9] außer Kraft gesetzt wurde: Die Stadt begnadigte nachträglich offiziell 81Menschen – und ihre Katzen –, die im 16. und 17. Jahrhundert wegen Hexerei exekutiert worden waren.

Dem Sprecher der Barone von Prestoungrange und Dolphinstoun zufolge waren »die meisten ohne konkrete Beweise, nur aufgrund von Zeugen der Anklage verurteilt worden, die erklärt hatten, die Gegenwart von bösen Geistern gefühlt zu haben«.

Es ist müßig, an die Exzesse der Inquisition mit ihren Folterkammern und an die Scheiterhaufen zu erinnern, deren Flammen aus Hass und Rache geboren wurden. Die Stadt und der 14. Baron von Prestoungrange & Dolphinstoun hatten Menschen von Schuld freigesprochen und begnadigt, die brutal exekutiert worden waren. Doch Edda sagte immer wieder, es liege etwas in dieser Geste, das sie nicht akzeptieren könne:

»Wir befinden uns im 21.Jahrhundert, und da maßen sich doch tatsächlich die Nachkommen der wahren Verbrecher, also derjenigen, die damals Unschuldige getötet haben, noch das Recht an, jemanden zu begnadigen beziehungsweise Gnade walten zu lassen. Sie wissen es doch auch, Heron.«

Und ob ich es wusste. Eine neue Hexenjagd begann sich abzuzeichnen. Diesmal wurde nicht mit glühenden Eisen gefoltert, sondern mit Ironie und Unterdrückung gearbeitet. Diejenigen, die oft ganz zufällig eine besondere Gabe an sich entdecken und wagen, über diese Gabe zu sprechen, werden zumeist misstrauisch beäugt. Und im Allgemeinen verbieten Ehemann, Ehefrau, Eltern, Kinder, wer auch immer, den Betreffenden, auch nur ein Wort darüber zu verlieren – aus Angst, die Familie der Lächerlichkeit preiszugeben.

[10] Bevor ich Athena kennenlernte, glaubte ich, besondere Gaben einzusetzen, bedeute nur, die Verzweiflung anderer Menschen auszunutzen. Der Dokumentarfilm, den ich in Transsylvanien über Vampire drehen wollte, sollte zeigen, wie leicht man Menschen betrügen kann. Es gibt Aberglauben, Vorstellungen, die, mögen sie auch noch so abwegig sein, trotzdem fortbestehen – und skrupellose Leute nutzen das aus. Als ich das Schloss von Dracula besuchte, das nur aufgebaut worden war, um Touristen das Gefühl zu geben, sie befänden sich an einem besonderen Ort, trat ein Beamter der Regierung auf mich zu. Er ließ durchblicken, dass ich ein ziemlich »bedeutendes« (seine Worte) Geschenk bekäme, falls der Film von der BBC gezeigt würde. Der Beamte war der Meinung, ich leistete damit einen Beitrag zur Verbreitung des Mythos und verdiente es, großzügig dafür belohnt zu werden. Einer der Touristenführer sagte mir, die Anzahl der Besucher wachse jährlich, jede Erwähnung des Ortes sei positiv, selbst wenn behauptet würde, das Schloss sei eine Fälschung und Vlad Dracul im Übrigen eine historische Figur, die keinerlei Bezug zum Mythos habe und nur den wilden Phantasien des Iren Bram Stoker entsprungen sei, der die Gegend niemals besucht habe.

In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich selbst dann ungewollt der Lüge in die Hände spielen würde, wenn ich mich streng an die Tatsachen hielte. Auch wenn ich mit meiner Reise gerade die umgekehrte Absicht verfolgt hatte, nämlich den Ort zu entmystifizieren, würden die Menschen letztlich trotzdem nur das glauben, was sie glauben wollten, zum Beispiel auch, dass ich nur daran mitarbeite, einen Mythos weiterzuverbreiten. Ich gab das Vorhaben sofort auf, [11] obwohl ich ziemlich viel in die Reise und die Nachforschungen investiert hatte.

Aber die Reise nach Transsylvanien sollte letztlich ungeheure Auswirkungen auf mein Leben haben: denn ich lernte dort Athena kennen, die auf der Suche nach ihrer Mutter war.

Das Schicksal, das geheimnisvolle, unerbittliche Schicksal, hat uns einander in einer bedeutungslosen Lobby eines noch bedeutungsloseren Hotels begegnen lassen. Ich wurde Zeuge von Athenas erstem Gespräch mit Deidre – oder Edda, wie sie gern genannt wird. Wie ein Außenstehender habe ich den nutzlosen Kampf meines Herzens beobachtet, das alles tat, um sich nicht durch eine Frau verführen zu lassen, die nicht meiner Welt angehörte. Ich klatschte Beifall, als der Verstand die Schlacht verlor, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich hinzugeben, als einzugestehen, dass ich mich verliebt hatte.

Diese Liebe hat dazu geführt, dass ich Dinge erlebte, die ich mir im Traum nicht vorgestellt hatte – Rituale, Menschen in Trance. Da ich vor Liebe blind zu sein glaubte, zweifelte ich alles an. Der Zweifel aber trieb mich, anstatt mich zu lähmen, hin zu Ozeanen, deren Existenz ich nicht zulassen konnte. Die Kraft der Liebe erlaubte mir, selbst in den schwierigsten Augenblicken meinen zynischen Journalistenkollegen Paroli zu bieten und über Athena und ihre Arbeit zu schreiben. Und auch nach Athenas Tod lebt die Liebe weiter, und ich spüre noch immer ihre Kraft. Doch mein sehnlichster Wunsch ist, zu vergessen, was ich gesehen und gelernt habe, denn ich konnte mich nur an Athenas Hand in dieser Welt bewegen.

[12] Es waren ihre Gärten, ihre Flüsse, ihre Berge. Jetzt, wo sie gegangen ist, muss alles möglichst schnell wieder so sein, wie es vorher war. Ich werde mich wieder mehr auf Verkehrsprobleme, auf die Außenpolitik Großbritanniens, auf den Umgang der Regierung mit unseren Steuern konzentrieren. Ich möchte wieder glauben, dass die Welt der Magie nur ein raffinierter Trick ist. Dass die Menschen abergläubisch sind. Dass die Dinge, die die Wissenschaft nicht erklären kann, nicht das Recht haben zu existieren.

Als die Versammlungen in Portobello aus dem Ruder liefen, war Athenas Verhalten Thema unzähliger Diskussionen, aber ich bin noch heute froh darüber, dass sie nie auf mich gehört hat. Wenn es in der Tragödie, einen geliebten Menschen zu verlieren, einen Trost gibt, dann liegt er in der unerlässlichen Hoffnung, dass es so vielleicht besser war.

Ich schlafe mit dieser Hoffnung ein und wache mit ihr wieder auf. Es war besser, dass Athena gegangen ist, bevor sie in die Hölle dieser Erde hinabstieg. Nach den Ereignissen, die dazu führten, dass sie »die Hexe von Portobello« genannt wurde, hätte sie ohnehin ihren Seelenfrieden nie mehr wieder gefunden. Sie hätte für den Rest ihres Lebens bitter unter dem Aufeinanderprallen ihrer persönlichen Träume mit der kollektiven Wirklichkeit gelitten. Ich kannte Athena gut. Sie hätte bis zum Ende gekämpft, ihre Lebensenergie und -freude dabei verbraucht zu beweisen, was niemand, wirklich niemand zu glauben bereit war.

Wer weiß, vielleicht hat sie den Tod gesucht wie ein Schiffbrüchiger eine Insel. Ich stelle mir vor, wie sie sich im Morgengrauen in vielen U-Bahn-Stationen aufgehalten und vergebens auf diejenigen gewartet hat, die sie überfallen würden. [13] Sie wird auf der Suche nach einem Mörder, der sich nicht zeigte, durch die gefährlichsten Stadtteile Londons gewandert sein. Sie wird den Zorn der Starken provoziert haben, die nicht in der Lage waren, ihre Wut zu offenbaren.

Bis es ihr gelang, brutal ermordet zu werden. Aber wie viele von uns werden letzten Endes davon verschont, erleben zu müssen, wie die wichtigen Dinge in unserem Leben von einem Augenblick zum anderen verschwinden? Ich meine damit nicht nur Menschen, sondern auch unsere Ideale und unsere Träume: Möglicherweise halten wir einen Tag, eine Woche, ein paar Jahre stand, aber wir sind immer dazu verdammt zu verlieren. Unser Körper lebt weiter, aber die Seele erhält früher oder später den Todesstoß. Ein perfektes Verbrechen, bei dem nicht bekannt ist, wer unsere Lebensfreude getötet hat, welche Gründe dazu geführt haben und wo die Schuldigen zu finden sind.

Aber sind sich diese namenlosen Schuldigen überhaupt dessen bewusst, was sie getan haben? Ich glaube nicht, denn sie sind ebenfalls Opfer der von ihnen geschaffenen Wirklichkeit – egal, ob sie depressiv, arrogant, machtlos oder mächtig sind.

Sie verstehen Athenas Welt nicht und würden sie auch nie verstehen. Ja, ich kann es nur so ausdrücken: Athenas Welt. Ich akzeptiere endlich, dass ich dort nur vorübergehend war, aufgrund eines Gefallens, der mir erwiesen wurde, wie jemand, der sich in einem schönen Palast befindet, die allerbesten Gerichte isst, aber immer weiß, dass alles nur ein Fest ist, dass der Palast nicht ihm gehört, das Essen nicht von seinem Geld gekauft wurde und irgendwann die Lichter verlöschen, die Besitzer schlafen gehen, die Bediensteten in ihre [14] Zimmer zurückkehren, die Tür zufällt und wir wieder auf der Straße stehen und auf ein Taxi oder einen Bus warten, der uns in die Mittelmäßigkeit unseres Lebens zurückbringt.

Ich bin dabei zurückzukehren. Oder, besser gesagt: Ein Teil von mir ist dabei, in diese Welt zurückzukehren, in der nur das einen Sinn ergibt, was wir sehen, berühren und erklären können: die Bußgelder wegen überhöhter Geschwindigkeit, Menschen, die an den Bankschaltern diskutieren, die ewigen Klagen über das Wetter, die Horrorfilme und die Formel-1-Rennen. Dies ist das Universum, in dem ich den Rest meiner Tage verbringen werde. Ich werde heiraten, Kinder haben, und die Vergangenheit wird nur mehr eine ferne Erinnerung sein, und ich werde mich dann fragen: Wie konnte ich so blind, wie konnte ich so naiv sein?

Nachts aber wird ein anderer Teil von mir durch den Raum irren, in Kontakt mit Dingen stehen, die nicht so real wie eine Packung Zigaretten sind und das Glas Gin, das vor mir steht. Meine Seele wird mit Athena tanzen, ich werde bei ihr sein, während ich schlafe. Ich werde schwitzend aufwachen, in die Küche gehen, um ein Glas Wasser zu trinken, und begreifen, dass man, um Gespenster zu bekämpfen, etwas tun muss, das in der realen Welt keinen Sinn ergibt. Dann werde ich, den Rat meiner Großmutter befolgend, eine geöffnete Schere auf meinen Nachttisch legen und so die Fortsetzung des Traumes abschneiden.

Am nächsten Morgen werde ich die Schere mit einem leichten Gefühl des Bedauerns ansehen. Aber ich muss mich wieder in diese Welt einfügen, sonst werde ich am Ende noch verrückt.

[15] Andrea McCain, 32Jahre, Theaterschauspielerin

»Niemand kann einen anderen Menschen manipulieren. In einer Beziehung wissen beide, was sie tun, auch wenn einer von beiden sich hinterher beklagt, er oder sie sei benutzt worden.«

Athena sagte das – aber sie tat genau das Gegenteil, denn ich wurde ohne Rücksicht auf meine Gefühle benutzt und manipuliert. Erschwerend kommt noch hinzu, dass es um Magie ging. Schließlich war sie meine Meisterin, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, heilige Geheimnisse zu vermitteln, die unbekannte Kraft zu wecken, die wir alle in uns haben. Wenn wir uns auf dieses unbekannte Meer hinausbegeben, vertrauen wir denen, die uns führen, blind – glauben wir, dass sie mehr wissen als wir.

Ich kann jedem versichern: Sie wissen nicht mehr als wir. Weder Athena noch Edda noch sonst jemand, den ich durch sie kennengelernt habe. Athena hat immer gesagt, dass sie lernte, indem sie lehrte, und auch wenn ich mich anfangs weigerte, dies zu glauben, konnte ich mich später davon überzeugen, dass dies durchaus möglich war. Schließlich habe ich gemerkt, dass es eine ihrer vielen Methoden war, uns dazu zu bringen, unsere Schutzmechanismen auszuschalten und ihren Zauber wirken zu lassen.

Menschen auf spiritueller Suche reflektieren nicht: sie wollen Ergebnisse. Sie wollen sich mächtig fühlen, fern der anonymen Masse. Sie wollen besonders sein. Athena spielte grausam mit den Gefühlen anderer.

Es heißt, sie habe früher die heilige Therese von Lisieux tief verehrt. Die katholische Religion interessiert mich nicht, [16] aber dem Vernehmen nach erlebte Therese eine Art mystisches und körperliches Einssein mit Gott. Athena hat irgendwann einmal gesagt, sie wünsche sich eine ähnliche Offenbarung: Wenn das stimmte, dann hätte sie in ein Kloster eintreten, ihr Leben der Kontemplation und dem Dienst an den Armen widmen sollen. Es wäre für die Welt sehr viel nützlicher gewesen und sehr viel weniger gefährlich, als andere durch Musik und Rituale in eine Art Trunkenheit zu versetzen, in der sie in Kontakt zum Besten, aber auch zum Schlechtesten ihrer selbst treten können.

Ich bin zu ihr gekommen, als ich auf der Suche nach dem Sinn meines Lebens war – auch wenn ich das bei unserer ersten Begegnung verschwiegen habe. Ich hatte wohl von Anfang an begriffen, dass Athena daran nicht besonders interessiert war. Sie wollte leben, tanzen, lieben, reisen, Menschen um sich versammeln, um zu zeigen, wie weise sie war, ihre Gaben zur Schau stellen, ihre Mitmenschen provozieren, alles Profane nutzen – auch wenn sie sich bemühte, ihrer Suche einen spirituellen Anstrich zu geben.

Jedes Mal, wenn wir uns zu magischen Zeremonien oder auch nur zu einem Barbesuch trafen, spürte ich ihre Macht. Sie war geradezu greifbar, so stark offenbarte sie sich. Anfangs war ich fasziniert, wollte ich sein wie sie. Aber eines Tages – mein Freund war auch dabei – hat sie in einer Bar über das »Dritte Ritual« gesprochen, das die Sexualität betrifft. Unter dem Vorwand, es mir beibringen zu wollen. Ihr Ziel war meiner Meinung nach, den Mann zu verführen, den ich liebte.

Und das ist ihr selbstverständlich gelungen.

Man soll nicht schlecht von Menschen reden, die dieses [17] Leben bereits verlassen haben und sich nun in einer anderen Welt befinden. Mir gegenüber braucht Athena sich nicht zu rechtfertigen, wohl aber allen den Kräften gegenüber, die sie nur für ihre eigenen Zwecke genutzt hat, anstatt sie zugunsten der Menschheit und zur eigenen spirituellen Erhöhung einzusetzen.

Und, was noch schlimmer ist: Alles, was wir begonnen haben, hätte gut ausgehen können, wäre da nicht ihr zwanghafter Hang zur Selbstdarstellung gewesen. Wäre sie zurückhaltender gewesen, könnten wir heute die Mission erfüllen, die uns anvertraut wurde. Aber sie hatte sich nicht in der Gewalt, sie glaubte, die Wahrheit zu besitzen, glaubte, sie sei in der Lage, alle Grenzen zu überschreiten, nur indem sie ihre Verführungskraft nutzte.

Und was ist das Ergebnis? Ich bin allein zurückgeblieben. Ich darf die Arbeit nicht auf halbem Weg aufgeben – ich muss sie zu Ende führen, obwohl ich mich manchmal schwach und fast immer mutlos fühle.

Mich überrascht nicht, dass ihr Leben so geendet hat: sie hat ständig die Gefahr gesucht. Man sagt, extrovertierte Menschen seien unglücklicher als introvertierte und müssten dies kompensieren, indem sie sich selber beweisen, dass sie zufrieden, fröhlich sind und dass sie das Leben genießen. Zumindest auf Athena trifft dies zu.

Athena war sich ihres Charismas bewusst und hat all diejenigen leiden lassen, die sie liebten.

Darunter auch mich.

[18] Deidre O’Neill, 37Jahre, Ärztin, bekannt als Edda

Wenn mich heute ein Fremder anruft oder anspricht – er muss gar nichts von mir wollen, mir gar nichts Besonderes sagen, mir nur Aufmerksamkeit schenken, wie ich sie nicht gewohnt bin –, dann kann es passieren, dass ich noch in derselben Nacht ziemlich verliebt mit ihm ins Bett gehe. Wir Frauen sind nun einmal so, und daran ist nichts verkehrt – es gehört zur weiblichen Natur, offen für die Liebe zu sein.

Diese Bereitschaft zur Liebe hat mich mit neunzehn Jahren offen für die Begegnung mit der Mutter gemacht. Athena war genauso alt, als sie das erste Mal durch Tanz in Trance geriet. Aber das war das Einzige, was wir gemein hatten – das Initiationsalter.

Sonst waren wir grundverschieden, vor allem in unserer Art, mit anderen Menschen umzugehen. Als ihre Meisterin habe ich ihr das Beste von mir gegeben, damit sie sich auf ihre innere Suche begeben konnte. Als ihre Freundin – obwohl ich nicht weiß, ob sie für mich auch Freundschaft empfand – habe ich versucht, darauf hinzuweisen, dass die Welt noch nicht für die Veränderungen bereit war, die sie herbeiführen wollte. Ich erinnere mich an viele schlaflose Nächte, bis ich den Entschluss fasste, ihr zu erlauben, frei zu handeln, nur dem zu folgen, was ihr Herz ihr befahl.

Athenas großes Problem bestand darin, dass sie eine Frau des 22.Jahrhunderts war, die aber im 21.Jahrhundert lebte – und dass sie zuließ, dass alle dies sahen. Hat sie einen Preis dafür bezahlt? Zweifellos. Aber der Preis wäre noch viel höher gewesen, wenn sie ihre spontane Überschwänglichkeit nicht ausgelebt hätte. Sie wäre bitter, frustriert, immer mit [19] dem Gedanken beschäftigt gewesen: »Was werden die anderen sagen.« Sie hätte immer gesagt: »Lass mich zuerst dieses Problem lösen, und dann widme ich mich meinem Traum.« Sie hätte immer geklagt: »Die Bedingungen sind nie ideal.«

Alle suchen einen vollkommenen Meister: Doch auch Meister sind nur Menschen, selbst wenn ihre Lehren göttlich sind – und das ist etwas, was zu akzeptieren den Menschen schwerfällt. Nicht den Lehrer mit dem Unterricht, das Ritual mit der Ekstase, den Vermittler des Symbols mit dem Symbol selber zu verwechseln. Die Tradition ist mit der Begegnung mit den Kräften des Lebens verbunden und nicht mit den Menschen, die dies vermitteln. Aber wir sind schwach: Wir bitten die Mutter, dass sie uns Menschen schickt, die uns auf unserem Weg führen, während sie uns Zeichen sendet.

Wehe denen, die Hirten suchen, anstatt nach Freiheit zu dürsten! Die Begegnung mit der höheren Energie ist für jedermann erreichbar, nur für jene nicht, die ihre Verantwortung anderen übertragen. Unsere Zeit auf dieser Erde ist heilig, und wir müssen sie in jedem Augenblick feiern.

Wie wichtig das ist, ist vollkommen in Vergessenheit geraten: Sogar die religiösen Feiertage sind zu Gelegenheiten verkommen, um ans Meer oder zum Skilaufen zu fahren. Es gibt keine Rituale mehr. Es gelingt nicht mehr, gewöhnliche Handlungen in heilige zu verwandeln. Wir kochen und klagen über den damit verbundenen Zeitverlust, wo wir doch Liebe in Essen verwandeln könnten. Wir arbeiten und empfinden dies als einen göttlichen Fluch, wo wir doch unsere Fähigkeiten nutzen sollten, um uns selber Freude zu machen und die Energie der Mutter zu verbreiten.

[20] Athena hat die überreiche Welt an die Oberfläche geholt, die wir alle in unserer Seele tragen, dabei aber nicht bemerkt, dass die Menschen noch nicht bereit sind, ihre Kräfte zu akzeptieren.

Wir Frauen werden, wenn wir einen Sinn für unser Leben oder den Weg des Wissens suchen, immer mit einem der klassischen Archetypen gleichgesetzt, als da sind:

Die Jungfrau (und ich spreche hier nicht von Sexualität) – sie ist diejenige, die sich selber durch vollkommene Unabhängigkeit sucht, und alles, was sie lehrt, ist Frucht ihrer Fähigkeit, sich den Herausforderungen allein zu stellen.

Die Märtyrerin – sie entdeckt im Schmerz, in der Hingabe und im Leiden einen Weg, sich selber kennenzulernen.

Die Heilige – sie findet in der grenzenlosen Liebe, in der Fähigkeit zu geben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, den wahren Sinn ihres Lebens.

Und schließlich die Hexe – sie ist auf der Suche nach der vollständigen, grenzenlosen Lust und rechtfertigt damit ihr Leben.

Athena war alle vier zugleich, während wir uns im Allgemeinen nur mit einem dieser weiblichen Archetypen identifizieren.

Selbstverständlich können wir ihr Verhalten rechtfertigen; anführen, dass alle, die in den Zustand von Trance und Ekstase gelangen, die Verbindung zur Realität verlieren. Das aber wäre falsch: die körperliche und die spirituelle Welt sind ein und dasselbe. Wir können das Göttliche in jedem Staubkorn sehen, doch das hindert uns nicht daran, es mit einem feuchten Schwamm zu entfernen. Das Göttliche bleibt, es ist nunmehr eine saubere Oberfläche.

[21] Athena hätte mehr auf sich aufpassen sollen. Wenn ich über das Leben und den Tod meiner Schülerin nachdenke, komme ich zum Schluss, dass ich gut daran täte, zu überdenken, wie ich handle, und vielleicht etwas daran zu ändern.

Lella Zainab, 64Jahre, Numerologin

Athena? Ein interessanter Name! Schauen wir mal… ihre Höchstzahl ist die Neun. Optimistisch, sozial, sticht aus der Masse hervor. Menschen, die Verständnis, Mitgefühl und Großzügigkeit brauchen, werden ihre Nähe suchen, und sie muss aufpassen, dass ihr ihre Beliebtheit nicht zu Kopf steigt und sie am Ende mehr verliert als gewinnt. Sie muss auch ihre Zunge im Zaum halten, denn sie neigt dazu, zu viel zu reden.

Ihre Mindestzahl ist die Elf. Ich glaube, sie strebt eine leitende Position an. Sie beschäftigt sich mit mystischen Dingen; und über diese Beschäftigung versucht sie, allen denen Harmonie zu bringen, die sich in ihrem Umkreis befinden.

Aber das steht in direktem Gegensatz zur Zahl Neun, die die Summe aus dem Tag, dem Monat und dem Jahr ihrer Geburt ist und sich in einer einzigen Zahl vereinigt: Sie wird immer zu Neid, Traurigkeit, Verschlossenheit und gefühlsgesteuerten Entschlüssen neigen. Vorsicht bei folgenden negativen Schwingungen: übermäßiger Ehrgeiz, Intoleranz, Machtmissbrauch, Extravaganz.

Wegen dieses Konfliktes schlage ich vor, dass sie sich etwas widmet, das keinen emotionalen Kontakt mit Menschen verlangt, wie beispielsweise die Arbeit im Bereich der Informatik oder des Ingenieurwesens.

[22] Sie ist tot. Oh, tut mir leid. Was hat sie denn tatsächlich gemacht?

Was hat Athena tatsächlich gemacht? Von allem ein wenig, aber müsste ich ihr Leben zusammenfassen, würde ich sagen: Sie war eine Priesterin, die die Kräfte der Natur verstand. Oder besser gesagt, sie war jemand, der nichts zu verlieren oder vom Leben zu erwarten hatte und deshalb das Risiko auf sich genommen hat, über das, was andere tun, hinauszugehen. Und am Ende hat sie sich in die Kräfte verwandelt, die sie zu beherrschen glaubte.

Sie war Verkäuferin im Supermarkt, Bankerin, Grundstücksmaklerin, und in jedem dieser Berufe hat sie immer die Priesterin, die sie in sich trug, offenbart. Ich habe acht Jahre mit ihr verbracht, und das schulde ich ihr: die Erinnerung an sie und ihre Identität wiederherzustellen.

Dazu musste ich viele Menschen befragen, die Athena gekannt hatten. Das Schwierigste dabei war, deren Erlaubnis zu erhalten, ihre wahren Namen benutzen zu dürfen. Einige sagten, sie wollten in einem solchen Buch nicht genannt werden, andere versuchten, ihre Meinungen und Gefühle zu verbergen. Ich habe ihnen erklärt, meine wahre Absicht sei, alle Beteiligten besser verstehen zu lassen, wer Athena war, und dass niemand anonymen Erklärungen Glauben schenken würde.

Da jeder der Interviewten glaubte, über die einzige, endgültige Version der jeweiligen Ereignisse zu verfügen, egal, wie unbedeutend sie waren, willigten sie am Ende ein. Während der Tonbandaufnahmen merkte ich, dass die Dinge [23] nicht absolut sind, dass jeder eine eigene Sicht auf die Dinge hat. Und dass die beste Art zu erfahren, wer wir sind, häufig ist, herauszufinden, wie die anderen uns sehen.

Das soll nicht heißen, dass wir tun, was die anderen erwarten: Aber zumindest verstehen wir uns selber besser. Das war ich Athena schuldig.

Ihre Geschichte zu rekonstruieren, den Mythos Athena festzuhalten.

Samira R.Khalil, 57Jahre, Hausfrau, Athenas Mutter

Nennen Sie sie bitte nicht Athena. Ihr richtiger Name ist Sherine. Sherine Khalil, unsere geliebte, heißersehnte Tochter, von der wir wünschten, sie wäre unsere leibliche Tochter gewesen.

Aber das Leben hatte andere Pläne – wenn das Schicksal großzügig ist, gibt es immer einen Brunnen, in den unsere Träume hineinfallen.

Wir lebten in einer Zeit in Beirut, als Beirut noch als schönste Stadt im Nahen Osten galt.

Mein Mann war ein erfolgreicher Industrieller, wir haben aus Liebe geheiratet, sind jedes Jahr nach Europa gereist, hatten Freunde, wurden zu allen wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen eingeladen.

Einmal habe ich sogar einen Präsidenten der Vereinigten Staaten in meinem Hause empfangen. Stellen Sie sich das einmal vor! Es waren drei unvergessliche Tage: zwei Tage lang durchstöberte der amerikanische Geheimdienst jeden Winkel unseres Hauses (sie waren schon seit mehr als einem [24] Monat im Stadtviertel gewesen, hatten – als Bettler oder als Liebespaare verkleidet – strategische Punkte besetzt, Wohnungen gemietet). Und am dritten Tag war dann das Fest, und auch wenn es nur zwei Stunden dauerte, werde ich doch nie den Neid in den Augen unserer Freunde vergessen noch die Freude, mit dem mächtigsten Mann des Planeten fotografiert zu werden.

Wir hatten alles, nur nicht, was wir uns am meisten wünschten: ein Kind. Also hatten wir gar nichts.

Wir haben es auf alle nur möglichen Arten versucht. Wir haben Gelübde abgelegt, haben wunderträchtige Orte besucht, haben Ärzte und Heiler befragt, haben Medikamente geschluckt und Elixiere und Zaubertränke zu uns genommen. Zweimal habe ich eine künstliche Befruchtung machen lassen und das Baby verloren. Beim zweiten Mal verlor ich auch meinen linken Eileiter und fand keinen Arzt mehr, der das Risiko eines neuen Abenteuers dieser Art eingehen wollte.

Damals hat dann einer unserer vielen Freunde, die unsere Lage kannten, uns den einzig möglichen Ausweg vorgeschlagen: ein Kind zu adoptieren. Er sagte, er habe Kontakte in Rumänien und dass das Verfahren nicht lange dauern werde.

Einen Monat später haben wir uns in ein Flugzeug gesetzt. Unser Freund machte wichtige Geschäfte mit dem Diktator, der damals das Land regierte. So konnten wir die bürokratischen Instanzenwege vermeiden und sind direkt in ein Adoptionszentrum in Sibiu (auch bekannt als Hermannstadt), Transsylvanien, gefahren. Dort wurden wir schon mit Kaffee, Zigaretten, Mineralwasser und dem ganzen, bereits [25] erledigten Papierkram erwartet und brauchten nur noch ein Kind auszusuchen.

Wir wurden in eine Kinderkrippe geführt, in der es sehr kalt war, und ich fragte mich, wie man die armen Wesen so behandeln konnte. Mein erster Gedanke war, alle zu adoptieren, sie in unser Land mitzunehmen, in dem es Sonne und Freiheit gab, aber selbstverständlich war das eine verrückte Idee. Wir gingen zwischen den Bettchen hindurch, hörten Weinen, und der Gedanke an die Entscheidung, die wir treffen würden, machte uns Angst.

Mehr als eine Stunde haben mein Mann und ich kein Wort miteinander gewechselt. Wir gingen hinaus, tranken Kaffee, rauchten Zigaretten und gingen wieder zurück – und das wiederholte sich mehrmals. Ich bemerkte, dass die Frau, die mit der Adoption betraut war, allmählich ungeduldig wurde – wir mussten uns entscheiden. Da wies ich, einem Instinkt folgend, den ich mütterlich zu nennen wage, auf ein Mädchen. Es war, als hätte ich ein Kind gefunden, das meines sein sollte, aber in dieser Inkarnation durch einen anderen Leib auf diese Welt gekommen war.

Die Adoptionsbeauftragte schlug vor, unsere Wahl noch einmal zu überdenken. Ausgerechnet sie, die uns eben noch so gedrängt hatte! Aber ich hatte mich bereits entschieden.

In der Absicht, meine Gefühle nicht zu verletzen (sie glaubte, wir hätten Kontakt zu den höchsten Stellen der rumänischen Regierung), flüsterte sie mir dennoch vorsichtig ins Ohr, so dass mein Mann es nicht hören konnte:

»Ich weiß, dass das nichts werden wird. Sie ist die Tochter einer Zigeunerin.«

Ich antwortete ihr, dass Kultur nicht durch Gene [26] weitergegeben werden könne – das Kind, das gerade erst drei Monate alt war, würde unsere Tochter sein und unseren Gebräuchen entsprechend erzogen werden. Sie würde die Kirche kennenlernen, in die wir gingen, die Strände, an denen wir uns erholten, sie würde französische Bücher lesen, die Amerikanische Schule in Beirut besuchen. Außerdem wusste ich damals noch kaum etwas über die Kultur der Roma und weiß auch heute noch nicht viel. Nur so viel meinte ich zu wissen: dass sie ständig unterwegs seien, es mit der Sauberkeit nicht sehr genau nähmen, andere Leute betrögen und nur einen Ohrring trügen. Auch hatte man mir erzählt, dass sie Kinder raubten, um sie auf ihre Reisen mitzunehmen. Doch hier war genau das Gegenteil passiert: Sie hatten ein Kind zurückgelassen, damit ich mich um es kümmerte.

Die Frau versuchte noch, mich davon abzubringen, aber ich unterzeichnete bereits die Papiere und bat meinen Mann, es auch zu tun. Als wir wieder in Beirut waren, kam mir die Welt verändert vor: Gott hatte mir einen Sinn gegeben – zu leben, zu arbeiten, in diesem Tal der Tränen zu kämpfen. Wir hatten ein Kind, das alle unsere Mühen rechtfertigte.

Sherine wuchs zu einem klugen und schönen Mädchen heran – sie war wirklich ein außergewöhnliches Kind, obwohl das alle Eltern von ihren Kindern sagen. Eines Nachmittags, damals war sie schon fünf Jahre alt, sagte einer meiner Brüder, dass ihr Name, sollte sie einmal im Ausland arbeiten, immer ihre Herkunft verraten werde – und schlug uns vor, ihr einen anderen Namen zu geben, der keinerlei Hinweis darauf gab, beispielsweise Athena. Inzwischen weiß ich natürlich, dass Athen die Hauptstadt eines Landes und [27] Athene die Göttin der Weisheit, der Intelligenz und des Krieges ist.

Vielleicht wusste mein Bruder nicht nur das, sondern war sich auch der Probleme bewusst, die ein arabischer Name in Zukunft bringen könnte. Er war wie alle Männer in unserer Familie in der Politik tätig und wollte seine Nichte vor den dunklen Wolken schützen, die er – er allein – am Horizont aufziehen sah. Überraschenderweise gefiel Sherine der Klang des Namens. Schon nach wenigen Stunden nannte sie sich selbst Athena, und keiner konnte sie mehr umstimmen. Ihr zuliebe nannten wir sie ebenfalls Athena, obwohl wir glaubten, dass es sich nur um eine vorübergehende Laune handelte.

Kann es sein, dass ein Name das Leben eines Menschen beeinflusst? Die Zeit verging, der Name blieb, und am Ende haben wir uns an ihn gewöhnt.

Als Teenager zeigte Athena eine seltsame religiöse Berufung. Sie war ständig in der Kirche, erstaunlich bibelfest und konnte sogar die Evangelien auswendig, was zugleich ein Segen und ein Fluch war. In einer Welt, in der die Religionszugehörigkeit die Menschen immer mehr voneinander trennte, fürchtete ich um die Sicherheit meiner Tochter. Damals fing Sherine bereits an, uns zu erzählen, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, dass sie eine Reihe unsichtbarer Freunde habe – Engel und Heilige, deren Bilder sie in der Kirche sah, in die wir immer gingen. Viele Kinder überall auf der Welt haben solche Visionen, aber ab einem bestimmten Alter erinnern sie sich kaum mehr daran. Sie behandeln unbelebte Dinge wie Puppen oder Plüschtiere wie lebendige Spielkameraden. Als Athena mir aber eines Tages, als ich sie von der Schule abholte, erklärte, sie habe »eine weißgekleidete Frau [28] gesehen, die der Jungfrau Maria ähnlich sah«, fand ich das denn doch etwas übertrieben.

Selbstverständlich glaube ich an Engel. Ich glaube sogar, dass die Engel mit kleinen Kindern reden, aber wenn Jugendliche oder Erwachsene Visionen haben, ist das etwas anderes. Ich kenne zahlreiche Geschichten von Hirtenkindern und anderen Menschen, die auf dem Land gelebt haben und behaupteten, sie hätten eine weißgekleidete Frau gesehen – und das hat am Ende ihr Leben zerstört, denn sofort kommen Leute zu ihnen, die Wunder erwarten. Die Pfarrer machen sich Sorgen, die Dörfer werden zu Wallfahrtsorten, und die armen Hirtenkinder beenden ihr Leben im Kloster. Ich habe mir also wegen dieser Geschichte Sorgen gemacht. In ihrem Alter sollte Sherine sich mehr für Make-up interessieren, ihre Nägel lackieren und im Fernsehen romantische Serien ansehen. Etwas stimmte nicht mit meiner Tochter, und ich suchte einen Spezialisten auf.

»Beruhigen Sie sich«, sagte er.

Für den Kinderpsychologen waren wie für die meisten Ärzte, die ähnliche Fälle behandeln, diese unsichtbaren Freunde eine Art Projektion kindlicher Träume, die dem Kind halfen, seine Wünsche herauszufinden, seine Gefühle auszudrücken, was aber ganz und gar unbedenklich sei.

»Aber eine weißgekleidete Frau?«

Er antwortete, dass möglicherweise unsere Art, die Welt zu sehen und zu erklären, von Sherine nicht ganz richtig verstanden würde. Er schlug vor, ganz allmählich das Terrain dafür vorzubereiten, um ihr dann auch sagen zu können, dass sie adoptiert worden sei. Der Psychologe meinte, das Schlimmste wäre, wenn sie es selbst herausfinden würde – sie [29] würde dann alles anzweifeln. Niemand wüsste, wie sie dann reagieren würde.

Von diesem Augenblick an haben wir anders mit ihr geredet als vorher. Ich weiß nicht, ob der Mensch sich an Dinge erinnern kann, die geschehen sind, als er noch ein Baby war, aber wir haben versucht, ihr zu zeigen, wie sehr wir sie liebten und dass es keinen Grund gab, sich in eine imaginäre Welt zu flüchten. Sie musste begreifen, dass die Welt, in der sie lebte, wunderschön war, mit Stränden, Sonne, freundlichen Menschen. Und dass ihre Eltern sie über alles liebten und sie vor jeder Gefahr beschützten. Ich sprach sie nicht direkt auf diese »Frau« an, verbrachte aber mehr Zeit mit meiner Tochter, lud ihre Schulfreunde zu uns nach Hause ein, ließ keine Gelegenheit aus, sie unsere Zuneigung spüren zu lassen.

Es zeigte sich bald, dass dies der richtige Weg war. Mein Mann war viel auf Reisen, und Sherine vermisste ihn sehr. Aus Liebe zu ihr bemühte er sich, häufiger zu Hause zu sein. Sie war jetzt weniger allein und verbrachte mehr Zeit mit uns.

Es lief alles gut, bis sie eines Nachts weinend in unser Schlafzimmer kam und sagte, sie habe Angst, die Hölle sei nahe.

Ich war allein im Haus – mein Mann war wieder einmal auf Reisen – und glaubte anfangs, dies sei der Grund für ihre Verzweiflung. Aber die Hölle? Was brachten sie ihr bloß in der Schule oder in der Kirche bei? Ich beschloss, am nächsten Tag mit ihrer Lehrerin zu sprechen.

Sherine hörte aber nicht auf zu weinen. Ich ging mit ihr ans Fenster und zeigte ihr das vom Vollmond beschienene [30] Mittelmeer. Ich sagte ihr, es gebe keine Dämonen, dafür Sterne am Himmel und Leute, die auf dem Boulevard vor unserer Wohnung flanierten. Ich erklärte ihr, dass sie keine Angst zu haben brauche, aber sie weinte und zitterte weiter. Nachdem ich fast eine halbe Stunde lang umsonst versucht hatte, sie zu beruhigen, wurde ich nervös. Ich bat sie, jetzt endlich damit aufzuhören, sie sei doch kein Kind mehr. Auch fragte ich mich, ob sie vielleicht ihre erste Menstruation bekommen hatte, und fragte sie diskret, ob Blut fließen würde.

»Sehr viel.«

Ich nahm eine Mullbinde, bat meine Tochter, sich hinzulegen, damit ich ihre »Verletzung« behandeln könne. Sie hatte allerdings nicht ihre Menstruation bekommen. Sie weinte noch ein wenig, aber sie war wohl müde, denn sie schlief bald ein.

Und am nächsten Morgen floss tatsächlich Blut.

Vier Männer wurden umgebracht. Für mich handelte es sich nur um einen dieser ewigen Stammeskämpfe, an die mein Volk gewöhnt war. Sherine erwähnte ihren Alptraum der vergangenen Nacht mit keinem Wort, er schien keine Bedeutung mehr für sie zu haben.

Dennoch rückte der Tag, an dem im Libanon die Hölle losbrach, immer näher. Noch am selben Tag wurden aus Rache für den Mord sechsundzwanzig Palästinenser in einem Bus getötet. Vierundzwanzig Stunden später konnte man sich wegen der Schüsse, die von allen Seiten kamen, schon nicht mehr auf die Straße wagen. Die Schulen wurden geschlossen, Sherine wurde eilig von einer ihrer Lehrerinnen nach Hause gebracht, und von da an geriet die Lage außer Kontrolle. Mein Mann unterbrach seine Reise und kam nach [31] Hause, telefonierte den ganzen Tag mit seinen Freunden in der Regierung, aber niemand konnte ihm eine vernünftige Auskunft geben. Sherine hörte die Schüsse draußen und im Haus das aufgeregte, laute Reden meines Mannes. Doch zu meiner Überraschung verlor sie kein Wort darüber. Ich sagte ihr, dass das alles bald vorbei wäre, dass wir bald wieder an den Strand gehen würden, doch sie wandte den Blick ab und bat mich um ein Buch, das sie lesen, oder eine Platte, die sie hören könnte. Und während der Libanon ganz allmählich im Krieg versank, las Sherine und hörte Musik.

Ich möchte nicht mehr daran denken. Ich möchte bitte nicht mehr an die Drohungen denken, die wir erhielten, daran, wer recht hatte, wer schuldig und wer unschuldig war. Tatsache ist, dass man sich nicht mehr normal bewegen konnte, nicht mehr einfach die Straße überqueren oder an Bord eines Schiffes gehen.

Ein Jahr lang verließen wir unser Haus fast gar nicht, warteten immer darauf, dass sich die Lage besserte und dass die Regierung am Ende wieder Herr der Lage würde. Eines Morgens, als Sherine eine Platte auf ihrem kleinen tragbaren Plattenspieler hörte, machte sie ein paar Tanzschritte und sagte dabei so etwas wie: »Es wird lange dauern, sehr lange.«

Ich wollte sie unterbrechen, aber mein Mann packte mich am Arm – ich sah, dass er aufmerksam zuhörte und die Worte des Mädchens ernst nahm. Ich habe nie begriffen wieso, und bis heute haben wir nie darüber geredet. Es ist tabu zwischen uns.

Am nächsten Tag begann er unsere Flucht vorzubereiten. Zwei Wochen später schifften wir uns nach London ein. Später sollten wir erfahren, dass in diesen zwei Jahren [32] Bürgerkrieg etwa vierundvierzigtausend Menschen gestorben sind, einhundertachtzigtausend verletzt und Tausende obdachlos wurden. Das Land wurde von ausländischen Truppen besetzt, und die Hölle geht bis heute weiter.

»Es wird lange dauern«, hatte Sherine gesagt. Mein Gott, leider hatte sie recht.

Lukas Jessen-Petersen, 32Jahre, Ex-Ehemann

Als ich Athena zum ersten Mal begegnete, wusste sie schon, dass sie von ihren Eltern adoptiert worden war. Sie war neunzehn Jahre alt und stand kurz davor, in der Cafeteria der Universität einen Streit anzufangen, weil eine Mitstudentin, die Athena aufgrund ihres hellen Teints, des glatten Haares und ihrer zwischen Grün und Grau wechselnden Augenfarbe für eine Engländerin hielt, einen abfälligen Kommentar über den Nahen Osten gemacht hatte.

Es war der erste Tag im Semester, und die meisten kannten sich noch nicht. Aber Athena stand auf, packte die andere am Kragen und fing an, wie eine Verrückte zu schreien:

»Rassistin!«

Ich sah den erschrockenen Blick des anderen Mädchens, die aufgeregten Blicke der männlichen Studenten, die scharf darauf waren zu sehen, was nun passieren würde. Da ich in einem höheren Semester war, wusste ich, welche Konsequenzen eine Prügelei haben könnte: Vorladung ins Büro des Rektors, Möglichkeit eines Uni-Verweises, polizeiliche Untersuchung wegen Rassismus usw. Alle hatten etwas zu verlieren.

[33] »Halt den Mund«, entfuhr es mir.

Ich kannte keins der beiden Mädchen. Ehrlich gesagt, mische ich mich grundsätzlich nicht in Streitigkeiten ein und finde, dass ein Streit hin und wieder stimulierend sein kann. Aber ich hatte ganz spontan reagiert.

»Hört auf damit«, schrie ich das hübsche Mädchen an, das das andere, ebenfalls hübsche Mädchen, am Hals festhielt. Athena schaute mich an, und ihr Blick ließ mich erstarren. Aber plötzlich lächelte sie, behielt ihre Hände aber weiterhin am Hals ihrer Kommilitonin.

»Du hast vergessen, bitte zu sagen.«

Alle lachten.

»Hör auf damit«, bat ich. »Bitte.«

Da ließ sie das andere Mädchen los und kam auf mich zu. Alle Blicke folgten ihr.

»Du hast Manieren. Hast du vielleicht auch eine Zigarette?«

Ich hielt ihr mein Päckchen hin, und wir gingen zum Rauchen hinaus. So wütend sie eben noch gewesen war, so vollkommen entspannt war sie jetzt, und ein paar Minuten später lachte sie, machte Bemerkungen zum Wetter, fragte mich, ob ich diese oder jene Band mochte. Ich hörte die Glocke, die zur Vorlesung rief, und ignorierte sie – was ich noch nie zuvor getan hatte. Ich unterhielt mich weiter, als gäbe es die Universität, Streitigkeiten, Cafeterias, Wind, Kälte, Sonne nicht. Es gab nur noch die Frau mit den grüngrauen Augen, die vor mir stand und vollkommen uninteressante, nutzlose Dinge sagte, die mich aber für den Rest meines Lebens fesseln würde.

Zwei Stunden später aßen wir zusammen zu Mittag. [34] Sieben Stunden später saßen wir in einer Bar, aßen und tranken, was unser Budget uns erlaubte. Die Unterhaltung wurde immer tiefgründiger. Und nach kurzer Zeit kannte ich praktisch ihr ganzes Leben. Athena erzählte Einzelheiten aus ihrer Kindheit, Jugend, ohne dass ich auch nur eine Frage gestellt hätte. Später erfuhr ich, dass sie sich immer so verhielt. Aber ich fühlte mich an jenem Tag, als wäre ich der außergewöhnlichste Mann der Welt.

Sie war vor dem Bürgerkrieg im Libanon nach London geflüchtet. Ihr Vater, ein maronitischer Christ (eine mit Rom unierte Kirche mit eigener Hierarchie, die die ostkirchliche Liturgie benutzt), war mit dem Tod bedroht worden, weil er mit der Regierung zusammenarbeitete und sich bis zu dem Zeitpunkt dennoch nicht entscheiden konnte, ins Exil zu gehen. Dann hatte Athena heimlich ein Telefongespräch mitgehört und beschlossen, es sei nun an der Zeit, erwachsen zu werden, ihre Verantwortung als Tochter zu übernehmen und diejenigen zu schützen, die sie liebte.

Sie begann eine Art Tanz und tat so, als wäre sie in Trance (das hatte sie alles im Religionsunterricht in der Schule gelernt, als sie das Leben der Heiligen durchgenommen hatten), und begann über eine Flucht zu reden. Ich weiß nicht, wie ein Kind Erwachsene dazu bringen kann, dass sie ihre Entscheidungen aufgrund seiner Worte treffen, aber Athena behauptete, genauso sei es gewesen. Ihr Vater sei abergläubisch. Sie sei absolut sicher, das Leben ihrer Familie gerettet zu haben.

Athena und ihre Eltern waren zwar als Flüchtlinge nach London gekommen, aber nicht als Bettler. Es gibt überall auf der Welt Libanesen, und Athenas Vater fand bald eine [35] Möglichkeit, seine Geschäfte wiederaufzunehmen, und das Leben ging weiter. Seine Tochter konnte gute Schulen besuchen, nahm Tanzunterricht – Tanz war ihre Leidenschaft – und schrieb sich nach dem Schulabschluss an der Fakultät für Ingenieurwissenschaften ein.

Sie lebten bereits in London, als Athenas Eltern ihrer Tochter bei einem Abendessen in einem der teuersten Restaurants der Stadt vorsichtig eröffneten, dass sie adoptiert sei. Athena tat überrascht und umarmte dann ihre Eltern, denen sie versicherte, an ihrer Beziehung werde sich dadurch nichts ändern.

Tatsächlich hatte aber irgendein Freund der Familie Athena einmal in einem unbeherrschten Augenblick »undankbares Waisenkind« genannt und ihr vorgehalten, sie sei ja »nicht einmal die leibliche Tochter« und wüsste sich nicht zu benehmen. Athena hatte daraufhin mit einem Aschenbecher nach ihm geworfen und ihn im Gesicht verletzt. Danach hatte sie zwei Tage lang heimlich geweint, sich aber dann mit der Tatsache abgefunden. Dieser Freund der Familie behielt eine Narbe, deren wahre Ursache er niemandem erklären mochte und nur immer vage von einem »Überfall auf offener Straße« sprach.

Ich lud Athena ein, mit mir am nächsten Tag auszugehen. Ungefragt sagte sie mir, sie sei Jungfrau, ginge sonntags in die Kirche und sei nicht an Liebesromanzen interessiert – sie interessiere sich mehr dafür, alles zu lesen, was sie über die Lage im Nahen Osten erfahren könnte.

Sie hatte also zu tun. Viel zu tun.

»Alle glauben immer, Frauen würden nur davon träumen, zu heiraten und Kinder zu kriegen. Und du meinst also, [36] aufgrund dessen, was ich dir erzählt habe, hätte ich im Leben viel gelitten. Das stimmt nicht, und außerdem haben schon andere Männer mich anzubaggern versucht unter dem Vorwand, mich vor weiteren Dramen ›beschützen‹ zu wollen.

Dabei haben sie vergessen: Schon bei den alten Griechen galt, wer mit Narben aus der Schlacht heimkehrte, als stärker als zuvor. Und ich befinde mich seit meiner Geburt auf dem Schlachtfeld, lebe immer noch und brauche niemanden, der mich beschützt.«

Sie machte eine Pause.

»Siehst du, wie gebildet ich bin?«

»Sehr gebildet, aber wenn du jemanden angreifst, der schwächer ist als du, zeigst du damit indirekt, dass du Schutz brauchst. Du hast dein ganzes weiteres Studium aufs Spiel gesetzt.«

»Du hast recht, und ich nehme die Einladung an.«