Nur eine Lüge – Zwei Familien, eine tödliche Verbindung - Malin Stehn - E-Book
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Nur eine Lüge – Zwei Familien, eine tödliche Verbindung E-Book

Malin Stehn

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Beschreibung

Zwei Familien, erst Freunde, dann Feinde – verbunden durch eine tödliche Hochzeit Emily Brandt hat ihre Schlosshochzeit mit William Nihlzén minutiös geplant. Nur drei Dinge hat sie nicht unter Kontrolle: das Wetter, ihre Mutter Annika und ihren Bruder Erik. Das Wetter spielt mit, doch während der extravaganten Feier kommt es zu Spannungen, verschüttete Wahrheiten kommen an die Oberfläche – und kurz nach Mitternacht liegt eine Leiche am Ufer des Öresunds. Acht Jahre zuvor zerriss die idyllische Mittelklasse-Existenz der Familien Brandt und Nihlzén durch ein furchtbares Ereignis. Freundschaften und Ehen zersplitterten. Und jetzt treffen alle wieder aufeinander – bei dieser Hochzeit, die sie für immer verbinden soll. Hochspannend und empathisch verwebt die schwedische Bestseller-Autorin Malin Stehn die unaufhaltsamen Ereignisse des Hochzeitstags und der Vergangenheit. »Ein Roman der Extraklasse für alle, die fesselnde Beziehungsgeflechte mögen. ›Nur eine Lüge‹ übertrifft sogar noch den Vorgänger ›Happy New Year‹.« Smålandsposten »Ein feinsinniger Pageturner, den man in einem Zug verschlingt.« Skånska Dagbladet »Hervorragende Psychospannung, die wieder dieses schleichende, unheimliche Gefühl erzeugt, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt. Unmöglich, das Buch aus der Hand zu legen.« Barometern Feinste psychologische Spannung aus Skandinavien.

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Seitenzahl: 465

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Malin Stehn

Nur eine Lüge –

Zwei Familien. Eine tödliche Verbindung

 

Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger

 

Über dieses Buch

 

 

Hochspannend und empathisch verwebt Malin Stehn die unaufhaltsamen Ereignisse des Hochzeitstags und der Vergangenheit. NUR EINE LÜGE zeigt, wie unüberlegte Entscheidungen sich Jahre später rächen. Und dass sich das ganze Leben innerhalb eines Wimpernschlags ändern kann. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Malin Stehn ist fasziniert von der Vielschichtigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Für ihr umfangreiches Werk wurde die schwedische Autorin vielfach ausgezeichnet. Ihre raffinierten psychologischen Spannungsromane »Happy New Year« und »Nur eine Lüge« eroberten sofort die Bestsellerlisten und werden in viele Sprachen übersetzt. Malin Stehn hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann bei Malmö.

Für Lukas und Elvira

Prolog

Emily

Er liegt direkt unterhalb der Böschung, mit der Wange im taunassen Gras. Der verknitterte Frackschoß ist unter den Rücken gerutscht, sein rechter Arm unnatürlich abgewinkelt. Er sieht aus, als würde er schlafen.

»Emily Brandt?«

Ein uniformierter Polizist kommt auf mich zu. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe gleitet durch den Park, und für einen kurzen Moment leuchten Bäume und Büsche grün auf, nur um sofort wieder mit der Dunkelheit zu verschmelzen.

»Nihlzén«, sage ich. »Emily Nihlzén.«

»Haben Sie ihn gefunden?«

Der Polizist nickt in Richtung der Böschung. Ich schaue nach oben und betrachte den Vollmond, der wie eine fahle Discokugel über dem Sund hängt. Es sieht schön aus, wie ein Gemälde. Ich würde gern dort verharren, aber das Licht der Taschenlampe zwingt mich zurück. Die Frage wird wiederholt, und ich schüttele den Kopf, gerate ins Taumeln.

»Wollen Sie sich lieber setzen?«

Der Polizist greift nach meinem Handgelenk, und ich bohre die Absätze in den Boden, hebe die Schleppe auf und lege sie mir über den Unterarm.

»Nein, es geht schon.«

»Es waren also nicht Sie, die ihn gefunden haben?«

»Unsere Gäste …« Ich drehe mich um. »Wie … Was sollen wir mit unseren Gästen machen?«

Er antwortet nicht, sondern führt mich stattdessen weg.

Wir gehen langsam, folgen dem Kiesweg. Mein Körper ist schwer, und gleichzeitig spüre ich ihn kaum, meine Füße stolpern einfach vorwärts.

Die Gartenfackeln sind längst abgebrannt. Ein Krankenwagen und zwei Polizeiautos parken auf dem Vorplatz. Sie sehen aus wie Fremdkörper, gehören nicht hierher. Von der Schlossterrasse dringt aufgeregtes Stimmengewirr herüber. Festlich gekleidete Frauen und Männer stehen dicht gedrängt an der niedrigen Balustrade, spähen in den dunklen Park hinunter.

Als wir die Treppe erreichen, verstummt das Gemurmel. Es kommt mir vor, als würden sich alle nach mir umdrehen, mich anstarren. Verschwommen sehe ich durch den Tränenschleier, wie sich meine weißen Pumps von einer Stufe zur nächsten bewegen. Ich lasse mich von dem Polizisten zu den Glastüren bringen.

So viele Menschen sind hier, aber um mich herum ist es unwirklich still.

Doch gerade als ich über die Schwelle des Speisesaals trete, durchbricht ein Geräusch die Stille. Es dringt vom Park herauf. Zuerst ist es ein leises Wimmern, dann steigert es sich zu einem klagenden Schrei.

Abgrundtiefe Verzweiflung zerreißt die Augustnacht.

Die Hochzeit

1Annika

Die Morgensonne hat eine Fliege geweckt, die jetzt hartnäckig um meinen Kopf herumschwirrt. Ich versuche eine Weile, sie zu ignorieren, klammere mich am Halbschlaf fest. Dann werde ich wütend. Was will diese verdammte Fliege ausgerechnet hier bei mir? Meine Wohnung ist zwar nicht besonders groß, aber für uns beide ist eigentlich wirklich genug Platz. Als sie zum dritten Mal auf meiner Nase landet, schlage ich zu, aber statt der Fliege treffe ich nur mein Gesicht.

Heute ist er da. Der Samstag, den ich sieben Monate lang mit allen Mitteln zu verdrängen versucht habe. Der Samstag, der mit einem dicken schwarzen Kreuz in meinem Kalender markiert ist. Ich hebe die Wolldecke an, unter der ich die letzte Nacht verbracht habe, taste mit der Hand das Sofa ab und finde mein Handy in der Polsterritze. Auf dem gesprungenen Display steht, dass es Viertel vor sechs ist. Ich hätte noch zwei Stunden Schlaf gebraucht. Mindestens. Aber jetzt hat sich das Gedankenkarussell in Gang gesetzt, und es ist unmöglich, wieder einzuschlafen.

Ich lasse den Kopf auf das Sofakissen zurückfallen, das Handy rutscht mir aus der Hand und landet auf dem Teppich unterm Couchtisch. Ich mache die Augen zu, bleibe ganz still liegen und bemerke ein dumpfes Pochen hinter der Stirn. Warum habe ich gestern getrunken? Wenn es dieses Jahr einen Tag gibt, an dem ich fit sein muss, dann heute. Was habe ich mir bloß dabei gedacht?

Die Wahrheit ist, dass ich eigentlich sehr wohlüberlegt an das Ganze herangegangen bin. Es war Freitagabend nach einer langen Arbeitswoche. Meine Nerven lagen blank, und ich wusste, dass ich es ohne Alkohol nicht schaffen würde einzuschlafen. Der Plan war, ein Gläschen Roten zur Pizza zu trinken, allerhöchstens zwei. Der Tetrapack Wein neben mir auf dem Tisch lässt darauf schließen, dass es ein bisschen mehr geworden ist. Mir ist übel. Ob das am Alkohol liegt oder am heutigen Datum, ist schwer zu sagen.

Die Fliege ist ans Fenster weitergezogen und wirft sich mit beeindruckender Vehemenz gegen die Scheibe. Ich zähle an den Fingern ab. In sieben Stunden muss ich reisefertig sein, eine Tasche für die Übernachtung gepackt und etwas gegessen haben. In sieben Stunden muss ich mich hinters Steuer setzen. Ich habe keine Ahnung, wie ich den Weg dorthin bewältigen soll. Es fühlt sich an, als hätte ich eine Gipfelbesteigung vor mir. Oder vielleicht doch eher eine Wüstendurchquerung. Meine Zunge klebt am Gaumen, aber im Moment kann ich mich nicht einmal überwinden, vom Sofa aufzustehen, um mir ein Glas Wasser zu holen.

Dabei wird alles, was danach kommt, noch viel schlimmer werden als die Vorbereitungen.

Zusammen mit meiner loyalen Kollegin Pirkko habe ich stundenlang nach Ausreden gesucht, um mich vor diesem Tag zu drücken. »Habe schon Urlaub gebucht«, »die Katze muss operiert werden« oder »ich habe Magen-Darm-Grippe« sind nur einige der Ideen, die im Gespräch waren. Aber es gibt keine akzeptable Entschuldigung. Und ich nehme an, dass ein mikroskopisch kleiner Teil von mir tatsächlich dabei sein will. Sonst hätte ich ja nicht zugesagt, oder?

An einem Mittwoch im Januar lag der Brief auf der Fußmatte hinter der Wohnungstür. Ich war gerade nach einem kurzen Abstecher in den Supermarkt von der Arbeit nach Hause gekommen. Ein eiskalter südschwedischer Regen in Kombination mit kräftigem Wind hatte mich gezwungen, meine Winterjacke bis oben zuzumachen, die Kapuze über die Strickmütze zu ziehen und festzuzurren. Nur die Nase und die Brille waren noch zu sehen.

Mir schwante schon auf den ersten Blick, dass dieser Brief nichts Gutes verhieß. Das lag an der Farbe des Umschlags – zartrosa – und daran, dass ich die Handschrift erkannte. Die Handschrift meiner Tochter.

Den Anorak immer noch bis zum Hals zugeknöpft, sank ich auf den Hocker neben der Kommode, schob den Zeigefinger unter die Umschlaglasche und riss das Kuvert auf. Eigentlich war es keine große Überraschung. Trotzdem bekam ich Herzrasen, als ich die verschnörkelten, silbernen Buchstaben auf der gedruckten Karte sah. Das Papier blieb an meinen schweißnassen Fingern kleben, und meine Brille war nach dem Spaziergang beschlagen, aber ich konnte den kurzen Text dennoch problemlos entziffern:

Save the Date!

Wir heiraten am 24. August.

Weitere Informationen folgen auf der Hochzeitseinladung.

Emily & William

Beim Gedanken an diese Worte läuft es mir immer noch eiskalt den Rücken hinunter, und ich ziehe die Füße unter die Wolldecke. Die Fliege scheint ihren Ausbruchsversuch aufgegeben zu haben. Ich höre sie noch, aber das Brummen wird immer leiser.

Ich wünschte, ich wäre irgendwo anders. Oder noch besser: Ich wünschte, ich wäre jemand anderes. So hatte ich mir das alles nie vorgestellt. Aber es ist naiv zu glauben, man könne das Leben planen. Was passiert, passiert, und wenn man versucht, die Zukunft zu planen, wird man doch nur enttäuscht.

2Emily

»Ich liebe dich.«

William küsst meine verschwitzte Stirn, rollt auf seine Seite des Betts und bleibt keuchend auf dem Rücken liegen.

»Und ich …« Die Worte kommen stoßweise. »Ich liebe dich.« Ein Blick auf die Uhr lässt mich nach Luft schnappen. »Shit, William! Wir müssen uns beeilen. Das hier war nicht eingeplant.«

Ich schaue in ein Paar funkelnde blaue Augen.

»Das ist ganz allein deine Schuld.« Er lacht. »Ich kann schließlich nichts dafür, dass du so unwiderstehlich bist.«

Ich setze mich auf, knuffe ihn leicht in die Seite und rutsche an die Bettkante.

»Los, raus aus den Federn!«, rufe ich auf dem Weg ins Bad. »Ibbe wartet auf dich.«

»Entspann dich, Schatz. Ich habe alles im Griff.«

Ich springe unter die Dusche, drehe das Wasser auf und mache die Augen zu. Heute ist er endlich da, der Tag, auf den ich mich schon so lange gefreut habe. Ich habe den kompletten Ablauf wie einen Film in meinem Kopf gespeichert. Ich weiß, wie die Szenen geschnitten werden, welche Musik im Hintergrund laufen wird und wie das Schlussbild aussehen soll. Dasselbe gilt für die Fotos. Ich sehe sie ganz genau vor mir und habe sie gedanklich schon alle in ein Erinnerungsalbum mit dem Titel Unsere Liebe einsortiert. Oder wie auch immer es schließlich heißen wird.

»Alles in Ordnung?«

Williams Stimme lässt mich zusammenzucken. Er steckt den Kopf zu mir in die Dusche. Ich nehme den Duschkopf und richte den Wasserstrahl direkt auf ihn. Er schafft es gerade noch, in Deckung zu gehen.

»Sorry!« William lacht auf der anderen Seite der matten Glasscheibe. »Ich konnte nicht anders.«

Während ich mir die Beine rasiere, gehe ich im Kopf die To-do-Liste durch und überlege, was noch zu erledigen ist. Es ist nicht mehr viel, die meisten Punkte sind abgehakt.

Während des letzten Jahres habe ich mehr oder weniger meine gesamte Freizeit damit verbracht, Angebote von Hochzeitslocations einzuholen, Drei-Gänge-Menüs zu probieren und das perfekte Kleid zu finden. Ich habe Blumen ausgesucht, Musiker und einen Fotografen gebucht, mich um die Einladungen, die Tischkarten und das Liederheft gekümmert. Ich behaupte mal, dass ich dabei sehr von meinem Job in einer Werbeagentur profitiert habe. Als Koordinatorin habe ich selbst zwar nichts mit Design zu tun, aber meine Kollegen haben mir bei der Auswahl der richtigen Papierqualität, Farben und Schriftarten für die Drucksachen sehr geholfen.

Da William seinen Job ja nicht vernachlässigen durfte, hatte er irgendwann vorgeschlagen, einen professionellen Hochzeitsplaner zu engagieren, aber nach reiflicher Überlegung entschied ich mich dagegen. Ich wollte nicht, dass jemand Fremdes unseren großen Tag plant. Schloss Örenäs entdeckte ich eher zufällig, als mir eine Bekannte im Fitnessstudio einen Instagram-Beitrag zeigte. Ich ging auf die Internetseite und wusste sofort, dass ich den perfekten Ort für uns gefunden hatte. Romantisch, luxuriös, und auch die Größe ist ideal.

William hat ein Boulevardblatt eingeladen. Oder besser gesagt: Das Magazin muss dafür bezahlen, dass seine Reporterinnen unsere Hochzeit exklusiv begleiten dürfen. Es fühlt sich ein bisschen billig an, sich an die Klatschpresse zu verkaufen. Andererseits ist es schön, nur eine begrenzte Anzahl von Journalisten vor Ort zu haben.

William löst mich unter der Dusche ab, und ich ziehe meinen Morgenmantel über, gehe zurück nach oben in die Küche und decke den Frühstückstisch ab, den wir so stürmisch verlassen haben. Muss ein bisschen grinsen, als ich daran denke, wie er mir vorhin ins Schlafzimmer nachgerannt ist. Niemand bringt mich so aus dem Gleichgewicht wie William. Und ihm scheint es ganz genauso zu gehen. Auch nach fünf Jahren fällt es uns immer noch schwer, die Finger voneinander zu lassen. Ich liebe, liebe, liebe ihn. William ist die Liebe meines Lebens, und ich lasse diesen Mann nie wieder los.

»Ich gehe dann jetzt.«

William ist angezogen und hat seine Reisetasche an die Treppe gestellt. Der lange Kleidersack mit seinem Frack hängt über dem Geländer.

»Das ging schnell.« Ich gehe zu ihm, lege meinen Kopf an seine Brust. »Bist du nervös?«

»Überhaupt nicht.« Er drückt mir einen Kuss aufs Haar. »Du hast ja an alles gedacht.«

Ich mache einen Schritt zurück.

»Das stimmt. Es gibt eigentlich nur einen einzigen kleinen Unsicherheitsfaktor …«

»Und der wäre?«

Er sieht aufrichtig ratlos aus.

»Mama.«

»Ach was.« William geht zur Treppe und greift nach den Lederhenkeln der Reisetasche. »Mach dir keine Sorgen. Es wird schon alles gutgehen. Sie blamiert sich doch sonst auch nicht vor aller Öffentlichkeit?«

»Das letzte Mal ist zumindest lange her.« Ich schüttele den Kopf, vor allem, um das ungute Gefühl loszuwerden, das nicht so richtig verschwinden will. »Aber du hast recht, ich sollte aufhören, mir ihretwegen Gedanken zu machen.«

»Grüß Cissi und Amanda.« William wirft mir einen Luftkuss zu, dann nimmt er den Frack vom Geländer. »Ich vermisse dich jetzt schon.«

Die Stahlkonstruktion der Treppe knarrt unter seinen Füßen, und kurz darauf fällt die Wohnungstür hinter ihm zu. Ich schlinge den Morgenmantel enger um mich, stelle mich ans Panoramafenster und winke. Sehe gerade noch, wie William die Hand hebt, ehe er außer Sicht verschwindet. Vor mir glitzert das Meer, und am Horizont zeichnet sich die Silhouette der Öresundbrücke ab. Ein Jogger mit Kopfhörern biegt an der Bar Italia um die Ecke, ein paar Touristen fotografieren sich gegenseitig draußen am Titanic-Aussichtspunkt, der aussieht wie ein Schiffsbug. Und die Sonne scheint, genau wie in meinen Träumen.

Ich verlasse das Fenster, suche mein Handy und entsperre es. Der vierundzwanzigste August. Ich kann immer noch nicht glauben, dass unser Tag endlich gekommen ist. Nichts darf ihn kaputt machen – nichts kann ihn kaputt machen.

Erik nicht. Mama nicht.

Mir wird ein bisschen flau. Mein Bruder verhält sich eigentlich meistens eher unauffällig, aber bei Mama kann man sich nie so ganz sicher sein. War es richtig, dass ich sie eingeladen habe?

Neben dem Wetter ist Annika Brandt einer der wenigen Punkte in meiner akribischen Hochzeitsplanung, über die ich keine Kontrolle habe. Ich weiß, was sie von William hält. Das weiß jeder, der meine Familie kennt oder früher mal kannte. Mama hat nie ein Geheimnis daraus gemacht. Im Gegenteil. Sie hat ihre Meinung immer gleich herausposaunt, sobald ihr jemand die Gelegenheit dazu gegeben hat.

Als William und ich ein Paar wurden, dachte ich, es könnte nur besser werden. Dass sie anfangen würde, ihn als den Menschen zu sehen, der er heute ist. Ich hoffte auf Versöhnung. Auf einen Neustart für Mama und mich, für Mama und William und vielleicht sogar für unsere Familien. Aber weder die Verlobung noch die Hochzeitsvorbereitungen hatten diesen Effekt. Tatsächlich hat jeder Schritt nach vorn uns nur noch weiter voneinander entfernt. Mama benimmt sich wie ein Kleinkind. Seit wir bekanntgegeben haben, dass wir heiraten wollen, hat sie kaum ein Wort mit mir gesprochen.

Papa hat versprochen, heute ein Auge auf sie zu haben, und er tut mir deshalb ein bisschen leid. Eigentlich sollte er den schönen Abend genießen dürfen und nicht den Babysitter für seine angetrunkene Exfrau spielen müssen. Aber ich fühle mich vor allem dafür verantwortlich, dass der Tag für William perfekt wird. Wenn ich daran denke, was Mama schon alles gesagt und getan hat, will ich kein Risiko eingehen. Man darf nicht vergessen, dass William inzwischen in der Öffentlichkeit steht. Die Leute sind neidisch auf seinen Erfolg, und neidische Menschen lauern auf Fehler.

Es wäre unglaublich peinlich, wenn Mama sich vor unseren Gästen und den geladenen Reporterinnen volllaufen ließe. Aber andererseits: Was wäre ich für eine Tochter, wenn ich meine eigene Mutter nicht zum schönsten Tag meines Lebens einladen würde?

3Erik

»Weißt du, wo dein Frack ist?«

Nikes Schritte kommen näher, und ich lasse den schwarzen Stoff los und mache rasch den Reißverschluss zu.

»Oder hast du es dir anders überlegt?« Im selben Atemzug fährt sie fort: »Guck nicht so erleichtert. Ich meinte damit nur, ob du dich doch noch hier umziehen willst oder erst später.«

Für einen kurzen Moment dachte ich wirklich, sie hätte die Hochzeit gemeint.

»Das habe ich schon verstanden. Und nein, ich habe es mir nicht anders überlegt. Ich ziehe mich um, wenn wir da sind.«

Sie nimmt mir den Kleidersack ab, ist auf dem Weg zurück in den Flur, bleibt aber auf halber Strecke stehen und dreht sich um.

»Wie fühlst du dich?«

Mein Hals wird eng.

»Alles okay.« Ich schlucke. »Warum?«

»Du wirkst nicht gerade begeistert.«

»Ach was.« Ich versuche zu lächeln, aber das gelingt mir vermutlich nicht besonders gut. »Es ist nur wegen William und … na ja, der ganzen Sache. Wer mietet denn bitte ein komplettes Scheißschloss?«

Nike erwidert mein Lächeln.

»Er hat bestimmt nicht die gesamte Anlage gemietet«, sagt sie. »Örenäs hat ja auch Konferenzräume und ein Spa. Es scheint mehrere unterschiedliche Gebäude zu geben.«

»Auch egal«, knurre ich. »Schloss, Frackzwang und, und, und … Mich macht das alles so müde. Wen will er damit beeindrucken?«

»Ich schätze mal, seine Gäste.« Nike zuckt mit den Schultern. »Oder die ganze Welt. Immerhin hat er hunderttausend Follower auf Insta. Und davon abgesehen hat er das bestimmt nicht allein entschieden. Deine Schwester hatte da garantiert ihre Finger im Spiel.«

Seufzend werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Der Herbst ist noch ein paar Wochen entfernt, aber wegen des trockenen Sommers färben sich im nahegelegenen Waldstück schon die ersten Blätter gelb. Es ist schön, so zentral zu wohnen und trotzdem den Wald vor der Tür zu haben. Ich habe meine Entscheidung nie bereut, hier zu studieren. Göteborg hat viele Vorteile. Im Unterschied zu meinen Kommilitonen habe ich die Wohnheimzeit übersprungen und direkt eine Wohnung gekauft. Dem Makler war anzumerken, dass Studenten Anfang zwanzig nicht zu seiner üblichen Klientel gehörten. Aber Geld war zumindest kein Problem.

Ich schaue wieder zu Nike.

»Wir hauen morgen nach dem Frühstück so schnell wie möglich wieder ab. Ich habe nicht vor, auch nur eine Minute länger als unbedingt nötig zu bleiben.«

»Kopf hoch, Erik. Betrachte es als Kurzurlaub.« Sie weiß, dass ich Protest einlegen will, und hebt eine Hand, um mich zu stoppen. »Du bekommst gutes Essen, Wein und ein Hotelfrühstück, ohne eine müde Krone dafür zu bezahlen. Das ist doch immerhin etwas.«

Gegen Abendessen und Übernachtung auf Schloss Örenäs hätte ich an sich ja auch nichts einzuwenden. Ich könnte nur gut darauf verzichten, tausend Leuten zu begegnen, die mich an alles erinnern, was ich einfach nur vergessen will. Monatelang war ich fest entschlossen, nicht zu fahren, aber Nike hinderte mich daran, im Affekt abzusagen. Genau wie Papa bat sie mich, das Ganze aus der Sicht meiner Schwester zu betrachten.

»Emily wünscht sich, dass du kommst. Sonst hätte sie dich nicht eingeladen.«

Am letzten Tag, an dem man noch zusagen konnte, schickte ich eine Mail an die Adresse, die auf der Einladungskarte angegeben war, und kündigte mein Kommen an. Log und behauptete, ich wäre auf meine persönliche Assistenzperson angewiesen, mit anderen Worten auf Nike. Die Rückmeldung kam prompt. Natürlich könne ich meine Assistentin mitbringen. Emily versprach, uns zwei benachbarte Zimmer zu buchen. Sie fragte, ob es in Ordnung sei, wenn wir im Nebengebäude und nicht im Schloss selbst untergebracht würden. Selbstverständlich im Erdgeschoss.

Ich antwortete, dass das total okay sei. Aber es ist nicht okay. Es ist unfassbar, was da in wenigen Stunden passieren wird. Absolut unfassbar. Dass meine Schwester und William ein Ehepaar werden sollen, muss die Rache des Universums sein. Oder vielleicht ist es einfach nur der Beweis dafür, dass Murphys Gesetz wirklich existiert.

William Nihlzén, mein ehemaliger Schulfreund und Mannschaftskamerad. Mittlerweile Gründer und Geschäftsführer von WibNet, einem sogenannten Tech-Start-up. Das klingt hip, aber in Wirklichkeit rechnet seine Firma nur Wettquoten aus und lädt sie auf verschiedenen Internetseiten hoch, auf denen Sportwetten angeboten werden.

Ihm wurde eine glänzende Zukunft als Fußballer vorhergesagt, aber er entschied sich gegen den Sport und für ein Informatikstudium an der Universität in Lund. Nicht ganz unerwartet brach er sein Studium kurz vor dem Examen ab. Umso überraschender war dann allerdings der Erfolg des von ihm gegründeten Unternehmens.

Mein zukünftiger Schwager wurde zu einem Idol für junge Unternehmer, die von einer Karriere in der Techbranche träumen. Er ist ein gefragter Speaker und oft im Fernsehen zu sehen. Meistens wird er eingeladen, um seine Erfolgsgeschichte zu erzählen, von den zaghaften Anfängen in seiner Studentenbude bis zum bevorstehenden Börsengang. Für gewöhnlich macht er eine große Sache daraus, dass er es aus eigener Kraft an die Spitze geschafft hat, betont immer, wie schwierig seine Ausgangslage war. »Verlier nie den Glauben an dich selbst« und »wo ein Wille ist, ist auch ein Weg« sind nur zwei der vielen Floskeln, mit denen er um sich wirft.

Das stört mich. William Nihlzéns Ausgangslage war nämlich nicht schwierig. Nicht im eigentlichen Sinn. Klar, das Jahr nach dem Schulabschluss war vielleicht nicht so toll, aber sein Vater Krister hat ihm stets den Rücken freigehalten. Er hat seinem Sohn den Boden bereitet und jeden Stein aus dem Weg geräumt. Krister hat für drei Millionen Kronen Williams Studentenwohnung im Zentrum von Lund gekauft und sein Unternehmen während der Anfangszeit finanziell unterstützt.

Außerdem vergessen die meisten Leute, dass Williams Geschäftspartner Ibbe das Gehirn hinter ihrem gemeinsamen Erfolg ist. William ist lediglich der Geschäftsführer und das Gesicht, das die Firma nach außen repräsentiert. Für die stetig wachsende Fangemeinde scheint das allerdings keine Rolle zu spielen. William Nihlzén hat ein gewinnendes Wesen. Er weiß sich im Fernsehen zu verkaufen, und er schafft es, Wettanbieter auf der ganzen Welt davon zu überzeugen, irrsinnige Summen für die Nutzung seiner WibNet-Plattformen zu bezahlen.

Ich weiß nicht, wie oft ich schon kurz davor war, ihn anzurufen und ihm alles zu erzählen. Nicht, weil ich ihm etwas Böses wünsche. Nicht mehr. Eigentlich geht es mir vor allem darum, die Last zu teilen.

4Mats

»Wie geht es dir, Liebling?«

Isobel steht hinter mir. Sie legt ihre Hände auf meine Schultern, massiert sie vorsichtig.

»Gut.« Ich wedele mit dem vollgekritzelten Schmierzettel. »Aber ich muss den ganzen Mist hier noch mal ins Reine schreiben, ich kann selbst kaum entziffern, was da steht.«

Sie beugt sich vor und gibt mir einen Kuss auf die Wange.

»Tu das.« Sie lässt mich los. »Aber beeil dich ein bisschen. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Ich reiße ein neues Blatt vom Block ab und fange an zu schreiben, bleibe aber schon an der ersten Zeile hängen. Der Entwurf ist voll von Streichungen und Pfeilen hierhin und dorthin. Ich schwitze, öffne die Snus-Dose, die auf dem Tisch liegt, und stopfe mir ein Tabakpäckchen unter die Lippe. Was stimmt nicht mit mir? Warum habe ich das bis zur letzten Minute vor mir hergeschoben?

Es gab eine Zeit, da habe ich gern vor Publikum gesprochen. Meistens habe ich improvisiert, und das mit Erfolg. Aber das ist inzwischen viele Jahre her. Der heutige Anlass ist zudem ein ganz besonderes Ereignis und verlangt zusätzliche Denkarbeit. Wenn der Vater der Braut eine Rede hält, darf nichts schiefgehen. Seine Worte müssen gefühlvoll sein, aber nicht zu sentimental, amüsant, aber nicht platt. Emily soll sich auf keinen Fall vor ihren Freunden schämen müssen.

Ehrlich gesagt wäre es mir lieber gewesen, die Hochzeit wäre etwas weniger pompös ausgefallen. Auf so extravaganten Veranstaltungen fühle ich mich nicht wohl, und ich freue mich tatsächlich schon auf nächstes Wochenende, wenn das Spektakel überstanden ist. Es gibt kaum etwas Schöneres als einen ganz normalen Samstag. Ein paar Stunden arbeiten, vielleicht ein bisschen im Garten herumbuddeln und zum Abschluss ein Bier vor dem Fernseher.

Als Emily nach Hause kam und erzählte, sie sei mit William Nihlzén zusammen, hoffte ich auf einen Flirt und redete mir ein, es würde sicher bald vorbeigehen. Sie waren so jung, und es schien unwahrscheinlich, dass die Beziehung länger als ein paar Monate halten würde. Jung sind die beiden immer noch, aber die Liebe hat gehalten. Dagegen bin ich machtlos. Wie soll ich meine Tochter davon abhalten, ihn zu heiraten, wenn sie den Kerl liebt und er sie auch?

Wie es aussieht, werden wir das Band zwischen uns und der Familie Nihlzén also niemals kappen können. Ich habe mich mit dem Gedanken abgefunden, während Emilys Mutter einfach nicht darüber hinwegkommt. In diesem Punkt lässt Annika auch nicht mit sich reden.

»Was machst du, Mats? Schläfst du?«

Isobels Frage reißt mich aus meinen Gedanken. Ich falte das Blatt zusammen und setze meine Lesebrille ab.

»Was soll ich denn deiner Meinung nach machen?«

Sie lächelt und schlägt mich scherzhaft mit dem Kleiderbügel, den sie in der Hand hält.

»Du könntest anfangen, das Auto zu beladen.«

Ich trage unsere Taschen nach draußen. Gehe wieder hinein, um meinen Frack zu holen, und höre, wie Isobel ein Lied mitsummt, das im Radio läuft. Der Duft von gebratenem Speck zieht durchs Haus. Wir haben beschlossen, noch ein kleines zweites Frühstück zu essen, bevor wir losfahren. Ich werfe einen Blick in die Küche, betrachte meine Lebensgefährtin, die tanzend am Herd steht. Ihre Bluse reicht fast bis über die Radlerhose. Die langen schwarzen Haare hat sie in ein geblümtes Tuch gewickelt, damit sich der Essensgeruch nicht festsetzen kann.

»Also, eine Runde müssen wir heute Abend unter den Kronleuchtern auf jeden Fall drehen.« Ich halte den Kleidersack hoch. »Man feiert schließlich nicht jeden Tag eine Schlosshochzeit.«

»Vergiss das Geschenk nicht.« Isobel schaut von der Bratpfanne hoch. »Es liegt im Schlafzimmer im Schrank.«

Ich gehe wieder hinaus zum Auto, hänge den Kleidersack an die Kopfstütze des Beifahrersitzes und schaue sicherheitshalber nach, ob der Frack auch wirklich darin ist. Mein Hemd und die Hose liegen oben auf dem Bett bereit. Es wäre nicht sehr schlau, mich umzuziehen, bevor wir gegessen haben. Ich höre die Haustür des Nachbarn hinter der Hecke und gehe hastig die Treppe hoch. Habe keine Zeit, mir jetzt einen Monolog von Tommy anzuhören.

Das Päckchen liegt wie angekündigt im Kleiderschrank, auf einem Stapel Pullover. Es ist nach allen Regeln der Kunst eingepackt. Das richtige Hochzeitsgeschenk zu finden, war eine harte Nuss gewesen. Was schenkt man einem jungen Paar, das alles hat, was es braucht, und noch dazu in Geld schwimmt? Nach stundenlangem Hin und Her und der einen oder anderen Streiterei beschlossen wir, den beiden etwas aus unserem Familienbesitz zu überreichen. Eine antike Holzschatulle mit wunderschönen Intarsien, ein Erbstück aus Isobels Heimat Kolumbien. Jedes Mal, wenn Emily bei uns zu Besuch ist, fingert sie an dieser Schatulle herum.

Was meine Exfrau dem Brautpaar schenken wird, weiß ich nicht. Annika und ich sind fertig miteinander. Wir haben nur noch im äußersten Notfall Kontakt.

Mein Handy liegt auf dem Nachttisch. Ich lege das Päckchen ab und sehe nach, ob jemand angerufen hat. Gott sei Dank habe ich nichts von Erik gehört. Das bedeutet hoffentlich, dass es ihm gutgeht.

Gerade als ich das Handy zurück in die Tasche schiebe, ertönt das Signal, dass eine Nachricht eingegangen ist, und ich ziehe es wieder heraus. Ich bete, dass es nicht die Hundepension ist. Die Frau, die Zorro und Zita in Empfang genommen hat, wirkte, als würde sie sich wegen jeder Kleinigkeit melden. Wie eine von denen, die erwarten, dass man die Hunde direkt wieder abholt, nur weil mal ein Furz quer sitzt.

Aber es ist nicht die Frau von der Hundepension. Beim hastigen Blick auf den Absender überkommt mich ein flaues Gefühl.

Acht Jahre zuvor

5Erik

»Erik!« William streckt einen Arm in die Luft. »Hier!«

Er steht zusammen mit Hampus, Ibbe und Robin auf der Terrasse. Alle vier tragen Anzughosen und weiße Hemden und halten Bierdosen in den Händen. Sie sehen erwachsen aus. Wir sind ja auch erwachsen, sind letztes Jahr achtzehn geworden. Aber jetzt geht es richtig los. Das Erwachsenenleben.

Die Studentenmütze kratzt. Ich schiebe sie nach hinten und würde sie am liebsten absetzen. Hampus ist der Letzte in der Reihe, wir anderen sind am Dienstag von der Rektorin verabschiedet worden, und seitdem gab es jeden Abend mindestens zwei Partys. Der Rasen unter meinen Füßen schwankt. Ich sollte vielleicht lieber langsam machen, wir haben morgen ein Spiel, und dafür muss ich einigermaßen in Form sein. Andererseits ist man nur einmal im Leben mit der Schule fertig, und wann soll man feiern, wenn nicht dann? Und dass William und Ibbe am Sonntag für die 1. Mannschaft spielen dürfen, tut auch weh. Also warum soll ich einen Partyabend für ein simples Juniorenmatch opfern?

Ich gehe auf die Terrasse, schiebe ein Bündel blaue und gelbe Luftballons beiseite, das mir direkt vors Gesicht baumelt. Meine Kumpels diskutieren gerade, in welchen Club es heute Abend noch gehen soll.

»Étage«, sagt Robin. »Im Privé sind nur Schwuchteln und Schlipsträger.«

Es folgt allgemeines Gejohle.

»Hast du dich da draufgesetzt, oder was?«

Ich klatsche William auf seine schmutzige Studentenmütze, die ihm daraufhin vom Kopf rutscht und auf dem Terrassenboden landet.

»Lass das, du Arsch.« Er hebt die Mütze auf, grinst. »Nee, die ist gestern mitten auf der Straße gelandet. War echt Glück, dass niemand drübergefahren ist.«

Ich versuche, die Biertische im Partyzelt zu scannen. Ein paar Mädels singen »Save the World« von Swedish House Mafia mit, Gelächter hallt zwischen den weißen Plastikplanen wider.

»Wollte Sanja nicht kommen?«

Die Worte kommen leichter, wenn man angetrunken ist.

»Sag bloß.« Ibbe boxt mir gegen den Oberarm. »Bist du etwa scharf auf sie, oder was?«

»Hallo?«, sagt William. »Wer ist denn nicht scharf auf Sanja?«

Ich grinse pflichtschuldig, während die anderen lachen und anstoßen. Sie wissen noch nicht, was zwischen Sanja und mir läuft.

Robin beugt sich zu mir.

»Ich hab deine Schwester und ihre Freundin gesehen … wie heißt sie noch mal … Cilla?«

»Cissi«, sage ich.

»Genau.« Ich spüre Robins warmen Atem am Ohr. »Die ist verdammt heiß.«

Es fällt mir schwer nachzuvollziehen, was an der Freundin meiner Schwester heiß sein soll. In meinen Augen sind Cissi und Emily Kleinkinder, und ich bin ehrlich gesagt sauer auf Hampus, dass er sie eingeladen hat. William wühlt in der Wanne, die neben dem Haus steht, findet noch eine Dose Bier und öffnet sie. Schaum sprudelt über den Rand, er leckt ihn ab und legt mir dann den Arm um die Schulter.

»Wie geht’s, Alter?«

Im selben Moment entdecke ich sie. Sie kommt direkt auf uns zu. Superkurzes hellgelbes Kleid, offene Haare.

»Ging mir noch nie besser«, sage ich und kann nichts gegen das Grinsen im Gesicht tun.

William lässt mich los, und ich springe runter auf den Rasen.

»Hej!« Jede Zelle meines Körpers vibriert. »Willst du was trinken? Ich kann dir was holen.«

»Gern. Ist Cider da?« Sanja lächelt. »Bringst du Yasmin auch eine mit?«

Erst jetzt bemerke ich, dass ihre Freundin auch dabei ist.

Als ich den Cider geholt habe und zurückkomme, sind die beiden verschwunden. Ich schaue mich um. Spielen die etwa Verstecken? Ich komme mir albern vor, mit zwei Flaschen durch die Gegend zu laufen, die keiner haben will.

Im Zelt ist es stickig und laut. Ich stelle mich in den Eingang, schaue zu den Tischen und entdecke Cissi. Es ist ihr eindeutig unangenehm, als ich auf sie zugehe. Das liegt wahrscheinlich an dem halb getrunkenen Starkbier. Als ob mich das juckt. Emily und sie gehen in die Neunte, und von mir aus können sie gern was trinken, solange sie sich nicht komplett abschießen.

»Ist meine Schwester schon nach Hause?«

Ich muss schreien, um mich verständlich zu machen.

»Nein, sie …« Cissi lehnt sich zur Seite, versucht, die Flasche zu verstecken. »S… sie ist nur aufs Klo.«

»Und Sanja und ihre Freundin? Hast du sie gesehen?«

Cissi runzelt die Stirn.

»Wen?«

»Vergiss es.«

Ich stelle eine Ciderflasche auf dem Tisch mit dem kalten Buffet ab und gehe mit der anderen Flasche in der Hand zurück in den Garten. Trinke einen Schluck, werfe einen Blick auf die Terrasse. Da oben stehen ziemlich viele Leute rum, aber William und die anderen sind nicht mehr da. Sanja ist auch nirgends zu sehen. Wo ist sie hin? Sie ist doch wohl nicht gegangen? Mir wird heiß bei dem Gedanken, dass sie in einem Taxi sitzen könnte, auf dem Weg in die Stadt. Ohne mich.

6Annika

»Willst du nicht lieber mit nach Hause kommen?«

Ich schaue meinen Mann an, der mir auf dem Bürgersteig entgegenstolpert. Das Halbdunkel der Sommernacht hat sich über das Wohngebiet gelegt, und nur bei Nihlzéns brennt noch Licht. Durch das Küchenfenster sehe ich Gittan, die sicher noch schnell das gröbste Chaos beseitigen will.

»Geh du schon vor, ich komme gleich nach.« Mats lächelt betrunken. »Wir wollen nur noch die Wetten besprechen.«

Krister nickt.

»Wichtige Sache, Annika.« Er geht ein paar Schritte mit Lucifer. Der schwarze Terrier zerrt an der Leine, will endlich los. »Mach dir keine Sorgen. Ich passe auf deinen Mann auf.«

Es wäre sinnlos, jetzt herumzumeckern. Aber natürlich hat Mats mal wieder keinen Schlüssel dabei, und ich verspreche ihm, den Ersatzschlüssel rauszulegen. Und dann werde ich auf direktem Weg schlafen gehen, denn ich habe mich selten so sehr nach meinem Bett gesehnt. Wir verabschieden uns, und ich mache mich auf den kurzen Heimweg. Bei den Nihlzéns zum Abendessen eingeladen zu sein bedeutet immer, spät nach Hause zu kommen. Gittan ist eine phantastische Köchin, und Krister sorgt dafür, dass die Gläser immer gut gefüllt sind. Fariba und Massoud waren heute Abend auch dabei, und die Zeit ist wie im Flug vergangen. Die Gespräche kreisten um unsere gleichaltrigen Söhne. Wir unterhielten uns ganz allgemein über ihr Leben, aber vor allem über Fußball. Wir enden oft bei diesem Thema.

Der Gedanke an Massouds Nachricht versetzt mir immer noch einen Stich. Unsere Jungs haben das Frühjahr über öfter mit der 1. Mannschaft des Vereins trainiert, sie waren sogar bei ein paar Spielen eingesetzt worden. Heute Abend kam die Rede auf das Match am Sonntag. Man munkelt, dass ein Jugendtrainer des Malmö FF auf der Tribüne sitzen wird, und selbstverständlich hätte jeder gern die Chance, sich vor ihm zu präsentieren.

Die ganze Woche habe ich die Daumen gedrückt, dass Erik zu den Auserwählten gehört, auch wenn es natürlich unglücklich ist, dass der Besuch des Erstligisten ausgerechnet mit den Partys zum Schulabschluss zusammenfällt. Als Erik heute losgezogen ist, habe ich ihn noch einmal daran erinnert, dass er es mit dem Alkohol nicht übertreiben soll. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die Botschaft bei ihm angekommen ist.

Als Mannschaftsleiter der 1. Mannschaft hat Massoud Zugang zu den neuesten Informationen, und man konnte ihm den Stolz anmerken, als er uns die Aufstellung vorlas, die gerade an die Spieler rausgeschickt worden war. Es standen nämlich sowohl William als auch Ibbe auf der Liste. Eriks Name glänzte dagegen durch Abwesenheit, was wahrscheinlich bedeutet, dass er für das morgige Spiel der Jugendmannschaft eingeteilt wurde.

Ich verstehe es einfach nicht! Was geht bloß in den Köpfen der Trainer vor? Ibbe ist der Sohn des Mannschaftsleiters, das verschafft ihm natürlich einen Vorteil, aber Erik ist schneller und dynamischer als William – und trotzdem haben sie sich gegen ihn entschieden.

Natürlich konnte ich nicht bei den Nihlzéns zu Hause sitzen und die Mannschaftsaufstellung in Frage stellen. Ich war gezwungen, all die Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, für mich zu behalten. Als Eltern muss man einen Schritt zurücktreten, wenn die Kinder achtzehn werden, kann sich nicht mehr überall einmischen. Trotzdem blutet mein Mutterherz, wenn ich mir vorstelle, wie enttäuscht Erik sein muss. Da ist es ganz egal, dass er inzwischen volljährig ist.

Mein Sohn ist gut. Er ist sogar einer der Besten. Das Problem ist nur, dass es ihm schwerfällt, sich durchzusetzen. Für die 1. Mannschaft konkurrieren Erik und William um dieselbe Position, doch während William ein soziales Genie ist, war Erik schon immer ein bisschen zurückhaltend. Und Trainer haben seit jeher die vorlauten Typen vor den stillen Individualisten bevorzugt.

Meine Gereiztheit ist im Begriff in Wut umzuschlagen, aber mich weiter reinzusteigern führt ja zu nichts. »Gib mir den inneren Frieden, das zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann.« Sagt man das nicht so? Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Eriks Zeit kommen wird. Es geht nur darum, Geduld zu haben und nicht aufzugeben.

Unsere Garageneinfahrt ist in Dunkelheit gehüllt. Vielleicht kann sich Mats am Wochenende endlich einmal aufraffen, die Außenbeleuchtung zu reparieren. Er hat versprochen, am Samstag und Sonntag zu Hause zu bleiben und nicht ins Geschäft zu gehen. Mal sehen, was daraus wird. Ein kleines Lebensmittelgeschäft wirtschaftlich erfolgreich zu betreiben ist nicht einfach, und ich verstehe ja, dass er auch am Wochenende und abends arbeiten muss – trotz einer angestellten Kassiererin. Aber manchmal habe fast ich den Eindruck, dass er sich im Laden wohler fühlt als zu Hause. Im Geschäft gibt es immer irgendetwas zu tun, aber ich habe nicht den Eindruck, als würde ihn das großartig stören.

Ich schließe die Haustür auf, hole den Zweitschlüssel und lege ihn unter den Blumentopf mit Geranien, der auf der Treppe steht. Das ist kein besonders originelles Versteck, aber keiner von uns hielt es bislang für nötig, eine bessere Stelle zu suchen.

Das Deckenlicht in der Diele begleitet mich bis in die Küche. Ich gehe zum Kühlschrank und schenke mir ein großes Glas Milch ein. Die Mischung aus verschiedenen Drinks – und auch die Menge – macht sich langsam bemerkbar. Der Digitaluhr an der Mikrowelle entnehme ich, dass es auf halb eins zugeht, und ich gähne so herzhaft, dass mein Kiefer knackt.

Das leere Glas landet in der Spüle. Ich prüfe, ob die Haustür abgeschlossen ist, gehe nach oben und werfe einen Blick in Emilys Zimmer. Dann fällt mir ein, dass sie ja bei Cissi übernachtet. Sie wollten Gruselfilme schauen oder so was in der Art, glaube ich. Nachdem ich mir eher flüchtig die Zähne geputzt habe, kann ich endlich unter die Decke kriechen. Der Schlaf übermannt mich, bevor ich mir noch weitere Gedanken über dieses verdammte Spiel der Juniorenmannschaft machen kann.

 

Ein penetrantes Geräusch drängt sich in meinen Traum. Es dauert eine Weile, ehe ich begreife, dass es von außen kommt, aus der wirklichen Welt. Mein Handy. Ich blinzle, bekomme die Augen kaum auf. Wie spät ist es? Meine rechte Hand tastet über den Nachttisch, während das Klingeln immer lauter wird. Schließlich bekomme ich mein Telefon zu fassen, registriere die Uhrzeit – 01:17 Uhr – und stelle gleichzeitig fest, dass Mats nicht neben mir liegt. Schlagartig bin ich hellwach und setze mich auf.

»Ja, hallo?« Am anderen Ende höre ich heftiges Atmen, und mir wird eiskalt. »Hallo?« Meine Stimme klingt fremd. »Ist da jemand?«

»Hej, hier ist Patrik …« Ein Keuchen und dann. »Patrik Svensson.«

Patrik Svensson? Mein Herz klopft wie wild, während mein Hirn versucht, eine Erklärung zu finden, einen Zusammenhang herzustellen.

»Patrik, aus der Nummer sechzehn«, fährt der Mann fort. »Uns gehört der Schäferhund, Rocky. Hörst du mich?«

Rocky. Diese sabbernde Bestie, die quasi sofort zum Angriff übergeht, sobald man sich auf dem Bürgersteig blicken lässt. Ich sehe sein Herrchen vor mir. Ein großer, sportlicher Mann mit so einem neumodischen Haarknoten, wie Zlatan ihn trägt. Er scheint irgendwo draußen unterwegs zu sein und klingt, als würde er sehr schnell gehen. Oder rennen.

»Was ist denn los?« In meinem Kopf dreht sich alles, und für einen kurzen Moment habe ich Angst, mich zu übergeben. »Was … Ist etwas passiert?«

Großer Gott.

Nicht die Kinder.

Sag, dass alles gut ist.

»Ich wollte nur … Bin mit Rocky draußen, und …« Es raschelt im Hörer. Patriks Stimme verschwindet, und ich meine, im Hintergrund verschiedene Stimmen auszumachen, Leute die rufen. »Es ist Erik.« Jetzt ist er wieder deutlich zu verstehen. »Ein Autounfall… Er …«

Nein. Nicht Erik.

Nicht mein Erik.

Mit wachsendem Entsetzen wird mir bewusst, dass es in diesem Moment passiert, dass er tatsächlich gekommen ist: der Anruf. Der Anruf, vor dem ich mich in jeder wachen Sekunde seit seiner Geburt gefürchtet habe. Meine Fingerspitzen werden taub, und das Telefon rutscht mir fast aus der Hand.

»W… was ist passiert? Ist er verletzt?«

»Ich …« Patrik zögert. »Ich glaube ja«, sagt er dann. »Wir stehen ein Stück weg, ich will nicht zu nah hingehen. Sie heben ihn gerade in den Krankenwagen.«

7Mats

Ich renne das letzte Stück, halte nicht an, obwohl jeder Atemzug wie Feuer in meiner Lunge brennt. Das Hemd klebt an meinem Rücken, Schweißtropfen rinnen mir in die Augen, und die Welt um mich herum verschwimmt. Endlich zu Hause, bleibe ich hinter der Hecke stehen, beuge mich nach vorn, die Hände auf die Knie gestützt, bis mein galoppierender Puls sich beruhigt hat. Ich richte mich auf, schaue zum Haus und sehe, dass sämtliche Fenster hell erleuchtet sind.

Als die akute Atemnot nachgelassen hat, kehrt die Wirklichkeit zurück. Sie überfällt mich ohne Vorwarnung, trifft mich wie ein harter Stoß in die Seite. Ich suche taumelnd nach Halt, und im nächsten Moment liege ich halb in der Ligusterhecke. Es erfordert eine immense Kraftanstrengung, um den Körper wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Der Gedanke, abzunehmen und mit Sport anzufangen, schießt mir kurz durch den Kopf und ist genauso schnell wieder verschwunden.

Ich schleppe mich zur Treppe, finde den Schlüssel unter dem Blumentopf und stecke ihn ins Schloss. Kaum ist die Tür auf, kommt Annika mir entgegengestürzt. Sie hat ihr Handy in der Hand. Sie ist angezogen, aber sie hat ihren Pullover auf links gedreht, ihre Haare sind zerzaust, und sie sieht völlig verheult aus.

»Warum gehst du nicht ans Telefon?« Ihre Stimme ist schrill. »Ich weiß nicht, wie oft ich versucht habe, dich zu erreichen. Erik ist verletzt! Er ist im Krankenhaus!«

»Was?« Ich wische mir mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Was ist passiert?«

»Erik!« Annika klammert sich an mit beiden Händen an meinen Arm. »Erik …«

Ich gehe in die Diele, schüttele mir die Schuhe von den Füßen und winde mich aus ihrem Griff.

»Beruhig dich erst einmal.« In dem Versuch, Augenkontakt herzustellen, fasse ich sie an den Schultern. »Atme kurz durch, und dann erzählst du mir, was los ist.«

Sie holt ein paarmal hektisch Luft.

»Patrik Svensson hat angerufen, unser Nachbar. Er hat gesagt, dass Erik … Es war ein Autounfall … Unten bei der Kirche … oder irgendwo da in der Nähe, ich weiß es nicht genau … O Gott!« Sie muss eine Pause machen, um zu atmen. »Patrik hat gesagt … er hat gesagt, dass Erik verletzt ist.«

Annika fällt mir in den Arm, presst ihr Gesicht an meine Brust und stößt ein klagendes Wimmern aus.

»Komm.« Ich bringe meine Frau in die Küche, setze sie auf einen Stuhl. »Bist du sicher, dass er im Krankenhaus ist?«

»Patrik hat von einem Krankenwagen gesprochen.« Sie schluchzt und ist im Begriff, schon wieder aufzustehen. »Wir müssen sofort hinfahren.«

Ich bremse sie.

»Lass mich erst anrufen und nachfragen. Nicht, dass sie ihn nach Lund gebracht haben oder so.«

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, google nach Universitätskrankenhaus Malmö und tippe mit zitterndem Zeigefinger auf das Wort Kontakt. Ich lande bei der Krankenhauszentrale, die laut Internetseite rund um die Uhr besetzt ist.

Das Freizeichen tutet in meinem Ohr. Nach einer halben Ewigkeit meldet sich eine Stimme, die mit großer Ruhe meine wirren Fragen entgegennimmt. Die freundliche Stimme sorgt dafür, dass die ganze Situation alltäglicher wirkt. Wie etwas, das jede Nacht passiert. Und so ist es natürlich auch, wenn man in einem Krankenhaus arbeitet. Ich kann hören, dass die Frau etwas in einen Computer eingibt, sie bittet mich, einen Moment zu warten.

»Was sagen sie?«

Annika sitzt nicht mehr auf dem Stuhl, sondern wandert rastlos im Kreis um mich und das Telefon herum. Ich schüttele den Kopf und zeige auf das Handy, um ihr zu signalisieren, dass ich noch auf Antwort warte.

Dann ist die Frau zurück. Ich höre zu, bedanke mich für die Informationen und beende das Gespräch.

»Erik ist dort. Aber viel mehr als das konnte sie mir nicht sagen.«

8Erik

Das Bett fliegt durch menschenleere Korridore, schmutzig weiße Wände und Deckenplatten ziehen vorbei. Schräg über mir hängen Beutel und Schläuche an einem Tropfständer. Wenn wir bremsen, um die Richtung zu wechseln, schaukeln sie hin und her. Ich erahne eine weiß gekleidete Person hinter mir, höre eine beruhigende Männerstimme, verstehe aber kein Wort.

Vor meinem inneren Auge wiederholt sich ein Ereignis – jedes Mal ein bisschen anders. Wie war es beim ersten Mal? Vor den Variationen? Ich versuche, den Anfang zu finden, gehe die Bilder durch, aber sie entgleiten mir.

Ich renne. Die Stollen geben mir auf dem weichen Rasen Halt, und ich fliege über den Platz, keiner kann mich stoppen. Der Ball ist eins mit meinen Füßen, und ich nähere mich dem gegnerischen Tor.

Jemand streckt ein Bein aus, und ich stürze, aber ich schaffe es noch, den Schwerpunkt zu korrigieren, und lande auf der richtigen Seite der Linie. Ein glasklarer Elfmeter.

Dann verwandelt sich der Rasen in Asphalt. Die weißen Spielfeldlinien werden zu kurzen Strichen, die in rasender Geschwindigkeit unter der Motorhaube verschwinden. Ich höre einen dumpfen Schlag, dann ein ohrenbetäubendes Krachen. Mein Schreien mischt sich mit dem Geräusch von splitterndem Glas. Die Welt dreht sich, und ein grelles Licht explodiert vor meinen Augen.

Als der Krankenwagen kam, lag ich im Gras. Der Himmel war lilablau und erinnerte an den Rest auf dem Teller, wenn man Blaubeeren mit Milch gegessen hat. Eine Sanitäterin fragte mich, wie es mir ging. Ich erzählte ihr von den Schmerzen in meiner Schulter, und sie tastete den Bereich vorsichtig ab. Es tat höllisch weh.

Zwei warme Hände legten sich um meinen Kopf und wanderten meinen Nacken hinunter. Ich hörte, wie sie mit einem Mann sprach. Sie redeten darüber, mir ein Schmerzmittel zu verabreichen.

Dann schlugen Autotüren, und von fern näherten sich neue Stimmen. Ich begriff, dass die Polizei gekommen war.

Jemand legte mir eine Halskrause an. Sie schnallten mich auf einer Trage fest und hoben mich in den Krankenwagen. Ich schloss die Augen. Hatte das Gefühl, dass einer der Polizisten mich anstarrte, dass er sich sofort auf mich stürzen würde, falls ich mir anmerken ließ, dass ich bei Bewusstsein war.

»Ist alles okay?«

Das Bett stoppt, und die Stimme hinter mir bekommt ein Gesicht, als die weiß gekleidete Person ihren Platz am Kopfende verlässt. Der Pfleger ist ein Muskelpaket, stemmt beim Bankdrücken mit Sicherheit locker das Doppelte seines eigenen Gewichts.

Nein, es ist gar nichts okay. Aber ich nehme an, die Frage bezieht sich auf meinen Körper. Und der fühlt sich gerade tatsächlich halbwegs in Ordnung an. Ich lebe noch, und die Schmerzen in der Schulter haben nachgelassen. Das Einzige, was mich wahnsinnig macht, sind die Schläuche in der Nase.

Das Bett fliegt in einem Affenzahn weiter. Ich mache die Augen wieder zu, höre das leise Surren der Rollen unter mir. Warum haben die es so verdammt eilig? Dann stehen die Rollen plötzlich wieder still. Ich öffne die Augen und starre direkt in eine Leuchtstoffröhre.

»Wir müssen deinen Rücken röntgen«, sagt das Muskelpaket. Er legt seine riesige Pranke auf meinen Arm. »Keine Angst. Wir haben hier eine Menge netter Schwestern, die sich um dich kümmern werden.«

Und genau in diesem Moment wird mir klar, dass mein Körper überhaupt nicht okay ist. Ein lauter Ton schrillt in meinen Ohren.

»Meine Beine!« Ich schreie es laut heraus. »Ich kann meine Beine nicht spüren!«

9Emily

Weiße Kacheln und grüne Handtücher. Warum liege ich auf dem Fußboden in Cissis Badezimmer?

»Na, ausgeschlafen?«

Meine beste Freundin beugt sich über mich, während sie am Waschbecken steht und den Wasserhahn zudreht. Sie hat Jeans an. Unter der offenen Kapuzenjacke blitzt ihr grauer Winnie-Puh-Schlafanzug heraus.

Ich stöhne.

»Wie lange liege ich schon hier?«

»Zwei Stunden vielleicht. Fühlst du dich besser?«

Ich horche in mich hinein. Mein Kopf dröhnt, und mein Mund ist ganz trocken. Bin ich verkatert oder immer noch voll? Kann man beides gleichzeitig sein?

»Ich gehe jetzt ins Bett.« Cissi trocknet sich die Hände ab. »Du kommst allein klar, oder?«

»Warst du noch mal weg?«, frage ich.

Sie antwortet nicht sofort, und für einen kurzen Moment denke ich, dass sie mich nicht gehört hat.

»Das erzähle ich dir morgen«, sagt sie und verlässt das Bad.

Ich stütze mich auf dem Klo ab und stehe auf. Ist sie sauer auf mich? Ich bin viel zu fertig, um ihr nachzugehen und sie zu fragen, also drehe ich mich stattdessen um und schaue in den Spiegel. Shit! Ein Clown. Meine Augen sind knallrot, die Wimperntusche ist total verschmiert, meine Foundation fleckig. Ich wasche mir das Gesicht und trockne es mit einem Gästehandtuch ab. Finde meine Zahnbürste nicht, aber wenigstens eine Zahnpastatube. Ich drücke mir einen Klecks auf den Zeigefinger und putze mir damit die Zähne. Spüle nach, spucke aus. Ich will nur noch ein weiches Bett und hundert Jahre schlafen.

Auf dem Weg aus dem Badezimmer danke ich Gott dafür, dass Cissis Mama Diana bei einer Freundin übernachtet. Aber vor allem bin ich froh, dass wir uns entschieden haben, hier zu pennen und nicht bei mir zu Hause. Mama würde ausflippen, wenn sie mich in diesem Zustand erwischen würde.

Ich tappe in Cissis Zimmer. Hole mir die Besucherdecke aus dem Schrank und krieche neben meiner besten Freundin ins Bett. Sie schläft noch nicht. Ich höre an ihrem Atmen, dass sie noch wach ist.

10Annika

»Krankenhaus«, sage ich, als das Taxi endlich vor unsere Auffahrt hält. »Notaufnahme.«

Mats setzt sich normalerweise immer neben den Fahrer, um sich ein bisschen zu unterhalten, aber jetzt ist er still und sinkt einfach nur neben mir auf den Rücksitz. Ich sage auch nichts, habe genug mit meinen eigenen Gedanken zu tun. Die Informationen, die wir bekommen haben, sind äußerst dürftig, was der Phantasie viel zu viel Spielraum lässt. Die Worte unseres Nachbarn hallen in meinem Kopf wieder.

Sie heben ihn gerade in den Krankenwagen.

Dass sie Erik ins Krankenhaus gebracht haben, besagt genau genommen gar nichts. Er kann innere Blutungen haben, mehrfach gebrochene Beine und eine schwere Kopfverletzung. Aber vielleicht hat er sich auch einfach nur den Arm gebrochen. Um die Ruhe zu bewahren, rufe ich mir in Erinnerung, wie phantastisch die medizinische Versorgung in Schweden ist und dass die meisten Verletzungen geheilt werden können. Unter Umständen ist eine lange Reha nötig, aber wenn man wirklich gesund werden will, dann schafft man das auch.

Ich krame in meiner Handtasche, finde mein Handy und rufe den Internetbrowser auf. Tippe Mattias Melin in das Suchfeld ein.

»Hast du Emily erreicht?«

Mats Frage lässt mich zusammenzucken, und ich schaue hoch.

»Sie geht nicht ran, aber ich habe ihr eine SMS geschickt. Ich wollte nur eben Mattias Bescheid sagen. Erik fällt ja für das Spiel heute Nachmittag aus, deshalb …«

Mats versteht zuerst gar nicht, wovon ich rede, aber im nächsten Moment wird sein Blick finster.

»Annika – was zur Hölle?!«, faucht er mich an. »Es ist mitten in der Nacht. Kannst du nicht wenigstens dieses eine Mal diesen scheiß Fußball vergessen?«

Ich stecke mein Handy sofort zurück in die Tasche. Ich sehe ein, dass es jetzt Wichtigeres gibt als das nächste Match. Aber darüber nachzudenken, ob ich Erik je wieder auf einem Fußballplatz sehen werde, hält mich von anderen Grübeleien ab, verdrängt das Unvorstellbare.

Mats starrt auf seiner Seite nach draußen in die Dunkelheit. Ich lehne mich auf dem schwarzen Ledersitz zurück und sehe Malmö vorbeiziehen. Nahezu lautlos gleiten der Rosengård-Bahnhof vorbei, Annelund und der Nobeltorg. An den vielen Bushaltestellen entlang der Amiralsgata sind ein paar Menschen unterwegs, die anderen Straßen sind wie leergefegt.

Plötzlich kommt mir ein Gedanke.

»Wohin wollte er?«, sage ich zum Rücken meines Ehemanns.

Als die Reaktion ausbleibt, werde ich lauter.

»Warum war Erik mitten in der Nacht mit einem Auto unterwegs? Er ist doch mit dem Fahrrad zu Hampus gefahren.«

»Keine Ahnung«, sagt Mats. Er dreht sich immer noch nicht um. »Vielleicht wollte er noch irgendwo anders weiterfeiern.«

»War er denn allein im Auto? Und wessen Auto war das überhaupt?«

»Ich weiß es nicht, Annika.« Er dreht wenigstens den Kopf und sieht mich mit müden Augen an. »Ich weiß genauso viel wie du.«

Als wir ein paar Minuten später in die Jan Waldenströms Gata einbiegen und ich die Frauenklinik sehe, füllen sich meine Augen mit Tränen. Ich muss mir den Mund zuhalten, um nicht laut zu schreien.

Dort ist er auf die Welt gekommen, mein geliebter Sohn.

Ich taumle aus dem Taxi in die laue Sommernacht. Ein paar Jugendliche, alle mit Studentenmützen, nehmen gerade die Abkürzung über das Krankenhausgelände. Als ich ihre fröhlichen Stimmen höre, kommen mir schon wieder die Tränen. Vor ein paar Tagen haben wir zu Hause im Garten Eriks Schulabschluss gefeiert. Den ganzen Abend lief er mit einem breiten Grinsen im Gesicht herum, unterhielt sich mit den Gästen und beantwortete bereitwillig ihre Fragen nach seinen Zukunftsplänen. Ein dicker Kloß aus Verzweiflung wächst in meinem Hals.

Mats bezahlt den Taxifahrer und holt mich am Eingang wieder ein. Ich grabe in meiner Handtasche nach einem Taschentuch und hole tief Luft. Wir müssen jetzt stark sein. Für Erik.

Eine Frau in weißem Kittel und weißen Clogs führt uns einen langen Korridor hinunter. Schon seit dem Anruf erfüllt mich ein Gefühl von Unwirklichkeit, das mit jeder Minute stärker wird. Es kommt mir vor, als würde ich alles von außen betrachten, als wären die beiden entsetzten Eltern in diesem Krankenhausflur nicht Mats und Annika Brandt, sondern zwei Schauspieler in einem Hollywooddrama. Ich bete stumm um ein Happy End. Ein Ende mit wehenden Fahnen, rührseligen Streichern und Freudentränen. Aber als wir endlich mit einem bärtigen Arzt in einem kalten Sprechzimmer sitzen, sind weder Fahnen noch Geigen dabei.

»Ich verstehe, dass Sie besorgt sind.« Er bewegt die Maus über die Tischplatte, um den Computer zu wecken. »Und ich kann Ihnen leider nicht viel zu dem eigentlichen Unfallhergang sagen. Ich weiß nur, dass das Auto gegen einen Laternenmast geprallt ist. Erik lag im Gras, als die Rettungssanitäter an die Unfallstelle kamen. Seine linke Schulter war ausgekugelt, und er hatte eine tiefe Schnittwunde über dem Auge. Man befürchtete ziemlich schnell, dass es sich darüber hinaus um eine Rückenmarksverletzung handeln könnte. Er ist bereits auf dem Weg in den OP.«

Tausend Fragen drängen sich mir auf, aber ich schaffe es nicht, auch nur eine davon zu formulieren.

»Wir haben Erik sorgfältig geröntgt«, fährt der Arzt fort und zeigt auf den Bildschirm. »Hier ist eine deutliche Fraktur zu erkennen. Und hier …«, er klickt ein weiteres verschwommenes Bild an, »… haben wir eine Blutung.«

Es fällt mir schwer zu verstehen, was ich da sehe. Ist das Eriks Wirbelsäule? Auf beiden Bildern? Der Raum um mich herum beginnt sich zu drehen, und ich klammere mich an der Armlehne fest.

»W…was bedeutet das?«, stottert Mats.

»Das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.« Der Arzt kratzt sich den gepflegten Bart. »Aber die Chirurgin, die Erik operieren wird, ist sehr erfahren auf dem Gebiet. Sie wird alles Menschenmögliche tun, um die Folgen der Verletzungen so gering wie möglich zu halten.« Er lächelt. »Positiv ist auf jeden Fall, dass Eriks Kopf das Ganze recht gut überstanden zu haben scheint. Er war bei Bewusstsein und voll ansprechbar, als er eingeliefert wurde.«

»Gott sei Dank«, murmelt Mats.

»Und seine Beine?« Ich lese das Namensschild des Manns: Younis Abdul-Zarah. »Er kann doch noch gehen, oder? Und rennen?«

In der Tasche des Arztes vibriert ein Handy. Er entschuldigt sich und steht hastig auf.

»Sie können gern hier warten, wenn Sie möchten. Den Gang hinunter ist ein Kaffeeautomat.«

Er zeigt durch die Tür und nach rechts.

Mats will keinen Kaffee. Und ich eigentlich auch nicht. Mein Körper zittert, ich friere und schwitze abwechselnd, als wäre eine Grippe im Anmarsch. Aber ich muss irgendetwas tun, muss meine Hände und Füße irgendwie beschäftigen.

Das Gefühl von Unwirklichkeit ist immer noch da. Vor ein paar Stunden ist Erik noch mit dem Fahrrad von zu Hause weggefahren, hatte sich für die Party schick gemacht und sich auf den Abend gefreut. Er war für das Spiel gegen Löddeköpinge aufgestellt. Es ist Pfingsten, die schönste Zeit des Jahres.

Ich biege um die Ecke, wo der eine Krankenhausflur in den anderen mündet, und bleibe wie angewurzelt stehen. Neben dem Kaffeeautomaten ist ein niedriger Tisch mit Pappbechern und kleinen grünen Milchpäckchen. Und vor dem Tisch stehen Gittan und Krister.

11Mats

Mein Blick wandert rastlos über die Wände des Raums, sucht verzweifelt nach Halt. Aber es gibt keine Bilder, nicht einmal anatomische Tafeln, nur ein unendliches Meer aus weißer Farbe. Ein monotones tickendes Geräusch treibt mich fast in den Wahnsinn. Ich bemerke, dass mein wackelnder rechter Fuß die Ursache ist, und zwinge ihn zur Ruhe, indem ich die Hand auf mein Knie presse.

Kaum ist mein Fuß verstummt, kommen stattdessen draußen auf dem Flur schnelle Schritte näher, die direkt vor dem Zimmer stehen bleiben. Zwei leise Männerstimmen dringen durch die angelehnte Tür. Die Männer begrüßen sich und wechseln dann ein paar Worte über ein Ereignis, bei dem es sich nur um Eriks Unfall handeln kann. Mir wird bewusst, dass eine der Stimmen dem Arzt gehört, der gerade noch hier vor uns saß.

»Trotzdem ein Glück, dass jemand die Jungs gefunden hat«, sagt er. »Keiner der beiden wäre in der Lage gewesen, Hilfe zu rufen.«