Baltasar Gracián
Handorakel und Kunst der Weltklugheit (300 Weisheiten für jede Lebenslage)
Die Kunst der taktisch-klugen Lebensführung
Übersetzer: Arthur Schopenhauer
ISBN 978-80-268-5173-8
Inhaltsverzeichnis
An den Leser
1. Alles hat heut zu Tage seinen Gipfel erreicht,
2. Herz und Kopf:
3. Ueber sein Vorhaben in Ungewißheit lassen.
4. Wissenschaft und Tapferkeit
5. Abhängigkeit begründen.
6. Seine Vollendung erreichen.
7. Sich vor dem Siege über Vorgesetzte hüten.
8. Leidenschaftslos sehn
9. Nationalfehler verleugnen.
10. Glück und Ruhm:
11. Mit dem umgehen, von dem man lernen kann.
12. Natur und Kunst:
13. Bald aus zweiter, bald aus erster Absicht handeln.
14. Die Sache und die Art.
15. Aushelfende Geister haben.
16. Einsicht mit redlicher Absicht:
17. Abwechselung in der Art zu verfahren:
18. Fleiß und Talent:
19. Nicht unter übermäßigen Erwartungen auftreten.
20. Der Mann seines Jahrhunderts.
21. Die Kunst Glück zu haben.
22. Ein Mann von willkommenen Kenntnissen.
23. Ohne Makel seyn:
24. Die Einbildungskraft zügeln,
25. Winke zu verstehen wissen.
26. Die Daumschraube eines Jeden finden.
27. Das Intensive höher als das Extensive schätzen.
28. In nichts gemein:
29. Ein rechtschaffener Mann seyn:
30. Sich nicht zu Beschäftigungen bekennen, die in schlechtem Ansehen stehen,
31. Die Glücklichen und Unglücklichen kennen,
32. Im Rufe der Gefälligkeit stehen.
33. Sich zu entziehen wissen.
34. Seine vorherrschende Fähigkeit kennen,
35. Nachdenken, und am meisten über das,
36. Sein Glück erwogen haben;
37. Stichelreden kennen und anzuwenden verstehen.
38. Vom Glücke beim Gewinnen scheiden:
39. Den Punkt der Reife an den Dingen kennen,
40. Gunst bei den Leuten.
41. Nie übertreiben.
42. Von angeborner Herrschaft.
43. Denken wie die Wenigsten und reden wie die Meisten.
44. Mit großen Männern sympathisiren.
45. Von der Schlauheit Gebrauch, nicht Mißbrauch machen.
46. Seine Antipathie bemeistern.
47. Ehrensachen meiden.
48. Gründlichkeit und Tiefe:
49. Scharfblick und Urtheil.
50. Nie setze man die Achtung gegen sich selbst aus den Augen,
51. Zu wählen wissen.
52. Nie aus der Fassung gerathen.
53. Tätigkeit und Verstand.
54. Haare auf den Zähnen haben.
55. Warten können.
56. Geistesgegenwart haben.
57. Sicherer sind die Ueberlegten:
58. Sich anzupassen verstehen.
59. Das Ende bedenken.
60. Gesundes Urtheil.
61. Das Höchste, in der höchsten Gattung:
62. Sich guter Werkzeuge bedienen.
63. Es ist ein großer Ruhm, der erste in der Art zu seyn,
64.
65. Erhabener Geschmack.
66. Den glücklichen Ausgang im Auge behalten
67. Beifällige Aemter vorziehen.
68. Es ist von höherm Werth, Verstand als Gedächtniß zu leihen:
69. Sich nicht gemeiner Launenhaftigkeit hingeben.
70. Abzuschlagen verstehn.
71. Nicht ungleich seyn:
72. Ein Mann von Entschlossenheit.
73. Vom Versehn Gebrauch zu machen wissen.
74. Nicht von Stein seyn.
75. Sich ein heroisches Vorbild wählen:
76. Nicht immer Scherz treiben.
77. Sich Allen zu fügen wissen:
78. Kunst im Unternehmen.
79. Joviales Gemüth.
80. Bedacht im Erkundigen.
81. Seinen Glanz erneuern.
82. Nichts bis auf die Hefen leeren,
83. Sich verzeihliche Fehler erlauben:
84. Von den Feinden Nutzen ziehn
85. Nicht die Manille4 sehn.
86. Uebler Nachrede vorbeugen.
87. Bildung und Eleganz.
88. Das Betragen sei großartig, Erhabenheit anstrebend.
89. Kenntniß seiner selbst,
90. Kunst lange zu leben.
91. Nie bei Skrupeln über Unvorsichtigkeit zum Werke schreiten
92. Überschwenglicher Verstand.
93. Universalität.
94. Unergründlichkeit der Fähigkeiten.
95. Die Erwartung rege erhalten:
96. Die große Obhut seiner selbst.
97. Ruf erlangen und behaupten:
98. Sein Wollen nur in Ziffernschrift.
99. Wirklichkeit und Schein.
100. Ein vorurteilsfreier Mann,
101. Die eine Hälfte der Welt lacht über die andre,
102. Für große Bissen des Glücks einen Magen haben.
103. Jeder sei, in seiner Art, majestätisch.
104. Den Aemtern den Puls gefühlt haben.
105. Nicht lästig seyn .
106. Nicht mit seinem Glücke prahlen.
107. Keine Selbstzufriedenheit zeigen.
108. Sich gut zu gesellen verstehn, ist der kürzeste Weg ein ganzer Mann zu werden.
109. Kein Ankläger seyn.
110. Nicht abwarten, daß man eine untergehende Sonne sei.
111. Freunde haben.
112. Sich Liebe und Wohlwollen erwerben:
113. Im Glück aufs Unglück bedacht seyn.
114. Nie ein Mitbewerber seyn.
115. Sich an die Karakterfehler seiner Bekannten gewöhnen:
116. Sich nur mit Leuten von Ehr- und Pflichtgefühl abgeben.
117. Nie von sich reden.
118. Den Ruf der Höflichkeit erwerben:
119. Sich nicht verhaßt machen.
120. Sich in die Zeiten schicken.
121. Nicht eine Angelegenheit aus dem machen, was keine ist.
122. Im Reden und Thun etwas Imponirendes haben.
123. Ohne Affektation seyn.
124. Es dahin bringen, daß man zurückgewünscht wird.
125. Kein Sündenregister seyn.
126. Dumm ist nicht, wer eine Dummheit begeht; sondern wer sie nachher nicht zu bedecken versteht.
127. Edle, freie Unbefangenheit bei Allem.
128. Hoher Sinn:
129. Nie sich beklagen.
130. Thun und sehn lassen.
131. Adel des Gemüths.
132. Zweimal überlegen.
133. Besser mit Allen ein Narr, als allein gescheut,
134. Die Erfordernisse des Lebens doppelt besitzen:
135. Keinen Widerspruchsgeist hegen:
136. Sich in den Materien festsetzen
137. Der Weise sei sich selbst genug.
138. Kunst die Dinge ruhen zu lassen:
139. Die Unglückstage kennen:
140. Gleich auf das Gute in jeder Sache treffen.
141. Nicht sich zuhören.
142. Nie aus Eigensinn sich auf die schlechtere Seite stellen, weil der Gegner sich bereits auf die bessere gestellt hat.
143. Nicht, aus Besorgniß trivial zu seyn, paradox werden.
144. Mit der fremden Angelegenheit auftreten, um mit der seinigen abzuziehn.
145. Nicht den schlimmen Finger zeigen:
146. Ins Innere schauen:
147. Nicht unzugänglich seyn.
148. Die Kunst der Unterhaltung besitzen:
149. Das Schlimme Andern aufzubürden verstehn.
150. Seine Sachen herauszustreichen verstehn.
151. Voraus denken,
152. Nie sich zu dem gesellen, durch den man in den Schatten gestellt wird;
153. Man hüte sich einzutreten, wo eine große Lücke auszufüllen ist:
154. Nicht leicht glauben und nicht leicht lieben.
155. Die Kunst, in Zorn zu gerathen.
156. Die Freunde seiner Wahl:
157. Sich nicht in den Personen täuschen,
158. Seine Freunde zu nutzen verstehn.
159. Die Narren ertragen können.
160. Aufmerksamkeit auf sich im Reden:
161. Seine Lieblingsfehler kennen.
162. Ueber Nebenbuler und Widersacher zu triumphiren verstehn
163. Nie, aus Mitleid gegen den Unglücklichen, sein Schicksal auch sich zuziehen
164. Einige Luftstreiche thun,
165. Ein redlicher Widersacher seyn
166. Den Mann von Worten von dem von Werken unterscheiden
167. Sich zu helfen wissen
168. Nicht zu einem Ungeheuer von Narrheit werden.
169. Mehr darauf wachen, nicht Ein Mal zu fehlen, als hundert Mal zu treffen
170. Bei allen Dingen stets etwas in Reserve haben
171. Die Gunst nicht verbrauchen
172. Sich nicht mit dem einlassen, der nichts zu verlieren hat
173. Nicht von Glas seyn im Umgang, noch weniger in der Freundschaft
174. Nicht hastig leben
175. Ein Mann von Gehalt seyn
176. Einsicht haben, oder den anhören, der sie hat
177. Den vertraulichen Fuß im Umgang ablehnen
178. Seinem Herzen glauben,
179. Die Verschwiegenheit ist das Stempel eines fähigen Kopfes
180. Nie sich nach dem richten, was der Gegner jetzt zu thun hätte
181. Ohne zu lügen, nicht alle Wahrheiten sagen
182. Ein Gran Kühnheit bei Allem, ist eine wichtige Klugheit
183. Nichts gar zu fest ergreifen
184. Nicht ceremoniös seyn
185. Nie sein Ansehn von der Probe eines einzigen Versuchs abhängig machen
186. Fehler als solche erkennen, auch wenn sie in noch so hohem Ansehn stehen
187. Was Gunst erwirbt, selbst verrichten, was Ungunst, durch Andre
188. Löbliches zu berichten haben.
189. Sich den fremden Mangel zu Nutze machen:
190. In Allem seinen Trost finden.
191. Nicht an der großen Höflichkeit sein Genügen haben:
192. Friedfertig leben, lange leben.
193. Dem aufpassen, der mit der fremden Angelegenheit auftritt, um mit der eigenen abzuziehen.
194. Von sich und seinen Sachen vernünftige Begriffe haben:
195. Zu schätzen wissen.
196. Seinen Glücksstern kennen.
197. Sich keine Narren auf den Hals laden:
198. Sich zu verpflanzen wissen.
199. Sich Platz zu machen wissen, als ein Kluger, nicht als ein Zudringlicher.
200. Etwas zu wünschen übrig haben,
201. Narren sind Alle, die es scheinen, und die Hälfte derer, die es nicht scheinen.
202. Reden und Thaten machen einen vollendeten Mann.
203. Das ausgezeichnet Große seines Jahrhunderts kennen.
204. Man unternehme das Leichte, als wäre es schwer, und das Schwere, als wäre es leicht:
205. Die Verachtung zu handhaben verstehen
206. Man soll wissen, daß es Pöbel überall giebt,
207. Sich mäßigen
208. Nicht an der Narrenkrankheit sterben
209. Sich von allgemeinen Narrheiten frei halten,
210. Die Wahrheit zu handhaben verstehn
211. Im Himmel ist Alles Wonne,
212. Die letzten Feinheiten der Kunst stets zurückbehalten.
213. Zu widersprechen verstehn.
214. Nicht aus Einem dummen Streich zwei machen:
215. Dem aufpassen, der mit der zweiten Absicht herankommt.
216. Die Kunst des Ausdrucks besitzen:
217. Nicht auf immer lieben, noch hassen
218. Nie aus Eigensinn handeln, sondern aus Einsicht.
219. Man gelte nicht für einen Mann von Verstellung,
220. Wer sich nicht mit der Löwenhaut bekleiden kann, nehme den Fuchspelz.
221. Nicht leicht Anlaß nehmen, sich oder Andre in Verwickelungen zu bringen.
222. Zurückhaltung ist ein sicherer Beweis von Klugheit.
223. Weder aus Affektation, noch aus Unachtsamkeit, etwas ganz Besonderes an sich haben.
224. Die Dinge nie wider den Strich nehmen, wie sie auch kommen mögen.
225. Seinen Hauptfehler kennen.
226. Stets aufmerksam seyn, Verbindlichkeiten zu erzeigen.
227. Nicht dem ersten Eindruck angehören.
228. Kein Lästermaul seyn:
229. Sein Leben verständig einzutheilen verstehn;
230. Die Augen bei Zeiten öffnen.
231. Nie seine Sachen sehen lassen, wann sie erst halb fertig sind:
232. Einen ganz kleinen kaufmännischen Anstrich haben.
233. Den fremden Geschmack nicht verfehlen
234. Nie die Ehre Jemandem in die Hände geben, ohne die seinige zum Unterpfand zu haben.
235. Zu bitten verstehn.
236. Eine vorhergängige Verpflichtung aus dem machen, was nachher Lohn gewesen wäre.
237. Nie um die Geheimnisse der Höheren wissen.
238. Wissen welche Eigenschaft uns fehlt.
239. Nicht spitzfindig sehn;
240. Von der Dummheit Gebrauch zu machen verstehn.
241. Neckereien dulden, jedoch nicht ausüben.
242. Den günstigen Erfolg weiter führen.
243. Nicht gänzlich eine Taubennatur haben;
244. Zu verpflichten verstehn.
245. Originelle und vom Gewöhnlichen abweichende Gedanken äußern,
246. Nie dem Rechenschaft geben, der sie nicht gefordert hat,
247. Etwas mehr wissen und etwas weniger leben.
248. Der Letzte behalte bei uns nicht allemal Recht.
249. Nicht sein Leben mit dem anfangen, womit man es zu beschließen hätte.
250. Wann hat man die Gedanken auf den Kopf zu stellen?
251. Man wende die menschlichen Mittel an, als ob es keine göttliche, und die göttlichen, als ob es keine menschliche gäbe.
252. Weder ganz sich, noch ganz den Andern angehören:
253. Keinen allzu deutlichen Vortrag haben.
254. Ein Uebel nicht geringachten, weil es klein ist
255. Gutes zu erzeigen verstehn
256. Allezeit auf seiner Hut sehn gegen Unhöfliche, Eigensinnige, Anmaaßliche und Narren jeder Art
257. Es nie zum Bruche kommen lassen
258. Man suche sich Jemanden, der das Unglück tragen hilft
259. Den Beleidigungen zuvorkommen und sie in Artigkeiten verwandeln
260. Keinem werden wir, und Keiner uns, ganz angehören
261. Nicht seine Thorheit fortsetzen.
262. Vergessen können:
263. Manche Dinge muß man nicht eigentümlich besitzen.
264. Keine Tage der Nachlässigkeit haben.
265. Seine Untergebenen in die Notwendigkeit des Handelns zu versetzen verstehn.
266. Nicht aus lauter Güte schlecht seyn:
267. Seidene Worte und freundliche Sanftmuth.
268. Der Kluge thue gleich Anfangs, was der Dumme erst am Ende.
269. Sich sein Neuseyn zu Nutze machen:
270. Was Vielen gefällt, nicht allein verwerfen.
271. In jedem Fache halte sich, wer wenig weiß, stets an das Sicherste:
272. Die Sachen um den Höflichkeitspreis verkaufen:
273. Die Gemüthsarten derer, mit denen man zu thun hat, begreifen:
274. Anziehungskraft besitzen:
275. Mitmachen, so weit es der Anstand erlaubt.
276. Seinen Geist, mit Hülfe der Natur und Kunst, zu erneuern verstehn.
277. Zu prunken verstehn.
278. Abzeichen jeder Art vermeiden:
279. Dem Widersprecher nicht widersprechen.
280. Ein Biedermann seyn.
281. Gunst bei den Einsichtigen finden.
282. Durch Abwesenheit seine Hochschätzung oder Verehrung befördern.
283. Die Gabe der Erfindung besitzen.
284. Man sei nicht zudringlich;
285. Nicht am fremden Unglück sterben.
286. Man sei Niemandem für Alles, auch nie Allen verbindlich gemacht:
287. Nie handle man im leidenschaftlichen Zustande:
288. Nach der Gelegenheit leben.
289. Nichts setzt den Menschen mehr herab, als wenn er sehen läßt, daß er ein Mensch sei.
290. Es ist viel Glück, zur Hochachtung auch die Liebe zu besitzen.
291. Zu prüfen verstehn.
292. Die persönlichen Eigenschaften müssen die Obliegenheiten des Amtes übersteigen:
293. Von der Reife.
294. Sich in seinen Meinungen mäßigen.
295. Nicht wirksam scheinen, sondern seyn.
296. Ein Mann von erhabenen Eigenschaften:
297. Stets handeln, als würde man gesehn.
298. Drei Dinge machen einen Wundermann
299. Hunger zurücklassen:
300. Mit Einem Wort, ein Heiliger seyn,
Geh'! gehorche meinen Winken,
Nutze deine jungen Tage,
Lerne zeitig klüger seyn:
Auf des Glückes großer Waage
Steht die Zunge selten ein:
Du mußt steigen oder sinken.
Du mußt herrschen und gewinnen,
Oder dienen und verlieren,
An den Leser
Inhaltsverzeichnis
Dem Gerechten keine Gesetze, und dem Weisen keine Rathschläge. Und doch hat noch Keiner so viel gewußt, als er für sich brauchte. Eines hast du mir zu verzeihen, ein Andres zu danken: daß ich nämlich dieses Handbuch der Lebensklugheit ein »Orakel« genannt habe, denn es ist ein solches, wegen des Sentenziösen und Gedrungenen; sodann aber, daß ich dir in Einem Federzuge alle zwölf Werke Gracian's darbiete, deren jedes so hoch geschätzt wird, daß sein »Weltkluger« kaum in Spanien erschienen war, als er schon in Frankreich, in dessen Sprache übersetzt und an dessen Hofe gedruckt, genossen wurde. Gegenwärtiges sei der Vernunft ein Denkbuch bei dem Gastmahl ihrer Weisen, in welches sie die in den übrigen Werken aufzutragenden Schüsseln der Klugheit einschreibe, um den Genuß auf eine anmuthige Weise zu vervielfältigen.
D. Vincencio Juan de Lastanosa
Geschrieben im Jahre 1653.
1.
Alles hat heut zu Tage seinen Gipfel erreicht,
Inhaltsverzeichnis
aber die Kunst sich geltend zu machen, den höchsten. Mehr gehört jetzt zu Einem Weisen, als in alten Zeiten zu sieben: und mehr ist erfordert, um in diesen Zeiten mit einem einzigen Menschen fertig zu werden, als in vorigen mit einem ganzen Volke.
2.
Herz und Kopf:
Inhaltsverzeichnis
die beiden Pole der Sonne unserer Fähigkeiten: eines ohne das andere, halbes Glück. Verstand reicht nicht hin; Gemüth ist erfordert. Ein Unglück der Thoren ist Verfehlung des Berufs im Stande, Amt, Lande, Umgang.
3.
Ueber sein Vorhaben in Ungewißheit lassen.
Inhaltsverzeichnis
Die Verwunderung über das Neue ist schon eine Wertschätzung seines Gelingens. Mit offenen Karten spielen, ist weder nützlich noch angenehm. Indem man seine Absicht nicht gleich kund giebt, erregt man die Erwartung, zumal wann man durch die Höhe seines Amts Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit ist. Bei Allem lasse man etwas Geheimnißvolles durchblicken und errege, durch seine Verschlossenheit selbst, Ehrfurcht. Sogar wo man sich herausläßt, vermeide man plan zu sein; eben wie man auch im Umgang sein Inneres nicht Jedem aufschließen darf. Behutsames Schweigen ist das Heiligthum der Klugheit. Das ausgesprochene Vorhaben wurde nie hochgeschätzt, vielmehr liegt es dem Tadel bloß: und nimmt es gar einen ungünstigen Ausgang, so wird man doppelt unglücklich seyn. Man ahme daher dem göttlichen Walten nach, indem man die Leute in Vermuthungen und Unruhe erhält.
4.
Wissenschaft und Tapferkeit
Inhaltsverzeichnis
bauen die Größe auf. Sie machen unsterblich, weil sie es sind. Jeder ist so viel, als er weiß, und der Weise vermag Alles. Ein Mensch ohne Kenntnisse; eine Welt im Finstern. Einsicht und Kraft; Augen und Hände. Ohne Muth ist das Wissen unfruchtbar.
5.
Abhängigkeit begründen.
Inhaltsverzeichnis
Den Götzen macht nicht der Vergolder, sondern der Anbeter. Wer klug ist, sieht lieber die Leute seiner bedürftig, als ihm dankbar verbunden, sie am Seile der Hoffnung führen, ist Hofmannsart, sich auf ihre Dankbarkeit verlassen, Bauernart: denn letztere ist so vergeßlich, als erstere von gutem Gedächtniß. Man erlangt mehr von der Abhängigkeit als von der verpflichteten Höflichkeit: wer seinen Durst gelöscht hat, kehrt gleich der Quelle den Rücken, und die ausgequetschte Apfelsine fällt von der goldenen Schüssel in den Koth. Hat die Abhängigkeit ein Ende, so wird das gute Vernehmen es auch bald finden und mit diesem die Hochachtung. Es sei also eine Hauptlehre aus der Erfahrung, daß man die Hoffnung zu erhalten, nie aber ganz zu befriedigen hat, vielmehr dafür sorgen soll, immerdar nothwendig zu bleiben, sogar dem gekrönten Herrn. Jedoch soll man dies nicht so sehr übertreiben, daß man etwa schweige, damit er Fehler begehe, und soll nicht, des eigenen Vortheils halber, den fremden Schaden unheilbar machen.
6.
Seine Vollendung erreichen.
Inhaltsverzeichnis
Man wird nicht fertig geboren: mit jedem Tage vervollkommnet man sich in seiner Person und seinem Beruf, bis man den Punkt seiner Vollendung erreicht, wo alle Fähigkeiten vollständig, alle vorzüglichen Eigenschaften entwickelt sind. Dies giebt sich daran zu erkennen, daß der Geschmack erhaben, das Denken geläutert, das Urtheil reif, und der Wille rein geworden ist. Manche gelangen nie zur Vollendung, immer fehlt ihnen noch etwas; andere kommen spät zur Reife. Der vollendete Mann, weise in seinen Reden, klug in seinem Thun, wird zum vertrauten Umgang der gescheuten Leute zugelassen, ja gesucht.
7.
Sich vor dem Siege über Vorgesetzte hüten.
Inhaltsverzeichnis
Alles Übertreffen ist verhaßt, aber seinen Herrn zu übertreffen ist entweder ein dummer oder ein Schicksalsstreich. Stets war die Ueberlegenheit verabscheut; wieviel mehr die über die Ueberlegenheit selbst. Vorzüge niedriger Gattung wird der Behutsame verhehlen, wie etwa seine persönliche Schönheit durch Nachlässigkeit im Anzüge verleugnen. Es wird sich wohl treffen, daß Jemand an Glücksumständen, ja an Gemüthseigenschaften uns nachzustehen sich bequemt, aber an Verstand kein Einziger; wie viel weniger ein Fürst. Denn der Verstand ist eben die Königliche Eigenschaft und deshalb jeder Angriff auf ihn ein Majestätsverbrechen. Fürsten sind sie, und wollen es in dem seyn, was am meisten auf sich hat. Sie mögen wohl, daß man ihnen hilft, jedoch nicht, daß man sie übertrifft: der ihnen ertheilte Rath sehe daher mehr aus wie eine Erinnerung an das was sie vergaßen, als wie ein ihnen aufgestecktes Licht zu dem was sie nicht finden konnten. Eine glückliche Anleitung zu dieser Feinheit geben uns die Sterne, welche, obwohl hellglänzend und Kinder der Sonne, doch nie so verwegen sind, sich mit den Strahlen dieser zu messen.
8.
Leidenschaftslos sehn
Inhaltsverzeichnis
: eine Eigenschaft der höchsten Geistesgröße, deren Ueberlegenheit selbst sie loskauft vom Joche gemeiner äußerer Eindrücke. Keine höhere Herrschaft, als die über sich selbst und über seine Affekten: sie wird zum Triumph des freien Willens. Sollte aber jemals die Leidenschaft sich der Person bemächtigen; so darf sie doch nie sich an das Amt wagen, und um so weniger, je höher solches ist. Dies ist eine edle Art, sich Verdrießlichkeiten zu ersparen, ja sogar auf dem kürzesten Wege zu Ansehn zu gelangen.
9.
Nationalfehler verleugnen.
Inhaltsverzeichnis
Das Wasser nimmt die guten oder schlechten Eigenschaften der Schichten an, durch welche es läuft, und der Mensch die des Klimas, in welchem er geboren wird. Einige haben ihrem Vaterlande mehr zu verdanken als Andere, indem ein günstigerer Himmel sie umfieng. Er giebt keine Nation, selbst nicht unter den gebildetesten, welche davon frei wäre, irgend einen ihr eigenthümlichen Fehler zu haben, welchen die benachbarten zu tadeln nicht ermangeln, entweder um sich davor zu hüten, oder sich damit zu trösten. Es ist eine rühmliche Geschicklichkeit, solche Makel seiner Nation an sich selbst zu bessern, oder wenigstens zu verbergen. Man erlangt dadurch den beifälligen Ruf, der Einzige unter den Seinigen zu seyn: und was am wenigsten erwartet wurde, wird am höchsten geschätzt. Ebenso giebt es Fehler der Familie, des Standes, Amtes und Alters: treffen alle diese in Einem Menschen zusammen, ohne daß die Aufmerksamkeit ihnen entgegenwirkte; so machen sie aus ihm ein unerträgliches Ungeheuer.
10.
Glück und Ruhm:
Inhaltsverzeichnis
so unbeständig jenes, so dauerhaft ist dieser: jenes für das Leben, dieser nachher: jenes gegen den Neid, dieser gegen die Vergessenheit. Glück wird gewünscht, bisweilen befördert; Ruhm wird erworben. Der Wunsch nach Ruhm entspringt dem Werthe. Die Fama war und ist noch die Schwester der Giganten: stets folgt sie dem Uebermäßigen, den Ungeheuern, oder den Wundern, dem Gegenstand des Abscheues oder des Beifalls.
11.
Mit dem umgehen, von dem man lernen kann.
Inhaltsverzeichnis
Der freundschaftliche Umgang sei eine Schule der Kenntnisse, und die Unterhaltung bildende Belehrung: aus seinen Freunden mache man Lehrer und lasse den Nutzen des Lernens und das Vergnügen der Unterhaltung sich wechselseitig durchdringen. Mit Leuten von Einsicht hat man einen abwechselnden Genuß, indem man, für das was man sagt, Beifall und von dem was man hört, Nutzen einerntet. Was uns zu Andern führt, ist gewöhnlich unser eigenes Interesse: dies ist hier jedoch höherer Art. Der Aufmerksame besucht häufig die Häuser jener großartigen Hofleute, welche mehr Schauplätze der Größe als Paläste der Eitelkeit sind. Es giebt Herren, welche im Ruf der Weltklugheit stehn: nicht nur sind diese selbst, durch ihr Beispiel und ihren Umgang, Orakel aller Größe, sondern auch die sie umgebende Schaar bildet eine höfische Akademie guter und edler Klugheit jeder Art.
12.
Natur und Kunst:
Inhaltsverzeichnis
der Stoff und das Werk. Keine Schönheit besteht ohne Nachhülfe, und jede Vollkommenheit artet in Barbarei aus, wenn sie nicht von der Kunst erhöht wird: diese hilft dem Schlechten ab und vervollkommnet das Gute. Die Natur verläßt uns gemeinhin beim Besten: nehmen wir unsere Zuflucht zur Kunst. Ohne sie ist die beste natürliche Anlage ungebildet, und den Vollkommenheiten fehlt die Hälfte, wenn ihnen die Bildung fehlt. Jeder Mensch hat, ohne künstliche Bildung, etwas Rohes, und bedarf, in jeder Art von Vollkommenheit, der Politur.
13.
Bald aus zweiter, bald aus erster Absicht handeln.
Inhaltsverzeichnis
Ein Krieg ist das Leben des Menschen gegen die Bosheit des Menschen. Die Klugheit führt ihn, indem sie sich der Kriegslisten, hinsichtlich ihres Vorhabens, bedient. Nie thut sie das, was sie vorgiebt, sondern zielt nur, um zu täuschen. Mit Geschicklichkeit macht sie Luftstreiche; dann aber führt sie in der Wirklichkeit etwas Unerwartetes aus, stets darauf bedacht ihr Spiel zu verbergen. Eine Absicht läßt sie erblicken, um die Aufmerksamkeit des Gegners dahin zu ziehen, kehrt ihr aber gleich wieder den Rücken und siegt durch das, woran Keiner gedacht. Jedoch kommt ihr andrerseits ein durchdringender Scharfsinn durch seine Aufmerksamkeit zuvor und belauert sie mit schlauer Ueberlegung: stets versteht er das Gegentheil von dem, was man ihm zu verstehn giebt, und erkennt sogleich jedes falsche Miene machen. Die erste Absicht läßt er immer vorüber gehn, wartet auf die zweite, ja auf die dritte. Indem jetzt die Verstellung ihre Künste erkannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht nunmehr durch die Wahrheit selbst zu täuschen: sie ändert ihr Spiel, um ihre List zu ändern, und läßt das nicht Erkünstelte als erkünstelt erscheinen, indem sie so ihren Betrug auf die vollkommenste Aufrichtigkeit gründet. Aber die beobachtende Schlauheit ist auf ihrem Posten, strengt ihren Scharfblick an und entdeckt die in Licht gehüllte Finsterniß: sie entziffert jenes Vorhaben, welches je aufrichtiger, desto trügerischer war. Auf solche Weise kämpft die Arglist des Python gegen den Glanz der durchdringenden Strahlen Apollo's.
14.
Die Sache und die Art.
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Das Wesentliche in den Dingen ist nicht ausreichend, auch die begleitenden Umstände sind erfordert. Eine schlechte Art verdirbt Alles, sogar Recht und Vernunft; die gute Art hingegen kann Alles ersetzen, vergoldet das Nein, versüßt die Wahrheit und schminkt das Alter selbst. Das Wie thut gar viel bei den Sachen: die artige Manier ist ein Taschendieb der Herzen. Ein schönes Benehmen ist der Schmuck des Lebens, und jeder angenehme Ausdruck hilft wundervoll von der Stelle.
15.
Aushelfende Geister haben.
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