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Happy New Year – Zwei Familien, ein Albtraum E-Book

Malin Stehn

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Beschreibung

»Kommt einem so nahe, dass man sich nicht wehren kann.« Mattias Edvardsson Dichter Nebel liegt über der Stadt: Die 17-jährige Jennifer verschwindet von einer Party. Am anderen Ende des Orts stößt ihre Mutter Lollo mit ihren alten Freundinnen Nina und Malena auf das neue Jahr an. Sie haben nicht mehr viel gemeinsam, aber die Silvesterfeier der Familien hat Tradition. Als die Eltern nach einem Abend mit zu viel Alkohol und zu wenig Ehrlichkeit aufwachen, ist der Albtraum Realität. Pure Panik folgt. Dunkle Geheimnisse kommen an die Oberfläche. Wie gut kennen wir unsere Freunde und unsere Liebsten? Und was ist wirklich in dieser Silvesternacht passiert?  »Hinter den perfekten Fassaden von Freunden, Paaren, Eltern und Kindern lauern die Geheimnisse. Unerbittlich nähert sich die Geschichte dem bösen Kern.« Aftonbladet »Was spannend beginnt, wird immer fesselnder, weil Stehn ein Familiengeheimnis nach dem anderen lüftet.« M-Magazin Der packende Bestseller aus Schweden.

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Seitenzahl: 504

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Ähnliche


Malin Stehn

Happy New Year – Zwei Familien, ein Albtraum

Roman

 

Übersetzt von Maria Poets

 

Über dieses Buch

 

 

Endlich Silvester.

Du dachtest, alles wird wie immer. Alte Freunde, viel Sekt, ein bisschen Hoffnung.

Doch dann folgt der absolute Albtraum: Eine der Töchter verschwindet.

Die Panik steigt. Die Beziehungen eskalieren. Wer lügt hier und warum?

 

»Was spannend beginnt, wird immer fesselnder, weil Stehn ein Familiengeheimnis nach dem anderen lüftet.« M-Magazin

»Hinter den perfekten Fassaden von Freunden, Paaren, Eltern und Kindern lauern die Geheimnisse. Unerbittlich nähert sich die Geschichte dem bösen Kern.« Aftonbladet

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Malin Stehn ist fasziniert von der Vielschichtigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie hat über vierzig Bücher u.a. für Kinder und Jugendliche veröffentlicht. »Happy New Year«, ihr erster Roman für Erwachsene, eroberte sofort die Bestsellerlisten und erscheint in mehr als 15 Sprachen. Malin Stehn hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann am Rande von Malmö.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Für meine Eltern

Silvester 2018

Montag

1Fredrik

Als Nina ins Schlafzimmer kommt, stehe ich vor dem Kleiderschrank.

»Sehe ich darin dick aus?«, fragt sie.

Ich werfe meiner Frau einen flüchtigen Blick zu.

»Du siehst klasse aus.«

Mein Blick kehrt zurück zum Schrank und zu den drei Krawatten, die darin hängen. Die mintgrüne von meiner Abiturfeier geht gar nicht. Die Trauerkrawatte passt zu meiner Stimmung, aber nicht zum Hemd. Seufzend nehme ich die hellblaue mit den silbernen Streifen heraus, ein Weihnachtsgeschenk von meiner Schwiegermutter, die schon altmodisch war, als sie sie mir vor fünf oder sechs Jahren geschenkt hat.

»Du hast mich gar nicht richtig angeschaut.«

Nina ist zum großen Bodenspiegel gegangen, dreht sich hin und her und betrachtet sich stirnrunzelnd.

»Es sitzt perfekt«, sage ich.

Nina zupft am grünen Stoff des Kleides. Ich stelle mich zu ihr vor den Spiegel und rieche ihren vertrauten Geruch. Meine Frau benutzt schon seit vielen Jahren dasselbe Parfüm, so lange, dass selbst ich weiß, wie es heißt: Acqua di Giò. Sie zupft erneut am Stoff und murmelt etwas, das ich nicht verstehe. Ich versuche, den Knoten meiner Krawatte zu binden, komme aber nicht sehr weit.

»Willst du die dieses Jahr schon wieder tragen?«

Nina schaut immer noch in den Spiegel, doch ihr Blick ist von ihrem Kleid zu meiner Krawatte gewandert.

»Ich habe keine andere.«

Sie macht einen großen Schritt zum Kleiderschrank, gibt aber auf, als sie sieht, was da am Haken hängt.

»Nächstes Jahr musst du dir unbedingt eine neue anschaffen.«

Ich nicke und höre gleichzeitig die Türklingel.

»Das muss Jennifer sein.« Nina dreht sich zur offenen Tür um. »Smilla! Machst du auf?«

Oben rumpelt es, Smilla poltert die Treppe herunter, und schon bald hören wir zwei Stimmen aus dem Flur.

Nina sieht mich an.

»Wie spät ist es?«

»Zwanzig nach fünf.«

»Zwanzig nach?« Sie rennt zur Kommode und durchwühlt ihre Strümpfe. Ein Paar nach dem anderen landet auf dem Boden neben ihren Füßen. »Mist. Warum vergesse ich immer, mir neue Strümpfe zu kaufen?«

Kurz darauf verlässt Nina das Zimmer mit etwas Schwarzem in der Hand.

»Was ist mit den Jungs?«, fragt sie auf ihrem Weg in den Flur. »Sind sie fertig?«

»Ich sehe nach, wie weit sie sind.«

»Vilgot soll sein Hemd anziehen!«, ruft Nina aus dem Badezimmer. »Es hängt über dem Stuhl.«

Ich knöpfe meine Hose zu, ziehe den Blazer an und kontrolliere das Ergebnis im Spiegel. Mit der Krawatte sehe ich aus wie ein Clown. Es fehlt nur noch die rote Nase.

 

Vilgot und Partykleidung sind keine gute Kombination. Unser Sechsjähriger würde am liebsten nur in Jogginghosen herumlaufen, und manchmal frage ich mich, warum wir darauf bestehen, ihn herauszuputzen. Anton ist in diesem Punkt umgänglicher geworden. Er trägt gern schicke Klamotten und steht jeden Morgen vor dem Spiegel, um sich die Haare zu stylen. Eine Auswirkung der weiterführenden Schule.

»Nettes Hemd«, sage ich, als wir nach unten gehen.

Anton zuckt die Achseln, schenkt mir aber eines seiner seltenen Lächeln.

Auf Höhe der Küche bleibe ich kurz stehen, sehe die beiden Mädchen an der Arbeitsplatte stehen und versuche, mein rasendes Herz zu beruhigen. Jennifer ist kein Ungeheuer. Sie ist eine ganz normale Jugendliche, die Freundin meiner Tochter. Ich muss mich mehrere Male räuspern, bevor meine Stimme wieder trägt.

»Tschüss«, verabschiede ich mich.

Jennifer reagiert nicht, sie scheint beschlossen zu haben, mich nicht zu hören. Sie schneidet einfach weiter den Salat und wendet mir dabei den Rücken zu. Ihr kurzes, enges Kleid lässt nur wenig Raum für Phantasie, und ich tue alles in meiner Macht stehende, um mit meinem Blick nicht an den falschen Stellen hängen zu bleiben.

Trotzdem fühle ich mich ertappt, als Smilla sich umdreht. Sie strahlt mich an, dreht den tragbaren Lautsprecher leiser und kommt zu mir.

»Tschüss.« Ich bekomme eine feste Umarmung. »Danke, dass du geholfen hast, Mama zu überreden.«

Als ob ich eine Wahl gehabt hätte.

Mit einem Arm um meine Siebzehnjährige blitzt ein bescheuerter, aber immer wiederkehrender Gedanke in mir: Ich wünschte, es wäre möglich, seine Kinder im Alter von neun Jahren zu konservieren. Neunjährige sind perfekte Geschöpfe. Sie sind klug und vernünftig, haben aber noch diesen unerschütterlichen Glauben, dass ihre Eltern alles regeln können. Ein Nachmittag in Leos Spieleland genügt, um ihr Bedürfnis nach Aufregung im Leben zu stillen.

»Du weißt, was wir besprochen haben.« Ich trete einen Schritt zurück und sehe meiner Tochter in die Augen. »Lasst niemanden rein, der nicht eingeladen ist, niemanden …«

Smilla hält sich die Ohren zu.

»Ich weiß!« Sie lässt die Hände sinken. »Ihr nervt mich schon seit zwei Wochen damit.«

Ich lasse sie los.

»Wir machen uns einfach Sorgen um dich.«

2Nina

Das Auto steht in der Einfahrt, der bläuliche Schimmer von drei Displays beleuchtet den Innenraum. Ich öffne die Autotür, lasse mich auf den Beifahrersitz sinken und verstaue die Tasche mit dem Nachtisch zwischen meinen Beinen, damit die Schüssel darin nicht umkippt.

»Puh.« Ich sehe meinen Mann an. »Ich bereue es fast.«

Fredrik drückt den Startknopf, und der Motor springt an.

»Was bereust du?«

»Die Party. Ihre Party. Wie verrückt sind wir eigentlich, zwanzig Teenager in unserem Haus Silvester feiern zu lassen?«

Fredrik seufzt.

»Es wird schon gut gehen. Smilla und Jennifer kriegen das hin.«

Wir biegen auf den Agnesfridsvägen ein, fahren an der Schule und dem Videdals Markt vorbei. Hinter dem Kreisverkehr taucht Vita Höja auf, ein neunstöckiger Wohnkomplex. Die erleuchteten Fenster bilden ein gelbes Mosaik über der hellgrünen Leuchtreklame des Supermarkts.

Ich habe Bauchschmerzen. Ich will mir wirklich nicht den Abend verderben, indem ich mir Sorgen um die Mädchen mache, aber meine Besorgnis wird immer größer, je größer die Entfernung zwischen uns und unserem Haus wird.

Eben bin ich kurz an der Haustür stehen geblieben. Plötzlich gab es so vieles, was ich meiner Tochter sagen wollte. Wie heimtückisch hochprozentiger Alkohol sein kann, dass sie niemals etwas tun soll, das sich nicht richtig anfühlt, dass sie so wundervoll ist und dass – in einer perfekten Welt – jeder sich so kleiden können sollte, wie er möchte, dass aber ein durchscheinendes Top unbeabsichtigte Signale aussenden kann. Und so weiter.

Natürlich war es da schon zu spät für einen Haufen Ermahnungen. Und die Mädchen wissen ja Bescheid: höchstens zwanzig Leute, keine Drogen (absolut keine Drogen), nur Apfelwein und Bier. Die Hausbar ist abgeschlossen, und der Schlüssel steckt in meiner Tasche.

Ich wende mich an Fredrik.

»Vielleicht kriegen Smilla und Jennifer das hin. Aber wir kennen nicht einmal die Hälfte der Leute, die kommen. Smilla behauptet, sie hätten nur Klassenkameraden eingeladen, aber das kann jeder sein.«

»Wir müssen lernen, ihr zu vertrauen.«

»Ich bin sicher, dass wir Smilla vertrauen können, aber Jennifer …« Ich versuche, die richtigen Worte zu finden. »Jennifer ist immer schon … über Grenzen gegangen. Du weißt, wie anstrengend sie war, als sie kleiner war, was für einen Scheiß sie ständig angestellt hat. Und Smilla hat einfach mitgemacht.«

»Sie sind jetzt siebzehn«, sagt Fredrik. »Nicht elf.«

Ich sacke in mich zusammen. Diese Diskussion bringt nichts, schon gar nicht jetzt, wo die Entscheidung bereits gefallen ist.

Es gibt unzählige Gründe, warum minderjährige Teenager nicht unbeaufsichtigt feiern sollten. Aber meine Skepsis gegenüber der Party der Mädchen beruht vor allem auf einer Tatsache: Ich kann Jennifer nicht leiden. Ich traue ihr nicht, und ich mag sie nicht.

Es ist mir unangenehm, das zuzugeben. Ich arbeite mit Kindern und kann normalerweise den Schlüssel zu jedem kleinen Herzen finden. Oder zumindest einen Weg, mich allmählich hineinzuschleichen.

Doch Jennifers Herz war für mich immer verschlossen. Als kleines Mädchen war sie wild und laut und wollte immer im Mittelpunkt stehen. Wenn Jennifer und Smilla gespielt haben, war ich ständig in Sorge, dass etwas passieren könnte. Später, als sie Teenager waren, hatte ich richtig Angst. Ich legte für Smilla klare Regeln fest und sagte ihr, was passieren würde, wenn sie diese Regeln brechen sollte.

Die Freundschaft der beiden Mädchen war immer ein schwieriger Balanceakt. Ich wollte nie, dass meine Gefühle auf Smilla überschwappen, Jennifer war wie eine Schwester für sie. Und Fredrik hat immer gefunden, dass ich übertreibe. Er hat immer für Jennifer Partei ergriffen.

Ich persönlich bin erleichtert, dass die Mädchen heute nicht mehr so viel Zeit miteinander verbringen. Die Idee, zusammen eine Silvesterparty zu schmeißen, war für mich eine ziemliche Überraschung. Eine sehr unerfreuliche Überraschung.

»Es geht um Freiheit und Verantwortung«, sagt mein Mann, als könnte er meine Gedanken lesen.

Freiheit und Verantwortung. Fredrik wiederholt unser Mantra aus den Diskussionen der letzten Wochen, und ich muss mir auf die Zunge beißen, um nicht meine Einwände aus denselben Diskussionen zu wiederholen.

Zugegeben, er hat sich zwar nicht gerade positiv über die Party geäußert, aber er hat die ganze Zeit daran festgehalten, dass es viel besser sei, wenn sie zu Hause in unserem Reihenhaus feiern würden, als »sich irgendwo in der Stadt rumzutreiben«.

Dieses Argument akzeptiere ich. Das Problem ist nur, dass wir trotzdem keine Möglichkeit haben werden, nach ihnen zu sehen. Wir werden auf einer anderen Party in einem anderen Teil der Stadt sein. Und jetzt, wo es so weit ist, fallen mir tausend Dinge ein, die auf einer Silvesterfeier mit Jennifer Wiksell schiefgehen können. Auch in einer Reihenhaussiedlung.

Ich drehe den Oberkörper und schaue über meine Schulter. Zwei Augenpaare starren konzentriert auf leuchtende Displays, in den Ohren stecken weiße Plastikstöpsel. Ich gebe den Versuch auf, Kontakt herzustellen, und schaue wieder nach vorn.

Auf dem Inre Ringvägen herrscht dichter Verkehr, vermutlich sind die meisten Leute unterwegs, um irgendwo Silvester zu feiern. Ich versuche, nicht an die Party der Mädchen zu denken, und zwinge mich, meine Gedanken auf unsere eigene Feier zu lenken, bei der wir bald ankommen werden.

Hoffentlich wird die Mousse reichen. Sie wird mit Passionsfrucht und Haferkeksen serviert. Eigentlich hatte ich, in einem kindischen Akt des Protestes, vorgehabt, einfach fertige Kekse im Laden zu kaufen. Aber im letzten Moment habe ich mich doch umentschieden und sie selbst gebacken. Zur Silvesterparty bei Lollo und Max mit Keksen aus dem Supermarkt aufzutauchen, käme einem gesellschaftlichen Selbstmord gleich.

Ich schaue meinen Mann an. Es ist noch nicht lange her, da hätte ich meine Gedanken mit ihm geteilt. Wir hätten uns über das perfekte Haus unserer Freunde und das Chaos in unserem eigenen lustig gemacht, und Fredrik hätte mich beruhigt. Er hätte gesagt, dass erstens Lollo und Max nur Jennifer hätten, um die sie sich kümmern müssten, und dass zweitens Innendekoration und Kochen schon immer Lollos Lieblingsbeschäftigungen gewesen seien.

Früher haben wir gern über die Stärken und Schwächen unserer Freunde geredet, und ich weiß, dass es oft vor allem darum ging, uns unserer eigenen Überlegenheit zu vergewissern. Denn wir kamen immer zu dem Schluss, dass unser Leben das bessere war.

Doch seit einiger Zeit sind diese Gespräche weniger geworden. Eigentlich sprechen wir überhaupt nicht mehr über unsere Freunde, über uns oder über irgendetwas anderes. Das Einzige, worüber wir noch reden, ist Familienlogistik, Dinge, die mit den Kindern gemacht werden müssen. Ich vermisse unsere Gespräche, ich vermisse uns.

Ich könnte all die Jahre dafür verantwortlich machen, in denen wir uns um kleine Kinder kümmern mussten. Aber Vilgot ist letzten Herbst in die Schule gekommen und schon ziemlich selbständig. Anton ist in der siebten Klasse, und Smilla ist fast achtzehn. Unsere Kleinkindjahre sind also vorbei.

»Sind wir schon da?«

Ein kleiner Finger kratzt an meiner Jacke, und ich drehe mich um.

»Fast. Weißt du nicht, wo wir sind?«

»Nö.« Vilgots goldene Locken wippen, wenn er den Kopf schüttelt. »Draußen ist es total dunkel.«

»Siehst du das da drüben, wo es ein wenig heller ist?« Ich deute in die Richtung. »Das ist Klagshamn.«

Vilgot gibt sich damit zufrieden und widmet sich wieder seinem Tablet.

Ich schaue aus dem Fenster in die flache Landschaft, die an uns vorbeirauscht. Die Felder sind mit nackten Weiden gesäumt, die sich dem Meer entgegenneigen. Nebelschwaden hängen über dem morastigen Boden, es ist schwer zu sagen, wo der Himmel anfängt und wo er endet. Winter in Skåne.

»Scheußliches Wetter.« Fredrik schaltet die Nebelscheinwerfer ein und gleich wieder aus, weil sie nichts bringen. »Heute Abend werden wir wohl kein Feuerwerk zu sehen bekommen.«

»Musst du unbedingt so negativ sein?«, frage ich.

»Negativ? Ich sage nur, wie es ist.«

»Haben sie Silvesterknaller nicht verboten?«, fragt eine Stimmbruchstimme von der Rückbank.

»Die Raketen an Stäben sind verboten«, sagt Fredrik und biegt in Richtung Dorf ab. »Aber Feuerwerksbatterien sind erlaubt.« Er schaut zu mir. »Ich wette, Max hat die größte Batterie gekauft, die er kriegen konnte.«

Max gibt gern an, und Fredrik ist noch nie gut damit klargekommen. Mein Mann ist der Meinung, dass der Hauptgrund für alles, was Max tut, eigentlich nur der ist, aller Welt zu zeigen, dass er es sich leisten kann. Und vielleicht ist das ein Teil der Wahrheit. Aber ich glaube, dass Max einfach nur gern verrückte Sachen macht. Er will einfach Spaß haben, der Kerl sein, der immer irgendeine coole Idee hat.

Max ist ein erfolgreicher Immobilienmakler mit einem Büro in der Innenstadt von Malmö, das von seinem Vater gegründet wurde. Max Wiksell hat in seinem ganzen Leben wahrscheinlich noch nie ein Buch gelesen, aber er hat ein Händchen fürs Geschäft und ist extrem zielstrebig. Laut Lollo arbeitet er ununterbrochen, und es scheint sich auszuzahlen.

Max fährt immer neue Autos, trinkt alten Whisky und trägt teure Uhren. Fredrik sagt zwar, dass ihm solche Statussymbole egal seien, doch ist es offensichtlich, dass er das Bedürfnis hat, sich neben Max zu behaupten. Oft indem er genau das Gegenteil von dem tut, was Max tut. Manchmal indem er mit seinem Wissen in Bereichen angibt, in denen Max gern der Experte wäre (Whisky), in Wirklichkeit aber wenig zu bieten hat.

Ich für meinen Teil kann – anders als Fredrik – über Max lachen, wenn er anfängt, herumzuprotzen, oder den Besserwisser heraushängen lässt. Und weil Fredrik – im Gegensatz zu mir – über Lollos selbst gebackenes Sauerteigbrot lachen kann, sind wir wohl quitt. Ich habe es noch nie geschafft, mich nicht mit meiner attraktiven, schlanken und patenten Freundin zu vergleichen. Obwohl ich weiß, dass ich davon schlechte Laune bekomme.

Wir parken ein kleines Stück die Straße runter, weil der Fuhrpark der Wiksells den gesamten Platz auf der großen Auffahrt einnimmt. Ein Meer aus Kerzen brennt draußen vor dem riesigen weißen Haus, und durch das Panoramafenster des Wohnzimmers kann ich Menschen mit Champagnergläsern in den Händen sehen. Ich entdecke Malena, die gerade die Haare zurückwirft und ihr berühmtes Lachen lacht, und zum ersten Mal seit langer Zeit ist mir nach Feiern zumute.

Vielleicht wird der Abend doch gar nicht so übel. Wir werden das neue Jahr mit guten Freunden einläuten. Die Jungs sind bei uns, und Smilla ist ja eigentlich schon fast erwachsen. Es wird Zeit, sich abzunabeln.

»Es tut mir leid.« Ich lege Fredrik eine Hand auf den Oberschenkel.

Er sieht mich an. »Was tut dir leid?«

»Es war unfair zu sagen, dass du negativ bist. Du hast recht. Das Wetter ist beschissen.«

Er lächelt, aber das Lächeln reicht nicht bis zu seinen Augen. »Das hatte ich schon vergessen.«

3Fredrik

In sechs Stunden wird es vorbei sein. Oder nein, halt, in sieben Stunden. Wir werden ganz sicher nicht Punkt zwölf nach Hause fahren. Aber in spätestens sieben Stunden werde ich diesen Weg in entgegengesetzter Richtung entlanggehen. Und wenn ich darüber nachdenke, sind sieben Stunden, im Nachhinein gesehen, ziemlich schnell rum. Das ist nicht einmal ein ganzer Arbeitstag. Ich werde es schon schaffen. In sieben Stunden werden all diese Kerzen heruntergebrannt sein. Ich werde den schlafenden Vilgot raustragen, und auf der Straße wird das Taxi warten.

Moment mal. Ich gehe schneller.

»Hast du ein Taxi reserviert?«

Nina bleibt stehen und dreht sich um. Partyfrisur und Glitzer auf den Lidern.

»Das solltest du doch machen.«

Verdammt! Wie konnte ich das vergessen, wo ich doch sowieso nur von hier wegwill?

Sie starrt mich an.

»Du willst mir doch nicht sagen, du hättest vergessen, ein Taxi vorzubestellen?«

»Es wird schon irgendwie klappen. Ich lass mir was einfallen.«

»Und was genau willst du dir einfallen lassen?« Nina hebt ihre Brauen. »Normalerweise muss man ein Taxi eine Woche vorher reservieren. Mindestens.«

»Ich sage doch, ich lass mir was einfallen.«

Mit meinem Gehirn muss irgendwas ernsthaft nicht stimmen. Ich vergesse Dinge. Wichtige Dinge. Das passt gar nicht zu mir, und das macht mir eine Scheißangst. Kriege ich Alzheimer?

Nina seufzt.

»Nun, ich habe nicht vor, zwei todmüde Kinder mitten in der Nacht zu irgendeinem Bus zu schleifen. Nur, damit du es weißt.«

Sie schiebt die Lippen vor, und Anton sieht uns an.

»Bleiben wir etwa über Nacht?«

»Nein«, sagt Nina entschieden. »Wir fahren nach Hause.« Sie sieht mich demonstrativ an. »Papa wird sich etwas einfallen lassen.«

Die Haustür wird aufgerissen, und eine strahlende Lollo erscheint. Sie hält Chanel auf dem Arm, den Pudel der Familie, der zur Feier des Tages eine riesige, glitzernde Schleife auf dem Kopf trägt.

»Hallo und willkommen!« Lollos Kleid ist wie Jennifers knapp und schwarz. »Kommt herein!« Unsere Gastgeberin tritt zurück, und wir folgen. »Wow, ihr Jungs seid aber groß geworden. Anton, du bist ja fast so groß wie dein Vater. Und Vilgot! Was für ein süßer kleiner Kerl!«

Lollo setzt Chanel ab und umarmt jeden von uns. Nina, die ihr einen üppigen Blumenstrauß in Zellophan überreicht, drückt sie besonders lange.

»Endlich seid ihr da!« Lollo lässt sie los, doch eine Hand bleibt auf Ninas Schulter liegen. »Unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht. Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? War das wirklich am Mittsommerabend?«

Ich weiß, dass es so war, aber mir ist nicht danach, etwas zu sagen. Nina widerspricht schnell und sagt, dass wir uns auf jeden Fall seitdem getroffen haben müssen. Während sie reden, hänge ich Vilgots Jacke auf. Er steht immer noch am Schuhregal, plötzlich eingeschüchtert von all diesen neuen und vergessenen Gesichtern.

Ich wische meine Schuhe an der Fußmatte ab.

»Ist es in Ordnung, wenn ich meine Schuhe anbehalte?«

»Selbstverständlich.« Lollo lächelt. »Keine Party auf Socken, sonst bleiben alle hocken.«

Hat sie sich das ausgedacht, oder ist das tatsächlich eine Redensart? Wie auch immer, es ist bescheuert.

Nina tauscht ihre Stiefel gegen hochhackige Schuhe und scheucht Vilgot und Anton ins Wohnzimmer.

»Komm schon«, lockt sie den zögernden Vilgot. »Ich bin sicher, dass Lollo Chips und Limo für dich besorgt hat.«

Das funktioniert. Der Snackradar unseres Jüngsten springt an.

Ich bewundere meine Frau für ihre Fähigkeit, mit kleinen Kindern umzugehen. Ihre Geduld mit ihnen ist nicht von dieser Welt. Sie ist die geborene Vorschullehrerin. Sie liebt ihre Arbeit, und ich weiß, dass sie nicht nur von den Kindern, sondern auch von den Eltern und ihren Kollegen geschätzt wird.

»Fredde!« Max schlägt mir kräftig auf den Rücken. »Wie geht’s?«

Niemand außer Max nennt mich Fredde.

»Ganz gut. Und dir?«

»Verdammt gut. Großartig. Hast du schon was zu trinken? Der Schampus ist da drüben.« Max streckt einen langen Arm aus und greift nach einem Glas Champagner. »Hier.«

Dom Perignon, natürlich. Bloß keine Abstriche bei der Qualität, sonst könnten die Leute noch denken, die Geschäfte liefen schlecht.

»Danke.« Ich hebe mein Glas. »Also wieder ein Jahr rum.«

»Und wir werden nur jünger.« Max beugt sich zu mir und senkt die Stimme. »Hast du schon Malenas neuen Freund gesehen?«

Ich schaue mich im Raum um, doch ich entdecke weder Malena noch irgendjemanden, der heute Abend ihr Begleiter sein könnte. Nina hilft Vilgot, Cola in ein kleines Glas zu füllen, und vor ihnen stehen zwei Paare, die letztes Jahr ebenfalls auf der Party waren. Beide Paare sind Nachbarn von Max und Lollo, und mir fällt ein, dass ich letztes Mal neben einer der beiden Frauen gesessen habe, aber ich weiß echt nicht mehr, neben welcher. Sie sehen auch dieses Jahr fast identisch aus: blonde Haare, schwarze Kleider, schwarze Pumps.

Ihre Männer dagegen kann ich unterscheiden. Jens Stenman ist beinahe so breit, wie er groß ist, Magnus Göransson ist so dünn, dass er schon fast mager ist. Zusammen erinnern sie mich an Laurel und Hardy.

»Malenas Freund ist Muslim«, flüstert Max und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich kenne Max Wiksell, ich weiß genau, welche Reaktion er erwartet. Und um ehrlich zu sein, bin ich jetzt tatsächlich auch etwas neugierig auf Malenas Freund. Aber diesen Gedanken auszusprechen, würde Max in seiner ohnehin schon recht voreingenommenen Art, die Welt zu betrachten, nur bestärken.

»Na und?«, sage ich. »Die Hälfte meiner Schüler sind Muslime.«

»Schon klar. Aber er ist mit Malena hier, hier in unserem Haus. Ich meine, wer hätte je gedacht, dass du das neue Jahr mit einem …«

»Ist er religiös?«, unterbreche ich ihn.

Max runzelt die Stirn.

»Wie meinst du das? Er ist ein Muslim.«

»Ja, aber ist er ein praktizierender Muslim? Geht er in die Moschee? Betet er jeden Tag? Trinkt er Alkohol?«

»Keine Ahnung«, sagt Max achselzuckend. »Das musst du ihn selbst fragen.«

In diesem Moment betritt Malena in Begleitung eines dunkelhaarigen Mannes das Wohnzimmer. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber er sieht aus wie ein ganz gewöhnlicher Mann mittleren Alters auf einer Silvesterparty. Anzug, Hemd und Krawatte.

»Fredrik!« Malena steuert mit ihm auf mich zu. »Schön, dich zu sehen.« Sie umarmt mich lange und dreht sich dann zu ihrer neuen Liebe um. »Das ist Adem.«

Wir geben uns die Hand, und Max ergreift die Gelegenheit, sich unter die Leute zu mischen.

»Malena besteht darauf, mich als Adem vorzustellen«, sagt der dunkelhaarige Typ mit einem starken Malmöer Akzent. »Aber bitte nenn mich Adde. Jeder nennt mich so.«

»Fredrik«, sage ich. »Nett, dich kennenzulernen. Ich bin mit Nina da hinten verheiratet, die in dem grünen Kleid.« Meine Frau hat sich von den Snacks zu den beiden Nachbarpaaren weiterbewegt. Sie lacht und stößt mit ihnen an.

Als wir zu der kleinen Gruppe rübergehen, ist es, als würde ich die Dinge durch die Augen eines Fremden betrachten. Ich habe das Gefühl, Nina zum ersten Mal zu sehen, und bin beeindruckt, wie wunderschön sie ist. Ihre bernsteinfarbenen Augen, die braunen Locken. Ich liebe sie – diese Erkenntnis kommt fast überraschend. Und ich liebe es, dieses schallende Lachen zu hören. Wann habe ich es das letzte Mal gehört?

»Jetzt kennst du also Nina und Lollo, meine alten Freundinnen vom Gymnasium«, erklärt Malena an Adde gewandt.

Er lächelt.

»Also deine Komplizinnen, wenn ich recht verstehe.«

»Genau.« Malena sieht ihn schmachtend an. »Als Teenager waren wir ziemlich gefährlich.« Sie wendet sich an mich. »Wie ich höre, haben jetzt Jennifer und Smilla den Staffelstab übernommen. Den Alkohol habt ihr aber weggeschlossen, oder?«

»Wie alt sind sie?«, fragt Adde.

»Siebzehn«, sage ich. »Smilla wird im Februar achtzehn.«

»Die besten Jahre im Leben«, sagt Adde mit einem Lächeln.

»Was?« Malena tut beleidigt. »Ich dachte, die beste Zeit wäre jetzt, wo du mich kennengelernt hast.«

Adde küsst sie auf die Wange.

»Natürlich. Die beste Zeit ist genau jetzt.«

4Lollo

Nina steht im Eingang zur Küche. Sie hat ein Champagnerglas in der einen und ein paar fettige Erdnüsse in der anderen Hand. Das erbsengrüne Kleid steht ihr, sie sieht heute Abend ungewöhnlich schick aus. Schick, aber zu dick. Nina hat es schon immer an Charakter gefehlt. Es ist merkwürdig, dass sie sich nicht beherrschen kann. Mit zehn Kilo weniger würde sie so gut aussehen.

»Brauchst du Hilfe?«

»Danke, aber es läuft alles wie am Schnürchen«, sage ich. »Malena hat die Vorspeise gemacht, sie steht schon auf dem Tisch. Alles unter Kontrolle.«

Nina schiebt sich eine Erdnuss in den Mund, kommt einen Schritt näher und senkt die Stimme.

»Hast du schon mit dem neuen Star geredet? Adde heißt er, stimmt’s?«

»Ich habe nur hallo gesagt. Aber er wirkt ganz nett.«

»Und er sieht gut aus«, sagt Nina mit einem Lächeln.

Ich drehe den Wasserhahn auf und halte den Spülschwamm unter heißes Wasser.

»Das tun sie doch eigentlich immer. Gut aussehen, meine ich.«

»Hoffen wir, dass es dieses Mal hält.« Meine Freundin stößt einen leisen Seufzer aus. »Wenigstens Theo zuliebe.«

»Ja, in der Tat.« Ich wringe den Schwamm aus und fange an, über die zwei braunen Flecken zu reiben, die aussehen, als wären sie bereits in die weiße Marmorarbeitsplatte eingezogen.

»Sind Theo und Anton oben? Sie kümmern sich um Vilgot, oder?«

»Ich war gerade oben.« Nina schaut zur Decke hinauf. »Theo und Anton spielen Computerspiele, und Vilgot guckt zu. Bis jetzt scheint er vollkommen zufrieden damit zu sein.« Sie nippt an ihrem Champagner und sieht sich in der Küche um. »Wie schön das mit diesen gemusterten Fliesen geworden ist. Viel lebhafter.«

»Ich weiß, und ich liebe es! Sie sind handgemacht, Direktimport aus Marokko.«

Nina fährt das Wellenmuster mit dem Zeigefinger nach.

»Klingt teuer.«

»Wir haben sie über die Firma gekauft, die Mehrwertsteuer fällt also weg«, sage ich. Ich ärgere mich über mich selbst, kaum, dass ich es sage.

Warum versuche ich, mich zu rechtfertigen? Ich will nicht über Geld reden. Wir landen immer beim Geld, und ich weiß nicht, ob es bei Nina Neugier oder Eifersucht ist. Sie und Fredrik müssen bei zwei Lehrergehältern und drei Kindern ziemlich knapp bei Kasse sein. Aber das ist ihre eigene Entscheidung. Niemand hat sie gezwungen, sich einen schlecht bezahlten Beruf auszusuchen. Fredrik hat sogar seinen Job als Ingenieur aufgegeben, als Smilla klein war, weil er etwas »Sinnvolles« tun wollte. Das ist mir absolut unbegreiflich. Wie kann man freiwillig auf die Hälfte seines Gehalts verzichten? Nina hätte ihn davon abhalten sollen.

Ich sehe sie an. »Max fand das ganze Projekt überflüssig. Die vorigen Fliesen waren erst drei Jahre alt. Aber ich habe es geschafft, ihn zu überzeugen.«

Nina lächelt.

»Darin bist du auch ziemlich gut.«

»Wir haben alle unsere Talente.«

Ich spüle einen Teller ab und stelle ihn in das Abtropfgestell. Ich werde nicht verraten, dass ich mir diese Fliesen mit Tränen erkämpfen musste. Nicht wegen der Kosten, die spielen für Max fast nie eine Rolle. Es ging mehr darum, dass er nicht begriffen hat, warum ich sie wollte. Es war einfacher, ein paar Tränen zu verdrücken, als zu versuchen zu erklären, dass die anderen Fliesen hoffnungslos veraltet waren und dass ich als Einrichtungsexpertin immer auf dem neuesten Stand sein muss.

»Und du hast einen Haufen Talente.« Nina nippt erneut an ihrem Champagner und lehnt sich an die Arbeitsplatte. »Wie läuft es mit dem Blog?«

Niemand scheint zu begreifen, wie viel Arbeit es macht, sich die Themen auszudenken, Bilder zu machen, sie hochzuladen, etwas dazu zu schreiben und alles zusammenzufügen. Ich schätze, ich verbringe gut fünfzehn Stunden pro Woche mit diesem verdammten Blog – obwohl ihn bisher kaum jemand liest. Aber ich weiß, dass mein Blog irgendwann ein phantastisches Portal für meinen Laden und das Onlinegeschäft sein wird, ich muss ihn nur besser bekannt machen.

Nina wartet meine Antwort nicht ab.

»Deine Fotos sehen richtig professionell aus«, fährt sie fort. »Ich habe ein oder zwei Mal hineingeschaut.«

»Du kannst meine Posts gern auf Facebook teilen«, sage ich. »Meine Kunden sind vor allem Frauen in unserem Alter oder älter, wir treiben uns dort immer noch rum. Anders als die Kinder.«

»Apropos Kinder …« Zwischen Ninas Brauen taucht eine Falte auf. »Hast du etwas von Jennifer gehört?«

»Nein. Aber das ist wahrscheinlich ein gutes Zeichen.«

Nina nickt, aber sie wirkt nicht überzeugt und fängt an, neben dem Küchentisch auf und ab zu laufen.

»Wir waren uns nicht ganz einig, Fredrik und ich.«

»Worin?«

Ich trockne meine Hände ab und hänge das Handtuch auf.

»Ob wir zwanzig Teenager in unser Haus lassen sollen oder nicht. Unter anderem.«

Für Bedenken ist es jetzt etwas zu spät. Im letzten Monat haben wir mindestens drei Mal wegen der Party telefoniert, aber dabei ging es eigentlich immer nur um Alkohol und Drogen. Nina hat nie ein Wort darüber verloren, dass der Ort ein Problem sein könnte.

»Na ja, ich meine …« Lächelnd hebt sie die Arme. »Ich habe allem zugestimmt, also war’s das … Aber du weißt, wie das ist. Ich mache mir trotzdem ein wenig Sorgen.«

Ich versuche, nicht laut zu seufzen. Nina ist eine Expertin im Sorgenmachen. Überall sieht sie Probleme, oft schon, bevor es überhaupt welche gibt. Es ist fast immer Smilla, um die sie sich sorgt. Smilla dies und Smilla das. Armes Kind, es kann nicht einfach sein, mit einer Glucke wie Nina zusammenzuleben.

Man muss fähig sein, seinen Kindern zu vertrauen, insbesondere wenn sie im Alter der Mädchen sind. Sie müssen ihre eigenen Fehler machen dürfen. Wenn man ihnen jedes Hindernis aus dem Weg räumt, wie sollen die Kinder dann später mit Schwierigkeiten im Leben klarkommen?

»Ach, hier seid ihr, quatschend in der Küche.«

Malena tanzt zu »Happy New Year« von ABBA, das im Hintergrund dröhnt. Ihr paillettenbesetztes Kleid ist vielleicht etwas zu viel des Guten, aber es sieht klasse aus.

»Darf ich nicht mitmachen?«, fragt sie.

»Doch, natürlich darfst du.« Ich deute mit einem Nicken in Ninas Richtung. »Du kannst damit anfangen, deine Freundin hier dazu zu bringen, sich nicht so anzustellen.«

Malena umfasst ihr Kinn mit einer Hand und tut so, als würde sie Nina von Kopf bis Fuß mustern.

»Lass mich sehen …« Sie lässt ihr Kinn los und hebt einen Zeigefinger. »Meine gründliche Analyse verrät mir, dass du dir Sorgen machst wegen dem ganzen Spaß, den Smilla und Jennifer heute Abend haben werden. Stimmt’s, oder hab ich recht?«

Ich kann mein Lachen nicht unterdrücken. In diesem Punkt waren Malena und ich uns schon immer einig. Unserer Meinung nach ist es sinnlos, sich im Vorhinein Sorgen zu machen. Es ist so unnötig. Und langweilig. Ohne uns hätte sich Nina vermutlich inzwischen zu Tode gesorgt. Zumindest hätte sie ein sehr viel öderes Leben geführt.

»Was?« Nina sieht mich finster an. »Es ist nichts Komisches daran, sich Sorgen zu machen. Ja, Smilla war schon auf anderen Partys, aber jetzt feiern sie das erste Mal bei uns, und …«

»Ach, komm schon.« Malena berührt Nina am Arm. »Es wird alles gut gehen. Sie sind praktisch schon erwachsen. Außerdem – denk doch nur an uns in diesem Alter und was wir damals alles angestellt haben.«

Nina verzieht das Gesicht.

»Genau das tue ich.«

Malena fängt an zu prusten, und ich muss mitlachen. Schließlich muss selbst Nina lachen. Doch dann wird sie wieder ernst.

»Wie geht es eigentlich Theo?«

Malena sieht sie verwirrt an.

»Theo? Was soll mit ihm sein?«

»Na ja …« Nina wird rot. »Ich meine, Anton hat erwähnt, dass Theo gerade eine schwere Zeit durchmacht. Ich habe nicht ganz begriffen, worum es ging, aber …«

»Ach, das.« Malena winkt ab. »Der letzte Herbst war ein wenig hart für ihn, mit dem Umzug und allem. Eine neue Klasse und eine Menge neuer Leute. Ihr kennt Theo.« Sie lächelt breit. »Aber wir können nicht hier herumstehen und Trübsal blasen. Lasst uns mit den anderen drüben anstoßen.«

Ninas Schampus schwappt über, als Malena sich bei uns unterhakt und uns ins Wohnzimmer zieht.

»Du musst aufhören, dir um die Mädchen Sorgen zu machen, Nina!« Malena muss schreien, um die Musik und das zunehmende Stimmengewirr zu übertönen. »Vertrau ihnen. Solange wir nichts hören, ist alles in Ordnung.«

5Fredrik

»Und wisst ihr, was ich gesagt habe?«, brüllt Stenman. »›Zum Teufel‹, habe ich gesagt, ›für diesen Preis bekommst du nicht einmal eine verdammte Jolle.‹«

Der Kerl hat die Grenze zwischen angeheitert und betrunken längst überschritten. Sein Gesicht ist gerötet, und er lacht so laut, dass sein Hemd über seinen wogenden Bauch nach oben rutscht. Seit mindestens zehn Minuten erzählt er uns, wie er vorletzten Sommer versucht hat, sein Segelboot zu verkaufen, und die Muskeln in meinem Kiefer verkrampfen sich.

Ich habe absolut nichts gegen Boote, Papa hatte einen alten Motorsegler, der in Gottskär lag, und im Sommer fuhren wir regelmäßig damit raus. Das Problem ist Jens Stenman. Wie die meisten von Max’ Bekannten ist er ein selbstgerechter Angeber. Ich weiß, dass Jens nur deswegen von seinem Boot schwafelt, weil er uns sagen will, für wie viel er es verkauft hat. Und das ist mir so was von egal.

»Verdammt richtig«, sagt Magnus Göransson. »Die Leute haben heute einfach keine Ahnung. Sie glauben, sie könnten um alles feilschen.«

Stenman nickt.

»Wenn ich etwas verkaufe …« Er schwankt und hält sich an der Tischkante fest. »Wenn jemand anruft und kein Schwedisch spricht, lege ich sofort auf. Ich meine, die stammen aus eher primitiven Kulturen. Bei denen zu Hause läufst du auf dem Markt herum und feilschst die ganze Zeit.«

»Ganz genau.« Magnus fängt an, sich zu ereifern, und beugt sich vor. »Ein Tipp. Als ich meine Arcona 465 verkauft habe, habe ich einen Makler damit beauftragt. Es war verdammt gut, sich nicht mit dem ganzen Scheiß befassen zu müssen. Seriöse Makler haben Kontakte überall in Europa, und sie können den Preis echt in die Höhe treiben. Am Ende zahlen sich die Kosten aus.«

Ich halte mein Glas hoch. »Ich hole mir nur kurz was zu trinken.« Meine Füße gleiten über schwarz gestrichenes Eichenparkett und flauschige Teppiche, weg vom Club für gegenseitige Bewunderung. Männer in Gruppen haben etwas an sich, von dem ich Ausschlag kriege. In den meisten Fällen hat man noch nicht einmal Zeit, hallo zu sagen, bevor der Hahnenkampf losgeht. Und dann wird nur noch von Jobs, Autos, Booten und Geld geredet.

In einer Ecke des Raumes steht Nina zusammen mit Malena und den Blondinen, die mit Jens und Magnus verheiratet sind. Ein Lacher folgt auf den nächsten, und ich umrunde die Gruppe, weil ich spüre, dass meine Anwesenheit ihre ausgelassene Stimmung ruinieren würde.

Lollo eilt zwischen den Räumen hin und her.

»Brauchst du Hilfe?«

»Auf keinen Fall.« Sie lächelt, aber sie hört nicht auf, herumzulaufen. »Nimm dir noch etwas Champagner und entspann dich, Fredrik.«

Ich kann mich nicht entspannen. Mein Kragen kratzt, das Preisschild muss noch dran sein. Ich gehe raus in den Flur, öffne die Haustür und bleibe auf der Schwelle stehen. Die kühle Dezemberluft erinnert mich daran, dass wir bald gehen werden, dass es nur noch ein paar Stunden sind.

Atme, Fredrik, atme.

Ich gehe wieder hinein, stelle mein Glas auf die Kommode beim Spiegel und schleiche mich hinauf in den ersten Stock.

Theo und Anton sitzen auf dem Sofa. Jeder von ihnen bedient einen Controller mit geübten Bewegungen. Vilgot sitzt wenige Zentimeter vor dem Fernseher und erlebt jede Biegung der kurvenreichen Strecke mit. Auf dem ovalen Glastisch steht eine unberührte Schüssel Chips.

»Hi, Jungs.« Ich setze mich neben Anton. »Alles okay?«

»Super.« Anton wendet den Blick nicht eine Sekunde vom Bildschirm ab. »Ich gewinne.«

»Nur in deinen Träumen«, murmelt Theo.

Als das Stimmengewirr im Erdgeschoss lauter wird, lehne ich mich zurück, beobachte die Rennwagen und wünschte, ich könnte den ganzen Abend hierbleiben. Aber als ich hochschaue, gucke ich direkt in Jennifers Zimmer, und sofort ändere ich meine Meinung.

Theo flucht leise, als sein Wagen über eine Klippe fliegt. Die schwarz-weiße Fahne flattert für Anton.

»Das ist nur fair«, ruft er.

Ich gucke zu Theo hinüber.

»Du musst ihn in der nächsten Runde unbedingt schlagen, sonst bildet er sich noch was ein.«

Theo grinst mich an, während Vilgot nach Antons Controller greift. Anton hält ihn fest, doch Theo gibt seinen sofort her.

»Eine Runde«, knurrt Anton seinen kleinen Bruder an. »Nur eine, kapiert?«

Theo war immer schon nett zu Vilgot und hat ihn trotz Antons Protesten mitspielen lassen. Es muss wenigstens zum Teil daran liegen, dass Theo keine eigenen Geschwister hat, mit denen er sich auseinandersetzen muss. Aber er ist einfach auch ein guter Junge. Offenbar hat er Schwierigkeiten, Freunde zu finden, vielleicht verbringt er deswegen Silvester mit zwei jüngeren Kindern. Er ist zwar nur zwei Jahre älter als Anton, aber der Unterschied zwischen dreizehn und fünfzehn kann riesig sein.

Theo zeigt Vilgot, was er machen muss. Seine Stimme ist leise, die Augen teilweise hinter seinen braunen Pony verborgen.

Und plötzlich ist es nicht mehr Theo, der dort sitzt, sondern Simon. Ich blinzle ein paarmal, damit Theo wiederkommt, und dabei denke ich daran, dass er genau im selben Alter ist wie Simon, als er starb.

Mein kleiner Bruder war auch ein schüchterner und ruhiger Junge.

»Und, wie geht’s sonst so?«

Ich muss mich anstrengen, nicht mit der Stimme zu zittern.

»Wie, sonst?«

Theo beugt sich über den Tisch und greift nach den Chips.

»Du hast die Schule gewechselt, oder? Gefällt es dir in Tygelsjö?«

Er zuckt mir den Schultern.

»Komm schon, Papa.« Anton gibt mir einen Stups in die Seite. »Es ist Silvester. Wir spielen. Musst du hier sein?«

»Entspann dich.« Ich stehe auf. »Ich geh ja schon.«

Die offene Tür ist wie ein Magnet, mein Blick wird davon angezogen. Ich kann nicht anders.

Ein weißer Spitzen-BH hängt über dem Kopfteil des Bettes. Es sieht aus, als sei er in aller Eile auf dem Weg zur Dusche dorthin geworfen worden. Aber es könnte sich genauso gut um ein wohlüberlegtes Arrangement handeln.

Ich schlucke hart und laufe eilig die Treppe hinunter.

6Nina

»Ich finde, es ist Zeit anzustoßen!«

Ivanka steht auf und schwenkt ein Weinglas in der Luft.

Ich bin selbst schon etwas angetrunken, aber im Vergleich zu Ivanka Stenman bin ich stocknüchtern. Ihre Lider sind auf Halbmast, und auf ihren Schneidezähnen klebt hellroter Lippenstift.

»Gute Idee.« Max steht ebenfalls auf. »Sollen wir nicht zuerst etwas singen?«

»Natürlich!«, brüllt Magnus Göransson so laut, dass mein rechtes Ohr taub wird. »Komm schon, Anka. Hau das schmutzigste Lied raus, das du kennst.«

Ivanka kichert und streicht ihr kurzes Kleid glatt.

»Ich kenne keine schmutzigen Lieder.«

»Komm schon, Anka. Anka! Anka!«, skandiert Magnus.

Jens Stenmans feuert sie ebenfalls an und klopft dabei auf die Tischplatte.

»Entschuldigung.« Eine angespannte Stimme durchdringt den Lärm. »Bitte denkt daran, dass Kinder anwesend sind.«

Für einen Moment wird es ganz still im Raum, und alle drehen sich in Richtung der Stimme um.

Sie gehört meinem Mann. Ich suche Augenkontakt zu ihm, doch Fredrik starrt Max und Ivanka direkt an. Er sieht aus, als wollte er sie umbringen. Was ist denn mit ihm los?

»Nur ein Vorschlag.« Mein Sitznachbar bricht das Schweigen. »Ich könnte ein richtig schmutziges Lied singen. Auf Arabisch.«

»Das geht nicht.« Ich stupse Adde in die Seite. »Das ist Betrug. Woher sollen wir wissen, dass es wirklich schmutzig ist?«

Er grinst und steht von seinem Stuhl auf.

»Ihr müsst mir einfach vertrauen.«

Mit seinem Weinglas in der einen Hand und die andere als Taktstock nutzend, beginnt Adde zu singen. Ich klatsche im Takt, Lisen stimmt mit ein, und Ivanka macht irgendwelche Verrenkungen, die vermutlich einen Bauchtanz darstellen sollen. Es dauert nicht lange, bis alle aufgesprungen sind und diesen selbst kreierten Bauchtanz tanzen oder im Takt klatschen. Alle bis auf Anton, Theo und Vilgot, die sich von ihrem Computerspiel losgerissen haben, um etwas zu essen. Und Fredrik, der natürlich auch nicht mitmacht.

»Diese Bilder werden in die Geschichte eingehen«, ruft Lollo und fuchtelt mit ihrem Smartphone herum.

Ivanka, die ganz scharf darauf ist, vor der Kamera zu posieren, tanzt so wild, dass sie umkippt.

»Prost, verdammt …«, sagt Max und zieht sie auf die Füße.

Ich setze mich, wische mir mit meiner Serviette die Lachtränen aus den Augen und trinke einen Schluck Weißwein. Er schmeckt himmlisch. Nicht zu sauer und nicht zu süß, und dazu ist er perfekt gekühlt.

»Mama.« Vilgot quetscht sich zwischen Magnus und mich. »Darf ich jetzt gehen?«

Als ich mich umdrehe, um ja zu sagen, schwankt die Welt. Hoppla. Wie viele Gläser Champagner hatte ich eigentlich schon vor dem Essen? Ich habe den Überblick verloren. Ich sollte besser noch etwas essen.

»Natürlich darfst du.«

Ich versuche, Vilgot einen Kuss auf die Wange zu geben, doch er weicht mir aus, und ich wende mich wieder Adde zu.

»Köstlicher Wein. Und die Vorspeise ist auch gut.« Ich verschlinge eine kleine Pirogge und rücke meinen Stuhl näher zu meinem Gesprächspartner. »Und wovon handelt es? Dieses Lied, das du gesungen hast?«

»Das kann ich dir nicht sagen.« Addes dunkle Augen funkeln. »Das ist nichts für deine unschuldigen Ohren.«

»Unschuldig?« Ich habe Schluckauf. »Entschuldigung. Das passiert mir immer, wenn ich trinke.«

»Es war ein Wiegenlied«, sagt er.

»Was?« Ich lache prustend. »Echt?«

Adde nickt und nimmt sich ein paar Oliven von seinem Teller.

»Aber jetzt musst du mir etwas über Malena erzählen.« Er schiebt sich eine Olive in den Mund und lehnt sich zurück. »Erzähl mir etwas richtig Peinliches.«

»Da ist die Auswahl auf jeden Fall groß.« Ich drehe mich zur anderen Seite des Tisches um. »Malena! Dein Freund hier will, dass ich ihm von deinen Jugendsünden erzähle.«

Sie unterbricht ihr Gespräch mit Lisen.

»Was meinst du damit? Meine Vergangenheit ist absolut makellos.«

Alle lachen, und gleichzeitig erfüllt Jens Stenmans polternde Stimme den Raum.

»Prost!« Stenman ist wieder aufgestanden und greift ein paarmal in die Luft, bevor er sein Weinglas zu fassen kriegt. »Ein Hoch auf unsere wunderbare Gastgeberin und auf eine unvergessliche Silvesterparty!«

7Fredrik

Es ist faszinierend, dass Menschen so lange auf einem Haufen zusammensitzen, sich über nichts unterhalten und sich anscheinend trotzdem gut amüsieren können. Ich sehe mich um und finde keine einzige Person an diesem großen Esstisch außer mir, die sich zu langweilen scheint.

Mit einem Neuzugang in der Gruppe hat Max die Gelegenheit ergriffen, all seine alten Anekdoten aus der Jugend hervorzukramen. Diese Geschichten werden mit jeder Wiederholung dramatischer, und da ich Max Wiksell seit mehr als zwanzig Jahren kenne, haben sie inzwischen den Level klassischer Heldenlegenden erreicht.

Niemand am Tisch verrät, dass diese Geschichten immer wieder aufgewärmt werden. Stattdessen spielen sie alle mit und lachen an den richtigen Stellen laut auf. Adde lacht ebenfalls pflichtbewusst. Oder er findet sie tatsächlich lustig.

Malenas neue Liebe ist Ninas Tischgenosse, und sie scheinen sich gut zu verstehen. Wann immer Max zwischen zwei Geschichten eine Pause macht, stecken sie die Köpfe zusammen und unterhalten sich, soweit ich sagen kann, ziemlich vertraulich. Es ist nicht zu übersehen, dass Nina schon ziemlich was intus hat, ihre Gesten sind ausschweifend, und sie kichert albern.

Ich fühle mich außen vor. Und ich bin mir bewusst, warum das so ist: Alle trinken Alkohol. Alle außer mir.

Die Entscheidung fiel nach dem Aperitif. Mir wurde klar, dass Nina recht hat – es wird unmöglich sein, ein Taxi zu bekommen. Hier zu übernachten, kommt absolut nicht in Frage. Sieben Stunden hier in diesem Haus sind mehr als genug, und ich bin derjenige, der vergessen hat, ein Taxi vorzubestellen. Anstatt also den Abend damit zu verbringen, die Apps von jedem Taxiunternehmen in der Stadt herunterzuladen, habe ich beschlossen, mich beim Trinken zurückzuhalten. Ein kleines Glas Champagner zur Begrüßung, ein Glas Wein beim Essen und einen Schluck Schampus um Mitternacht. Dann sollte es kein Problem sein, nach Hause zu fahren.

»Du bist Lehrer, richtig?«

Meine Tischnachbarin dreht sich zu mir um. Wir haben im Laufe des Abends ein paar Höflichkeiten ausgetauscht, und ich habe immer noch nicht herausgefunden, ob sie dieselbe Nachbarin ist, neben der ich vor zwei Jahren gesessen habe. Aber es klingt, als wäre sie es.

»Stimmt. Sport und Mathe. In der Oberstufe.«

»Gefällt es dir?« Sie legt den Kopf schräg. »Heutzutage hört man fast nur noch Schlechtes aus der Schule. Kinder, die sich nicht benehmen können, überlastete Lehrer … Unser Jüngster hat vor fünf Jahren seinen Abschluss gemacht, deswegen bin ich nicht mehr so ganz auf dem Laufenden. Ist es so schlimm, wie man hört?«

»Ich persönlich finde, es läuft ganz gut. Natürlich hat es auch viel damit zu tun, wo du arbeitest, aber an meiner Schule haben wir einen guten Direktor, der sich um alle Probleme kümmert. Bei zweihundert Teenagern unter einem Dach gibt es unweigerlich Probleme. Und ich mag meine Kollegen.«

»Hat es sich denn verändert? Findest du, dass die Kinder keinen Respekt mehr vor dir als Lehrer haben?«

Ich zucke die Achseln.

»Wir müssen uns den Respekt auch verdienen. Aber sicher, im Vergleich zu vor zehn Jahren hat sich etwas verändert.«

Ich zerbreche mir den Kopf, wie ich das Thema wechseln kann. Ich rede nicht mehr gern über meinen Job. Ich bin ein guter Lehrer, und ich fand es immer lustig und inspirierend, meine Zeit mit Jugendlichen zu verbringen. Aber jetzt hängt alles in der Schwebe, und ich will nicht darüber nachdenken.

Außerdem erinnert mich diese Unterhaltung schmerzlich daran, dass in diesem Moment eine Party in unserem Haus stattfindet. Ich schaue zu Nina hinüber und stelle fest, dass der Alkohol eine beruhigende Wirkung auf sie zu haben scheint. Am liebsten möchte ich ins Auto springen, nach Hause fahren und die ganze Sache abblasen. Jeder, der selbst einmal siebzehn war, weiß, dass die Partys in diesem Alter die schlimmsten sind. Oder die besten. Kommt auf den Standpunkt an.

Meine Tischnachbarin öffnet den Mund, um noch etwas zu sagen, doch Lollo rettet mich davor, weiter verhört zu werden.

»Hey alle zusammen!«

Sie steht an ihrem Platz und schlägt mit dem Dessertlöffel gegen ihr Glas.

»Willst du eine Rede halten?«, lallt Max. »Verdammt, das ist doch langweilig. Aber wenn’s sein muss, dann mach schnell!«

Alle lachen. Vielleicht, um seine Bemerkung zu entschärfen. Ich sehe mich um. Sind wir auf unseren Partys immer so betrunken? Bin ich besonders genervt von den anderen, weil ich nüchtern bin, oder haben sich die Leute heute besonders großzügig eingeschenkt?

»Also, ihr wisst, es ist schon fast …« Lollo schaut auf ihre Uhr und grinst. »In einer Stunde fängt schon das neue Jahr an!« An dieser Stelle bricht großer Jubel aus, und unsere Gastgeberin muss eine Pause machen, bis wieder Ruhe eingekehrt ist. »Ich finde, wir sollten alle ein paar Worte darüber sagen, was wir für ein Jahr hatten. Vielleicht erzählen, was das Beste war, was uns passiert ist. Und dann können wir sagen, was wir uns vom neuen Jahr erhoffen. Wäre das nicht lustig? Nur eine schnelle Runde, meine ich.« Sie wendet sich an ihren Mann. »Hast du das gehört, Max? Kurz und knapp, bekommst du das hin?«

Wieder lachen alle.

Mein ganzes Wesen protestiert gegen diesen Vorschlag. Mein Kopf hämmert, meine Hände sind schweißnass, und mein Blick flackert. Ich will weglaufen, doch ich bleibe wie erstarrt auf dem weichen Polsterstuhl sitzen.

»Eine wunderbare Idee!«, ruft meine Tischnachbarin. »Ich fange an.«

»Ausgezeichnet.« Lollo lächelt. »Dann los, Lisen.«

Lisen. Jetzt weiß ich’s wieder.

Und Lisen fängt an zu reden. Sie ergeht sich in einer ausführlichen Beschreibung ihres neuen Jobs und eines oder mehrerer Enkel. Dann kommen ihre Hoffnungen auf diverse Reisen und so weiter und so fort.

Ich schenke mir Wasser aus der Karaffe ein und bete zu höheren Mächten, dass die Runde nach rechts weitergeht und wir es niemals ganz um den Tisch herum schaffen.

Doch natürlich deutet Lollo auf mich, als Lisen fertig ist.

»Du bist dran, Fredrik.«

Mein Herz pocht. Ich versuche zu lächeln, aber ich merke, dass meine Lippen sich aktiv widersetzen. Alles, was ich zustande bringe, ist eine steife Grimasse.

»Komm schon, Herr Lehrer.« Max’ Stimme dröhnt quer über den Tisch. »Irgendwelche Leichen im Keller oder so?«

»Entschuldigt mich.« Ich stehe auf. »Ich werde nur kurz nach den Jungs sehen. Ich habe Vilgot rufen hören. Warum macht ihr nicht in die andere Richtung weiter?«

»Glaub bloß nicht, dass du davonkommst!«, brüllt Max.

Ich würde ihn am liebsten erwürgen, aber ich sage so etwas wie »Bin gleich wieder da« und verlasse eilig das Zimmer.

8Nina

»Du bist dran, Süße.« Lollo sieht mich an. »Wir sind ganz Ohr. Was war für dich das Beste in diesem Jahr? Was erhoffst du dir für das nächste?«

Ich nehme einen Schluck vom Dessertwein, um Zeit zu gewinnen. Am Anfang dieser Runde fand ich es noch eine witzige Idee, typisch Lollo eben, aber plötzlich scheint es sehr wichtig zu sein, etwas Gutes zu sagen.

In ein paar Minuten beginnt das neue Jahr, die perfekte Gelegenheit, um die alte Weihnachtsdekoration rauszuwerfen und frische Tulpen reinzuholen. Warum denke ich an Blumen? Ich habe viel zu viel getrunken, ich fühle mich etwas benommen.

Adde stupst mich in die Seite.

»Hallo Tischdame. Hast du Lampenfieber?«

Ich will nicht kichern, aber das Kichern bricht trotzdem heraus, eine Verlängerung der früheren Lachanfälle an diesem Abend. Es ist lange her, dass ich auf einer Party so viel Spaß hatte. Adde ist wirklich nett und witzig. Ich hoffe, Malena bleibt mit ihm zusammen, er scheint genau der richtige Typ für sie zu sein. Eine gestandene Persönlichkeit, und er hat immer noch dieses gewisse Funkeln in den Augen.

»Also, mal sehen …« Ich lächele Lollo an und versuche, meine Gedanken zu sammeln. »Es war ein gutes Jahr, aber ich weiß nicht, ob mir besondere Höhepunkte einfallen.«

Lollo legt den Kopf schräg.

»Dir fällt doch bestimmt eine gute Sache ein!«

Je länger ich darüber nachdenke, desto schwerer wird es. Bei genauerer Betrachtung war das letzte Jahr überhaupt nicht gut. Fredrik und ich waren uns selten einig, wir haben uns entweder angeschwiegen oder gestritten. Vilgot hatte vier Ohrentzündungen, Smilla und ich haben uns im Grunde über alles gestritten, über das man sich streiten kann, und unser Urlaub ist wegen eines Wasserschadens in der Küche ausgefallen.

»Okay«, sage ich schließlich. »Das Beste ist, dass alle in unserer Familie gesund sind und dass wir so wunderbare Freunde haben.« Ein leiser Pfiff ist zu hören, wahrscheinlich von Max, der das Kompliment sofort auf sich bezieht. »Und für nächstes Jahr hoffe ich …« Mein Blick wandert um den Tisch und bleibt an Fredriks leerem Stuhl hängen. »Ich hoffe, dass es uns weiterhin gut geht.«

Du liebe Güte. Auf einer Skala von eins bis zehn, wie langweilig bin ich? Ist das Wohlergehen meiner Familie der einzige Wunsch, den ich für die Zukunft habe? Das ist jämmerlich. Alle anderen haben von neuen Herausforderungen bei der Arbeit gesprochen, von aufregenden Reisen oder davon, einen Marathon zu laufen.

Bin ich eine langweilige alte Tante geworden? Wahrscheinlich. Will Fredrik deswegen nicht mehr mit mir reden? Weil ich zu alt und zu langweilig für ihn bin? Und zu hässlich?

Wir haben keinen Sex mehr. Ich habe vorher kaum über unser nicht existierendes Sexleben nachgedacht, aber plötzlich trifft es mich wie ein Schlag: Wir haben keins.

Wir hatten so lange kleine Kinder im Haus, dass wir das Verlangen mehr oder weniger zur Seite geschoben haben. Und um ganz ehrlich zu sein, ich vermisse den Sex auch nicht besonders. Ich habe so viele andere Sachen im Kopf: die Arbeit, die Organisation der Familie und Gott weiß was noch alles. In dieser Situation fühlen sich Entspannung und Hingabe wie eine unlösbare mathematische Gleichung an.

Wann haben wir das letzte Mal miteinander geschlafen? Kann das sechs Monate her sein? Wenn ja, dann muss das ein Rekord sein – nicht einmal nach den Geburten der Kinder waren wir so lange enthaltsam.

Mein Mann ist immer noch gut in Form, die grauen Strähnen in seinem Haar sind charmant, und er kleidet sich sportlich und jugendlich. Ich dagegen habe, seit wir zusammen sind, ein paar Kilo zugelegt, und meine grauen Haare sind nicht annähernd so apart wie seine.

Wie aus dem Nichts taucht ein Gedanke auf: Hat Fredrik eine Affäre? Trifft er sich mit einer anderen Frau? Mit einer, die jünger, schlanker und witziger ist?

Ich greife nach meinem halbleeren Glas und trinke einen großen Schluck. Der Wein schmeckt immer noch gut. Mein Blick wandert nach unten, und ich ziehe mein Kleid zurecht, das in der Mitte Falten schlägt. Ich stelle fest, dass es zumindest an meinen Brüsten nichts auszusetzen gibt. Und so fett bin ich nun auch wieder nicht.

»Okay«, ruft Lollo. »Fredrik versteckt sich irgendwo, also hat Max das letzte Wort.« Sie sieht ihren Mann an. »Du hast drei Minuten, keine Sekunde mehr. Wir müssen vor Mitternacht draußen sein.«

Niemand ist aufgestanden, um diese kleine Rede zu halten, doch Max tut es natürlich und beginnt mit einem theatralischen Räuspern.

»Liebe Freunde.« Er schaut über den Tisch, als sei er ein Priester und wir seine fromme Gemeinde. »Es war ein großartiges Jahr. Business as usual, viele Bälle in der Luft. Genau mein Ding, wie ihr wisst.« Er greift nach seinem Weinglas, nimmt einen Schluck und stellt es wieder auf den Tisch. »Und es war auch ein gutes Golfjahr. Ich bin jetzt bei 6,2.« Jemand applaudiert, und Max fährt fort: »Für das nächste Jahr hoffe ich, dass unsere peinliche Regierung die Grenzen komplett schließt. Man kann ja kaum noch auf die Straße gehen …«

Lollo stupst ihn in die Seite.

»Fang nicht mit der langweiligen Politik an, Liebling.«

Max ignoriert sie.

»Und man muss auch keinen verdammten Doktortitel haben, um zu sehen, dass Schweden Probleme hat. Die Straßen sind voll von Bettlern und anderem Abschaum, die sich nicht an die Regeln halten.«

»Das reicht jetzt.«

Dieses Mal klingt Lollo etwas energischer, und Max wedelt mit den Armen und sieht sie mit verschwommenem Blick an.

»Aber das ist doch wahr.«

Das ist so peinlich.

»Achte gar nicht auf ihn«, flüstere ich Adde ins Ohr. »Max hat zu viel getrunken. Normalerweise ist er nicht …«

»Mein Vater hat das schon vor zwanzig Jahren kommen sehen.« Max ist jetzt voll in Fahrt, er fuchtelt wild herum. »Er hat da schon gewusst, dass Schweden auf dem Weg ist, sich in die Scheiße zu reiten. Und es ist nicht so, als wäre es seitdem besser geworden. Verdammt, nicht mehr lange, und wir feiern statt Silvester das muslimische Neujahrsfest.«

Malena steht auf.

»Entschuldige, aber wir haben heute Abend zufällig einen Muslim hier. Du kannst also deinen ganzen Hass direkt bei ihm ablassen, wenn du willst. Na los!«

Max macht ein verlegenes Gesicht, doch er fängt sich rasch wieder.

»Was soll das, Malena?« Er wendet sich an Adde und lächelt breit und strahlend. »Natürlich spreche ich nicht von dir. Du sprichst Schwedisch, du arbeitest und zahlst Steuern. Ich rede von den anderen Leuten, von denen, die von Sozialhilfe leben und …«

»Jetzt reicht es!« Fredrik steht in der Tür. »Du bist betrunken, Max. Und du redest einen Haufen Mist. Wir wollen nichts mehr von dem Blödsinn hören.«

»Komm schon, Fredde.« Max grinst. »Sei doch nicht so verdammt politisch korrekt. Mach die Augen auf und gib zu, dass Schweden Probleme hat. Große Probleme.«

Fredrik macht einen Schritt auf den Tisch zu und richtet seinen Blick allein auf Max.

»Das größte Problem in diesem Land ist, dass Leute wie du …«

»Hallo!« Verzweifelt klopft Lollo mit dem Löffel gegen ihr Weinglas. »Es sind nur noch zehn Minuten von diesem Jahr übrig, und ich schlage vor, dass wir auf die Terrasse gehen. Champagner kommt sofort.«

Rasch stehen wir auf, alle rennen praktisch vom Tisch weg. Adde und Malena unterhalten sich leise, aber eindringlich.

Fredrik kommt mit großen Schritten auf mich zu.

»Komm«, sagt er, »wir gehen.«

»Jetzt?«

»Ja.« Er kocht vor Wut. »Jetzt. Hier können wir keine Minute länger bleiben.«

Ich lege ihm eine Hand auf den Arm, auch, weil der Boden unter meinen Füßen schwankt.

»Beruhige dich, Schatz. Wir können nicht einfach verschwinden. Lollo hat für Mitternacht so viel vorbereitet, und es ist doch nicht ihre Schuld, dass Max sich in einen Idioten verwandelt, sobald er zu viel trinkt.«

»Er ist immer ein Idiot«, murmelt Fredrik. »Aber meistens schafft er es, seine pubertären Gedanken für sich zu behalten.«

»Lass uns noch mit anstoßen. Dann fahren wir nach Hause.«

Ich küsse meinen Mann auf die Wange und ziehe ihn in den Flur. Anton und Theo stehen an der Tür, warm angezogen für das bevorstehende Feuerwerk.

»Schläft Vilgot?«, fragt Fredrik, und Anton nickt.

Kurz darauf sind wir draußen auf der Terrasse, die Lollo mit Hilfe von Lichterketten und Laternen in einen märchenhaften Ort verwandelt hat. Die Laternen stehen in Gruppen zusammen, geschmackvoll arrangiert neben den immergrünen Pflanzen in großen, mit Jutesäcken bedeckten Kübeln. Lollo, die einen Pelz trägt, schenkt Champagner in hohe Flöten. Mir fällt eine phantastische Eislaterne mit eingefrorenen pinken Rosen auf, die auf dem Tisch neben den Gläsern steht und langsam schmilzt. Wie hat sie das bloß hinbekommen?

Die Nachbarn stehen zusammen vor der Terrassentür, Adde und Malena stehen ein wenig abseits. Malena gestikuliert wild, während Adde ihr eine Hand auf den Arm legt und offenbar versucht, sie zu beruhigen. Max ist draußen auf dem Rasen mit seinem Feuerwerk beschäftigt. Seine gebückte Gestalt ist hinter der Poolüberdachung zu sehen.

»Geht nicht so nah ran!« Fredrik versucht, die Aufmerksamkeit der Jungen auf sich zu lenken, dann dreht er sich zu mir um. »In seinem Zustand sollte er nicht damit herumspielen.«

Ich schaue zu Max. Eine Strähne hat sich aus seinem zurückgegelten Haar gelöst und hängt ihm übers Ohr. Er fummelt mit einer Schachtel Streichhölzer herum und stößt einen langen Fluch aus, offenbar ist es nicht so einfach, sie in der feuchten Luft zu entzünden.

»Das klappt schon«, sage ich und reiche meinem Mann ein Glas. »Gut, dass die schlimmsten Raketen verboten sind.«

Die Kälte macht mich ein wenig nüchterner. Ab jetzt werde ich zwischendurch immer ein Glas Wasser trinken.

In diesem Moment ruft Lollo: »Frohes neues Jahr!«, und ein kontrolliertes Chaos bricht aus. Fredrik und ich mischen uns unter die anderen Partygäste. Wir stoßen an und umarmen uns und wünschen einander einen guten Start ins neue Jahr.

Endlich hat Max es geschafft, ein Streichholz anzuzünden, und Raketen in verschiedenen Farben steigen in den grau-schwarzen Himmel auf. Wir klatschen und jubeln jedes Mal übertrieben begeistert, wenn eine neue funkelnde Sternenkaskade über unseren Köpfen aufsteigt.

Ich halte Lollos Designerglas in meinen steif gefrorenen Fingern, lehne mich an Fredrik und schmiege mich in seine warme Umarmung. Schweigend betrachten wir die eindeutig weniger großartigen Feuerwerke der Nachbarn, die über der Hecke aufflackern.

Ich drehe mich um und versuche, Fredriks Blick einzufangen.

»Frohes neues Jahr.«

Er lächelt.

»Frohes neues Jahr, Nina.«

Wir stoßen an, die Gläser klirren. Ich will etwas sagen, dass es ein Scheißjahr gewesen ist, doch in letzter Sekunde überlege ich es mir anders. Die ersten, zaghaften Minuten des neuen Jahres mit einem bitteren Kommentar einzuleiten, kommt mir schicksalhaft vor, als könnte die Bitterkeit sich festsetzen und den Ton für alle folgenden Minuten angeben. Vielleicht haben wir jetzt, in diesem Moment, die Chance, das Alte hinter uns zu lassen und ganz neu anzufangen.

Ich weiß, dass der Kalender eine menschliche Erfindung ist, dass dieser neue Tag sich in nichts von dem unterscheidet, den wir hinter uns gelassen haben. Aber vielleicht kann die Symbolik – neues Jahr, neue Möglichkeiten – ausnahmsweise einmal hilfreich sein. Vielleicht können wir sie nutzen, um wieder zueinanderzufinden.

Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und gebe Fredrik einen Kuss. Wir stoßen erneut an, und eine Stimme in mir sagt, dass alles wieder gut werden wird, dass es eigentlich nur besser werden kann.

9Fredrik

Ich verlasse die Terrasse unter dem Vorwand, auf die Toilette zu müssen. In Wirklichkeit kann ich Ninas liebevollen Blick nicht länger ertragen. Ich bin es nicht wert.

Hinter der verschlossenen Tür sacke ich auf den Toilettensitz, beuge mich vor und stütze den Kopf in die Hände. Wie bin ich nur hier gelandet? In dieser Situation. Wenn ich doch nur nicht … Ich seufze tief. Wie oft bin ich in Gedanken an diesen Punkt zurückgekehrt? Wenn ich doch nur nicht … Es ist so verdammt sinnlos.

Mein Gedankengang wird unterbrochen, als das Telefon in der Tasche meines Jacketts anfängt, meinen Lieblingssong zu spielen. Mein Magen zieht sich zusammen. Ist auf der Party bei uns zu Hause etwas passiert?

Ich ziehe mein Smartphone heraus, sehe eine unbekannte Nummer auf dem Display und atme aus. Doch meine Erleichterung verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist. Eine unbekannte Nummer könnte bedeuten, dass eine Freundin von Smilla anruft – weil Smilla sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hat. Oder es ist ein Nachbar, der anruft, um mir mitzuteilen, dass sie wegen der Party die Polizei gerufen haben, weil die Musik zu laut ist oder weil sie Schüsse gehört haben.

Der Song von Def Leppard läuft weiter. Ich starre auf die Zahlenreihe, als wäre es ein Code. Eine geheime Nachricht, die ich als Mathelehrer entschlüsseln können sollte. Aber die Zahlen sagen mir gar nichts, und am Ende halte ich mir das Telefon ans Ohr.