Haunted Reign - Mona Kasten - E-Book

Haunted Reign E-Book

Mona Kasten

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Beschreibung

»Ich würde bis ans Ende der Welt für dich gehen. Bis ins Jenseits und darüber hinaus.«

Zoey King versucht mit aller Macht, zu vergessen. Zu vergessen, dass sie ihre beste Freundin verloren hat. Dass ihr Leben auf dem Kopf steht, seit sie erfahren hat, dass sie eine Banshee ist und Todesmagie in sich trägt. Dass der Junge, den sie mag, in ihr nichts weiter sieht als ein Nachhilfeprojekt und sich nicht einmal mehr an den Kuss zu erinnern scheint, den sie geteilt haben. Als wäre das noch nicht schlimm genug, lassen Zoeys Noten seit dem Wechsel an den Zweig der Silver Ravens zu wünschen übrig. Doch zumindest dafür gibt es eine Lösung: Das Jahresabschluss-Turnier an der Everfall Academy steht an, eine Möglichkeit, Zusatzpunkte für ihr Zeugnis zu sammeln. Allerdings stellt sich schon die erste Prüfung als gefährlicher heraus, als Zoey jemals hätte ahnen können. Und bald steht nicht nur ihr eigenes Leben auf dem Spiel, sondern auch das der Menschen, die ihr alles bedeuten ...

»Die Geschichte steckt voller Magie, Spannung, Dark Academia, Freundschaft und großen Emotionen. Mona Kasten hat mich wieder einmal völlig in ihren Bann gezogen. Für jeden Romantasy-Fan ein absolutes Muss!« MINASBOOKDIARY über FALLEN PRINCESS

Band 2 der EVERFALL-ACADEMY-Dilogie von Platz-1-SPIEGEL-Bestseller-Autorin Mona Kasten


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Seitenzahl: 460

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1

2

3

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6

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Epilog

Die Autorin

Die Romane von Mona Kasten bei LYX

Leseprobe

Impressum

Mona Kasten

Haunted Reign

Roman

ZU DIESEM BUCH

Wenige Wochen ist es her, dass Zoey Kings Leben vom einen auf den anderen Tag kopfstand. Denn nicht nur fand sie heraus, dass sie im Gegensatz zu ihrer ruhmreichen Mutter Todesmagie in sich trägt und eine Banshee ist, sondern sie musste auch erkennen, dass ihre beste Freundin Violet nicht die Person ist, die sie ihr ganzes bisheriges Leben zu kennen glaubte. Seither versucht Zoey mit aller Macht, zu vergessen, was geschehen ist, und ihren Schmerz so oft wie möglich auf Partys zu betäuben. Das würde ihr jedoch viel besser gelingen, wenn Dylan Dae Park ihr nicht ständig in die Quere käme. Dabei ist es schon schlimm genug, dass der Reaper ihr weiterhin Nachhilfe geben und sie im Kampfsport trainieren muss, während er so tut, als wäre der Kuss, den sie geteilt haben, niemals geschehen. Zu allem Überfluss lassen auch noch Zoeys Noten seit dem Wechsel an den Zweig der Silver Ravens zu wünschen übrig. Aber zumindest dafür scheint eine Lösung in Sicht, denn das Jahresabschluss-Turnier an der Everfall Academy steht bevor und in den drei Prüfungen, in denen Kampfkunst, aber auch Intelligenz, Mut und Tapferkeit getestet werden, kann Zoey Zusatzpunkte für ihr Zeugnis sammeln. Doch schon die erste Aufgabe stellt sich als gefährlicher heraus, als Zoey jemals hätte ahnen können. Und bald wird klar, dass nicht nur ihr eigenes Leben auf dem Spiel steht, sondern auch das der Menschen, die ihr alles bedeuten …

Für alle, die den Mut haben, aus Bruchstücken etwas Neues zu formen.

1

Mit ausgebreiteten Armen stand ich am Seeufer, als der Wind mir ins Gesicht peitschte, und genoss die eisige Kälte. Die Sterne leuchteten über uns. Ich sah nach oben und betrachtete die strahlenden Lichter, die sich nach einigen Sekunden zu drehen begannen.

»Noch eins?«, erklang eine Stimme neben mir, und ich wandte mich dem Mädchen zu. Sie kam mir bekannt vor. Wahrscheinlich war sie in irgendeinem meiner alten Kurse gewesen. Oder einem meiner neuen? Ich war mir nicht ganz sicher. In den letzten Wochen war mein Leben irgendwie an mir vorbeigerast. Es gab morgendliche Nachhilfe, es gab Unterricht, und dann gab es die Nacht. Die vielen Augenblicke, in denen ich es nicht aushielt, so lange an die Decke starrte und von dunklen Erinnerungen heimgesucht wurde, dass ich keinen anderen Ausweg sah, als mich abzulenken. So auch in dieser Nacht.

Ich lächelte das Mädchen an, deren Name mir entfallen war, und hielt ihr den Becher hin, den ich eben geleert hatte. »Gern«, sagte ich, und sie kam der Aufforderung sofort nach und goss mir noch mehr Sekt ein. Ich stieß mit ihr an, dann noch mit zwei weiteren Mitschülerinnen, und gemeinsam tranken wir. Wahrscheinlich würden sie mich morgen nicht mit dem Hintern angucken, und ich würde sie nicht erkennen, aber so war das an der Everfall Academy. Man feierte mit Menschen und tat am nächsten Tag so, als hätte man sie noch nie gesehen. Früher hätte mich das vielleicht gekränkt. Jetzt war es mir merkwürdig egal.

Ich leerte das Glas nach und nach, legte den Kopf in den Nacken, als mir mit einem Mal Bilder vor Augen traten.

Ein schwarzhaariges Mädchen, das mir Kekse hinhielt und mit Gläsern voll Orangensaft mit mir anstieß. Das mich umarmte und für mich da war. Dessen Gesicht sich in meinen Gedanken plötzlich verzerrte, bis es auflachte und gefährlich triumphierend sagte: Oh Mann, du müsstest dein Gesicht sehen. Einfach herrlich.

Das Glas war leer, und ich sah es böse an, als könnte es etwas dafür, dass ich von den Erinnerungen heimgesucht wurde. Ich hatte keine Ahnung, wie viel von dem Sekt ich bereits intus hatte, aber wenn die Erinnerungen noch so laut waren, war es nicht genug. Oder ich musste zu drastischeren Mitteln greifen, um meinem Hirn Einhalt zu gebieten.

Ich begab mich zu einigen der anderen Schüler, wobei ein paar bekannte Gesichter im Licht des kleinen Lagerfeuers aufflackerten. Ich sah Beau, meinen Ex, seinen besten Freund Ronan und Orla, die ich einst für eine Freundin gehalten hatte. Zumindest, bis ich belauscht hatte, wie sie sich an Beau hatte ranmachen wollen, während wir noch zusammen gewesen waren. Klar, die Beziehung zu ihm war längst zerrüttet gewesen, aber dennoch machte sie das nicht unbedingt zu einer meiner Lieblingspersonen. Genauso wie Beau seit seinen harten Worten vor wenigen Wochen in meinem Ansehen gesunken war, als er mich und meine Magie als ungefähr das Schlimmste betitelt hatte, was ihm je passieren könnte. Es kam mir immer noch komisch vor, jemanden, mit dem man einen so großen Abschnitt des Lebens geteilt hatte, plötzlich zu ignorieren. Aber inzwischen war ich richtig gut darin geworden. Bloß in schwachen Momenten – meistens nachts – wogte der Schmerz durch mich hindurch, und ich suchte verzweifelt nach etwas, das mich ablenkte.

Rasch wandte ich den Blick ab und mischte mich unter die Tanzenden. Ich lauschte der Musik und gab mich in der Menge den Klängen der Gitarren und Drums hin. Die Musik war zwar leiser, als mir lieb gewesen wäre, aber ich bewegte mich dennoch im Takt. Ich wiegte die Hüften, warf mein Haar von einer auf die andere Seite, bis mir ganz schwindelig wurde. Ich ließ zu, dass jemand meine Hüften umfasste. Doch als ich die Hände in meine nahm und sich Arme um meine Taille schlangen, spürte ich nicht viel. Da war kein Bauchkribbeln. Da war nichts.

Ich runzelte die Stirn und tanzte weiter. Mein Kopf verstummte immer noch nicht. Andauernd kehrten die Erinnerungen zurück. Die an das Leben, das ich einst geführt hatte. Die daran, was für eine Art Mensch ich vorher gewesen war, bevor ich vor meinen Augen einen Jungen hatte sterben sehen. Erinnerungen an meine zerbrochene Beziehung, an den Spott meiner Mitschüler, an die gefährlich dunkle Magie, die nun ein Teil von mir war und mir dabei geholfen hatte, einen Mord aufzuklären.

Wenn ich noch so viel denken konnte, war das überhaupt nicht gut.

»Lust auf ein Bad?«, rief jemand und ich riss den Kopf herum. Es war Rafael Garcia, ein angehender Schmied aus dem Haus der Kunst und des Handwerks, der Bronze Wolves. Er zog sich in einer fließenden Bewegung den Pullover aus, der kurz darauf auf dem eisigen Boden landete. Weitere Partygäste schlossen sich ihm an und begannen sich ihrer Kleidung zu entledigen.

»Seid ihr wahnsinnig?«, fragte Orla und starrte sie an.

Ja, wahrscheinlich waren sie das.

Gut, dass ich es auch war.

Ich schälte mich aus dem Pullover und dem Thermoshirt, das ich darunter trug, meine Hose und die Boots folgten.

»Ihr seid komplett bescheuert«, rief Hannah. »Es ist Ende November. Wenn ihr das ernsthaft vorhabt, werden sie euch später erfroren aus dem See ziehen.«

»Falls die Merrows euch nicht hinunterziehen. Oder was auch immer dort drin noch herumgeistert«, warf ein anderes Mädchen ein.

Ich hörte bloß mit halbem Ohr hin, ich war bereits auf dem Weg zum Seeufer. Die oberste Schicht war tatsächlich schon ein wenig überfroren. Eine leichte Eisschicht glitzerte im Mondschein. Rafael warf schreiend den Kopf zurück, denn er war der Erste, der das klirrend kalte Wasser erreicht hatte. Eine Reihe von Schülern war ebenfalls dabei, in den eisigen See zu waten, und als meine Füße auf das Wasser trafen … das war der erste Moment an diesem Abend, wo etwas den betäubten Zustand durchdrang, in dem ich mich seit Wochen befand. Etwas, das nichts mit dunklen Erinnerungen zu tun hatte. Etwas, das meinen Puls schneller schlagen ließ. Zumindest, bis jemand mein Handgelenk umfasste und mich festhielt.

Ich fuhr herum. Einen Tick zu hastig, denn ich verlor das Gleichgewicht und geriet ins Straucheln. Eine zweite Hand legte sich um meinen Oberarm und hielt mich aufrecht. Diesmal kribbelte meine Haut. Mein Körper schien zu begreifen, wer mich berührte, noch bevor ich aufblickte und ihm ins Gesicht sah.

»Willst du mir verraten, was zum Teufel du da machst?« Seine tiefe Stimme wogte über mich hinweg.

Dylan war hier. Und zu meinem Bedauern reagierte mein törichtes Herz sofort auf seine Anwesenheit. Es surrte in meiner Brust, was es beim Anblick des einzigen Reapers an der Akademie definitiv nicht tun sollte.

Schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn, seine Miene war finster, als hätte er eindeutig keine Lust, hier zu sein. Mein Blick blieb eine Sekunde zu lang an seinen breiten Schultern hängen, bevor ich ihm wieder ins Gesicht sah. Ich realisierte, dass die Leute um uns herum große Bögen schlugen, was ich ihnen nicht verdenken konnte. Dylan genoss den Ruf, gefährlich zu sein. Seine Gabe bestand darin, verstorbene Seelen durch den Schleier ins Jenseits zu begleiten und dafür zu sorgen, dass sie dies wirklich taten und nicht etwa für die Ewigkeit ein trostloses Dasein als Geister fristeten. Vor Hunderten von Jahren jedoch hatten unsere Vorfahren, die Tuatha De Danann, denen wir unsere Magie verdankten, einen Sonderbeschluss getroffen, der besagte, dass Reaper im Falle eines Krieges ihre tödliche Fähigkeit nutzen durften, verfeindeten Völkern, wie beispielsweise den Fomoriern, Seelen zu entreißen. Heutzutage war dies illegal – niemand durfte die Magie, die uns von unseren Vorfahren geschenkt wurde, gegen andere Nachfahren oder gar Normalsterbliche einsetzen. Dennoch tat das dem Respekt, den alle vor Dylan hatten, keinen Abbruch. Was nur verständlich war, denn jeder, der seine Magie mit eigenen Augen gesehen hatte, wusste, zu was er fähig sein konnte. Dass er nebenbei mit Drogen und Alkohol handelte und für Geld so ungefähr alles machen würde, ganz gleich, gegen wie viele Akademieregeln er damit auch verstieß, verstärkte diesen Effekt bloß.

»Ich feiere das Leben«, gab ich verspätet zurück. Meine Stimme klang gedehnt, ich hörte selbst, wie sehr der Alkohol meine Zunge verlangsamte.

Zwischen Dylans Brauen bildete sich eine kleine Falte. »Für mich sieht es eher aus, als würdest du dich absichtlich in Gefahr begeben.«

Ich entzog ihm meine Arme. »Ich bin nicht die Einzige, die baden geht«, sagte ich und deutete auf die anderen.

Dylans Blick schweifte zu den anderen, bevor er wieder auf mir landete. »Die anderen interessieren mich herzlich wenig. Ich bin deinetwegen hergekommen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe dich nicht darum gebeten.«

Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. »Komm.«

»Wohin?« Ein langsames, bittersüßes Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Ich tat einen Schritt auf ihn zu, Wasser spritzte auf seine Schuhe, als ich ihm eine Hand auf die Brust legte. »Etwa zu dir?«

Sein Blick glitt über mein Gesicht, dann wanderte er weiter nach unten zu meinem BH mit Spitzenbesatz. Nur für einen Wimpernschlag, aber ich sah es und spürte Triumph in mir hochkochen. Dylans Kiefermuskeln traten hervor. »Hör auf mit den Spielchen, Miss Everfall.«

Er wusste genau, dass es mich wahnsinnig machte, wenn er mich so nannte. Zum einen wegen dem unterschwelligen Spott in seiner Stimme, zum anderen, weil ich längst kein Mitglied mehr im Misswahl-Komitee der Akademie war und mir die Erinnerung daran immer noch einen kleinen Stich versetzte. Darüber hinaus belehrte er mich, als wären wir gerade bei unserer Nachhilfe. Mich zu reizen, war eine von Dylans Spezialitäten, und er schien genau zu wissen, welche Knöpfe er dafür drücken musste. Unwillkürlich fragte ich mich, ob er es mit Absicht tat. Ob er mich auf diese Weise dazu bringen wollte, etwas anderes als Betäubung zu fühlen. Aber dann verwarf ich den Gedanken gleich wieder.

Zu viel in sein Verhalten hineinzuinterpretieren, war keine gute Idee. Es hatte Momente gegeben, in denen ich das getan hatte. Einer davon war vor fast zwei Monaten gewesen, in jener Nacht, in der er bei einem Kampf verletzt worden war und ich mich um ihn gekümmert hatte. Für einen Augenblick hatten wir die Grenze zwischen uns überschritten. Ich hatte ihn geküsst und mir zum ersten Mal etwas genommen, was ich wollte – ohne es zu zerdenken, ungeachtet der Konsequenzen. Doch dieser Moment lag inzwischen viele Wochen zurück, und seitdem war es zu keiner Wiederholung gekommen. Was nicht an mangelndem Interesse meinerseits gelegen hatte. Aber es war an der stahlharten Wand abgeprallt, die Dylan wieder hochgezogen hatte. Stattdessen schien er sich bloß noch darauf zu konzentrieren, wofür er als mein Mentor an der Akademie eingeteilt worden war. Dabei standen morgendliche Nachhilfestunden und eine Menge Training auf dem Plan. Und dann gab es natürlich noch das hier. Die Tatsache, dass er ständig aufpasste, dass ich keine Dummheiten beging. Als hätte ihn seine Tante, Professorin Chen, nicht nur zu meinem Mentor, sondern auch zu meinem persönlichen Leibwächter erkoren. Als wäre ich nicht mehr für ihn als ein verdammter Job.

Auch dieser Gedanke schmerzte, und ich musste irgendetwas tun, damit er verschwand.

»Du kannst deiner Tante gern Bericht erstatten«, sagte ich jetzt und hasste, wie rau meine Stimme klang. »Oder machst du das direkt bei Rektorin Baskerville? Dann gib ihr doch Bescheid.«

Mit diesen Worten machte ich kehrt und wollte zu den anderen, die inzwischen zu siebt im See badeten und aufgrund der Kälte laut jauchzten und zwischendurch schrien.

»Du solltest morgen früh besser fit sein«, sagte er noch hinter mir.

»Sonst was?«, fragte ich provokant. »Wirst du mich beim Training besonders hart rannehmen?«

Als ich einen Blick über die Schulter warf, sah ich einzig seine finstere Miene. Rückwärts ließ ich mich ins Wasser gleiten und keuchte, als die eisige Kälte über mir zusammenschlug. Ich versank in Dunkelheit, die Gliedmaßen von eisigen und gleichzeitig heißen Nadeln durchdrungen. Ich blieb so lange unter der Oberfläche, bis sich der Druck auf meiner Brust bis zum Äußersten steigerte. Plötzlich umschlangen mich zwei kräftige Arme und rissen mich zurück nach oben. Ich atmete keuchend ein – und sah mich Dylan gegenüber, der mich aus dunklen Augen anfunkelte.

»Verdammt noch mal, Zoey«, knurrte er.

Sein harter Tonfall durchdrang die Taubheit in mir mindestens so sehr wie das eisige Wasser. Ich versteifte mich, als mein Schutzschild Risse bekam und Schmerz in mein Inneres sickerte. Schmerz, den ich sorgfältig verschlossen hielt. Er durfte nicht nach außen dringen. Die Konsequenzen wären fatal.

Ohne ein weiteres Wort hob Dylan mich hoch und warf mich über seine Schulter. Ich schrie auf. »Was zum Teufel machst du da?«

»Ich bringe dich nach Hause.«

»Lass mich sofort runter.«

Er ignorierte mich und watete durch das Wasser. Beim Seeufer angekommen, konnte ich aus dem Augenwinkel sehen, wie die dort stehenden Leute Dylan schleunigst aus dem Weg gingen. Wahrscheinlich hatte er seine finsterste Reaper-Miene aufgesetzt, die die Leute am Campus stets in Angst und Schrecken versetzte, was ich ihnen nicht verdenken konnte. Dylan konnte gruselig sein, wenn er wollte.

Im Vorbeigehen riss er seinen Mantel von einem tief hängenden Ast, bevor er zwischen die Bäume des angrenzenden Waldes weiterlief.

»Meine Sachen sind noch am See«, sagte ich, wobei seine Schulter bei jedem Schritt in meinen Magen drückte und mir langsam Übelkeit bescherte.

Als wir einige Meter Abstand zur Party gewonnen hatten, ließ er mich schließlich runter. Mein Körper glitt dicht an seinem hinab, Zentimeter für Zentimeter, und ich hielt den Atem an, als ich wieder Boden unter den Füßen hatte. In Dylans braunen Augen wütete immer noch ein Sturm, düster und unaufhaltsam, seine Miene war von Zorn und etwas anderem umwölkt, auf das ich meinen Finger nicht genau legen konnte.

Er hob die Hände und schlang mir seinen Mantel um die Schultern. Erst da bemerkte ich, dass ich zitterte. Und zwar so heftig, dass meine Zähne klapperten. Dylan schien sich besser im Griff zu haben. Seine Finger bewegten sich gekonnt, er schloss einen Knopf nach dem nächsten, bis der Mantel bis oben hin zu war. Anschließend machte er kehrt und holte meine restlichen Sachen. Danach half er mir in meine Schuhe, wobei er so lange schwieg, dass ich langsam meinte, die Wut zu spüren, die in Wellen von ihm ausging.

Als er sich wieder erhob, fühlte ich seinen Blick auf mir, aber ich wich ihm aus. Einige Sekunden verstrichen. Dann legte Dylan die kalten Finger unter mein Kinn und hob es an, damit ich ihm ins Gesicht sah. Meine Kehle wurde trocken, als ich unzählige Gefühle in seiner sonst so kontrollierten Miene toben sah.

»Hör auf damit«, sagte er jetzt.

»Womit?« Meine Stimme verklang kaum hörbar im Wald.

»Mich auszuschließen. Dich absichtlich in Gefahr zu bringen.« Er ließ mein Kinn los. Erst da wurde mir bewusst, dass ich mich in die Berührung gelehnt hatte.

Ich suchte nach Worten, doch alle, die mir in den Sinn kamen, würden die Wunde in meinem Inneren erneut aufreißen. Und was dann geschah, mochte ich mir kaum ausmalen. Jetzt schon tat das Atmen weh.

»Was interessiert es dich?«, fragte ich stattdessen.

»Auf eine so dämliche Frage weigere ich mich zu antworten. Und jetzt komm. Ich friere mir den Arsch ab.« Mit diesen Worten marschierte er los in Richtung des Schleichwegs, der am Rand der Campusgrenze hinauf zum Wohnheim der Silver Ravens führte. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Dabei kuschelte ich mich enger in seinen Mantel und vergrub die Hände in den Taschen, eingehüllt von seinem angenehmen Duft und der darin anhaltenden Wärme.

2

Tagsüber ging es mir besser, weil es Dinge gab, auf die ich mich konzentrieren konnte. Darauf, bei meinem neuen Stundenplan nicht hinterherzuhängen. Darauf, das Training ernst zu nehmen, damit ich nicht noch mal so leicht angegriffen werden konnte, wie es vor knapp zwei Monaten geschehen war. Und auch auf simple Dinge, wie beispielsweise, Kennas und mein Zimmer zu verschönern.

Meine Freundin und ich liefen zur Mensa im Hauptgebäude der Akademie, um unsere Mittagspause dort zu verbringen. Sie hatte sich bei mir untergehakt und hüpfte leicht, weil sie sich so freute.

»Deine Mum ist so cool«, sagte sie gerade. »Ich kann nicht glauben, dass sie auch eine Decke für mich in Auftrag gegeben hat.«

Am heutigen Vormittag war ein Paket in unserem gemeinsamen Wohnheimzimmer angekommen, in dem sich zwei riesige, wunderschöne Quilt-Decken aus feinsten Stoffen befunden hatten, jeweils auf Kennas und meine Seite des Zimmers abgestimmt. Der Ort, der vor wenigen Monaten noch so trostlos und karg gewesen war, hatte mit der Zeit – und mit der Hilfe meiner Mum – einiges an Farbe gewonnen. Zwar war die Beziehung zwischen meiner Mutter und mir kompliziert, aber zum Glück niemals, wenn es um Dinge wie Kleidung oder Einrichtung ging.

Ich lächelte in mich hinein. »Die gefällt dir wirklich, was?«

Sie nickte so kräftig, dass ihre Locken genauso aufgeregt wippten wie sie. »Und wie. Ich hatte noch nie so etwas Weiches, Flauschiges und Schönes. Und sie wusste sogar, dass Koralle meine Lieblingsfarbe ist.«

»Meine Mum hat für so was ein Gespür.«

Überrascht sah Kenna mich an. »Echt jetzt? Du hast es ihr nicht verraten?«

»Nein, wirklich nicht. Vielleicht hat sie irgendeine Art von zusätzlicher Magie.«

Kenna kicherte, als wir uns in der Schlange für das Essen einreihten. »Ich werde ihr eine Karte schreiben. Oder ihr Blumen schicken. Oder beides.«

Jetzt lächelte auch ich, auch wenn es sich zäh anfühlte. Nachdem meine Mum Kenna nach jener Nacht, in der Cree und Violet uns angegriffen hatten, geheilt hatte, hatte Kenna angefangen, eine gewisse Art von Bewunderung für sie zu empfinden. Es war sehr süß mit anzusehen, wie Kenna nach und nach auftaute. Sie war nicht mehr das verschlossene Mädchen, das ich damals kennengelernt hatte, sondern eine starke und loyale Freundin. Ich hatte sie so sehr ins Herz geschlossen, dass ich beim Training manchmal einfach nur daran dachte, nie wieder zulassen zu wollen, dass jemand sie angriff, damit ich angestrengter bei der Sache war.

»Einmal die Lasagne bitte«, sagte Kenna jetzt, und ich bestellte das Gleiche, bevor wir mit unseren Tabletts vorgingen zu dem Dessert-Regal. Kenna griff sich das vorletzte Dessert und machte sich dann auf den Weg zur Kasse. Ich wollte mir gerade die letzte Mousse au Chocolat nehmen, als jemand volle Kanne gegen mich rempelte, sich vordrängelte und mir die Mousse vor der Nase wegschnappte.

Es war ein Mädchen mit braunem Pixie-Cut, breiten Schultern, aber kleiner Statur. Schon bevor sie mir ein fieses Lächeln über die Schulter zuwarf, wusste ich, wer es war.

Georgina Donovan, die jetzt offiziell dem Tod geweiht war.

Das wusste ich zum einen, weil ich eine Banshee war, die den Tod von Leuten in ihrem Umfeld vorhersehen konnte, ja. Aber vor allem wusste ich es, weil diese dämliche Kuh durch meine eigenen Hände ums Leben kommen würde. Wenn jemand Georgina mit ihrem süffisanten Grinsen den Garaus machen würde, dann wäre ich persönlich dafür verantwortlich. Das hatte ich bereits beschlossen, als sie mir vor knapp zwei Monaten die Nase gebrochen hatte, als Demonstration dafür, wie schlecht ich im Kämpfen war. Zwar war ich immer noch nicht gut, aber in den letzten sieben Wochen war ich schneller und geübter geworden. Darüber hinaus besaß ich einen riesigen Vorteil: Aufgrund meiner Magie fürchteten mich die meisten Leute an der Everfall Academy. Bedeutete, ich konnte das zu meinem Vorteil nutzen.

Georgina hatte sich gerade an der Kasse der Mensa angestellt, das erbeutete Dessert auf ihrem Tablett, ein Zeichen ihres Grolls gegen mich, der anscheinend immer noch nicht abgeklungen war. Nun, das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Geräuschvoll ließ ich mein Tablett auf die Ablage neben der Kasse fallen. Georgina drehte sich zu mir und sah mich an. Ich bemühte mich um einen möglichst weggetretenen Ausdruck, behielt diesen einige Sekunden bei, bevor ich sie wieder mit klarem Blick ansah und meine Augen weitete, offenkundig erschrocken. Ich schnappte hörbar nach Luft. Georginas Miene wurde aschfahl. Sie wich einen Schritt zurück, dann noch einen, bis sie gegen einen Mitschüler stieß. Ich öffnete unterdessen den Mund und tat, als würde ich jeden Moment anfangen zu schreien. Georgina war schneller weg, als ich blinzeln konnte. Dabei ließ sie ihr Tablett an der Kasse stehen.

Ich wartete, bis sie außer Sichtweite war, setzte ein unverbindliches Lächeln auf, schnappte mir das Dessert von Georginas Tablett und stellte es auf mein eigenes neben mein Essen. Dann wandte ich mich an die Kassiererin.

»Einmal das hier bitte«, sagte ich und zückte meine Karte.

Die Frau schien nichts von der Aktion mitbekommen zu haben und zog die Karte mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck durch das Lesegerät. Jemand stellte sich hinter mich, das spürte ich an der Wärme, die mich erfasste. Es kribbelte in meinem Nacken, als sich die Person zu mir vorbeugte. Ich wusste, wer es war, bevor er die Stimme erhob. Ganz so wie letzte Nacht.

»Ich habe genau gesehen, was du gerade gemacht hast«, raunte er dicht an meinem Ohr.

Ich nahm die Karte von der Kassiererin zurück, steckte sie in meinen Geldbeutel und versuchte, meinen beschleunigten Herzschlag in Schach zu halten.

»Gut«, gab ich gedämpft zurück, schnappte mir mein Tablett und drehte mich mit gerecktem Kinn um.

Dylan erwiderte meinen Blick aus dunklen Augen. »Es ist nicht sehr höflich, Leute im Glauben zu lassen, sie würden bald sterben.«

Es war, als würde er als mein schlechtes Gewissen fungieren, weil mein eigenes sich vom Acker gemacht hatte. Aber falls er dachte, dass das funktionierte, hatte er sich leider geirrt. Gleichgültig hob ich die Schultern. »Es ist genauso wenig höflich, Leuten die Nase zu brechen.«

Er legte den Kopf schräg. »Wenn ich mich richtig erinnere, hast du mir auch ein paar Knochen gebrochen, und ich habe dir das verziehen. Wie wäre es also, wenn du langsam Gnade walten lässt?«

Jetzt zog ich eine Braue hoch. »Erstens habe ich dir nicht absichtlich wehgetan, das weißt du. Und zweitens …« Ich bemerkte, wie dicht er bei mir stand und wie gut er roch. Nach Kaffee, gleichzeitig nach dem Leder seiner Jacke und einfach wie er selbst. Da fiel mir ein, dass sein Mantel noch in meinem Zimmer lag. Eventuell war ich heute Morgen verkatert nur mit ihm als Decke aufgewacht, aber das war ein Geheimnis, das ich mit ins Grab nehmen würde. Und hoffentlich auch Kenna, die sich darüber halb totgelacht hatte.

Ich starrte ihn einen Moment zu lang an, besonders, als sich eine Strähne aus dem halben Zopf löste, zu dem er sein länger werdendes Haar gebunden hatte. Es kitzelte mir in den Fingern, sie zu berühren, und ich umklammerte mein Tablett fester. So fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten.

»Zweitens?«, hakte er nach und hielt der Kassiererin seine Karte hin, ohne den Blick von mir zu nehmen.

Ich sammelte meine Konzentration. »Zweitens bin ich nun einmal nachtragend. Ich merke mir alles. Für immer. Wenn man mir Unrecht tut, werde ich es mir mein Leben lang auf eine imaginäre Liste setzen.«

Dylans Mundwinkel zuckten kurz. Ich sah, dass er amüsiert war, aber er ließ selten ein richtiges Lachen zu. Zu selten für meinen Geschmack, auch wenn ich ihn das ganz bestimmt nicht wissen lassen würde.

»Vergebung ist eine Tugend, Miss Everfall.«

»Es ist Mittagspause, die Nachhilfe für heute ist vorbei.« Zugegeben, eine lahme Erwiderung, aber etwas Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein.

Er erwiderte meinen Blick ruhig, der Ansatz des Lächelns verflüchtigte sich. »Mach dir das Leben nicht schwerer, als es sein muss.«

Da war er wieder. Der Beschützer. Derjenige, der mir meine Fehler zeigte und mich mit ihnen konfrontierte. Etwas in meiner Brust krampfte sich zusammen.

»Danke für die wertvolle Lektion, Professor Park«, sagte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Ich sah mich nach Kenna um und entdeckte sie kurz darauf an einem der Tische, zusammen mit einem vertrauten Rotschopf. Es war der Tisch, an dem wir die Mittagspausen meistens zu dritt verbrachten. Vor zwei Monaten noch hatte ich Dylan stets aufgefordert, sich uns anzuschließen. Aber er hatte es nie getan. Und jetzt … jetzt war es so angespannt zwischen uns, dass ich es einfach nicht mehr wagte.

»Ich muss dann mal«, sagte ich und wandte mich von ihm ab. Ich spürte seinen Blick den gesamten Weg bis zu unserem Tisch, wo ich das Tablett geräuschvoll abstellte. Aus dem Augenwinkel konnte ich Dylans große Gestalt aus der Mensa laufen sehen, er hielt einzig einen Becher in der Hand. Ich verdrängte die Fragen, die in mir aufkeimten. Beispielsweise, wohin er unterwegs war. Was er machte. Und mit wem. Aber es ging mich nichts an. Er hatte mir mehr als einmal deutlich gemacht, dass ich nicht mehr für ihn war als ein verdammter Job.

»Ich dachte kurz, du würdest gleich wieder mit Georgina in den Kampfring treten«, meinte Murphy, der auf den Hinterbeinen seines Stuhls kippelte und ihn in diesem Moment nach vorn sinken ließ.

Ich zog bloß die Nase kraus.

»Nicht jeder kämpft so gern wie du, Mr Späher«, sagte Kenna.

Murphy grinste und schaufelte sich Antipasti in den Mund, deren Knoblauchduft zu mir herüberwehte. »Wenn ich wirklich ein Späher werden will, muss ich gern kämpfen. Bei den Rittern wird quasi nichts anderes gemacht.«

Die Späher waren eine Art Sondereinheit bei den Rittern der Danu. Während Ritter für die Nachfahren der Tuatha De Danann seit Jahrhunderten in den Krieg zogen und auch heute noch dem Schutz der Ratsfamilien dienten, waren Späher eine kleine Untereinheit von Spionen, die Feinde auskundschafteten. Viele Shifter, wie Murphy einer war, strebten eine solche Position in unserer Welt an, doch nur die wenigsten wurden zugelassen, weil die Aufnahmeprüfungen derart hart waren. Und obwohl dieser sommersprossige, humorvolle Rotschopf mit seiner lockeren Art so gar nicht in eine solche Tätigkeit zu passen schien, wünschte ich mir für ihn, dass er sich diesen Traum früher oder später erfüllen würde. Er kämpfte hart dafür, und das, obwohl wir im dritten und nicht etwa schon im fünften und letzten Jahr der Akademie waren.

»Wenn du so mit dem vielen Extratraining weitermachst, werden deine Arme dein Shirt bald sprengen«, merkte ich an und deutete mit der Gabel auf Murphys Oberkörper, der in den letzten Monaten tatsächlich breiter geworden war. Als ich ihn kennengelernt hatte, war er schlaksiger gewesen, jetzt spannte sein dunkelgraues Thermoshirt an den Armen.

»Ich wusste gar nicht, dass du dir Gedanken um meine Muskeln machst, Zoey. Wenn du willst, kannst du sie gern einmal anfassen.« Er spannte den Bizeps an und beugte sich zu mir, aber ich winkte ab.

»Nein, danke. Mein Bedarf an Muskeln aus Stahl ist von den Übungskämpfen bereits ausreichend gedeckt«, sagte ich, doch mir entging nicht, dass Kenna auf Murphys angespannten Arm starrte – und das ein paar Sekunden zu lange. Murphy drehte sich um und hielt ihn nun auch ihr hin.

»Tu dir keinen Zwang an, Sully. Ich weiß, dass du es willst.« Er wackelte mit den Brauen. Kenna rümpfte die Nase und widmete sich wieder der Lasagne auf ihrem Teller.

»Auch ich habe keinen Bedarf. Sorry, Murphy.«

Er zuckte bloß mit den Schultern. Dann wandte er sich höchst interessiert meinem Nachtisch zu. »Isst du das noch?«

»Eigentlich ja«, antwortete ich.

Er zog die Mundwinkel nach unten, und der Anblick war so traurig, dass ich ihm das Glas mit der Mousse, um das ich eben noch mit Georgina gekämpft hatte, rüberschob. Murphy grinste bis über beide Ohren und begann gleich damit, das Glas auszulöffeln.

»Glaubt ihr, dass das für das Turnier ist?«, fragte Kenna, den Blick auf jemanden hinter mir geheftet. Ich drehte mich um und betrachtete die Schüler, die gerade hereinkamen. Sie sahen ein wenig älter als wir aus, waren vielleicht aus dem fünften Jahr, und trugen mehrere schwer aussehende Holzkisten jeweils zu zweit durch die Mensa.

»Glaube ich nicht«, sagte Murphy mit vollem Mund. »Die Prüfungen werden bis zur Verkündung unter Verschluss gehalten. Da würde es nicht grad Sinn machen, wenn Schüler so offenkundig mit Material herumlaufen.«

An der Everfall Academy gab es jährlich mehrere Turniere, hauptsächlich für die kampfbegabten Schüler, wie beispielsweise die Nachfahren von Lugh, Dagda, Morrigan oder Nuada. Das Jahresabschluss-Turnier war allerdings jedes Jahr das größte mit den gefährlichsten Prüfungen – und es wurden die meisten Punkte auf dem Zeugnis angerechnet. Während manche Turniere über das Jahr hinweg in der Trainingshalle stattfanden, wurde für das Jahresabschluss-Turnier der gesamte Campus genutzt. Es gab verschiedene Aufgaben zu bewältigen, die den Gottheiten gewidmet waren. Dabei ging es um Kampfkunst, aber auch darum, wer sich am intelligentesten anstellte und sich mit klugen Einfällen durchschlug. Alles natürlich unter den strengen Akademieregeln, wobei die Schüler das meiste unter sich ausmachten und die Lehrkräfte sich nur bei tödlichen Gefahren einmischten.

»Willst du an dem Turnier teilnehmen?«, fragte ich und trank einen Schluck aus meiner Flasche.

»Klar. Hab mich direkt eingetragen, als die Listen aufgehängt wurden«, gab er zurück. »Und ihr?«

Kenna und ich wechselten einen Blick. Meine Freundin hob ihre Gabel hoch. »Ich würde mir lieber ein Auge mit dieser Gabel ausstechen, als mir das anzutun.«

»Makaber, aber in Ordnung. Was ist mit dir?«, fragte er nun an mich gewandt.

Stirnrunzelnd erwiderte ich den Blick aus seinen blauen Augen. »Nein, danke. Ich bekomme beim Training schon genug Blutergüsse.«

»Ihr seid beide Spielverderberinnen. Wo ist euer Ehrgeiz?«, fragte Murphy und ließ den Löffel sinken.

»Ich brauche keine Extrapunkte auf dem Zeugnis, ich komme sehr gut hinterher«, sagte Kenna mit einem bittersüßen Lächeln, das mich allerdings eine Grimasse schneiden ließ. Durch meinen Zweigwechsel vor ein paar Monaten hing ich immer noch hinterher, auch wenn ich die Nachhilfe ernst nahm und wie eine Verrückte lernte. Meine Noten in einigen der neuen Fächer konnten besser sein. Aber dennoch wollte ich nicht an einem Turnier teilnehmen, bei dem es mehrere Wochen lang nur darum ging, meine Mitschüler mit allen Mitteln auszustechen. Ich kannte diese Art von Konkurrenzkampf bereits von Beau, meinem Ex-Freund, und unserer gesamten ehemaligen Clique. Beau, Ronan, Darragh und Orla hatten stets an den Turnieren teilgenommen, während meine ehemalige beste Freundin Violet und ich am Rand gestanden und sie – vor allem Beau – angefeuert hatten.

Ein Stich fuhr mir in die Brust, so heftig, dass mir einen Moment lang das Atmen schwerfiel.

Violets Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf, und es war, als würden schwere Eisenketten um meinen Brustkorb liegen, die immer fester zugezogen wurden.

Es war okay, mich nachts in der Betäubung zu verlieren, aber jetzt … jetzt konnte ich mir das nicht erlauben. Nicht, wenn noch Unterricht vor mir lag und meine Freunde hier waren. Ihnen konnte ich Normalität so gut vorgaukeln, dass ich manchmal schon fast selbst daran glaubte. Sie wussten zwar, dass ich viel Party machte, aber nicht, wieso ich das tat. Und dabei sollte es besser bleiben. Ich konnte es mir nicht erlauben, jetzt mein Gesicht zu verlieren. Also atmete ich einmal tief durch und bemühte mich um eine neutrale Miene.

»Komm, Zoey. Lass mich nicht hängen«, drängte Murphy nun.

»Tut mir leid, aber du weißt, dass ich schon bei der ersten Prüfung komplett versagen würde.«

Zweifelnd sah er mich an, dann wieder Kenna. »Ihr beide unterschätzt euch. Selbst wenn ihr nicht bis zur letzten Prüfung kommt – wenn man allein bei einer gut abschneidet, bekommt man Extrapunkte. Zwar nicht so viele wie die, die es bis zum Ende schaffen, aber trotzdem.«

»Ich habe keine Lust, in jeder freien Minute zu trainieren für Prüfungen, die ich erst kurz vorher gesagt bekomme, um dann mit den beklopptesten Schülern der Akademie um ein paar Bonuspunkte im Zeugnis zu kämpfen. Außerdem werden die meisten davon sich eh in die Hose machen, sobald sie auf engem Raum mit mir sind«, murrte Kenna.

Seit ich mit ihr zusammenwohnte, hatte ich einige Dinge über sie gelernt. Kenna war eine Dearg Due. Diese wurden meist auf brutale Weise aus dem Leben gerissen und erhoben sich aus ihren Gräbern, geboren aus einer dunklen Magie und dem grenzenlosen Wunsch nach Rache. Es hieß, sie verfolgten ihre Mörder, bis sie sie fanden und ihnen das Blut aussaugten. Und wenn sie dies taten, gab es für sie kein Zurück mehr und sie fristeten ihr Dasein als Untote, wobei sie auf das Trinken von Blut angewiesen waren und über übermenschliche körperliche Stärke verfügten. Deshalb galten Dearg Dues an der Akademie – ähnlich wie ich – als Aussätzige, was aber nur an dummen Vorurteilen lag. Kenna war nämlich das genaue Gegenteil von gefährlich.

Ja, sie trank alle paar Wochen einen großen Blutbeutel, den sie meist in einen blickdichten Becher füllte, aber mit ihren niedlichen Blümchen-Haarspangen in den kleinen dunklen Locken, den gerüschten Blusen, den Latzkleidern und ihrem Faible für historische Liebesromane fand ich meine Zimmernachbarin alles andere als gruselig. Sie war meine Freundin geworden, und für meine Freunde würde ich alles tun – genau wie Kenna. Sie hatte ein gutes Herz, und wenn man in eine gefährliche Situation geriet, fand ich ihre Fangzähne sogar äußerst praktisch. Das hatte uns auch jene schicksalsschwere Nacht gezeigt, in der wir gefangen genommen worden waren und nur mit vereinten Kräften hatten fliehen können.

»Vielleicht sollte ich mir neue Freunde suchen«, murrte Murphy, woraufhin Kenna und ich einen Blick wechselten.

»Versuch’s doch«, sagte ich, und Kenna schmunzelte.

»Und ich dachte, wir sind unersetzlich«, fügte sie hinzu.

Murphy seufzte schicksalsergeben. »Das ist leider wahr. Ich hätte mir mehr Gedanken darum machen sollen, bevor ich euch beiden mit meiner überaus liebenswerten Art den Kopf verdreht habe.«

Kenna lachte auf, und auch meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Dabei spürte ich, wie sich die Eisenketten um meinen Brustkorb langsam lockerten. Das Atmen wurde leichter, und die schrecklichen Bilder in meinem Kopf verblassten, als Murphys Vortrag über seine Vorzüge als Freund ausuferte und ich mich einzig darauf und auf Kennas glockenhelles Lachen konzentrierte.

3

Seit ich den neuen Zweig an der Everfall Academy beschritten hatte, hatte ich einige Dinge gelernt. Beispielsweise, dass es in mir einen Quell von Magie gab, den ich kontrollieren konnte. Ich hatte gelernt, dass ich imstande dazu war, drohende Gefahren als solche zu erkennen, um schlimmeres Unheil zu verhindern und die Leute in meinem Umfeld zu beschützen. Ich hatte außerdem gelernt, wie wichtig es war, die natürliche Ordnung der Dinge zu respektieren und dass es meine Aufgabe war, das Gleichgewicht von Leben und Tod zu respektieren.

Es gab auch Dinge, die ich liebend gern vom Stundenplan gestrichen hätte. Ich hätte es niemals gedacht, doch inzwischen war ich sogar so weit, dass ich Heiler Sheehans Botanikstunden herbeisehnte, obwohl ich mich ständig mit dem strengen Professor gezankt hatte. Aber immerhin war er nie bösartig gewesen. Im Gegensatz zu Professor Cusack.

Der Professor für Seelenführung hatte mich bereits seit meiner ersten Stunde auf dem Kieker. Er kannte kein Erbarmen, nahm keinerlei Rücksicht auf Leute, die dem Stoff hinterherhingen, und betonte immer wieder, dass uns allen, die mit Todesmagie gesegnet waren, Seelenführung im Blut liegen müsste. Das mochte bei einigen Schülern auch der Fall sein – bei mir allerdings nicht. Für mich war dieses Fach – wie viele Belange der Todesmagie – wie eine Gleichung, die ich nicht lösen konnte. Vor allem, weil so vieles davon eher schwammige Theorie war. In meinem alten Zweig war ich vor allem aufs Heilen vorbereitet worden und hatte dabei neben verschiedenen Zaubern auch Praxisübungen in Botanik gehabt, die mir dabei geholfen hatten, Gifte von Heilpflanzen zu unterscheiden. Ich hatte Dinge anpacken können und hatte mich in meinem Element gefühlt. Hier war das nicht der Fall.

Professor Cusacks Klassenzimmer befand sich im oberen Stockwerk des Hauptgebäudes der Akademie. Hohe Bogenfenster ließen das morgendliche Licht herein, sodass einige von uns im Gesicht geblendet wurden. An den Wänden fanden sich etliche komplizierte Darstellungen verschiedener Runen und Formeln wieder, deren Bedeutung irgendetwas mit Ritualen für den Übergang ins Jenseits zu tun haben musste. Wenn ich sie mir zu genau ansah, schienen die detaillierten Symbole jedoch vor meinen Augen zu tanzen, also hielt ich mich nicht allzu lang damit auf und konzentrierte mich stattdessen auf den älteren Mann, der vorn stand. Professor Cusack hatte grau meliertes Haar, das zu einigen Teilen noch dunkelblond war, und kühle blaue Augen, die hinter einer Brille mit dünnem Drahtgestell verborgen lagen. Jetzt fixierten diese kühlen blauen Augen gerade jemanden in der hinteren Reihe, und ich atmete kaum merklich auf, weil ich dem nächsten Angriff entgangen war. Es ging um die Details der verschiedenen Reiche des Jenseits, und diese verwechselte ich zwischendurch immer wieder.

»Ja, Ms Higgins«, sagte der Professor.

»Der Übergangsraum nennt sich Astralreich«, antwortete meine Mitschülerin. »Dort gelangen alle Seelen nach ihrem Ableben hin. Von dort aus wird entschieden, in welchen Bereich sie als Nächstes gelangen.«

»Welche anderen Reiche wären das?«, fragte Cusack und sah sich in den Reihen um. Ich kannte diesen forschenden Blick. Er suchte nach jemandem, der sich nicht meldete. Jemandem, der abgelenkt war.

»Ms O’Sullivan«, erklang seine schneidende Stimme. Ich warf einen Blick zu Kenna, neben der ich nicht hatte sitzen können, weil der Platz nach meinem Wechsel bereits belegt gewesen war.

»Es gibt noch …«, fing sie an und kratzte sich den Kiefer. »Das … ähm. Schattenreich.«

»Korrekt.« Es war eigentlich erstaunlich, wie viel Enttäuschung der Mann in ein simples Wort legen konnte. Dann wandte er sich an den nächsten Schüler und forderte ihn mit einer Geste auf, dort weiterzumachen, wo Kenna aufgehört hatte. Der Blick meiner Freundin huschte kurz zu mir und ich deutete eine Grimasse an, was ihre Mundwinkel zum Zucken brachte. Schnell richtete ich den Blick wieder auf meine Notizen, die zwar sehr hübsch aussahen, aber nicht viel halfen, wenn man bloß die Hälfte davon im Kopf behielt.

»Das Schattenreich ist ein Ort der Dunkelheit, in dem nichts als Angst und Verderben herrscht. Laut den Legenden heißt es, dass dort all diejenigen unglücklichen Seelen verweilen, die in Schlachten gegen die Tuatha De Danann verloren haben«, fuhr Robert fort.

»Sehr richtig, Mr Kennedy.« Professor Cusack schritt vorn auf und ab. »Es ist unerlässlich, dass die Seelen, die im Astralreich ankommen, in den korrekten Bereich geleitet werden. Manchmal geschieht dies von selbst – in anderen Fällen nicht. Dann müssen Leute wie Sie sie leiten, damit nicht die falschen Seelen Zugang nach Tír na nÓg erhalten.« Er schritt zurück. »Welche Bedeutung hat Tír na nÓg für Sie als Nachfahren der Tuatha De Danann?«

Das war tatsächlich einmal eine Frage, bei der ich die Antwort kannte, also hob ich die Hand. Natürlich blickte Professor Cusack darüber hinweg und nahm stattdessen jemanden hinter mir dran. »Tír na nÓg ist auch als Land der Jugend bekannt. Dort sollen die Tuatha De Danann sich nach ihrer letzten Schlacht zurückgezogen haben. Tír na nÓg ist ein wichtiger Bestandteil unserer Geschichte, denn aus diesem Reich stammt die Magie, mit der wir alle gesegnet worden sind. Und nach unserem Tod sollen unsere Seelen dorthin zurückkehren, wo sie auf ewig mit den Gottheiten vereint sein werden.«

Cusack wirkte zufrieden und machte weiter. Die restliche Stunde nahm er immer wieder jemanden dran, der sich meldete, dann jemanden, der gedanklich offenkundig abwesend war, und als es kurz vor Schluss war, holte er die Tests raus, die wir in der vergangenen Woche geschrieben hatten. Nach und nach verteilte er sie. Manchmal murmelte er ein Lob, dann wieder nichts, mal verpasste er strenge Blicke, und als er bei mir ankam, ertönte ein Seufzen.

»Wie ich sehe, sind Ihre Leistungen gleichbleibend. Darüber werde ich mit Rektorin Baskerville reden müssen«, sagte er laut, damit es auch jeder im Raum mitbekam. In meiner Brust zog sich etwas zusammen, als er den Test vor mich legte.

E, stand dort in großer roter Schrift. Ich hielt den Atem an. Zwar hatte ich den Test als nicht besonders gut eingeschätzt, aber dass es so schlimm war, hatte ich nicht erwartet.

»Seelenführung erfordert ein gewisses Maß an Hingabe, das ich bei Ihnen immer noch vergeblich suche, Ms King. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie diesen Kurs nicht bestehen«, sagte er jetzt, deutlich leiser zwar, aber es war so still im Raum geworden, dass garantiert trotzdem jeder zuhörte. Mit diesen Worten wandte sich der Professor dem nächsten Schüler zu, während meine Wangen vor Scham ganz heiß wurden. Ich blickte zur Seite zu Dylan am Ende der Reihe, der ganz sicher mitbekommen hatte, was gerade passiert war. Doch er hatte die Augen abgewandt, schob seine Sachen eilig in seinen Rucksack und stand auf, sobald die Klingel ertönte, ohne auch nur einmal zu mir zu sehen.

Etwas in meiner Brust zog sich noch enger zusammen, aber ich hielt den Kopf hoch erhoben, auch wenn es mir beinahe wie ein Ding der Unmöglichkeit vorkam.

Die Feier an diesem Abend fand in der neuen Schmiede statt. Es war merkwürdig, wieder hier zu sein, aber ich hatte bereits einen Drink intus, und nach und nach ließ die Musik die Erinnerungen verblassen.

Die neue Schmiede sah aus wie eine Kopie der alten, es gab mehrere Klassenräume, ein Atelier und die tatsächliche Schmiede, mit einigen kleinen Vorräumen, in denen die Party stattfand. Ich konnte immer noch kaum glauben, wie schnell das zerstörte Gebäude wieder errichtet worden war. Die Handwerksbegabten hatten sich wirklich ins Zeug gelegt, und endlich konnten die Bronze Wolves wieder Unterricht in ihren eigenen Räumlichkeiten stattfinden lassen. Ich ließ den Blick über die Esse gleiten, über die Ambosse und die vielen Stücke Metall, die zu magisch verstärkten Waffen verarbeitet werden würden.

»Komisch, oder?«, fragte jemand neben mir und ich wandte mich um. Es war Rafael, der zwei Becher in der Hand hielt. Er sah mich wissend an, als erahnte er meine Gedanken. Dabei war er in jener Nacht, in der Cree und Violet ihr wahres Gesicht gezeigt hatten, nicht dabei gewesen.

»Ja«, antwortete ich dennoch und nahm dankbar den Drink entgegen, den er mir reichte. Ich nippte daran, und ein fruchtiger Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Der Cocktail war süß, mit einer leichten Kirschnote.

»Ich habe zwar keine Ahnung, was genau vorgefallen ist, aber … ich kann es mir denken«, sagte er jetzt.

»Weißt du, was Finn damals für Cree geschmiedet hat?« Das hatte ich mich schon seit Längerem gefragt, doch niemand sprach über diese Sache.

»Nicht, als er an dem Schwert gearbeitet hat. Aber ich habe im Nachhinein recherchiert und vermute, dass es etwas mit den Schätzen der Danu zu tun hat.«

Die vier Schätze der Danu wurden vom Rat, in dem auch meine Mutter tätig war, als riesengroßes Geheimnis gehütet, weil sie mächtige Waffen darstellten. Vor knapp zwei Monaten hatte Cree Whelan zusammen mit seiner Schwester und meiner ehemaligen besten Freundin Violet versucht, eine Kopie von einem dieser Schätze herstellen zu lassen – das Schwert von Nuada. Finn Thompson war derjenige gewesen, der das Schwert angefertigt hatte, im Geheimen hatte er gemeinsam mit Rafael magisch verstärkte Waffen gegen eine Menge Geld für Schüler hergestellt.

»Du wirst mir nicht zufällig sagen, was es mit dieser ganzen Sache auf sich hat, oder?«, fragte Rafael jetzt, während ich einen weiteren Schluck trank.

Nachdem Violet die Schmiede in Schutt und Asche gelegt hatte und Cree dadurch entkommen war, hatten sich der Rat und die Hüter eingeschaltet. Rektorin Baskerville hatte Dylan, Kenna, Murphy und mich darum gebeten, diskret mit den Vorkommnissen umzugehen, damit auf dem Campus keine Panik ausbrach. Zwar war an der Akademie herumgegangen, dass Cree und Violet Schuld an Finn Thompsons Tod trugen, aber den wahren Grund kannte niemand – nämlich, dass sie ihn zum Schweigen bringen wollten, weil er ihnen eine Kopie von Nuadas Schwert angefertigt hatte. Dieses wollte Cree dann gegen das Original austauschen und es von der Ratsfamilie, die das Heiligtum hütete, stehlen.

Ich war mir sicher, dass hinter den Kulissen noch viel mehr geschah, da meine Mutter immer so kurz angebunden klang, wenn ich mit ihr telefonierte, aber sie ließ mich nicht daran teilhaben. Auch Rektorin Baskerville verlor mir und meinen Freunden gegenüber kein Wort mehr über die Sache. Und das, obwohl Cree immer noch mit der Kopie des Schwerts auf der Flucht war und die Hüter nur Violet gefasst hatten. Die einzige sichtbare Maßnahme war, dass jetzt mehrere Einheiten von Rittern auf dem Campus patrouillierten, sobald es dunkel wurde, und wir leisere Partys schmeißen mussten, um bloß nicht erwischt zu werden.

»Ich will diese ganze Sache einfach nur vergessen«, antwortete ich verspätet, und als ich in Rafaels Gesicht sah, verzogen sich seine Mundwinkel zu einem halben Lächeln.

»Nun, im Vergessen-Lassen bin ich besonders talentiert«, sagte er und legte einen Arm um meine Taille. Ich schnappte nach Luft, als er mich an sich zog und anfing, sich langsam im Takt der Musik zu bewegen. Wie von selbst passte ich mich seinen Bewegungen an. Ich wiegte mich ihm entgegen und stellte überrascht fest, wie gut er tanzen konnte. Außerdem war Rafael breit gebaut, das viele Schmieden hatte seine Arme trainiert werden lassen. Auch sonst war er ein attraktiver Kerl, mit markanten Gesichtszügen, gebräunter Haut und einem Selbstbewusstsein, das genau im richtigen Maße da war. Ich mochte ihn. Fast wünschte ich, ihn mehr als bloß zu mögen, einfach um mich in irgendetwas verlieren zu können.

Ich schloss die Augen und gab mich dem Tanz hin. Dabei blendete ich die Gesprächsfetzen der anderen aus, genauso wie die Erinnerungen an das, was vor wenigen Monaten hier geschehen war.

Es war ein Fehler, die Augen zu schließen.

Sofort erschienen mir Bilder von Cree und Violet vor Augen. Wie ich gegen sie gekämpft hatte, wie Cree unerbittlich auf mich zugekommen war, bis ich ihn in die Glut der Esse geschubst und sich der Geruch nach verbranntem Fleisch in der Schmiede ausgebreitet hatte.

Ich riss die Lider wieder auf … und stolperte beinahe, als ich Dylan entdeckte.

Er stand mit verschränkten Armen an die gegenüberliegende Wand gelehnt, so in den Schatten versunken, dass viele andere ihn wahrscheinlich nicht sahen. Aber ich tat es. Wahrscheinlich hätte ich ihn überall erkannt, selbst mit verbundenen Augen.

Noch immer lagen Rafaels Hände auf meinem Körper. Noch immer wiegte er uns im Takt der Musik, drückte mich an sich, und lächelte dabei charmant. Plötzlich drehte er mich schwungvoll herum, sodass ich mich mit dem Rücken an seiner Brust befand, und er sich von hinten an mich schmiegte. Weiter bewegten wir uns im Takt, weiter starrte Dylan uns an. Ich wollte, dass er mich sah. In mir wuchs der irrationale Wunsch, dass er mich wieder über seine Schulter werfen würde. Dass er eifersüchtig war. Dass er mich auf dieselbe Weise wollte wie ich ihn.

Doch mein Wunsch blieb unerfüllt. Dylan behielt die Kontrolle, so wie er es in den meisten Fällen tat. Er sah mir dabei zu, wie Rafael sich gegen mich drängte, wie ich eine Hand in seinen Nacken schob, und sein Mund in der Nähe meines Halses landete. Ich fühlte nichts. Rein gar nichts. So sehr ich es mir auch wünschte.

Ich fragte mich, ob irgendetwas in mir tatsächlich kaputt gegangen war.

Als das Lied vorbei war, löste ich mich von Rafael. Jemand verwickelte ihn in ein Gespräch, und ich trat auf Dylan zu. Vor ihm angekommen, blieb ich stehen. Er sah auf mich nieder, der Blick in seinen dunklen Augen unergründlich.

»Hast du Spaß?« Die Worte strichen fast sanft über mich hinweg. Etwas lauerte dahinter, allerdings erkannte ich nicht, was es war.

»Ich hätte mehr Spaß, wenn du mit mir tanzen würdest«, gab ich zurück. Die Drinks hatten definitiv meine Zunge gelockert.

»Ich tanze nicht.«

»Ich kann es dir beibringen.«

Sein Mundwinkel verzog sich nach oben, nur für den Bruchteil einer Sekunde. »Ich sagte, ich tanze nicht. Nicht, dass ich es nicht kann.«

»Also kannst du tanzen, du willst es nur nicht mit mir tun.«

Als er nicht antwortete, schnaubte ich und wollte gerade kehrtmachen, da griff er nach meiner Hand und zog mich zu sich. Es war, als würde mich ein Stromschlag durchzucken, so intensiv fühlte sich die Berührung an. Eben war Rafael vollständig an mich gepresst gewesen und hatte eng mit mir getanzt, und ich hatte nicht einmal einen Bruchteil von dem empfunden, was ich jetzt spürte. Es war ungerecht. Ich sah erst auf Dylans Hand an meiner, dann zurück in sein Gesicht. Mit unergründlicher Miene musterte er mich.

»Wie lange hast du vor, das noch zu machen?«, fragte er.

Stirnrunzelnd erwiderte ich seinen Blick. »Was genau?«

»Das hier.« Er vollführte eine Geste mit der freien Hand, die die gesamte Party mit einschloss. »Feiern. Vergessen. Dich vor deinen Gefühlen verstecken.«

Mit einem Mal wurde mir kalt. Ich entzog ihm meine Hand, nicht fähig dazu, etwas Vernünftiges zu erwidern. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Du weißt genau, wovon ich rede.«

Ich schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ach ja? Und ausgerechnet du willst mir Vorträge darüber halten, dass ich mich angeblich vor meinen Gefühlen verstecke, während du dich mir gegenüber durchweg wie ein Stein verhältst?«

Ein Ausdruck huschte über seine Miene, so schnell, dass ich ihn kaum greifen konnte. Ich glaube, es war Verletztheit. Als hätten ihn meine Worte getroffen. Und das Schlimme war: Es gefiel mir. Es gefiel mir, seine Kontrolle zu durchbrechen und das aus ihm hervorzuholen, was unter der Oberfläche brodelte.

»Manchmal frage ich mich, ob du überhaupt irgendetwas fühlst, so wie du dich benimmst«, fuhr ich fort.

Seine Miene wurde wieder undurchdringlich. Er legte den Panzer erneut an, den er eigentlich in meiner Gegenwart bereits abgestreift hatte, und ich hasste es.

»Ich weiß genau, was du da tust. Aber es wird nicht funktionieren. Nicht, wenn du das, was in dir vorgeht, auf diese Weise versuchst zu verdrängen.«

Ich stieß hörbar die Luft aus. »Spar dir die Nachhilfe für morgen früh.« Mit diesen Worten drehte ich mich um und wollte zurück zu den anderen, als ich gepackt und schwungvoll herumgedreht wurde. Plötzlich befand sich die Wand in meinem Rücken, und ich kam so hart auf, dass mir die Luft entwich. Mit aufgerissenen Augen starrte ich zu ihm hoch. Er stützte eine Hand neben meinem Gesicht an der Wand ab und beugte sich zu mir vor.

»Genug«, knurrte er.

Ich schluckte schwer. Mein Mund wurde trocken.

»Du hast keine Ahnung, was ich fühle. Also unterstell mir nicht, dass ich nur wegen der beschissenen Strafarbeit hier bin.«

Das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich konnte ihn nur stumm anstarren, während er mich gegen die Wand drückte. Mein Kopf schwirrte, und ich versuchte, die Bedeutung hinter seinen Worten zu verstehen.

»Was soll ich denn denken, wenn du nur wirklich da bist, sobald ich über die Stränge schlage?«, brachte ich mit rauer Stimme hervor.

Ein paar Sekunden verstrichen, in denen sein Blick über mein Gesicht wanderte. Dann schluckte er hart. »Ich habe das Gefühl, dass das gerade das ist, was du brauchst. Aber langsam kann ich dir nicht mehr dabei zusehen, wie du immer weiter abstumpfst. Ich sehne mich nach dem Feuer in deinen Augen. Ich will mein furchtloses Mädchen zurück.«

Mein Herz wummerte.

Er hatte mich schon einmal als furchtlos bezeichnet. Damals, als ich ihn geküsst hatte.

Du bist furchtlos und bemerkenswert und deine Gabe ist ein Geschenk.

Hinter meinen Augen baute sich Druck auf, und ich kniff sie zusammen. Ich würde nicht weinen. Wenn ich einmal anfing, gäbe es kein Halten mehr.

Dylan beugte sich weiter vor. Sein Atem kitzelte mein Ohr, als er raunte: »Ich warte. Wann immer sie bereit dazu ist, zurückzukommen.«

Das war das Letzte, was er sagte. Ich blieb noch eine Weile an die Wand gelehnt stehen. Als meine Augen nicht mehr brannten, öffnete ich sie wieder. Die Party war immer noch in vollem Gange, doch Dylan war verschwunden.

4

»Ist es so gerade?«, fragte ich, und Kenna legte den Kopf schräg.

»Weiter nach links.«

Ich kam ihrer Aufforderung nach und schob das kristallene Emblem der Silver Ravens am Fensterrahmen weiter nach links. Schon jetzt brach sich die Sonne in Regenbogenfarben an den geschliffenen Kanten des Rabens im Sturzflug in unser Zimmer. Die Lichtflecken tanzten aufgrund meiner unruhigen Hand wild durch die Gegend.

»Noch ein Stück weiter hoch, wenn’s geht«, sagte Kenna jetzt. Ich hielt den Anhänger höher, und Kenna nickte begeistert.

Ich war froh, denn meine Arme gaben schon fast nach, und hastig befestigte ich den Klebestreifen oben an dem Band des Anhängers. Dann machte ich einen Schritt zurück. Zufrieden betrachtete ich mein Werk.

»Schickt deine Mum dir jetzt wöchentlich Pakete?«, fragte Kenna und biss in eine der Pralinen, die ebenfalls in dem Paket gewesen waren. Sie waren aus einer Confiserie, in der Mum stets Geschenke für andere Ratsfamilien bestellte, und so ungefähr das Leckerste, was ich jemals gegessen hatte. »Ich habe nämlich nichts dagegen.«

»Ich glaube, sie macht damit ihre Abwesenheit der letzten Wochen wieder wett.«

Kenna hörte mitten im Kauen auf. »Meinst du, sie jagen Cree?«

Ich nickte. »Ja. Jedes Mal, wenn ich mit Mum spreche, wirkt sie angespannt. Nur verrät sie mir natürlich nichts. Du weißt ja, wie sie ist. Wenn es um Ratsangelegenheiten geht, schweigt sie wie ein Grab.«

Kenna brummte. »Aber lieb von ihr, dass sie trotzdem an dich denkt.«

Ich nickte und betrachtete noch einmal die Karte, die Mum geschickt hatte. Sie war sogar handgeschrieben, wenn auch recht kurz.

Für Kennas und dein Zimmer. Bei meinem letzten Besuch war es zu trist.

In Liebe

Calliope King

Nur meine Mum konnte es bewerkstelligen, eine Karte mit »In Liebe« zu beenden und anschließend ihren vollen Namen darunter zu setzen. Aber so war sie nun mal. Was zählte, war, dass sie an uns dachte. Vor allem, dass sie Kenna mit einbezog, deren Eltern beide nicht mehr lebten. Jedes Geschenk, das eintraf, bezog meine Freundin mit ein. Etwas, das Mum für Violet oder andere Freundinnen niemals getan hatte. Es war, als wäre Kenna unausgesprochen Teil der Familie geworden, was mein kaltes und manchmal betäubtes Herz wärmte. Außerdem zeigte es mir, dass Mum endlich Frieden mit dem Gedanken geschlossen hatte, dass ihre Tochter wirklich eine Banshee war. Zwar wünschte ich gelegentlich, sie würde mehr mit mir sprechen, aber mit ihrer Tätigkeit als Emissärin im Rat und meinen beiden jüngeren Geschwistern hatte sie alle Hände voll zu tun. Das hier war ein riesiger Fortschritt, den ich mit offenen Armen begrüßte.

In diesem Moment vibrierte mein Handy, und als ich drauf schaute, grinste ich und hielt es Kenna hin.

»Ob sie auch telepathische Kräfte hat?«, flüsterte meine Freundin, als könnte Mum sie hören, obwohl ich noch nicht rangegangen war.