Handorakel und Kunst der Weltklugheit - Baltasar Gracián - E-Book

Handorakel und Kunst der Weltklugheit E-Book

Gracián Baltasar

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Beschreibung

Graciáns epochemachende Schrift wurde seit 1832 (seit Schopenhauers übersetzerischer Großtat, die ein eigenes Original schuf) nicht mehr in die deutsche Sprache übertragen. Die gefeierte Neuübersetzung von Hans Ulrich Gumbrecht erschließt das Werk neu. Scharfsinnige wie pragmatische Ansichten bündelte Gracián in Maximen, die zum Selbstdenken und zur Selbstüberprüfung herausfordern und einen Leitfaden für ein besseres Leben bilden: Wie erlangt man breites Wissen, einen guten Geschmack? Wie geht man klug mit seinem Umfeld und seinen eigenen Leidenschaften um? E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 356

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Baltasar Gracián

Handorakel und Kunst der Weltklugheit

Aus den in den Werken von Lorenço Gracián erdachten Aphorismen gezogen

Aus dem Spanischen übersetzt und herausgegeben von Hans Ulrich Gumbrecht

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961768-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014195-3

www.reclam.de

Inhalt

Zur Lektüre der Übersetzung von Baltasar Graciáns Oráculo Manual y Arte de Prudencia

Handorakel und Kunst der Weltklugheit

Anhang

Baltasar Graciáns Denk-Raum

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Literaturhinweise

[7]Zur Lektüre der Übersetzung von Baltasar Graciáns Oráculo Manual y Arte de Prudencia

1 Der hier zum ersten Mal seit fast zwei Jahrhunderten vollständig ins Deutsche übersetzte Text des Handorakels von Baltasar Gracián erreicht uns nicht nur aus einer fremden Sprache, sondern auch aus einer fernen Zeit. In seinen Lebensjahren zwischen 1601 und 1658 war der seit 1635 dem Jesuitenorden angehörige Autor den spanischen Landsleuten wahrscheinlich weniger durch sechs unter fremden Namen veröffentlichte Bücher bekannt denn als einer der großen Prediger ihrer Zeit und als herausragender Theologe.

 

2 Unter Graciáns Werken kommt dem 1647 veröffentlichten Handorakel aus insbesondere zwei Gründen eine Sonderstellung zu: Sein adliger Freund Vincencio Juan de Lastanosa (1607–1681) stellt im Vorwort »An den Leser« das Buch als eine Sammlung von besonders bemerkenswerten Stellen aus früher erschienenen Texten Graciáns vor. Ob tatsächlich Lastanosa diese kurze Präsentation verfasste, entzieht sich unserer Kenntnis, während feststeht, dass nur die ersten 100 der insgesamt 300 vorgestellten Aphorismen annähernd dem Status einer solchen »Blütenlese« entsprechen. Sie alle bewegen sich jedoch in einem Anspielungsraum aus Verweisen und klassischen Zitaten, der in dieser Ausgabe so weit als möglich aufgeschlüsselt wird, um den Horizont abzustecken, zu dem der Gesamttext gehört. Das Handorakel vermochte Könige in Graciáns [8]eigener Zeit (wie Philipp IV. von Spanien oder Ludwig XIV. von Frankreich) in seinen Bann zu ziehen und große Philosophen (wie Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche) zu begeistern. So wurde es zu einem Kanon-Text im europäischen Kulturerbe.

3 Den Text des Handorakels erfassen und eine intellektuell produktive Einstellung ihm gegenüber finden ist schwieriger, als es eine Sammlung kurzer Reflexionen über Probleme und Strategien des Verhaltens im Alltagsleben zunächst vermuten lässt. Dies hat weniger mit dem kulturhistorischen Abstand zu tun, den der Leser überbrücken muss, als mit der Komplexität, dem sich stellenweise zur Obsession steigernden Rhythmus im Denken des Autors und mit der zu Auslassungen wie Abkürzungen neigenden Dichte seines Sprachstils.

 

4 Langsames, aber anhaltendes Lesen über einen längeren Zeitraum – zum Beispiel zwischen fünf und zehn Aphorismen pro Tag – kann zu anhaltender Freude am Text führen. Dazu gehört das wiederholende Nachvollziehen einzelner Sätze und Absätze – vor allem jedoch Geduld beim Entstehen und Entwickeln eigener Formen des Lesens und Verstehens.

 

5 Obwohl die 300 Aphorismen des Handorakels nicht nach der Linie eines Arguments oder mit dem Vorhaben aneinandergereiht worden sind, eine systematische [9]Weltsicht zu entwerfen, bietet sich kontinuierliche Lektüre vom ersten bis zum letzten Absatz an, ohne notwendig zu sein: denn sie vermag den Denk- und Schreibprozess des Autors als Ereignisverlauf zu vergegenwärtigen.

 

6 Eine der für Gracián wichtigen Funktionen seines verdichtenden Stils lag in dem Impuls, den Leser zu aktivem eigenem Denken herauszufordern. Nicht selten entsteht der Eindruck, dass man eine fremde Gedankenbewegung zum Abschluss bringen soll. Daraus können individuelle Reflexionen hervorgehen, die einen Grad der Unabhängigkeit gegenüber dem historischen Text gewinnen. Inhaltlich gesehen verspricht diese Möglichkeit mehr als eine Rekonstruktion und Übernahme von Ratschlägen aus Graciáns Lebenslehre.

 

7 Lohnend und nicht selten mitreißend ist also neben manchmal faszinierenden Einzelbeobachtungen und der eingängigen Schönheit vieler Sentenzen vor allem ein sichtbar werdender Prozess des Denkens. Der eigentlich legitime Versuch, einzelne Begriffe oder Argumente zu fixieren, um sie ins eigene Leben zu übertragen, mag deshalb mitunter unbefriedigend bleiben, eben weil Gracián alle Elemente seines Gedankenspiels in Bewegung setzt und – ohne wirklichen Abschluss – in Bewegung hält.

 

[10]8 Anders als Arthur Schopenhauers großartige Übersetzung des Handorakels aus dem Jahr 1832, die bei aller gesuchten Nähe zum spanischen Original dessen Unklarheiten und sprachlichen Unebenheiten meist paraphrasierend glättet, ist meine neue Übertragung an dem Ziel ausgerichtet, die individuell und historisch besonderen Formen von Graciáns Sprache als eine Spur des Denkens so weit als möglich im deutschen Text zu erhalten. Dies gilt für die den Denkrhythmus unterstreichende Interpunktion; für syntaktische Verschiebungen, die auch im Spanischen des 17. Jahrhunderts exzentrisch wirken mussten; für unvollständige Sätze, Formulierungen an der Grenze grammatischer Korrektheit (wie etwa Inkonsistenzen im Gebrauch der Zeitenfolge oder Pronomina); aber auch für die häufigen Wortspiele – und schließt in ihrer Bedeutung trotz aller Verstehensbemühung unklare Passagen ein, welche selbst im Original nicht zu eindeutigen Sinnstrukturen zu führen scheinen. Vor allem soll die enge Anlehnung der Übertragung an den Wortlaut des Originaltexts jenen Lektüreeffekt und jene existenzielle Faszination bewahren, deren Zusammenspiel ich im Nachwort als »Verräumlichung des Denkens« analysiere und beschreibe.

Hans Ulrich Gumbrecht

[11]Handorakel und Kunst der Weltklugheit

Aus den in den Werken von Lorenço Gracián erdachten Aphorismen gezogen

[12]An den Leser

Weder dem Gerechten Gesetze, noch dem Weisen Ratschläge; aber keiner wusste je genügend für sich. Eines musst du mir verzeihen und das Andere danken: dass ich diese Sammlung richtigen Wissens vom Leben Orakel nenne, denn das ist sie durch ihren hohen Stil und ihre dichte Form; dass ich Dir in einem Zug alle zwölf Graciáne anbiete, von denen jeder so geschätzt wird, dass man Den Weltklugen noch kaum in Spanien gesehen hatte, als er schon in Frankreich in die dortige Sprache übersetzt und gedruckt bei Hof erfolgreich war. Dieser Gracián nun soll der Vernunft beim Gastmahl ihrer Weisen als Gedenkschrift dienen, in die sie die Gänge der Klugheit eintragen kann, welche ihr in den anderen Werken dienen werden, um den Genuss auf geistreiche Weise zu verbreiten.

Don Vincencio Juan de Lastanosa

[13]1 Alles ist schon voll entfaltet, und das Person-Sein im höchsten Grad. Mehr wird heute von einem Einzigen als früher von sieben Weisen erwartet; und mehr braucht man in diesen Zeiten, um mit einem Menschen zurechtzukommen, als früher mit einem ganzen Volk.

 

2 Gemüt und Verstand. Die beiden Achsen, welche Fähigkeiten strahlen lassen; eine ohne die andere, halbes Glück. Verstehen reicht nicht, Gefühl wird begehrt. Unglück des Dummen, die Bestimmung in Gesellschaft, Beruf, Land, Alltag zu verfehlen.

 

3 Die Dinge im Unklaren lassen. Die Bewunderung der Neuheit ist Wertschätzung des Gelingens. Mit offenen Karten spielen ist weder nützlich noch angenehm. Nicht gleich deutlich werden schafft Anspannung, vor allem wo hoher beruflicher Status Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit ist; lass immer etwas Geheimnisvolles aufscheinen und löse mit solcher Unklarheit Verehrung aus; selbst wenn man sich zu verstehen gibt, ist Offenheit zu vermeiden, so wie auch im Umgang die inneren Gedanken nicht allen zugänglich werden sollen. BehutsamesSchweigen ist der heilige Innenraum von Klugheit. Das angekündigte Vorhaben wurde nie geschätzt, eher der Verurteilung überlassen, und wenn es zu einem schlechten Ende führt, dann zweimal unglücklich. Göttliches Verhalten soll also nachgeahmt werden, um sich den Blicken und dem Warten auf Entbergung auszusetzen.

 

[14]4 Das Wissen und der Mut schaffen Größe. Sie machen unsterblich, weil sie es sind. Jeder ist, so viel er weiß, und wer Wissen hat, dem gelingt alles. Ein Mensch ohne Kenntnisse, eine Welt im Dunkel. Einsicht und Kräfte, Augen und Hände; ohne Mut ist die Weisheit fruchtlos.

 

5 Abhängig machen.Das Gottesbild macht nicht, wer es vergoldet, sondern wer es anbetet; der Scharfsinnige hat lieber Leute, die ihn brauchen, als Leute, die ihm dankbar sind. Auf gemeinen Dank zu setzen, heißt Erwartung auf hoher Ebene mindern, denn während jener leicht vergisst, hält diese Erinnern wach. Mehr profitiert man von Abhängigkeit als von Höflichkeit; wer seinen Durst gestillt hat, kehrt der Quelle gleich den Rücken zu, und die ausgequetschte Apfelsine fällt vom goldenen Gefäß in den Kot. Wo Abhängigkeit aufhört, hört der Austausch auf und mit ihm die Wertschätzung. Es soll also eine Lehre aus erster Erfahrung sein, sie lebendig zu halten, statt durch Befriedigung aufzuheben, und so selbst dem gekrönten Herrn das Gefühl zu geben, dass er einen braucht; doch darf man nicht so weit gehen, zu schweigen, um ihn einen Fehler begehen oder – zum eigenen Vorteil – einen unumkehrbaren Schaden erleiden zu lassen.

 

6 Seine Entfaltung erreicht haben. Niemand wird fertig geboren; jeden Tag vervollkommnet man sich in der Person, der Aufgabe, bis hin zur Ausbildung aller Fähigkeiten, aller Vorzüge. Dies wird deutlich in erhöhtem Geschmack, geläutertem Denken, reifem Urteil, klarem Willen. [15]Manche gelangen nie dahin, vollkommen zu sein: es fehlt ihnen immer etwas; andere kommen erst spät dahin. Der rundum ausgebildete Mann mit seiner weisen Rede, seinem klugen Tun wird willkommen geheißen, ja begehrt zum Umgang unter den Weltklugen.

 

7 Siege über den Vorgesetzten vermeiden. Jeder Sieg ist verhasst, und der über seinen eigenen Herrn entweder töricht oder tödlich. Die Überlegenheit wurde schon immer verabscheut, und vor allem gegenüber Überlegenen. Gemeine Vorteile pflegt die Aufmerksamkeit zu verhehlen, so wie Nachlässigkeit die Schönheit überspielt. Gut wird es dem gehen, der sein Glück und seine Gemütseigenschaften zurücktreten lässt, aber niemand, schon gar nicht jemand, der in hohem Rang steht, tut dies mit seinem Verstand. Er ist die Königs-Eigenschaft, und daher war jedes Vergehen gegen ihn ein Majestätsverbrechen. Fürsten wollen auf höchster Ebene fürstlich sein. Sie lassen sich gerne helfen, aber nicht überbieten, und deswegen muss der Rat, den man ihnen gibt, eher wie eine Erinnerung an etwas Vergessenes wirken denn wie ein Verweis auf etwas ihnen nicht Zugängliches. Eine glückliche Anleitung dazu geben uns die Sterne, denn obwohl sie ihre Kinder sind, wagen sie sich nie an die Strahlen der Sonne heran.

 

8 Leidenschaftslos sein, Fähigkeit der höchsten Geistesgröße. Ihre Überlegenheit erlöst einen von der Unterwerfung unter gemeine Außeneindrücke. Keine größere Herrschaft gibt es als die über sich selbst, seine eigenen Affekte: sie [16]wird zum Triumph des freien Willens. Und wenn die Leidenschaft schon das Persönliche beherrscht, darf sie sich nicht an das Amt wagen, umso weniger, desto höher es ist. Eine gebildete Haltung, um sich Enttäuschungen zu ersparen und sogar den Weg zum Ansehen abzukürzen.

 

9 Die Fehler seiner Nation überspielen. Das Wasser nimmt die guten oder schlechten Eigenschaften der Gefäße an, durch die es fließt, und der Mensch die des Klimas, in das er geboren wird. Manche verdanken den Vaterländern mehr als andere, da sich ein günstigerer Himmel dort höher wölbte. Es gibt keine noch so gebildete Nation ohne typische Fehler, und alle beschuldigen die Nachbarn entweder aus Vorsicht oder zum Trost. Siegreiche Fähigkeit, solche nationalen Mängel zu beseitigen oder wenigstens zu überspielen: mit ihr schafft man sich den lobenswerten Ruf, eine Ausnahme in der eigenen Gruppe zu sein, was je mehr geschätzt wird, umso weniger es zu erwarten war. Es gibt auch typische Fehler der Herkunft, des Standes, des Berufs und des Lebensalters und wenn sie alle in einem einzigen Menschen zusammenkommen und die Aufmerksamkeit ihnen nicht zuvorkommt, dann machen sie ihn zu einem unerträglichen Ungeheuer.

 

10 Glück und Ruhm. Was der eine an Unbeständigkeit hat, hat das andere an Dauer. Das Erstere, um zu leben, der Letztere für danach; jenes gegen Neid, dieser gegen das Vergessen. Glück wünscht man sich und hilft manchmal nach, Ruhm bringt man auf den Weg. Der Wunsch nach [17]Ansehen entsteht aus der Tugend, Ruhm ist ein Bruder der Riesen; er bewegt sich immer im Übermäßigen, entweder im Ungeheuren oder im Wunderbaren, wird verabscheut, mit Beifall bedacht.

 

11 Mit dem verkehren, von dem man lernen kann. Es soll der freundliche Verkehr Schule der Gelehrsamkeit sein und die Unterhaltung gebildeter Unterricht: so macht man seine Freunde zu Lehrern, während der Nutzen des Lernens und die Freude an der Unterhaltung einander durchdringen. Mit Leuten von Verstand lösen Genuss und Verstehen einander ab, indem das, was man sagt, den Beifall einbringt, den man bekommt, und das, was man hört, die Belehrung. Gewöhnlich führen uns eigene Ziele zu den anderen – und hier ganz besonders. Der Offene besucht die Häuser jenes Adels höfischer Helden, welche Bühnen der Heldenhaftigkeit statt Paläste der Eitelkeit sind. Es gibt für ihr gescheites Verhalten anerkannte Helden, die nicht nur als Vorbild und im Umgang zu Orakeln alles Großen werden, sondern zugleich durch ihr Gefolge zu einer hohen Akademie aller guten und eleganten Weltklugheit.

 

12 Natur und Kunst, Stoff und Werk. Es gibt weder Schönheit ohne Nachbesserung, noch Vollkommenheit, die ohne Erhöhung der Kunst nicht in Rohheit umschlüge: was schlecht ist, macht sie besser, und das Gute macht sie vollkommen. Die Natur lässt uns gewöhnlich im Stich, wenn es ums Beste geht – halten wir uns also an die Kunst. Ohne sie ist die die beste Anlage ungebildet, und ohne Bildung fehlt [18]die Hälfte zur Vollkommenheit. Jeder Mensch schmeckt schal ohne Kunstfertigkeit, denn er braucht Schliff zur Vollkommenheit.

 

13 Aus Absicht handeln, manchmal aus der zweiten, manchmal aus der ersten.Eine Schlacht ist das Leben des Menschen gegen das Schlechte im Menschen. Es kämpft der Scharfsinn mit Strategien der Absicht: nie tut er das, was er vorgibt; er visiert ein Ziel nur an, um zu täuschen; er macht gekonnt aussehende Luftstreiche und tut, immer zu überspielen bemüht, das, woran niemand gedacht hat; eine Absicht lässt er sichtbar werden, um die rivalisierende Absicht zu binden, und kehrt ihr dann den Rücken, um durch das nicht Erwartete zu siegen. Doch aufmerksam kommt ihm durchdringende Intelligenz zuvor, lauert mit Reaktionen auf; versteht immer das Gegenteil von dem, was sie verstehen soll, und erfasst jegliche Täuschungsabsicht; sie lässt alle erste Absicht ins Leere laufen und wartet schon auf die zweite oder sogar auf die dritte. Wenn Verstellung ihre Kunst durchschaut sieht, wird sie stärker und versucht, mit der Wahrheit selbst zu täuschen; sie stellt ihr Spiel um, indem sie ihre List umstellt und das nicht Fingierte fingiert erscheinen lässt, also die Finte in der größten Aufrichtigkeit begründet. Auftritt die Beobachtung mit ihrem eigenen Scharfsinn und deckt die vom Licht verkleidete Finsternis auf; sie entziffert die Absicht, welche je einfacher desto arglistiger ist. In solcher Weise kämpft die hitzige Python gegen den Glanz von Apollos durchdringenden Strahlen.

 

[19]14 Die Wirklichkeit und die Art. Die Substanz reicht nicht aus, man braucht auch den Umstand. Alles verdirbt eine falsche Art, selbst die Gerechtigkeit und Vernunft; die richtige verbessert alles, sie vergoldet das Nein, versüßt die Wahrheit und verschönt das Alter. Das Wie macht sehr viel aus, und die kleine Art ist ein Taschendieb des guten Gefühls. Elegantes Benehmen macht das Leben zum Fest; nichts hilft so sehr aus Verlegenheit wie der richtige Ausdruck.

 

15 Intelligenzen zur Hilfe haben.Glück der Mächtigen: sich mit Athleten des Verstandes umgeben, die ihnen aus durch Unwissen bedingten Schwierigkeiten helfen und für sie mit offenen Problemen streiten. Besondere Größe, sich der Weisen zu bedienen, und sie ragt über den gräulichen Geschmack des Tigranes hinaus, unterworfene Könige zu Dienern zu machen. Eine neue Form der Herrschaft im besten Sinn des Lebens: sich mit Geschick die zu Dienern machen, welche die Natur überlegen ausgestattet hat. Es gibt viel zu wissen und wenig zu leben, und ohne Wissen lebt man nicht wirklich. Ein einzigartiges Geschick ist es also, ohne Anstrengung zu lernen – und zwar viel von vielen, indem man von allen Wissen bezieht. Bei einer Versammlung redet man dann mit den Worten von vielen, aus dem Mund von all den Weisen, die einem vorausgingen, und gewinnt dank fremden Schweißes den Ruf, Orakel zu sein. Jene stellen zuerst die Vorlesung zusammen und dienen einem in den Quintessenzen des Wissens. Wem es aber nicht gegeben ist, sich das Wissen zum Diener zu machen, der pflege den Umgang mit ihm.

 

[20]16 Wissen mit redlicher Absicht. Zusammen garantieren sie Fruchtbarkeit des Gelingens. Ein Ungeheuer der Gewalt war schon immer die Ehe aus guter Vernunft und bösemWillen. Die böse Absicht vergiftet alles Vollkommene, und wenn ihr das Wissen hilft, dann verdirbt sie es in noch durchtriebenerer Weise. Unglücklich die herausragende Fähigkeit, welche der Verworfenheit zuarbeitet! Wissenschaft ohne Verstand, doppelte Narrheit.

 

17 Den Ton beim Handeln abwechseln. Nicht immer auf dieselbe Weise, um so die Aufmerksamkeit vor allem derer zu blenden, mit denen man im Wettbewerb steht. Nicht immer beim ersten Versuch, dessen Gleichförmigkeit sie erfassen werden, um die Aktion zu konterkarieren und sogar zunichtezumachen. Leicht ist es, einen Vogel zu töten, wenn er geradeaus, aber nicht, wenn er in Bögen fliegt. Auch nicht immer beim zweiten Versuch, denn beim zweiten Mal verstehen sie die List. Die Bosheit wartet ab; es bedarf großer Raffiniertheit, sie zu täuschen. Nie spielt der Betrüger das Stück, mit dem sein Gegner rechnet, und schon gar nicht das, welches er sich wünscht.

 

18 Fleiß und Minervas Begabung. Niemand ragt heraus ohne beide, und wo sie zusammen vorkommen, im Übermaß. Mehr erreicht Mittelmäßigkeit mit Fleiß als Überlegenheit ohne ihn. Man erwirbt sich Ansehen um den Preis der Arbeit; wenig Wert hat da, was wenig verlangt. Selbst in den höchsten Ämtern ließen einige den Fleiß vermissen: selten überspielt er das Gemüt. Nicht im niederen Amt [21]herausragend sein, um in einem hohen mittelmäßig sein zu wollen, lässt sich als Großherzigkeit entschuldigen; doch nicht den, der sich im Letzteren mit Mittelmaß zufriedengibt und im Ersteren herausragen könnte. Begabung und Können sind also gefordert, und der Fleiß besiegelt sie.

 

19 Nicht mit überzogener Erwartung auftreten. Es ist ein bekannter Mangel alles vorweg Gerühmten, das Übermaß der Vorstellungen nicht zu erreichen: nie konnte das Wirkliche das Vorgestellte einholen, weil es einfach ist, Vollendung vorzugaukeln, aber sehr schwer, sie zu verwirklichen. Mit der Vorstellungskraft geht das Wünschen eine Ehe ein und denkt immer viel mehr, als die Dinge sind. Selbst was am meisten herausragt, kann solchen Gedanken nicht genügen, und da sie von übertriebener Erwartung getäuscht sind, wird es sie eher ernüchtern als erhöhen. Die Hoffnung ist eine große Wahrheits-Fälscherin; Klugheit soll sie zurechtweisen und dafür sorgen, dass der Genuss alle Wünsche übertrifft. Wer von Beginn Ansehen genießt, dem fällt es leicht, Neugierde zu wecken, nicht aber den Erfolg festzulegen. Am besten geht es, wenn die Wirklichkeit die Vorstellung überbietet und mehr ist, als man glaubte. Diese Regel wird nicht für das Schlechte gelten, dem ja das Übertreiben gerade hilft; denn es kann sie unter allgemeinem Beifall widerlegen, und so wirkt am Ende akzeptabel, was man als Höhepunkt des Schlimmen befürchtet hatte.

 

[22]20 Mann in seinem Jahrhundert. Die ganz besonderen Menschen hängen von den Zeiten ab. Nicht alle hatten die, welche sie verdienten, und vielen, die sie hatten, gelang es nicht, etwas aus ihr zu machen. Manche waren eines besseren Jahrhunderts würdig, nicht alles Gute setzt sich immer durch. Die Dinge haben ihren Moment, selbst das Vortreffliche gehört in einen Rahmen; doch das Weise hat ein Privileg: dass es ewig ist, und wenn dieses nicht sein Jahrhundert ist, es viele andere sein werden.

 

21 Die Kunst, Glück zu haben. Es gibt Regeln des Glücks, für den Weisen besteht es nicht nur aus Zufällen; es kann durch Bemühung befördert werden. Manche sind damit zufrieden, sich frohen Muts am Tor des Glücks einzufinden und darauf zu warten, dass es handelt. Besser tun andere, sie gehen weiter und vertrauen der klugen Kühnheit, die mit den Flügeln ihrer Tugend und ihres Muts das Glück erreichen und ihm wirksam schmeicheln kann. Aber philosophisch recht gesehen gibt es kein Ermessen als das der Tugend und Aufmerksamkeit, denn es gibt nicht mehr Glück oder Unglück als Klugheit oder Unklugheit.

 

22 Mann mit lobenswerten Kenntnissen.Ausrüstung der Gescheiten ist eine feine, elegante Gelehrsamkeit: ein praktisches Wissen von allem Geläufigen, eher das Bemerkenswerte als was in aller Munde ist; einen würzigen Vorrat witziger Redeweisen und eleganter Verhaltensformen haben und sie im rechten Moment zu gebrauchen wissen; oft [23]klang ein Rat als Witzwort besser denn als schwerwiegende Belehrung. Wissen für Gespräche hat sich für manche besser bewährt als alle sieben freien Künste, so frei sie auch sein mögen.

 

23 Keinen Makel haben. Die notwendige Bedingung von Vollkommenheit. Wenige leben ohne Schwäche im Moralischen wie im Körperlichen und leiden sehr darunter, obwohl man sie leicht heilen kann. Es bedrückt die Weisheit, von außen zu sehen, wie ein winziger Fehler manchmal eine erhabene Vollständigkeit von Fähigkeiten beeinträchtigt, und eine Wolke reicht, um eine ganze Sonne zu verfinstern. Muttermale des Ansehens, welche die Missgunst bemerkt und auf die sie zurückkommt. Es wäre das höchste Geschick, sie in Glanzpunkte zu verwandeln. Auf diese Weise verstand es Cäsar, aus seinem körperlichen Gebrechen einen Lorbeer zu machen.

 

24 Die Einbildungskraft dämpfen. Manchmal, indem man sie zurechtweist, manchmal, indem man sie unterstützt, denn sie vermag alles für unser Glück und kann selbst den Verstand korrigieren. Zu einer Tyrannin wird sie, wo sie sich nicht mit dem Betrachten begnügt, sondern handelt und sogar das Leben zu beherrschen pflegt, es angenehm oder, je nach der Torheit, auf die sie stößt, beschwerlich macht, weil sie die Menschen unzufrieden oder zufrieden mit sich macht. Manchen setzt sie beständig Bilder des Leidens vor, als ein häuslicher Henker der Toren; anderen spielt sie Glück und Abenteuer mit angenehmem [24]Schwindel vor. All dies vermag sie, wenn nicht die hochweise Urteilskraft sie zügelt.

 

25 Gut verstehen. Einst war Nachdenken-Können die Kunst aller Künste; jetzt reicht es nicht mehr: man muss imstande sein, Dinge zu erahnen, besonders wenn es darum geht, Illusionen aufzulösen. Wer nicht gut versteht, kann nicht verständig sein. Es gibt Tiefengräber des Herzens und Luchse der Absichten. Die Wahrheiten, die uns am wichtigsten sind, werden immer nur zur Hälfte ausgesprochen; sie sollen von dem Aufmerksamen mit vollem Verständnis aufgenommen werden: im Angenehmen, die Gutgläubigkeit zügeln, im Abscheulichen, sie anspornen.

 

26 Für jeden die richtige Daumenschraube finden. Es ist die Kunst, den Willen anderer in Bewegung zu setzen. Eher aus Geschicklichkeit besteht sie als aus Entschlossenheit: das Wissen, wie man einem jeden beikommen kann. Es gibt keinen Willen ohne besondere Neigung, und sie ist je nach Geschmack eine andere. Alle haben ihre Götzen: manche die Wertschätzung, andere das eigene Interesse und die meisten das Vergnügen. Es geht darum, zum Zweck der Bestimmung anderer diese Götzen zu kennen, indem man für jeden den wirksamen Auslöser kennt, dann hat man gleichsam den Schlüssel zum Wollen der anderen. Man muss zum primären Impuls gehen, der nicht immer der höchste, meistens der niedrigste ist, weil die Menschen ohne Ordnung zahlreicher sind als die Untergeordneten. Man muss zuerst das Gemüt bearbeiten, danach das [25]richtige Wort treffen, bei der Neigung angreifen, so setzt man unfehlbar den freien Willen matt.

 

27 Dem Innen mehr Aufmerksamkeit als dem Außen schenken. Die Vollkommenheit besteht nicht aus Quantität, sondern aus Qualität. Alles besonders Gute war immer wenig und selten; das Viele kommt Geringschätzung gleich. Selbst unter den Menschen sind die Riesen die wahren Zwerge. Manche schätzen die Bücher nach ihrem Umfang, als ob man sie schriebe, um die Arme statt den Verstand zu üben. Das Außen allein kam nie über das Mittelmaß hinaus; und es ist die Krankheit der Allgemeingebildeten, sich nirgends auszukennen, weil sie sich überall auskennen wollen. Das Innen gibt Vorzüglichkeit, und es ist heldenhaft, wenn es um Erhabenes geht.

 

28 In nichts gemein. Nicht im Geschmack. Was für ein großer Weiser, der unzufrieden war, weil seine Dinge vielen behagten! Das Rauschen des allgemeinen Beifalls befriedigt die Gescheiten nicht. Manche werden so sehr zum Chamäleon der Beliebtheit, dass sie eher als Apollos sanften Hauch den gemeinen Atemgenießen. Auch nicht in Sachen des Verstandes: man soll nicht auf die Wunder des Pöbels achten, die nicht darüber hinauskommen, die Unwissenden zu erregen, welche die gemeine Torheitbewundern, während die Aufmerksamkeit des Einzelnen Täuschung aufhebt.

 

[26]29 Rechtschaffener Mensch. Immer auf der Seite der Vernunft, mit solcher Festigkeit in seinen Vorhaben, dass weder gemeine Leidenschaft noch die Gewalt des Tyrannen ihn je dazu bringen, die Grenze der Vernunft zu überschreiten. Doch wer kann so ein Phönix der Gerechtigkeit sein? Die Rechtschaffenheit hat nämlich wenig treue Freunde. Viele feiern sie, jedoch nicht für ihr eigenes Haus; manche folgen ihr bis zum Punkt der Gefahr; dort schwören die Falschen ihr ab, und die gesellschaftlich Versierten geben vor, sie zu haben. Sie macht keine Zugeständnisse an die Freundschaft, an die Macht und nicht einmal an den eigenen Vorteil, und hier ist der Druck, sie zu ignorieren. Die Wendigen sehen mit einsichtigen höheren Gründen von ihr ab, um nicht das Interesse der über sie Gestellten oder des Staates zu verletzen; doch der standhafte Mann sieht solche Verstellung als eine Art Verrat an, achtet sich mehr für Beharrlichkeit als für Klugheit, befindet sich, wo sich die Wahrheit befindet; und wenn er die Leute verlässt, dann nicht, weil er sich verändert hat, sondern weil die sie zuerst verlassen haben.

 

30 Sich nicht auf Beschäftigungen ohne Ansehen festlegen. Weniger noch auf Hirngespinste, das diente eher dem Streben nach Geringschätzung denn nach Anerkennung. Zahlreich sind die Sekten ausgefallenerer Vorlieben, und allen muss der kluge Mann aus dem Weg gehen. Es gibt Leute mit eigentümlichem Geschmack, die sich stets mit dem verbinden, was die Weisen ablehnen; sie leben glücklich in dem Gefühl, etwas Besonderes zu sein, das sich, selbst wenn sie damit sehr bekannt werden, eher aus [27]Lächerlichkeit denn aus ihrem guten Ruf ergibt. Nicht einmal zur Weisheit soll der umsichtige Mann sich bekennen, umso weniger zu all dem, was die, welche es zeigen, lächerlich macht; und sie werden nicht genau bestimmt, weil die gemeine Verachtung sie schon hinreichend identifiziert.

 

31 Die Glücklichen als Vorbild und die Unglücklichen als Abschreckung kennen. Das Unglück ist gewöhnlich eine Wirkung der Dummheit, und keine klebrigere Ansteckung gibt es für die, die ihr zugehören. Nie darf man auch dem kleinsten Übel die Tür öffnen, denn stets kommen nach ihm heimlich viele andere und größere. Beim Spiel ist Nicht-Aufnehmen die feinste Strategie: mehr bedeutet die kleinste Karte, die Trumpf ist, als die größte, die gerade Trumpf war. Im Zweifel ist es richtig, sich an die Weisen und Vorsichtigen zu halten, denn früher oder später stoßen sie auf das Glück.

 

32 Als gefällig gelten. Angenehme Gefühle wecken ist sehr nützlich für Menschen, die regieren; ein Vermögen der Herrscher, mit dem sie die allgemeine Anerkennung erobern. Der einzige Vorteil, der sich aus dem Recht zu befehlen ergibt: mehr Gutes tun zu können als alle anderen. Freunde sind die, welche Freundesdienste tun. Im Gegensatz dazu sind manche darauf aus, keine angenehmen Gefühle zu wecken, nicht weil es schwerfällt, sondern aus Bosheit, was sie zum genauen Gegenteil der göttlichen Zuwendung macht.

 

[28]33 Sich zu entziehen wissen. Wenn schon die Fähigkeit des Verweigerns eine große Lebenslehre ist, so ist die Fähigkeit, sich selbst, den Geschäften, den Personen nein sagen zu können, noch größer. Es gibt fremde Geschäfte, die Motten der kostbaren Zeit sind, und sich mit Unangebrachtem beschäftigen ist schlimmer, als nichts tun. Für den Umsichtigen reicht es nicht, dass er nicht aufdringlich ist, vielmehr muss er dafür Sorge tragen, dass man sich ihm nicht aufdrängt. Er darf nicht so sehr allen gehören, dass er nicht sich selbst gehört. Nicht einmal seinen Freunden darf man zur Last fallen, jedenfalls nicht mehr, als sie es erlauben. Jedes Übermaß ist ein Fehler, zumal im Umgang. Mit dieser klugen Mäßigung bewahrt man sich Sympathie und auch Wertschätzung bei allen, da sie den über alles zu schätzenden Anstand nicht beeinträchtigt. Man soll also Freiheit des Gemüts haben, Leidenschaft für das Erlesene und nie gegen den Glauben seines eigenen guten Geschmacks sündigen.

 

34 Seine Königs-Gabe kennen: die hervorstechende Fähigkeit ausbilden, den anderen nachhelfen. Jeder hätte Meisterschaft in etwas erreichen können, wenn er seinen besonderen Vorzug gekannt hätte. Man soll also seine Königs-Eigenschaft beachten und Fleiß auf sie verwenden: bei manchen ragt das Urteil, bei anderen der Mut heraus. Die meisten tun ihrer Gabe Gewalt an und erlangen so nie Überlegenheit: was früh der Leidenschaftschmeichelt, deckt die Zeit später als Irrtum auf.

 

[29]35 Sich Gedanken machen. Und zwar mehr zu dem, was am wichtigsten ist. Weil sie nicht denken, gehen alle Dummen unter: sie begreifen die Dinge nicht einmal zur Hälfte; und weil sie den Schaden oder den Vorteil nicht wahrnehmen, bemühen sie sich auch nicht. Manche legen großen Wert auf das, was wenig, keinen auf das, was große Bedeutung hat, weil sie immer verkehrt abwägen. Manche verlieren den Verstand nicht, weil sie keinen haben. Dinge gibt es, die man mit aller Bemühung betrachten und in der Tiefe seines Geistes bewahren sollte. Der Kluge macht sich über alles Gedanken, aber dort gräbt er am meisten, wo es Grund und Widerstand gibt; und er denkt vielleicht, dass da mehr ist, als er denkt: so kommt sein Nachdenken dorthin, wo seine Wahrnehmung nie hinkam.

 

36 Sein Glück eingeschätzt haben: um zu verfahren, um sich einzulassen. Mehr bedeutet dies, als über sein Temperament nachdenken, denn dümmer noch als mit 40 Jahren aus Gründen der Gesundheit den Hippokrates, ist es, den Seneca aus Gründen der Weisheit zu Rate zu ziehen. Eine große Kunst, sein Glück steuern zu können, indem man entweder darauf wartet, was durchaus möglich ist, oder es herbeiführt, weil es Momente und Gelegenheiten hat; obwohl sein Verlauf so unregelmäßig ist, dass sich ein Gang nicht herausfinden lässt. Wer sah, dass es ihm günstig ist, der soll mit Zuversicht fortschreiten, denn oft begeistert es sich für die Waghalsigen oder wie eine stattliche Frau für die Jungen. Wer unglücklich ist, der soll nicht handeln, er soll sich zurückziehen, damit ihm nicht noch einmal [30]Unglück widerfährt. Freie Bahn für den, der es beherrscht, dem es den Vorrang gibt.

 

37 Andeutungsweise zu reden und es zu nutzen verstehen. Das ist der höchste Grad von Feinheit im Umgang mit Menschen. Man macht Andeutungen, um die Gemüter zu prüfen, und mit ihnen lässt sich auch das Herz auf verborgene und eindringliche Weise erforschen. Andere können aber auch boshaft, verletzend, angesteckt vom Kraut des Neids und getränkt vom Gift der Leidenschaft sein: unsichtbare Strahlen, welche aus Anmut und Wertschätzung herabstürzen. Verletzt von solchen Reden sind viele aus dem Vertrauen der ihnen Über- oder Untergeordneten gefallen, denen eine ganze Verschwörung aus gemeinem Klatsch und individueller Bosheit nichts anhaben konnte. Andere Formen der Andeutung haben eine gegenteilige, günstige Wirkung, indem sie Ansehen stützen und bestätigen. Doch mit demselben Geschick, mit dem die Absicht sie wirft, muss die Vorsicht sie aufnehmen und die Aufmerksamkeit auf sie warten; denn wer sie kennt, muss sich nicht verteidigen, und der Schuss, mit dem man rechnet, trifft nie.

 

38 Loslassen können, während man vom Glück profitiert. Das gehört zu Spielern von Ruf. Ein schöner Rückzug ist so wichtig wie ein kühner Vorstoß; seinen Taten ein Ende setzen, wenn sie hinreichend, wenn sie zahlreich sind. Fortgesetztes Glück war immer verdächtig; sicherer ist ein unterbrochenes, und sein Genuss soll etwas Süßsaures haben. Je mehr sich Glücksfälle überstürzen, desto größer das [31]Risiko, dass sie von der Bahn abkommen und alle stürzen. Manchmal wiegt die Intensität des günstigen Moments seine kurze Dauer auf. Das Glück wird müde, einen lange auf den Schultern zu tragen.

 

39 Den Punkt der Entfaltung, den Moment der Dinge kennen und sie nutzen. Alle Naturdinge erreichen eine Fülle ihrer Vollkommenheit; bis dahin wuchsen sie, von da an nehmen sie ab. Unter den Dingen der Kunst kommen nur wenige dort an, wo sie sich nicht verbessern können. Es ist ein Vorzug guten Geschmacks, jedes Ding auf seinem Höhepunkt zu genießen; weder können dies alle, noch verstehen sich alle darauf, die es können. Selbst für die Früchte der Vernunft gibt es diesen Punkt der Reife; für die Wertschätzung und die Praxis ist es wichtig, ihn zu kennen.

 

40 Gunst bei den Leuten. Es ist viel, die allgemeine Bewunderung, aber mehr, die Zuneigung zu gewinnen; dies steht teils in den Sternen geschrieben, hängt aber mehr von der Bemühung ab. Herausragende Fähigkeiten reichen nicht, obwohl man dies annimmt; denn es ist leicht, Zuneigung zu gewinnen, wenn erst einmal Ansehen gewonnen ist. Wohlwollen verlangt Wohltaten: Gutes tun mit beiden Händen, gute Worte und bessere Werke, lieben, um geliebt zu werden. Die Höflichkeit im Umgang ist das stärkste Zaubermittel großer Persönlichkeiten. Man muss die Hand erst nach den Taten und dann nach der Schreibfeder strecken; vom Blatt des Schwerts zu den Blättern der Schrift, es gibt eine Schriftsteller-Gunst, und die ist ewig.

 

[32]41 Nie übertreiben. Sehr darauf achten, nicht in Superlativen zu sprechen, zum einen, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, die Wahrheit zu beleidigen, zum anderen, um seine Weisheit nicht herabzusetzen. Übertreibungen sind eine Verschwendung des guten Rufs und Anzeichen der Beschränktheit im Wissen und im Geschmack. Lobreden wecken lebhafte Neugier, spornen Begierde an, und wenn dann der Wert nicht der Hochschätzung entspricht, wie es gewöhnlich der Fall ist, dann kehrt sich die Erwartung gegen die Täuschung und rächt sich mit der Geringschätzung dessen, was gerühmt wurde, und der Person, die es rühmte. Der Kluge hält sich also deutlich zurück und zieht den Vorwurf der Unter- dem der Übertreibung vor. Nur Weniges ist herausragend: deshalb besser die Wertschätzung herabtönen. Dinge schönen gehört zum Zweig des Lügens, und man verliert dadurch das Ansehen guten Geschmacks, was schlimm, und des Verstandes, was schlimmer ist.

 

42 Von natürlicher Herrschaft. Sie ist eine geheimeKraft der Überlegenheit. Nicht aus ärgerlicher Verstellung soll sie hervorgehen, sondern aus herrschaftlicher Natur. Ihr unterwerfen sich alle, ohne zu wissen wie, und erkennen die geheimeKraft der naturgegebenen Autorität. Es sind adlige Gemüter, Könige aus Verdienst und Löwen aus angeborenem Vorrecht, welche die Herzen, aber auch die Rede der anderen aufgrund ihrer Achtung erobern. Wenn noch weitere Fähigkeiten mitwirken, dann sind sie geboren, um die ersten bewegenden Kräfte der Politik zu sein, weil sie mehr mit einer Geste ausführen als andere mit aller Weitschweifigkeit.

 

[33]43 Denken wie die Wenigsten und reden wie die Meisten. Gegen den Strom gehen wollen wird nie Irrtümer aufheben, aber sehr wohl Gefahren heraufbeschwören. Allein ein Sokrates könnte das versuchen. Man fasst das Abweichen als Beleidigung auf, weil es das Urteil der anderen verdammt; die Zahl derer, die Anstoß nehmen, vervielfältigt sich aufgrund des Gegenstands der Kritik und wegen desjenigen, der ihm Beifall gab. Die Wahrheit ist eine Sache der Wenigen, der Irrtum ist so gemein wie verächtlich. Nicht an dem, was er im öffentlichen Raum sagt, erkennt man den Weisen, denn dort spricht er nicht mit seiner eigenen Stimme, sondern mit jener der gewöhnlichen Dummheit, sosehr sie auch von seinem Innern abweichen mag. Gegenstand des Widerspruchs werden vermeidet der Weise ebenso wie das Widersprechen: was nahe beim Tadel ist, wird vor der Öffentlichkeit zurückgehalten. Das Denken ist frei, man kann und soll ihm keine Gewalt antun; es zieht sich in den heiligen Innenraum seines Schweigens zurück; und wenn es manchmal losgelassen wird, dann nur im Schatten von Wenigen und Weisen.

 

44 Sympathie mit großen Männern. Eine Fähigkeit des Helden ist es, sich mit Helden zu verbinden: ein Wunder der Natur in seiner Verborgenheit und Vorteilhaftigkeit. Es gibt eine Verwandtschaft der Herzen und der Gemüter, und ihre Wirkungen sind die, welche die Ignoranz der Masse auf Zaubertränke schiebt. Sie bleibt nicht bei bloßer Wertschätzung stehen, vielmehr bringt sie Wohltätigkeit hervor und wird sogar zur Neigung; sie überredet ohne Worte und findet Gelingen ohne Verdienste. Es gibt sie aktiv und [34]passiv; die eine und die andere sind Glücksumstände, umso mehr, wenn sie erhaben sind. Großes Talent, sie zu kennen, sie zu unterscheiden und sie zu nutzen verstehen, denn kein Streben reicht hin ohne diese heimliche Hilfe.

 

45 Reflexionen nutzen, aber nicht überbenutzen. Man soll sie nicht zur Schau stellen; noch weniger zu verstehen geben: alles der Kunst Entsprechende muss verdeckt werden, denn es weckt Verdacht, und am meisten die Vorsicht, sie ist verhasst. Täuschung wird viel gebraucht; man soll den Argwohn vermehren, ohne es zu zeigen, denn das würde Grund zum Misstrauen geben; es löst oft Beziehungen auf und beschwört Rache herauf, ruft Böses hervor, das sich nicht vorstellen ließ. Die Reflexion über das Vorgehen hilft sehr beim Handeln: ein stärkeres Argument fürs Nachdenken gibt es nicht. Die größte Vollkommenheit im Handeln vertraut auf die Meisterschaft, mit der es ausgeführt wird.

 

46 Seine Antipathie unter Kontrolle bringen. Wir pflegen aus freien Stücken zu verabscheuen und noch bevor wir Fähigkeiten gesehen haben; und manchmal wagt sich diese angeborene, gemein machende Abneigung an die herausragenden Männer. Die Weisheit soll sie unter Kontrolle bringen, nichts schadet dem Ansehen mehr, als die Besten zu verabscheuen; so wie die Sympathie für Helden von Vorteil ist, ist die Abneigung ein Makel.

 

[35]47 Die Verpflichtungen fliehen. Ist unter den ersten Elementen der Vorsicht. Große Fähigkeiten sind immer auf großem Abstand zu den letzten Möglichkeiten: von einem Extrem zum andern gibt es weite Wege zu gehen, und sie stehen immer in der Mitte ihrer Weisheit; sie lassen es spät zum Bruch kommen, denn es ist leichter, sich Anlässen zu entziehen, als gut aus ihnen hervorzugehen. Das sind Versuchungen des Urteils, sicherer, ihnen zu entgehen, als sie zu bezwingen. Jedes Vorhaben bringt ein weiteres mit und steht sehr nah am Rand des Scheiterns. Es gibt Menschen, die aufgrund ihres Gemüts und sogar ihres Nationalcharakters zu Risiken neigen, sich leicht Verpflichtungen aussetzen; wer aber im Licht der Vernunft geht, steht immer weit darüber: er hält es für den größeren Mut, sich nicht einzulassen, als zu siegen, und wenn es einen Toren gibt, der zu Risiken neigt, hält er sich heraus, damit es mit ihm nicht zwei sind.

 

48 Ein Mensch mit Tiefe hat entsprechend Persönlichkeit. Immer und in allem muss das Innen deutlich mehr sein als das Außen. Es gibt Leute, die nur Fassade sind, wie Häuser, die noch fertiggestellt werden müssen, weil das Geld fehlte: sie haben den Eingang eines Palasts und den Wohnraum nach Art einer Hütte. Bei ihnen kann man nicht halten; oder alles hält an, weil nach dem Ende des ersten Grußes die Unterhaltung endete. Sie treten mit den ersten Höflichkeiten wie sizilianische Pferde auf, und dann enden sie mit Schweigen, denn die Worte gehen aus, wo es keinen beständigen Fluss des Gedankens gibt. Leicht täuschen sie andere, die auch einen oberflächlichen Blick haben, aber nicht [36]den Scharfsinn, der sie, weil er nach innen schaut, leer findet, einen Spott der Umsichtigen.

 

49 Mensch mit Urteil und genauem Blick.Er beherrscht die Dinge, nicht die Dinge ihn. Er untersucht nämlich den Grund der größten Tiefe; er versteht vollkommen die Anatomie eines Vermögens. Wenn er eine Persönlichkeit sieht, versteht und schätzt er sie in ihrem Kern ein. Mit wenigen Beobachtungen entziffert er die verborgenste Innenwelt. Er nimmt scharf zur Kenntnis, denkt differenziert, folgert mit Urteilskraft; alles entdeckt, bemerkt, fasst und versteht er.

 

50 Nie die Selbstachtung verlieren. Noch mit sich selbst allzu vertraulich sein. Eigene Rechtschaffenheit muss das Maß des richtigen Verhaltens sein, und man soll sich mehr an den Ernst seines eigenen Urteils halten als an alle äußeren Vorschriften. Was anstößig ist, soll man unterlassen, mehr aus Respekt vor der eigenen Klugheit als wegen der Strenge der fremden Autorität. Man soll dahin kommen, sich selbst zu fürchten, dann braucht man nicht den Erzieher, den Seneca sich vorstellt.

 

51 Ein Mensch, der gut auswählt. Davon lebt man am meisten. Ein guter Geschmack und striktester Sachverstand sind Voraussetzungen, Gelehrsamkeit und Verstand reichen nicht aus. Es gibt keine Vollkommenheit ohne Auswählen; und dies schließt zwei Vorrechte ein: dass man [37]aussuchen und dass man das Beste aussuchen kann. Viele Leute mit reichem und feinem Verstand, mit Urteil, Gelehrsamkeit und Scharfblick verlieren die Orientierung, wenn es zum Auswählen kommt; sie verheiraten sich immer mit dem Schlechtesten, so als ob es ihnen darum ginge, zu irren; daher ist dies eine der größten Gaben von oben.

 

52 Nie die Fassung verlieren. Großes Element der Klugheit, nie die Beherrschung zu verlieren: dies spricht für wahre Größe, für Adel des Herzens, denn hoher Geist ist schwer in Rührung zu bringen. Die Leidenschaften sind die Launen des Geistes, und ihr Übermaß setzt die Klugheit außer Kraft; und wenn diese Krankheit den Mund verlässt, wird sie zu einer Gefahr für das Ansehen. Man soll deshalb so sehr Herr über sich selbst und so groß sein, dass einem weder in den günstigsten noch in den schwierigsten Momenten der Vorwurf der Verwirrung, sehr wohl aber hohe Bewunderung gebührt.

 

53 Tätig und intelligent.Die Tätigkeit führt prompt aus, was die Intelligenz ausführlich bedenkt. Eile ist eine Leidenschaft der Toren, die ohne Bedenken handeln, weil sie das Hindernis nicht entdecken; die Weisen hingegen sind gewöhnlich allzu verhalten, denn beim genauen Hinsehen tauchen Bedenken auf. Manchmal verhindert zögernde Tatkraft die Umsetzung von richtigen Einsichten des Sachverstands. Prompt sein ist eine Mutter des Glücks. Viel hat getan, wer nichts für morgen übrigließ. Ein hoher Grundsatz: eile langsam.

 

[38]54 Weisheit mit Kraft verbinden.Den toten Löwen zupfen selbst die Hasen. Mit Mut ist nicht zu scherzen; wer dem Ersten nachgibt, wird auch dem Zweiten nachgeben müssen, und so bis zum Letzten; ähnlich geht es mit späten Siegen, früh wäre besser. Die Kraft des Geistes übertrifft die körperliche Kraft; sie ist wie ein Schwert, das wir immer für den richtigen Moment in der Scheide der Klugheit halten. Sie ist der Schutz unserer Person; es schadet mehr, wenn der Geist als wenn der Körper schwach wird. Viele hatten herausragende Fähigkeiten, die wie tot wirkten und unbenutzt begraben wurden, weil ihnen jener Atem des Herzens fehlte; nicht ohne guten Grund verband die aufmerksame Natur die Süße des Honigs mit dem scharfen Stachel der Biene. Nerven und Knochen gibt es im Körper: der Geist darf nicht nur sanft sein.

 

55 Warten können. Spricht für ein großes Herz, das durch Leiden breiter geworden ist. Sich nie unter Druck setzen oder den Leidenschaften nachgeben. Man soll zuerst Herr über sich selbst sein, und dann wird man Herr über andere werden. Durch die Räume der Zeit zum Mittelpunkt der Gelegenheit wandern. Die weise Zurückhaltung bringt die Einsichten zum Erfolg und die Geheimnisse zum Vorschein. Die Krücke der Zeit richtet mehr aus als die eiserne Keule des Herkules. Gott selbst straft nicht mit einem Stock, sondern mit der Zeit. Ein großer Satz: »die Zeit und ich, wir nehmen es mit zwei anderen auf.« Das Glück selbst beschenkt Warten mit der Größe des Lohns.

 

[39]56 Geistesgegenwart haben. Sie entsteht aus glücklicher Schnelligkeit. Aufgrund ihrer Lebendigkeit und Direktheit gibt es für sie weder Druck noch Zufall. Manche denken sehr viel nach, um dann ganz falschzuliegen; und andere gehen immer richtig, ohne vorher nachzudenken. Es gibt antiparastatische Genies, die unter Herausforderungen besser handeln; sie sind Ungeheuer, weil sie beim Improvisieren immer richtig- und beim Denken immer falschliegen; was ihnen nicht gleich in den Sinn kommt, kommt nie, später nachfragen lohnt sich nicht. Man spendet den Geistesgegenwärtigen Beifall, weil sie eine wunderbare Fähigkeit zeigen: Differenziertheit im Denken; Klugheit im Handeln.

 

57 Sicherer sind die, die nachdenken.Was gut ist, ging schnell genug. Was man gleich macht, löst sich auch gleich wieder auf; was aber für immer halten soll, braucht auch für immer, um zu entstehen. Nur die Vollkommenheit zählt, und nur das Gelungene hat Dauer. Verstand mit Gründlichkeit schafft Dinge für immer. Was großen Wert hat, verlangt große Anstrengung; denn auch das edelste der Metalle dauert am längsten und hat das größte Gewicht.

 

58 Verstehen, sich angemessen zu verhalten. Man muss nicht gegenüber allen gleich viel