Handbuch Welternährung - Lioba Weingärtner - E-Book

Handbuch Welternährung E-Book

Lioba Weingärtner

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Beschreibung

Von Kanada über Deutschland bis zum Schwarzen Meer brachen im Sommer 2010 die Ernten ein. In Russland brannte der Wald, die Weizenpreise explodierten. In deutschen Supermärkten merkt man davon noch nichts, doch die Krise ist schlimmer denn je. Dies zeigt das »Handbuch Welternährung«, das Standardwerk für alle Praktiker der Entwicklungsarbeit, für NGOs und Journalisten – mit allen aktuellen Daten und Fakten. Die Autorinnen entwerfen eine Agenda für Entwicklungsakteure, die internationale Staatengemeinschaft, aber auch für Konsumenten. Das Handbuch versammelt Erfolgsbeispiele und lässt Stimmen aus den Entwicklungsländern zu Wort kommen, die eindrucksvoll zeigen: Der Kampf gegen den Hunger ist am Ende zehnmal billiger als die Kosten, die er verursacht.

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Information zum Buch

Von Kanada über Deutschland bis zum Schwarzen Meer brachen im Sommer 2010 die Ernten ein. In Russland brannte der Wald, die Weizenpreise explodierten. In deutschen Supermärkten merkt man davon noch nichts, doch die Krise ist schlimmer denn je. Dies zeigt das »Handbuch Welternährung«, das Standardwerk für alle Praktiker der Entwicklungsarbeit, für NGOs und Journalisten – mit allenaktuellen Daten und Fakten. Die Autorinnen entwerfen eine Agenda für Entwicklungsakteure, die internationale Staatengemeinschaft, aber auch für Konsumenten. Das Handbuch versammelt Erfolgsbeispiele und lässt Stimmen aus den Entwicklungsländern zu Wort kommen, die eindrucksvoll zeigen: Der Kampf gegen den Hunger ist am Ende zehnmal billiger als die Kosten, die er verursacht.

Informationen zum Herausgeber

Dr. Lioba Weingärtner ist Ökotrophologin und als Beraterin, Gutachterin und Trainerin für verschiedene nationale und internationale Organisationen in der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe tätig.

Dr. Claudia Trentmann ist Ökotrophologin und Sozialwissenschaftlerin. Sie arbeitet seit 1990 als Beraterin und Gutachterin für verschiedene Organisationen in der Entwicklungszusammenarbeit und begleitet vor allem Projekte im ländlichen Raum in Lateinamerika und Afrika. Das »Handbuch« Welternährung« wird herausgegeben von der Welthungerhilfe in Kooperation mit der Stiftung fiat panis.

Lioba Weingärtner / Claudia Trentmann

Handbuch Welternährung

Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Klaus Töpfer

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2011. Campus Verlag GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

ISBN der Printausgabe: 978-3-593-39354-4

E-Book ISBN: 978-3-593-41094-4

|9|Vorwort

Fast eine Milliarde Menschen hungern, mit anderen Worten: Eintausend Millionen Menschen. Noch konkreter ist dieses Bild: zwölf Mal die Bevölkerung Deutschlands. Täglich sterben etwa 25 000 Menschen an Krankheiten, die von Unterernährung und Hunger ausgelöst werden. Hunger betrifft vor allem Kinder und Kleinkinder mit massiven negativen Konsequenzen für ihr ganzes Leben. Körperliche und geistige Fehlentwicklungen häufen sich bei ihnen als Folge von Unter-, Fehl- und Mangelernährung.

Acht Jahre habe ich in Afrika, in Nairobi in Kenia, gelebt. Nahezu täglich ist man dort mit Armut, Hunger und Hoffnungslosigkeit konfrontiert. Wir sprechen von einer globalisierten Welt – doch diese Welt ist mehr denn je eine geteilte Welt. Dieses Handbuch befasst sich mit den Problemen der Welternährung. Dabei hat das Wort »Ernährungsprobleme« exakt die gegensätzliche Bedeutung, je nachdem, in welcher der zwei Teilwelten es verwendet wird. Für bis zu 75 Prozent der gesamten Menschheit, die in den Entwicklungsländern leben, bedeutet »Ernährungsproblem«: Was ist zu tun, damit alle satt werden, damit Hunger und Fehlernährung besiegt werden können – dauerhaft und verlässlich? Wie kann vermieden werden, auf Hilfsmaßnahmen aus anderen Teilen der Welt angewiesen zu sein – die immer wieder Leben retten?

Dagegen bedeutet »Ernährungsproblem« in den hochentwickelten Ländern: Was ist zu tun, damit Übergewicht, insbesondere bei den Kindern, gestoppt werden kann? Was ist zu tun, damit viele durch Übergewicht verursachte Krankheiten nicht weiter zu Volksseuchen |10|werden und die Krankheitskosten hochtreiben? Und zusätzlich: Wie lange leistet sich diese Gesellschaft den Skandal, dass tagtäglich mehr Nahrungsmittel weggeworfen werden oder verkommen, als erforderlich wäre, um alle Menschen weltweit hinreichend zu ernähren? Bis zu 50 Prozent aller Nahrungsmittel werden in den hochentwickelten Ländern weggeworfen, das sind fast 20 Millionen Tonnen.

Was ist zu tun? Wir alle sind gefragt – als Verbraucherinnen und Verbraucher! Lebenslanges Lernen ist notwendig. Denn auch bei uns gilt: Fehlernährung ist in besonderer Weise ein soziales Problem. Das Bewusstsein für gesunde Ernährung muss in allen sozialen Schichten gelernt werden. Schluss mit der Wegwerfgesellschaft! Hilfen für die Landwirtschaft in Entwicklungsländern sind nötig. Dafür ist es auch notwendig, verstärkt in die Agrarforschung zu investieren. Aus den Fehlern der »Grünen Revolution« der sechziger Jahre, vor allem in Asien, muss gelernt werden: Die Industrialisierung der Landwirtschaft wird die Probleme sicher nicht bewältigen können. Wasser und Böden bilden die entscheidenden Engpässe für die Erzeugung von Lebensmitteln. Hier gilt more crop per drop. Subventionen für Exportprodukte, die die landwirtschaftliche Entwicklung in den Entwicklungsländern erschweren, müssen schnell abgebaut werden. Die gesellschaftliche Ächtung aller Börsenspekulationen auf Nahrungsmittel und Anbauflächen ist unerlässlich.

Hilfe zur Selbsthilfe ist die Herausforderung. Dieses Handbuch soll dabei unterstützen. Es liefert konkrete Daten und Fakten zu den Ursachen und Folgen von Hunger und Unterernährung. Dabei liefert es Beispiele, die Mut machen. Es gehört zur guten Tradition der Welthungerhilfe, das Handbuch Welternährung herauszugeben. Wir danken der Stiftung fiat panis für die finanzielle Unterstützung des Handbuchs. Es erscheint rechtzeitig vor dem fünfzigjährigen Jubiläum der Welthungerhilfe im Jahre 2012. Dass aus dem Buch Taten erwachsen mögen, ist mein aufrichtiger Wunsch an uns alle!

Ihr

Prof. Dr. Klaus Töpfer, Vizepräsident der Welthungerhilfe

|11|Einleitung

Gibt es Hoffnung, den Hunger in der Welt wirksam zu bekämpfen?

Diese Frage beschäftigt seit Jahrzehnten Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Auch immer mehr einzelne Bürger in Wohlstandsgesellschaften stellen das eigene Konsumverhalten infrage. Über Jahrzehnte hinweg suchte man die Lösung in der Entwicklung immer neuer Sorten, einer hoch technisierten Landwirtschaft und in der Produktion von mehr Nahrungskalorien. Doch Technologie allein reicht nicht aus. Die Probleme liegen tiefer.

Es ist die ungleiche Verteilung von Landbesitz, Produktionsmitteln und sozialen Dienstleistungen wie Zugang zu Bildung und Gesundheit, die zu einer unsicheren Ernährungslage führt – und damit zu dem ständigen Kampf um ein elementares Menschenrecht, das Recht auf Nahrung.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass bei uns in Deutschland die Regale in den Supermärkten überquellen und die Preise für Lebensmittel seit Jahrzehnten sinken, während in den Medien über Versorgungskrisen und Hunger in der Welt berichtet wird. Die wenigsten Menschen bei uns bringen die Bilder von Dürren im Sahel, Überschwemmungen in Asien und Hungeraufständen in Haiti mit unserem Alltag in Verbindung. Während die Schicksale der Menschen nach der Jahrhundertflut in Pakistan zumindest kurzfristig in die Öffentlichkeit dringen, bleiben die von vielen Millionen unbeachtet, Menschen, die in Afrika, Asien und Lateinamerika an chronischem Hunger leiden. Und dies ist nicht neu.

Erst wenn sich Nahrungskrisen (wie die im Jahr 2008) zuspitzen |12|und die Nachrichten von Hungerrevolten berichten, Barrikaden in den Slums der Entwicklungsländer brennen und Läden und Wohnungen geplündert werden, geraten die verdrängten Probleme der Welternährung wieder in das öffentliche und politische Bewusstsein. Dann schrecken Politiker, Wissenschaftler und Wirtschaftsunternehmen wieder auf und beeilen sich, die Schäden zu begrenzen. Doch schnell umgesetzte Verteilungsprogramme behandeln nur die Symptome, nicht aber die tiefer liegenden Ursachen.

Der Kampf gegen Hunger und Unterernährung ist nicht nur eine ethische und humanitäre Verpflichtung, sondern auch eine ökonomische, soziale und sicherheitspolitische Aufgabe der internationalen Gemeinschaft. Es muss global und national gehandelt werden. Doch die Politik diskutiert immer noch über Strategien, anstatt konsequent und breitenwirksam zur Tat zu schreiten.

Dabei sind die Ziele klar. In den im Jahr 2000 von der Weltgemeinschaft formulierten Millenniumsentwicklungszielen steht deutlich, dass Armut, Hunger und Unterernährung von Kleinkindern bis zum Jahr 2015 halbiert werden sollen. Zehn Jahre nach dem Aufstellen dieser Forderung zeichnen sich keine wirklichen Fortschritte ab.

Wie Ernährungspolitik innovativ und in neuen Partnerschaften agieren kann, Verpflichtungen effizienter umgesetzt und Kooperationen in und mit den Ländern des Südens nachhaltiger gestaltet werden können, dafür finden Sie in diesem Buch viele Beispiele. Es sind wichtige Ansätze für die Zukunft. Ein Rezept zur Sicherung der Welternährung gibt es nicht. Ernährungssicherung ist Teil eines komplexen gesellschaftlichen Systems, in dem viele politische, wirtschaftliche, ökologische und soziale Elemente zusammenspielen müssen. So zeigen die Autorinnen auch, wie nationale und globale Akteure in Nord und Süd mit einer gemeinsamen Zielsetzung handeln können. Sie bieten Handlungsperspektiven nicht nur für Politiker, Wissenschaftler, Privatwirtschaft und Entwicklungsorganisationen, sondern auch für jeden Einzelnen von uns.

|13|Teil I

Zur Lage der Welternährung

|15|Kapitel 1

Die vielen Gesichter der Fehlernährung

Rekord des Hungers: Jeder sechste Mensch in Entwicklungsländern hat nicht genug zu essen

Weltweit werden viel mehr Nahrungsmittel produziert als verzehrt. Dennoch hungern immer mehr Menschen. Wie ist das möglich? Die Bilanz der Ernährung ist auch eine Bilanz des politischen Scheiterns.

Bis Mitte der neunziger Jahre hatte es Anlass zur Hoffnung gegeben: Die Zahl der Hungernden war über Jahrzehnte gesunken – trotz eines relativ hohen Bevölkerungswachstums. 1996 hatten sich deshalb auf dem Welternährungsgipfel in Rom die Staatschefs von 185 Nationen auf das ehrgeizige Ziel geeinigt, diese Zahl bis 2015 auf die Hälfte zu reduzieren: auf weniger als 420 Millionen Menschen. Heute lässt sich bereits ablesen, dass dieses Versprechen nicht erfüllt werden kann. Seit 2007 ist die Zahl der Menschen, die nicht genug zu essen haben, nicht gesunken, sondern zwischenzeitlich um weitere 200 Millionen angestiegen: auf 1,02 Milliarden. Ein bisher ungekannter Rekord: Er betraf knapp 20 Prozent der Bevölkerung in Entwicklungsländern. Auch wenn sich die globale Situation im Jahr 2010 wieder leicht verbessert hat, bleiben die Zahl und der Anteil der weltweit Hungernden mit 925 Millionen (etwa 16 Prozent) auf einem inakzeptabel hohen Niveau (siehe Abbildung 1).

Die Ursachen für die unzureichenden Fortschritte ab 2005 und die jüngste dramatische Entwicklung der globalen Unterernährung liegen vor allem in steigenden Nahrungsmittelpreisen. Diese Tendenz wurde durch die Energie- und Finanzkrisen weiter verschärft. |16|Ihren bisherigen Höhepunkt hatte die sogenannte »3-F-Crisis«(food, fuel, finance – Nahrung, Energie, Finanzen) im Jahr 2009.

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Abbildung 1 Entwicklung des Hungers zwischen 1969 und 20101

Die Verteilung des Mangels: Asien und Afrika im Zentrum

Unterernährung als Ergebnis mangelnder Nahrungsaufnahme (zu den Definitionen siehe Box 1) verteilt sich sehr unterschiedlich auf die einzelnen Regionen der Welt. Die meisten Betroffenen leben in Asien: 578 Millionen. In Afrika südlich der Sahara sind es 239 Millionen, |17|im Nahen Osten und Nordafrika 37 Millionen. In Lateinamerika und der Karibik hatte sich die Ernährungssituation im Vergleich zu anderen Regionen der Welt bis 2006 zunächst deutlich verbessert. Die Wirtschaftskrise dämpfte jedoch diesen positiven Trend und führte zu einem erneuten leichten Ansteigen der Unterernährung: auf 53 Millionen Menschen. 19 Millionen Hungernde leben außerdem in Industrieländern (siehe Abbildung 2).

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Abbildung 2 Regionale Verteilung der Zahl der Hungernden im Jahr 2010 (in Millionen)2

In Relation zur Gesamtbevölkerung ist der Anteil der Hungernden allerdings in Afrika am größten: mit 26 Prozent. Asien folgt an zweiter Stelle: in Südasien mit 21, in Südostasien mit 14, in Ozeanien mit 12 und in Ostasien mit 10 Prozent. Lediglich in Vorderasien und Nordafrika sowie in Lateinamerika sind jeweils weniger Menschen betroffen. Eine leichte Besserung der Lage zeichnet sich zwar in einigen Regionen (vor allem Asiens) ab, doch die meisten sind noch weit von der Erreichung des ersten »Millenniumsentwicklungsziels (Millenium Development Goal, MDG)« entfernt.

Zur Jahrtausendwende hatte die Weltgemeinschaft in New York acht solcher Millenniumsziele formuliert; neben Fortschritten in den |18|Bereichen Bildung, Gleichberechtigung, Gesundheit, Umwelt und Entwicklungspartnerschaften wurde im »MDG 1« erneut betont, dass der Anteil der Armen und Hungernden auf dieser Erde bis zum Jahr 2015 halbiert werden müsse (gegenüber dem Niveau von 1990, vergleiche hierzu auch Kapitel 4). Dieses Ziel ist bereits jetzt massiv gefährdet. Wie weit der Weg bis dahin noch ist, verdeutlicht Abbildung 3.

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Abbildung 3 Bisheriges Scheitern beim MDG 13

Besonders betroffen: Länder in verlängerten Krisen

Nach neuesten Zahlen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) leben derzeit die Bewohner |19|von 22 Ländern der Erde, viele davon in Afrika, in einer verlängerten Krise (protracted crisis). Verlängerte Krisen sind charakterisiert durch wiederkehrende natürliche Katastrophen und/oder Konflikte, lang andauernde Nahrungskrisen, den Verlust physischer, sozialer, finanzieller, natürlicher und menschlicher Grundlagen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie unzureichende Kapazitäten, auf diese Krisensituationen angemessen reagieren zu können. Länder mit verlängerten Krisen zeigen üblicherweise eine hohe Verbreitung von Hunger – nahezu dreimal so hoch wie in anderen Entwicklungsländern. Allerdings gibt es auch innerhalb dieser Ländergruppe große Unterschiede. In der Elfenbeinküste hungern 14 Prozent der Bevölkerung, in der Demokratischen Republik Kongo 69 Prozent. Und auch innerhalb der Länder sind nicht immer alle Gebiete gleichermaßen betroffen. In Uganda zum Beispiel konzentriert sich die verlängerte Krise mit entsprechenden Ernährungs- und Entwicklungsproblemen auf den Norden und Nordosten des Landes.4

Zu wenig oder zu viel: Maßstäbe des Mangels

Was wird unter »Hunger« verstanden und wie wird er registriert? Welche Arten von Fehlernährung sind zu unterscheiden, um die weltweiten Ernährungsprobleme zu verstehen?

Jeder Mensch braucht im Durchschnitt täglich mindestens 2 100 Kilokalorien (kcal)5, um seinen Energiebedarf zu decken. Alles, was darunter liegt, führt auf Dauer zu Unterernährung. Ob in einem Land ein chronisches Kaloriendefizit vorliegt, wird von der FAO festgestellt, indem sie jährlich Daten über die Bevölkerung (wie Zahl, Alters- und Geschlechtsverteilung) der zur Verfügung stehenden Nahrungsmittelmenge (aus Produktion, Handel und Lagerhaltung) gegenüberstellt. Die Ergebnisse veröffentlicht sie in einem jährlichen Bericht (The State of Food Insecurity in the World).

Selbst in Industrieländern sind Menschen von Unterernährung betroffen. Für Deutschland weist die Nationale Verzehrstudie (2008) aus, dass knapp 2 Prozent der Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 80 Jahren nicht ausreichend Nahrung erhalten. Die Ursachen sind sehr unterschiedlich. Kinder sind häufiger betroffen, wenn sie vernachlässigt werden oder in Armut leben müssen. Bei Jugendlichen stehen dagegen oft psychische Störungen wie Magersucht (Anorexia nervosa) oder Bulimie im Vordergrund – mit einem erschreckend hohen Anteil: In der Altersgruppe der 19- bis 20-Jährigen leiden bis zu 7 Prozent darunter. Im Erwachsenenalter führen organische Krankheiten oder auch eine Alters-Anorexia zu Unterenährung.

|20|Box 1

Definitionen6

Hunger (hunger) beschreibt das subjektive Empfinden, das Menschen nach einer gewissen Zeit des Nahrungsentzugs feststellen. Er wird meist mit den Begriffen Nahrungsmangel oder chronisches Kaloriendefizit (undernourishment) gleichgesetzt. Es steht nicht genug Nahrungsenergie zur Verfügung, um den Mindestenergiebedarf des menschlichen Körpers zu decken.

Fehlernährung (malnutrition) bezeichnet entweder eine im Vergleich zum Bedarf zu hohe oder zu niedrige Aufnahme von Nahrungsenergie (Kalorien), die dann zu Über- oder Unterernährung führt.

Unterernährung (undernutrition) ist das Ergebnis von unzureichender Nahrungsaufnahme oder mangelhaften Gesundheits- und Hygienebedingungen, die den Körper daran hindern, die aufgenommene Nahrung angemessen zu verwerten.

Überernährung (overnourishment) tritt dann auf, wenn die Aufnahme von Nahrungsenergie kontinuierlich den Bedarf überschreitet.

Reicht die bereitgestellte Nahrung nicht aus, um den Bedarf an bestimmten Vitaminen (zum Beispiel Vitamin A) und Mineralstoffen (etwa Jod oder Eisen) zu decken, weil das Angebot zu einseitig ist oder ein erhöhter Bedarf vorliegt, spricht man von Mikronährstoffdefiziten oder auch »verstecktem Hunger«.

Um Unterernährung bekämpfen zu können, ist es wichtig zu wissen, welche Faktoren sie beeinflussen. Leidtragende sind häufig |21|Frauen und Kinder, die durch Schwangerschaft, Stillphase oder Wachstumsschübe einen besonderen Bedarf an Nahrungsenergie und Nährstoffen wie Proteinen, Vitaminen und Mineralstoffen haben. Aber auch soziale Faktoren begünstigen den Hunger, wie Box 2 zeigt.

Box 2

Gruppen, die anfällig sind für Nahrungs- und Ernährungsunsicherheit7

Randgruppen in Vorstädten

Arbeitslose

Neu zugezogene Familien

Slumbewohner

Gelegenheitsarbeiter

Obdachlose und Bettler

Waisen und Straßenkinder

Migranten und ihre Familien

Saisonarbeiter mit großen Familien

Zurückgelassene Familienmitglieder (meist Frauen) aufgrund von Migration

Konfliktopfer

Flüchtlinge

Vertriebene im eigenen Land

Rückkehrende Flüchtlinge oder Binnenvertriebene ohne Landbesitz

Kriegsinvaliden

Kriegswitwen und -waisen

Arme Haushalte in ungünstigen Lebenslagen

Subsistenzbauern

Von Frauen geführte Haushalte/ Alleinerziehende

Landlose Bauern, Fischer

Nomaden, Hirten

Tagelöhner

Abhängige Familienmitglieder in armen Haushalten

Ältere Menschen

Kranke und Behinderte

Schwangere und Stillende

Kinder unter 5 Jahren, Alleinstehende

Soziale Risikogruppen

Indigene Völker (einheimische Ethnien)

Ethnische Minderheiten

Analphabeten

Armut als Risikofaktor für Hunger wird durch die Rezession der Weltwirtschaft und den Anstieg der Nahrungsmittelpreise vergrößert. Zwar leiden darunter eher Landlose und städtische Bevölkerungsgruppen, |22|weil sie Nahrung kaufen müssen. Doch auch unter den Bauern in Entwicklungsländern gibt es viele, die nicht genug produzieren, um ihre Familien zu ernähren, und ebenfalls Lebensmittel kaufen müssen. Außerdem versuchen immer wieder Migranten aus der Stadt ihr Überleben auf dem Land zu sichern, wie in der jüngsten Wirtschaftskrise unter anderem in China oder nach dem Erdbeben auf Haiti. Doch die natürlichen Ressourcen, Land und Beschäftigung können den Bedarf so vieler Menschen oft nicht decken.

Ob eine Familie in die Armut und damit in den Hunger abrutscht, hängt letztlich davon ab, ob sie einen Spielraum für »Risikomanagement« und Anpassungsstrategien hat, was für die in Box 2 genannten Gruppen in der Regel nicht mehr zutrifft.

Was oft nicht sichtbar ist: versteckter Hunger

Viele Menschen in Entwicklungsländern ernähren sich überwiegend von Reis, Mais, Hirse oder einem anderen Grundnahrungsmittel. So erhalten sie zwar unter Umständen ausreichend Nahrungsenergie, aber nicht das notwendige Spektrum an Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen, die der Mensch benötigt. Das führt langfristig zu gesundheitlichen Schäden. Diese Form von Mangelernährung wird auch »versteckter Hunger« (hidden hunger) genannt.

Vitamin- und Mineralstoffmangel schränkt die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit ein. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) betrifft dies über zwei Milliarden Menschen, das ist knapp ein Drittel der Weltbevölkerung. In den Entwicklungsländern ist sogar jedes zweite Kind durch diesen »versteckten Hunger« geschwächt.

Schwere Schäden durch Eisen-, Jod- und Vitamin-A-Mangel drohen:

Eisen benötigt der Körper zur Bildung von roten Blutkörperchen. Dieser Mineralstoff ist vor allem in tierischen Lebensmitteln enthalten, kommt aber auch in pflanzlichen vor. Eine eisenarme Ernährungsweise |23|führt langfristig zu Blutarmut (Anämie). Weltweit leiden ungefähr 25 Prozent der Bevölkerung (ungefähr 1,5 Milliarden Menschen) unter Eisenmangelanämie, die meisten von ihnen sind Kinder im Vorschulalter und Frauen. Etwa die Hälfte der Schwangeren in Entwicklungsländern ist davon betroffen. Der höchste Anteil anämischer Vorschulkinder lebt mit 68 Prozent in Afrika.

Jod ist ein wichtiger Bestandteil für den Aufbau lebenswichtiger Schilddrüsenhormone. Dieser Mikronährstoff kommt vor allem in Seefisch und Meeresfrüchten vor. Menschen, die kaum Zugang zu diesen Nahrungsressourcen haben, zum Beispiel in Bergregionen, leiden häufig unter Jodmangel und können den sogenannten Jodmangelkropf entwickeln. Obwohl viele Menschen von jodiertem Speisesalz profitieren, ist der Anteil der von Jodmangel betroffenen Bevölkerung mit 52 Prozent in Europa am höchsten. In Afrika liegt er bei 42 Prozent.

Vitamin A wird für alle Körpergewebe und ihr Wachstum benötigt. Es spielt auch eine wichtige Rolle für das Immunsystem des Menschen. Dieser Wirkstoff ist lebensnotwendig, wird aber nicht vom Organismus selbst produziert. Er ist vor allem in Eiern, Fisch und Milch und als Vorstufe Karotin in Fisch, gelben Gemüsen und Früchten sowie in Blattgemüsen und rotem Palmöl enthalten. Ein Vitamin-A-Defizit ist in Entwicklungsländern der häufigste Vitaminmangel. Auch wenn klinische Symptome wie Sehstörungen (Nachtblindheit) bis hin zur völligen Erblindung im Laufe der Jahrzehnte zurückgegangen sind, zeigen sich Anfangssymptome (niedriger Blutwert von Vitamin A) noch immer häufig. Nach Schätzungen erhalten 33 Prozent der Kinder im Vorschulalter und 15 Prozent der schwangeren Frauen in Afrika, Asien und einigen Ländern Südamerikas mit ihrer täglichen Nahrung nicht genügend Vitamin A. In Afrika und Asien ist der Anteil dieser Mangelerscheinung bei Kleinkindern besonders groß. Er liegt dort bei über 40 Prozent. Vitamin-A-Mangel betrifft aber auch einige Länder Südamerikas.8

|24|Unterernährung: akut oder chronisch?

Hunger kann ein akuter oder chronischer Zustand sein. Darüber geben verschiedene Körpermessungen Auskunft (Anthropometrie, siehe Box 3). Da vor allem Neugeborene und Kleinkinder (bis zu fünf Jahren) besonders schnell auf unzureichende Nahrungsversorgung reagieren, wird ihr Zustand als Indikator für den Ernährungszustand der Gesamtbevölkerung verwendet. Im Fokus stehen aber auch andere Menschen mit spezifischen Bedürfnissen oder in speziellen Notsituationen, die auf externe Unterstützung zur Sicherung ihrer Ernährung angewiesen sind. Das betrifft insbesondere Frauen und Kinder sowie Menschen, die vor lang andauernden bewaffneten Konflikten flüchten, zum Beispiel im Sudan oder in Afghanistan. Es gilt aber auch in eingeschränktem Rahmen für ältere und kranke Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind und wenig Unterstützung erfahren.

Für sie gilt ein im Verhältnis zur Größe zu geringes Körpergewicht – berechnet als Body Mass Index (BMI, siehe Box 3) – als Indikator für Unterernährung.

Von Generation zu Generation: vererbtes Defizit

Eine angemessene Ernährung ist in allen Lebensphasen wichtig. Wird Unterernährung nicht bereits in den ersten Lebensmonaten aufgefangen, reichen langfristige Schäden häufig bis ins Erwachsenenalter. Irgendwann geben dann Frauen ihre Unterernährung weiter an ihre Kinder. So erhält sich ein Lebenszyklus der Unterernährung über Generationen (siehe Abbildung 4), wenn er nicht aktiv unterbunden wird.

Die besonders kritische Lebensphase vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Alter von 24 Monaten wird window of opportunity genannt, weil sie eine wichtige Chance für vorsorgliche wie therapeutische Interventionen bietet.

|25|Box 3

Messbare Indikatoren für Unter- oder Überernährung9

Akute Unterernährung (Auszehrung, wasting) tritt bei akutem Nahrungsmangel und/oder akuter (Infektions-)Krankheit auf. Sie wird durch das Verhältnis des Körpergewichts zur Körpergröße bei Kleinkindern bestimmt.

Chronische Unterernährung (Wachstumsverzögerung, stunting) als Ergebnis von chronischem Nahrungsmangel und/oder chronischer bzw. wiederkehrender (Infektions-)Krankheiten und anderer Entwicklungsprobleme wird durch das Verhältnis von Körpergröße zum Alter des Kleinkindes bestimmt. Stunting wird auch als Armutsindikator verstanden.

Untergewicht (underweight) ist Folge akuter oder auch chronischer Unterernährung und wird durch ein zu geringes Körpergewicht im Verhältnis zum Alter angezeigt.

Geringes Geburtsgewicht (low birth weight) liegt vor, wenn ein Neugeborenes mit einem Gewicht unter 2500 Gramm zur Welt kommt. Dies kann Folge einer Unterversorgung im Mutterleib sein und weist auf Unterernährung und/oder Gesundheitsprobleme der Mutter hin.

Unterernährung bei Erwachsenen liegt vor, wenn der Body Mass Index (BMI) unter den Wert von 18,5 fällt. Der BMI errechnet sich aus dem Körpergewicht (in kg) im Verhältnis zur Körpergröße zum Quadrat (m2).

Übergewicht (overweight) und Adipositas (obesity) liegen vor, wenn die Ernährungsindikatoren bei Kleinkindern (gemessen an Körpergewicht/Körpergröße) sowie bei Erwachsenen (gemessen am BMI) über festgelegten Grenzwerten liegen.

In Entwicklungsländern wiegen durchschnittlich 16 Prozent der Säuglinge (insgesamt 19 Millionen) bei der Geburt weniger als 2 500 Gramm. In Asien ist dieser Anteil mit 18 Prozent am größten. In einzelnen Ländern ist die Situation noch gravierender, zum Beispiel wird der Prozentsatz der untergewichtigen Säuglinge in Mauretanien, Pakistan, Sudan und Yemen auf über 30 geschätzt. Die größte Anzahl wird mit 7,4 Millionen Neugeborenen in Indien registriert.10

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Abbildung 4 Intergenerationenzyklus der Unterernährung11

Ein zu ehrgeiziges Ziel: Halbierung von Untergewicht

Kinder sind wegen ihres intensiven Stoffwechsels besonders anfällig für Mangelerscheinungen und deshalb auch am stärksten von Unterernährung betroffen. Untergewicht bei Kleinkindern bis fünf Jahre wurde deshalb als messbarer und vergleichbarer Indikator für die Erreichung des ersten Millenniumsentwicklungsziels (MDG 1) ausgewählt. Eine Zwischenbilanz zeigt einen positiven Trend in allen Weltregionen: Global ist der Anteil untergewichtiger Kinder zwischen 1990 und 2008 von 31 auf 26 Prozent gesunken. Einzige Ausnahme ist Westasien (siehe Abbildung 5). Die ehrgeizigen Ziele des |27|MDG 1 haben jedoch bisher nur einzelne Regionen fast oder vollständig erreicht (Ostasien, Lateinamerika und Karibik). Andere, wie Südostasien und Nordafrika, sind auf gutem Weg.

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Abbildung 5 Anteil der untergewichtigen Kleinkinder (bis fünf Jahre) nach Regionen im Vergleich 1990 und 2008 (in Prozent)12

Dennoch ist äußerst fraglich, ob der positive Trend bestehen bleibt und das MDG 1 erreicht werden kann: In Entwicklungsländern ist weiterhin jedes vierte Kleinkind untergewichtig, das betrifft rund 129 Millionen Kinder unter fünf Jahren. Zehn Prozent dieser Gruppe sind sogar schwer untergewichtig.13

Fragile Risikogruppe: akute und chronische Unterernährung bei Kleinkindern

Dreeizehn Prozent der Kleinkinder im Alter bis fünf Jahre sind in den Entwicklungsländern akut unterernährt. Das sind insgesamt 26 Millionen Betroffene. In Asien sind 17 Prozent der Kleinkinder akut unterernährt, in Afrika 10 (siehe Abbildung 6). Sechzig Prozent der weltweit betroffenen Kleinkinder leben in nur zehn Ländern (Indien, Nigeria, Pakistan, Bangladesch, Indonesien, Äthiopien, Demokratische |28|Republik Kongo, Sudan, Ägypten, Philippinen). Kleinkinder in ländlichen Regionen und armen Haushalten sind dabei generell häufiger betroffen als solche in städtischen Gebieten und aus besser situierten Familien.16

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Abbildung 6 Verbreitung von akuter Unterernährung bei Kleinkindern14

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Abbildung 7 Verbreitung von chronischer Unterernährung bei Kleinkindern15

Besonders bedenklich ist die Tatsache, dass ein weit höherer Prozentsatz an Kleinkindern chronisch unterernährt ist. Verzögerungen im Wachstum weisen weltweit 34 Prozent der Kinder auf – also jedes |29|dritte. In Asien sind es noch mehr, nämlich 36, und in Afrika 40 Prozent. Neun Länder halten einen traurigen Rekord: Dort sind mehr als die Hälfte der Kleinkinder von chronischer Unterernährung betroffen. |30|Afghanistan steht dabei mit 59 Prozent an der Spitze (siehe Abbildung 7).

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Abbildung 8 Länder mit der höchsten Verbreitung von chronischer Unterernährung bei Kleinkindern17

|30|80 Prozent der chronisch unterernährten Kleinkinder verteilen sich auf 24 Länder. Die absolut höchste Zahl ist in Indien anzutreffen – knapp 61 Millionen (48 Prozent), gefolgt von China und Nigeria (siehe Abbildung 8). Die WHO spricht bereits ab 40 Prozent von einem kritischen Ausmaß,18 das dringender Abhilfe bedarf.

Mangel und Überfluss: Adipositas

Eine ganz andere, aber nicht weniger bedrohliche Seite der Fehlernährung ist die rasant wachsende Zahl übergewichtiger Menschen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sind mehr als eine Milliarde Menschen davon betroffen – annähernd gleich viele wie vom Hunger. Das ist eine große Herausforderung für das öffentliche Gesundheitssystem der betroffenen Länder.

Ist die Kalorienzufuhr im Vergleich zum Energiebedarf des Körpers zu hoch, entstehen langfristig Übergewicht und Fettleibigkeit (Adipositas). Davon sind Menschen aller Altersgruppen und unterschiedlicher sozialer und ökonomischer Milieus betroffen. Besonders gravierend ist eine einseitige Energiebilanz bereits bei Kindern: Weltweit sind etwa 20 Millionen Kinder unter 5 Jahren zu dick.19

Auch wenn Übergewicht immer noch als Problem der industrialisierten Länder gilt, so leben doch zwei von drei übergewichtigen Menschen bereits in Entwicklungs- oder Transformationsländern mit stark wachsenden Volkswirtschaften und einem hohen Bedarf an Nahrungsmitteln und Importgütern. Dort gibt es auch sehr viele übergewichtige Kleinkinder (siehe Abbildung 9).

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Abbildung 9 Überernährung bei Kleinkindern20

Die doppelte Last: Hunger und Fettsucht

Die Diskussion über die Ernährungssituation in Entwicklungsländern wurde lange Zeit durch das Thema Unterernährung bestimmt. Der Wandel von Ernährungsmustern (nutrition transition) hat jedoch dazu geführt, dass Übergewicht zu einem neuen, drängenden Problem wird – häufig ausgelöst durch Armut und schlechte Ernährungsgewohnheiten bei Säuglingen und Kleinkindern. Die traditionelle Ernährung wird zusehends von hochenergiereichen, häufig stark verarbeiteten Lebensmitteln (Convenience-Produkten) mit einem hohen Fett- und Zuckergehalt abgelöst. Mit wachsendem Einkommen steigt auch der Anteil an tierischen Lebensmitteln (siehe Abbildung 10).21

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Abbildung 10 Wachsender Konsum von Fleisch und anderen tierischen Lebensmitteln22

Die Verstädterung ist einer der Gründe, warum immer häufiger verarbeitete Lebensmittel verzehrt werden, zum Beispiel in der Außer-Haus-Verpflegung. Traditionelle und reichhaltige, frisch zubereitete Mahlzeiten treten in den Hintergrund – es fehlen die Anbauflächen sowie die Zeit und Möglichkeiten für die Zubereitung. Die Nährstoffzusammensetzung |33|der Fertignahrung ist oft unzureichend und unausgewogen. Sie kann regionale, vollwertige Nahrung mit einem hohen Anteil an frischem Gemüse und Obst nicht ersetzen.

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Abbildung 11 Die doppelte Last der Fehlernährung23

Seit langem existieren Unterernährung und Überernährung nebeneinander – nicht nur global, sondern auch innerhalb einzelner Länder, Gemeinschaften und manchmal sogar Familien. Hier wird von der »doppelten Last der Fehlernährung« gesprochen.24 Daten |34|aus 24 Ländern zeigen, dass angesichts hoher Verbreitung von chronischer Unterernährung bei Kleinkindern und Frauen dennoch auch Übergewicht auftreten kann (siehe Abbildung 11).

Nahrung allein ist noch keine angemessene Ernährung

Wenn alle Menschen eines Landes zu jedem Zeitpunkt Zugang zu Nahrungsmitteln in ausreichender Menge und Qualität haben, um ein gesundes und aktives Leben führen zu können, und dabei auch noch die jeweiligen Essgewohnheiten berücksichtigt werden, spricht man von Nahrungssicherheit (food security) einer Bevölkerung.

Dennoch ist sie nicht gleichzusetzen mit angemessener Ernährung: Ist zum Beispiel der Organismus krank und geschwächt, etwa durch Infektionen aufgrund von verseuchtem Wasser oder fehlender Hygiene, kann die aufgenommene Nahrung nicht richtig verwertet und genutzt werden. Der Körper benötigt daher beides: eine ausreichende Menge und Qualität an Nahrung sowie das notwendige gesundheitliche Umfeld. Erst dann ist auch Ernährungssicherheit (nutrition security) gewährleistet. Deshalb müssen Nahrung und Ernährung Hand in Hand gehen. Genügend Nahrung ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine angemessene Ernährung (siehe Box 4).

Ernährungssicherheit muss Thema unterschiedlicher Politikfelder sein. Insbesondere die Landwirtschaft, das Gesundheitssystem und das Bildungswesen sind gefragt. Nur wenn alle diese Aspekte berücksichtigt und verknüpft werden, kann Ernährungssicherheit erreicht werden.

Der Welthunger-Index (WHI) misst die komplexen Zusammenhänge von Nahrungs- und Ernährungsunsicherheit. Er setzt drei Indikatoren gleichgewichtig miteinander in Beziehung: den Anteil der Hungernden an der Bevölkerung (Nahrungsunsicherheit), den Anteil der Kinder unter fünf Jahren mit Untergewicht (Ernährungsunsicherheit) |35|und die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren (Folge von Unterernährung und Krankheiten).

Box 4

Nahrungssicherheit – Ernährungssicherheit25

Nahrungssicherheit (food security) ist nach FAO-Definition ein Zustand, in dem alle Menschen zu jeder Zeit Zugang zu sicheren und nahrhaften Lebensmitteln haben, um ein gesundes und aktives Leben zu führen. Mit dem deutschen Begriff Nahrungssicherung wird der Weg oder Prozess in Richtung Nahrungssicherheit bezeichnet.

Ernährungssicherheit (nutrition security) ist mehr: Neben dem Zugang zu quantitativ und qualitativ angemessener Nahrung umfasst der Begriff auch den Zugang zu ausreichender Gesundheitsversorgung und sozialer Fürsorge einschließlich einer gesunden Umwelt, sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen. Mit dem deutschen Begriff Ernährungssicherung wird der Weg oder Prozess in Richtung Ernährungssicherheit bezeichnet.

Deutlich von diesen Begriffen abzugrenzen ist die Lebensmittelsicherheit (food safety). Darunter wird die hygienische, mikrobiologische und den Schadstoffgehalt betreffende Unbedenklichkeit von Lebensmitteln für den menschlichen Verzehr verstanden.

Entwickelt vom Internationalen Forschungsinstitut für Ernährungspolitik (IFPRI) in Washington und 2006 gemeinsam mit der Welthungerhilfe erstmals veröffentlicht, ist der WHI ein umfassendes Abbild der Dimensionen von Ernährungsunsicherheit. Der Index bewegt sich zwischen den Werten 0 (kein Hunger) und 100, wobei Werte ab 30 bereits ein gravierendes Niveau von Ernährungsunsicherheit anzeigen. Vergleicht man die Entwicklung des WHI zwischen 2000 und 2009, werden Gewinner und Verlierer deutlich (siehe Abbildung 12).

Der WHI wird jährlich veröffentlicht. Er bildet zwar die Vergangenheit ab, weil er auf bereits vorhandene Daten aus nationalen und internationalen Quellen über die Unterernährung und Kindersterblichkeit zurückgreift. Dennoch ist er bedeutsam für eine aktive Politikgestaltung |36|