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Wie aufgeplusterte Gockel stelzen drei Kriminalpolizisten aus den Kantonen Schwyz, Luzern und Zug durchs hohe Gras um die Leiche herum. Eine verfahrene Situation: Das eine Bein und die Arme liegen im Zugergebiet, der Kopf liegt in Schwyz und das Hinterteil in Luzern. Die Zuständigkeit ist so unklar wie die Wasseroberfläche des Lauerzersees. Das Schicksal will es, dass der Tag, an dem das Sterben in der Innerschweiz einsetzt, auch der Tag ist, an dem sich Theobald Weinzäpfli mit seinen Mannen vom Berner Polizeiposten Lorraine-Breitenrain zum Maibummel aufmacht. Dieser führt ihn in diesem Jahr in fremdes Terrain, weit hinter den Jassgraben, zu Menschen, die Schellen und Eicheln für adäquate Farben beim Jassen halten.
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Seitenzahl: 278
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Günter Struchen
Kriminalroman
Alle Figuren mit Ausnahme der Bewohner des Armenheims sind fiktiv.
Bezüge zu realen Personen sind in den Anmerkungen erläutert.
Alle Rechte vorbehalten
© 2022 by Cosmos Verlag AG, Muri bei Bern
Lektorat: Roland Schärer
Umschlag: Stephan Bundi, Boll
Einband: Schumacher AG, Schmitten
eISBN 978-3-305-00487-4
Das Bundesamt für Kultur unterstütztden Cosmos Verlag mit einem Förderbeitrag fürdie Jahre 2021–2024
www.cosmosverlag.ch
1. bis 4. Mai 1959
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
5. bis 12. Mai 1959
Kapitel 31
Kapitel 32
13. bis 16. Mai 1959
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Anmerkungen
Quellen
«Es bräuchte eigentlich kein Ortsschild, Meggen kann man bereits von Weitem riechen», scherzte jemand ein paar Sitzreihen hinter ihm. Hauptkommissar Theobald Weinzäpfli erwachte abrupt. Die Stimme des Witzboldes kam ihm bekannt vor, er konnte sie aber keinem Namen zuordnen. Von allen Seiten her ertönte munteres Gigelen, das sich vom monotonen Röhren des Motors abhob. Dem Hauptkommissar war nicht nach Lachen zumute. Nicht, weil ihm der Humor der Polizisten ein Stägetrittli zu tief in Sachen Niveau angesiedelt gewesen wäre, aber er fühlte sich bedrückt. Grund war dieser eine Traum, den er seit einem halben Jahr regelmässig träumte. Er überraschte ihn in der Nacht oder beim Mittagsschlaf, am Wochenende oder während der Arbeit. An Feiertagen oder im Urlaub. Nun folgte er ihm offenbar sogar bis über die Grenzen seines Heimatkantons hinaus. Und der Traum fühlte sich schampar echt an. Noch immer glaubte er die Windböen zu spüren, die an seinen Haaren, an Hemd und Hose zerrten. Er meinte das Donnern zu hören und den Regen, der auf die Dächer des Dorfes niederprasselte. Und er spürte die Furcht in sich. Die Furcht vor diesem grossen Schatten, der ihm einmal mehr im Traum erschienen war. Er hatte sich ihm zwar zugewendet, doch noch bevor er hatte erkennen können, wer Urheber des Schattens war, war er erwacht. Auch dieses Mal. Es endete immer so. Weinzäpfli hatte bereits viele – zu viele Gedanken an den Traum verschwendet und ihn fiebrig zu deuten versucht, indem er ihn seziert hatte, wie es der Gerichtsmediziner Flückiger mit seinen Leichen tat. Aber er hatte resigniert. Diesen Traum würde er nicht durchschauen.
Weinzäpfli seufzte leise und öffnete seine Augenlider. Durch die Fensterscheiben erkannte er, dass sie soeben in einem Dorf eingefahren waren. Das Poschi fuhr durch eine Allee junger Linden, dann ging die Strasse in eine sanfte Kurve über und führte hinauf auf einen Hügel. Weinzäpfli bemerkte nicht, wie der Motor auf einmal auffällig lauter rumorte, denn die Aussicht, die sich ihm von hier aus präsentierte, war schlichtweg atemberaubend und verscheuchte sogar seine düstere Stimmung. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es einen anderen Ort auf der Welt gab, an dem man auf einen einzigen Chlapf noch mehr und noch anmutigere Berge hätte sehen können. Hinter der glatten Oberfläche jenes Armes des Vierwaldstättersees, der in die Küssnachter Bucht mündete, reckte die Rigi ihr Haupt in den Himmel. Die Königin der Berge, ihr morgiges Ziel. Vom Kulm führte die Rigi wie der Buckel einer Katze in Richtung Südsüdwesten, wo sie naadisnaa zum See abfiel. Dann folgte eine Zilete schneebedeckter Berge, von denen Weinzäpfli nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wie sie hiessen. Vor diesen trennte der Bürgenstock den Vierwaldstättersee in zwei Teile. Weit dahinter war das Stanserhorn zu sehen – im Umriss eine Art invertierte Rigi. Und noch weiter weg, schon fast vom Dunst erstickt, sah man tatsächlich Mönch, Eiger und Jungfrau. Der Blick des Hauptkommissars war noch nicht bis zum Pilatus gelangt, da gab es auf einmal einen lauten Chnutsch, die Reifen quietschten schrill und das Poschi bremste abrupt. Die meisten Tschugger konnten sich glücklicherweise noch rechtzeitig an der Kopflehne des Vordersitzes festkrallen und dadurch verhindern, aus ihren Sitzen katapultiert zu werden. Einzig der Krähenbühl Jacky wurde auf dem falschen Fuss erwischt. Der langjährige Verkehrspolizist war gerade daran gewesen, sein Bagaasch nach dem Seckli Tabak zu durchwühlen, als die Kupplung des Poschis zerbarst wie ein Nüssli zwischen den Kiefern eines Panzernashorns. Er wurde durch den Gang nach vorne geschleudert, wo sich ihm erst mit der Frontscheibe ein Hindernis in den Weg stellte, das sowohl seine kinetische Energie wie auch den Wunsch nach einem Zigarettli nachhaltig auf null setzte. Dann stand das Poschi still. Und so kam es, dass die Polizisten des Postens Lorraine-Breitenrain in ebendiesem Dorf strandeten, über das sie sich lustig gemacht hatten.
Der Motor sprang nicht wieder an. Dafür wurde die Rauchsäule, die aus der Motorhaube aufstieg, grösser und grösser. Der Poschifahrer liess seinen Unmut am Lenkrad aus, aber das änderte nichts am Umstand, dass dieses Gefährt so schnell nicht wieder in die Gänge kommen würde. Die Berner Polizisten verstanden das sofort. Sie liessen den Fahrer töipelen und traten hinaus in den zauberhaften Frühlingsmorgen. Der Letzte, der das Poschi etwas ungelenk und mit leicht gekrümmter Haltung verliess, war Hauptkommissar Theobald Weinzäpfli. Er war es nicht gewohnt, im Bus oder Automobil zu fahren, sondern bevorzugte üblicherweise das Reisen auf seinem Pony – einem Tier, das er einst geschenkt bekommen und dem er den Namen Cinderella gegeben hatte. In diesem Augenblick, als er ins Sonnenlicht trat, wurde ihm bewusst, dass Cinderella, auch wenn sie um einiges langsamer war als ihre motorisierten Rivalen, den Vorteil besass, dass sich bei ihr kein Schräubchen lockern konnte. Oder zumindest kein wortwörtlich gemeintes. Weinzäpfli kicherte in sich hinein.
«Nicht New York, aber Meggen. Immerhin», hörte er die gleiche Stimme wie schon zuvor proleten und die üblichen Verdächtigen grölten drauflos. Die Tschugger waren zu gut drauf, um sich wegen einer Panne die Laune verderben zu lassen. Ein Grund für diese unbeschwerte Stimmung war wohl auch, dass sie auf der Hinfahrt bereits ordentlich gegüügelet und sich einen soliden Stüber angetrunken hatten.
Sie waren noch keine fünf Minuten an der frischen Luft, da kam ein Mann die Strasse hochgerannt, der im Nu die Aufmerksamkeit aller erlangte, weil er, einmal oben auf der Anhöhe angelangt, damit begann, im Zickzack in der Gegend herumzuhuschen. Und zwar in etwa so planlos wie eine Kaulquappe im Schnapsglas. Nur bedeutend ausdauernder. Die Berner Polizisten stellten ihre Gespräche ein und folgten dem Mann mit ihren Blicken. Ab und zu blieb dieser vor einem Büschli, einer Hecke oder einem Gstrüpp stehen, grübelte beidhändig darin herum, schien aber nicht zu finden, wonach er suchte, und rannte dann wie pickt zum nächsten Gebüsch, bei dem sich das Prozedere wiederholte. Unter den Polizisten, die das Spektakel mitverfolgten, war auch Inspektor Gottfried Chummer, Weinzäpflis rechte Hand. Während Weinzäpfli fast allen erdenklichen Abstrusitäten des menschlichen Verhaltens mit Toleranz begegnete, passte Chummer das, was er sah, überhaupt nicht. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, was dieser Mann da genau tat. Und das machte ihn fertig. Chummer studierte ihn von Kopf bis Fuss. Der Läufer war Mitte sechzig, hatte schütteres, blondes Haar, dicke Brillengläser, die seine Augen zu kleinen Stecknadelköpfchen schrumpfen liessen, war braun gebrannt wie ein Wildheuer und spindeldürr. Er trug ein Stirnband, lange Kniesocken und seine kurzen Hosen waren so weit hochgezogen, dass der Püntel in seinem Umriss angedeutet wurde, was Chummer dazu veranlasste, die zwar scharf beobachtenden, aber dennoch anständigen Blicke im oberen Körpersegment ruhen zu lassen. Der Fremde nahm keine Kenntnis von den Gestrandeten oder dem Poschi, das immerhin mitten auf der Strasse stand und den Himmel über Meggen allmählich mit schwarzem Qualm überdeckte. Doch als er gerade zum wiederholten Mal quer über die Strasse zum nächsten Gebüsch rannte, erschallte auf einmal eine laute Trillerpfeife. Einer der Polizisten stellte sich dem wirren Läufer mit erhobener Hand in den Weg und schrie: «Stopp! Hören Sie nullkommaplötzlich damit auf, Sie sturmes Beieli. Ich habe auch schon sonst Kopfschmerzen. Ihnen zuzusehen, gibt mir den Rest.»
Die genervte Stimme gehörte dem Krähenbühl Jacky. Der Fremde blieb sofort stehen. Er blickte verdattert zum Verkehrspolizisten. Dann schaute er mit seinen kleinen Äuglein von einem Gesicht zum nächsten, so als ob ihm der Polizistentrupp eben erst aufgefallen wäre. Weinzäpfli trat neben Krähenbühl und sprach in wesentlich freundlicherem Ton: «Darf ich Sie fragen, was genau Sie tun?»
Die Antwort kam postwendend.
«Ich bin ein Orientierungsläufer!»
Weinzäpfli war zwar ein formidabler Ermittler, wies aber teilweise klaffende Lücken in der Allgemeinbildung auf, weshalb er auch mit diesem Begriff nicht viel anzufangen wusste. Er blickte fragend zu Chummer hinüber.
«Eine sportliche Disziplin», klärte ihn dieser auf. Weinzäpfli hob die Augenbrauen.
«Oh, interessant … Und was tut man da so?»
«Ich absolviere einen Orientierungslauf im Rigiwald. Im Moment suche ich einen Posten.»
Mit dieser Antwort konnte der Hauptkommissar wiederum nichts anfangen. Stattdessen schaltete sich nun Chummer ein: «Sie befinden sich hier aber nicht im Rigiwald, den es übrigens gar nicht gibt, sondern stehen auf der anderen Seite des Sees, in Meggen.»
Der Orientierungsläufer wirkte erstaunt.
«Jäso? Das erklärt so manches.»
Chummer wusste nicht, ob es sich um einen Scherz handelte. Die Miene des Fremden war schwer zu deuten. Er fixierte ihn grimmig und zeigte ans andere Seeufer, wo die Rigi in den Himmel ragte.
«Aber Sie sehen sie schon, dort drüben, die Rigi?»
Der Fremde folgte dem Finger ans andere Seeufer und auf seinem Gesicht konnte man aufrichtiges Erstaunen ablesen. Er nickte in Gedanken versunken.
«In der Tat, da steht sie.»
Es folgten einige Blickwechsel. Man wartete auf eine Erklärung. Der Orientierungsläufer schien sich allerdings nicht erklären zu wollen.
«Sie befinden sich auf einem Orientierungslauf im Rigiwald, suchen nun aber die Büsche in Meggen nach einem Posten ab, obwohl sich hier weit und breit kein Wald befindet?», fasste Chummer die Gegebenheiten zusammen, genervt ob so viel und so stark konzentriertem Schwachsinn.
«Ich habe nie gesagt, ich sei ein guter Orientierungsläufer», konterte der Läufer.
«Das hat er wirklich nicht gesagt!», bestätigte Weinzäpfli.
«Das habe ich nie gesagt», wiederholte der Orientierungsläufer ein weiteres Mal, dankbar für die unerwartete Schützenhilfe. Chummer hatte schon reichlich Erfahrungen gemacht mit den grotesken Verbrüderungen, die sein Chef manchmal einging. Deshalb zog er gerade noch rechtzeitig die Notleine, hob die Hand und verzog sich auf einen Spaziergang durch Meggen. Die übrigen Polizisten, die die Geschehnisse aufmerksam mitverfolgt hatten, sahen sich plötzlich mit einer delikaten Entscheidung konfrontiert: Sollten sie hier bleiben und den zwar kuriosen, aber auch unterhaltsamen Dialog ihres Chefs mit dem OL-Läufer weiterverfolgen oder stattdessen mit dem Stellvertreter Chummer mitgehen, der vielleicht eine Beiz fände, in die man einkehren könnte? Für beide Optionen gab es gute Gründe. Wie auf Kommando teilte sich die Menge und eine Gruppe bestehend aus zehn Männern folgte Chummer. Die Übrigen näherten sich, wie wenn es sich um ein Bekenntnis handelte, ihrem Chef und formten einen Halbkreis um ihn herum. Zu ihnen gehörten auch die zwei langjährigsten und treusten Begleiter Weinzäpflis: der arbeitslose Theaterdirektor Chlöisu Friedli, der sich schon vor vielen Jahren notgedrungen zum Tschugger hatte ausbilden lassen, und sein stark übergewichtiger, dafür aber an Worten karger Kollege Franz Linder. Weinzäpfli bemerkte nichts davon. Seine Aufmerksamkeit galt dem OL-Läufer.
«Ich würde gerne mit Ihnen mitlaufen! Nehmen Sie mich mit?», meinte er auf einmal. Der OL-Läufer schlug entzückt die Hände zusammen.
«Sehr gerne sogar, können Sie Karten lesen?»
Er kramte eine Landkarte aus seiner Westentasche, versuchte sie auseinanderzufalten, scheiterte dabei und zerriss sie auf der Höhe von Quinto und Airolo. Dann hielt er ihm das Gnuusch hin, wie wenn er sich Erleichterung verschaffen wollte.
«Nicht annähernd», gab Weinzäpfli zu. Der OL-Läufer gluckste vor Freude und warf die Karte in hohem Bogen über seine Schulter weg. Sie blieb mitten auf der Strasse liegen, unmittelbar neben einer alten Zeitung.
«Folgen Sie mir!», schrie der Orientierungsläufer. «Nächster Halt Rigiwald!»
Und die zwei zogen davon, so orientierungslos wie Brieftauben im Hornissenschwarm. Bald schon waren sie aus dem Blickfeld der verbliebenen Polizisten verschwunden, die das Ganze in einer Mischung aus Belustigung und Entsetzen mitverfolgt hatten und nun im Kollektiv die Grinde schüttelten. Man kannte Weinzäpfli, und doch vermochte er einen immer wieder aufs Neue zu verwundern.
«Ich habe die ernsthafte Befürchtung, dass wir die zwei nie mehr wiedersehen», sprach Friedli im Scherz. Linder machte ein paar Schritte auf die liegen gebliebene Karte zu, ging in die Knie, sodass sein beeindruckender Wanst erbebte, hielt kurz inne und hob dann aber stattdessen die alte Zeitung hoch.
«24. März 1959», stand auf dem vergilbten Papier, direkt unter dem Signet der Zeitung, die «Freier Schweizer» hiess. Linder hievte sich wieder in die Höhe und las die Schlagzeile. Seine Stirn runzelte sich. Etwas stimmte in diesem Ort nicht. Linder war sich sicher. Er faltete die Zeitung wieder zusammen und versorgte sie in seiner Westentasche.
Wie aufgeplusterte Gockel stelzten die drei Kriminalpolizisten aus den Kantonen Schwyz, Luzern und Zug durch das hohe Gras um die Leiche herum. Oder um das, was davon noch in zusammenhängender Form übrig geblieben war. Und dabei gaben sie peinlich acht darauf, nicht etwa die Kantonsgrenze und damit ihren Zuständigkeitsbereich zu übertreten, was keine einfache Aufgabe war, da die Gliedmassen rund um das Geleise in alle Herrgottshimmelsrichtungen verstreut und die Kantonsgrenzen in diesem Gebiet keineswegs eindeutig gezogen, sondern durch ein paar Grenzsteine lediglich halbbatzig angedeutet waren.
Hauptmann Alois von Rotz, Leiter der Kriminalpolizei des Kantons Schwyz, war der erste Beamte gewesen, der am Ort eingetroffen war. Was sich ihm dort präsentierte, überstieg seine schlimmsten Befürchtungen. Man hatte ihm nur mitgeteilt, dass ein Zug auf der Strecke Rotkreuz–Arth–Goldau kurz vor Immensee jemanden überfahren habe. Der Lokführer sei noch bis nach Arth weitergefahren, dort Hals über Kopf aus der Lokomotive gestürmt und habe beim nächsten Polizeiposten zu Protokoll gegeben, dass es sich durchaus auch um einen Menschen gehandelt haben könnte. Dann hatte der bemitleidenswerte Mann eine Panikattacke erlitten und war zum Arzt Arnold Huber-Winkler gebracht worden, der zugleich Dorfmetzger und Seelsorger war und meinte, er solle deshalb nicht in die Hosen machen, wer am helllichten Tag auf den Geleisen spaziere, sei ohnehin besser im Himmelreich aufgehoben. Die Beamten auf dem Polizeiposten Arth nahmen es aber nicht im gleichen Masse gelassen. Erst recht nicht, nachdem sie an der Lokomotive Blutspuren gesichert hatten, die so menschlich waren wie eine Beizenschlägerei zur Fastnachtszeit. Sie machten nicht lange Federlesen, sondern boten sogleich den Chef des Fahndungsdienstes auf, wie die Kantonspolizei in Schwyz hiess. In der Zwischenzeit waren ein Jäger aus Meierskappel und ein Rekrut aus dem Welschland unabhängig voneinander auf den Leichnam gestossen und hatten ihrerseits die Polizei kontaktiert, allerdings jene des Kantons Zug im Falle des Rekruten und die des Kantons Luzern im Falle des Jägers. Das führte dazu, dass letztlich innerhalb von nur einer Stunde gleich drei Kriminalpolizisten am Ort des Geschehens eintrafen: Hauptmann Alois von Rotz aus Schwyz und seine Berufskollegen aus Zug und Luzern, Zgraggen Isidor, der eben erst beförderte Leutnant der Zuger Kriminalpolizei, und Brändli Joseph, Oberleutnant und stellvertretender Leiter der Kriminalpolizei Luzern.
Obwohl von Rotz vieles an dieser Leiche seltsam vorkam und ihm die genauen Gegebenheiten, die zu diesem Unfall geführt hatten, schleierhaft blieben, eines wusste er sehr genau: Diesen Fall wollte er unter keinen Umständen übernehmen. Und der aufgrund der Streuung nicht präzis bemessbare Fundort der Leiche sollte seine Ausrede sein. Dummerweise war es die Strategie, die auch Zgraggen und Brändli verfolgten, die genau so wenig Lust verspürten, sich mit einer zerdrückten Zug-Leiche herumzuschlagen. So war also eine verfahrene Situation geboren: Man hatte einen Toten vorgefunden, im Grenzgebiet dreier Kantone, wobei die Leiche in Stücke gerissen und in alle Weltgeschichte verteilt war: Das eine Bein und die Arme lagen im Zugergebiet, der Grind lag in Schwyz und das Hinterteil in Luzern. Dazwischen eine ungeheure Moorerei. Die Zuständigkeit war und blieb so unklar wie die Wasseroberfläche des Lauerzersees. Und das Schicksal wollte es, dass der Tag, an dem das Sterben in der Innerschweiz einsetzte, auch der Tag war, an dem sich der Polizeiposten Lorraine-Breitenrain zum alljährlichen Frühlingsbummel aufgemacht hatte, der von Bern nach Luzern über Küssnacht bis auf den Kulm der Rigi führen sollte.
Unter den Polizisten der Wache Lorraine-Breitenrain erstaunte es niemanden, dass der Poschifahrer den defekten Motor seines Gefährtes nicht mehr in Gang brachte. Zu ungeduldig kam er ihnen vor, deutlich zu eingeschränkt war seine Impulskontrolle. Er hantierte mehr zufällig als überlegt am Motor herum und nach jedem misslungenen Versuch, ihn zu reparieren, stüpfte er gegen die ohnehin bereits arg zerbeulte Motorhaube oder hämmerte mit einem Engländer wie ein Gestörter ins Getriebe. Es waren Massnahmen, die im besten Fall sinnfrei und im schlechtesten kontraproduktiv waren. Glücklicherweise sprang der Besitzer des Hotels, in dem die Polizisten nächtigen sollten, höchstpersönlich in die Bresche. Er hiess Keller Philipp und stammte aus einer Schwyzer Glasbläserdynastie, die seine ganze Familie auf Lebzeiten steinreich gemacht und ihm den Spitznamen «Blaser-Phibe» eingebracht hatte. Nachdem man ihn von einem Gasthof aus per Telefon verständigt hatte, fuhr er sofort mit seinem schnittigen Personenwagen nach Meggen, um die gestrandeten Beamten portionenweise zu seinem Hotel zu transportieren, das am Seeufer Küssnachts keine halbe Stunde Autofahrt von Meggen entfernt lag. Keller war eine Frohnatur. Das war vom Moment an klar, als er aus seinem Wagen ausstieg. Ein breites Lachen überdeckte das schmale, von Sommersprossen bedeckte Gesicht. Die Haare erstrahlten in feuriger Röte, er trug einen teuren Anzug und hatte den Hang, zu laut zu lachen und dabei anderen Menschen übertrieben hart auf die Schultern zu klopfen. Die ersten drei, die Meggen in Kellers Wagen verliessen, waren Chummer, Linder und Friedli. Chummer nahm neben Keller Platz, Linder und Friedli setzten sich auf die Rückbank. Selbst wenn sie dort nur zu zweit sassen, lagen die Platzverhältnisse für Friedli mächtig im Argen. Seine linke Schulter und seine Backe wurden gegen die Fensterscheibe gedrückt und die beiden Knie befanden sich schier vertikal übereinander. Es war nicht einmal so, dass es sich der Linder Franz besonders gemütlich gemacht hätte. Es war auch nicht der Wagen, der klein war. Linder besass schlichtweg mehr Kubikzentimeter Körpermasse, als es die Autobauer in ihren kühnsten Prognosen einkalkuliert hatten, und weil man Masse zwar quetschen, aber nicht vernichten konnte, verteilte sich Friedlis Körper im leeren Raum um Linder herum, so gut es die Umstände erlaubten.
Keller war fei echli ein Bleifuss. Er drückte das Gaspedal bis an den Anschlag durch, sodass die Reifen quietschten und das Automobil in flottem Tempo davondüste. Sie liessen Meggen hinter sich, folgten dem Strassenverlauf, dem See entlang, durch ein Dörfchen namens Merlischachen, an einer Kapelle vorbei, von der ihnen Keller erzählte, sie sei zu Ehren einer belgischen Königin errichtet worden, die an dieser Stelle bei einem Unfall mit einem Packard 120 Convertible Coupé ums Leben gekommen sei. Dass sein Wagen in vollem Garacho unterwegs war, hinderte Keller nicht daran, sich auf einmal über Chummer zu lehnen und auf der Beifahrerseite das Fenster herunterzukurbeln.
«Dort steht mein Hotel, der Seehof du Lac. Dort werden Sie das Wochenende verbringen», schrie er gegen den Lärm des Motors an. Sein Zeigfinger deutete an der Kapelle vorbei ans andere Seeufer. Eine viel zu grosse, etwas chlobige Kirche, wie sie typisch war für katholische Orte, ragte aus einem gepflegten Dorfkern in die Höhe. Unten an einer Promenade gab es eine Schiffländti, daneben stand ein antik anmutendes Gebäude mit einem kleinen Türmchen. Das musste das Hotel sein.
Rund zwanzig Minuten nach Abfahrt erreichte der Wagen Küssnacht. Keller schaltete ein paar Gänge zurück, drosselte das Tempo und damit wurde der Lärm erträglicher. Die Strassen Küssnachts waren bevölkert von Menschen unterschiedlichster Gattungen: Kirschen-, Blumen-, Milch-, Bier- und Kirschwasserverkäufer, Schuhputzer, Gatteröffner, Jodler, Kuriere, Gepäck- und Sesselträger, Hirten, Bergführer und Pferdehalter. Die Vielfalt an Menschen und Berufen war spektakulär. Und offenbar übten die Meister ihr Handwerk hier häufig noch auf dem Trottoir vor ihrem Geschäft aus. Ein Zimmermann laugte seine Fensterläden ab, ein Sattler rupfte Rosshaar und ein Metzger reinigte Därme. Die Berner Beamten blickten abwechslungsweise durch das linke und dann wieder durch das rechte Fenster und versuchten so viele Eindrücke wie möglich einzufangen. Dieses Dorf lebte.
Kurz nachdem Keller in eine Strasse abgebogen war, die zum See hinunterführte, bremste er abrupt den Wagen. Der Grund war schnell ausgemacht. Eine Tschuppelete Schaulustiger blockierte einen kleinen Platz, in den die Strasse mündete. Mittendrin befand sich ein Polizist, er war an seiner Schirmmütze leicht zu erkennen. Die Abzeichen verrieten, dass er von niedrigem Rang war. Wachtmeister, aber sicherlich kein Offizier. Um ihn herum standen acht junge Männer, die allem Anschein nach irgendein Wortgefecht mit ihm austrugen. Der Polizist wirkte dumm, aber stur; eine ausgesprochen schwierige Kombination für eine vernünftige Unterhaltung. Linder grunzte verstimmt.
«Diese unflätige Bande hat in der Nacht auf heute überall im Dorf Sägespäne ausgeschüttet», erklärte Keller. Erst jetzt fielen Chummer die Sägespäne auf, die wie ein breites Band quer über die Strasse führten, dort eine scharfe Kurve machten und in einer schmalen Gasse verschwanden. An einem zweistöckigen Haus vis-à-vis einem Schuhgeschäft türmte sich ein grosser Berg aus Spänen auf und versperrte den Zugang ins Innere. Es war aber nicht irgendein Gebäude, das nicht mehr betreten werden konnte. Es war der Polizeiposten.
«Die Polizei vermutet ein politisches Motiv … die Machenschaften eines kommunistischen Geheimbundes … oder etwas dergleichen», setzte der Hotelier seine Erklärungen fort, lachte lauthals und klopfte Chummer auf die Schulter, sodass diesem das Zigarettli aus dem Mund fiel, das er sich gerade hatte anzünden wollen. «Die jungen Männer wollen aber nur einen alten Küssnachter Brauch verfolgt haben, bei dem heimliche Liebespaare dadurch enttarnt werden, dass der Weg des Liebhabers zur Allerliebsten markiert wird.»
Chummer nickte halbherzig, steckte sich das Zigarettli wieder in den Mund und wagte einen neuen Versuch. Die Geschichte interessierte ihn nicht. Er wollte nur dieses Wochenende hinter sich bringen. Einen konkreten Nutzen sah er im Maibummel nicht. Die jungen Männer verabschiedeten sich zunehmend vom vordergründig freundlichen und respektvollen Umgangston. Eine unglückliche Entwicklung. Linder realisierte, dass sich eine Schlägerei anbahnte. Schlägereien mochte er nicht. Die Runzeln auf seiner Stirn wurden tiefer und tiefer, und noch ehe die Beteiligten selbst überhaupt erkannten, dass der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, im Begriff war zu fallen, stiess er die Tür des Autos auf und stürmte energisch auf die jungen Männer los. Als diese den Hünen erblickten, dem sie sogar zu zweit kaum den Ranzen hätten umfassen können, senkten sie die geballten Fäuste. Linder brauchte gar nicht erst etwas zu sagen. Er blieb einfach vor ihnen stehen, liess den grimmigen Blick hin und her schweifen und schnaufte dazu wie ein Walross. Ein Motor erstickte, drei weitere Türen öffneten sich und die übrigen Insassen des Automobils gesellten sich zu Linder an den Pfarrhausplatz. Der Dorfpolizist musterte die Fremden ratlos. Schliesslich blieb sein Blick am «Blaser-Phibe» hängen.
«Ich habe dir Unterstützung mitgebracht, Balthasar. Darf ich vorstellen, die Herren Linder, Friedli und Chummer. Sie sind von der Berner Kantonspolizei», klärte der Hotelier die Situation und konnte es nicht lassen, auch dem Schwyzer Polizisten hart auf die Schulter zu klopfen, sodass es den armen Kerl durchhudlete. Man reichte sich die Hände.
«Balthasar Seeholzer», murrte der Polizist mit der grauen Uniform und hob kurz seine Mütze. Die Unruhestifter fühlten sich in ihrer Haut plötzlich nicht mehr besonders wohl. Einer von ihnen versuchte sich aus dem Staub zu machen, doch die Menschenmenge liess ihn nicht durch. Der wiedererstarkte Seeholzer zeigte mit seinem Finger auf ihn und schrie: «Es ist ein politisches Komplott!»
Damit entzündete er den Konflikt erneut. Wie auf Kommando begannen die beiden Parteien damit, gegenseitig auf sich einzureden. Aus dem Redeschwall war das Schimpfwort «Schafseckel» besonders häufig herauszuhören. Es brauchte jedoch nur ein kurzes, aber lautes Bellen von Linder, und die Streithähne verstummten wieder. In diesem Moment ergriff Friedli das Wort.
«Na, na, na … zunächst einmal sehe ich kein politisches Komplott, sondern jede Menge Sägemehl», beschwichtigte er und richtete sich charmant, aber bestimmt an die jungen Männer: «Aber bei allem, was recht ist, darf ohne Zweifel von den Herrschaften auch verlangt werden, dass sie das Sägemehlstreuen im rechten Mass und im Rahmen der Ordnung und der Verkehrssicherheit tätigen!»
Ein beipflichtendes Raunen ging durch die Menge. Friedli mochte nicht nur die Bühne, sondern wusste auch genügend darüber, wie Menschen tickten. Er bemühte sich, eine Situation zu kreieren, in der alle Anwesenden ihr Gesicht wahren konnten. Der Anfang war ihm gelungen. Nun galt es, den Weg hin zur konstruktiven Konfliktlösung fortzusetzen.
«Lassen Sie uns zuerst einmal die Späne vor der Tür wegwischen, damit der Herr Seeholzer zu seinem Arbeitsplatz gelangen kann. Schliesslich hat er sicher jede Menge Büez zu verrichten, die in Sachen Wichtigkeit herumliegende Sägespäne übersteigt.»
Er ging in Richtung Polizeiposten und fragte nach ein paar Schritten beiläufig, wie wenn es um eine komplette Belanglosigkeit ginge: «Wer hilft mir?»
Linder folgte ihm umgehend und auch Keller schloss sich ihnen an. Dann geschah für ein paar Sekunden nichts, bis der erste der Jünglinge einknickte, ein Blonder mit langen Haaren und mehr Bibeli auf den Wangen als Barthaaren im Gesicht. Er packte ebenfalls mit an und löste damit eine Kettenreaktion aus. Keine Minute war verstrichen und der verdatterte Polizist war alleine zurückgeblieben, inmitten der überraschten, aber auch ein klein wenig enttäuschten Dorfbewohner. Seeholzer murmelte unverständliche Worte und kratzte sich am Hinterkopf. Dann richtete er Gurt und Pistole, holte einen Besen aus einer Scheune hinter dem Polizeiposten und machte sich daran, die Welt zu einem ordentlicheren Ort zu machen.
«Was liegt denn bei Ihnen rum, Kollege von Rotz?», fragte Zgraggen, der jüngste der drei Kriminalpolizisten, von jenseits des Geleises. Alois von Rotz stupste mit der Spitze eines Astes und verzogenem Gesicht gegen einen flach gedrückten Teil Mensch. Dann liess er den Ast zu Boden fallen und erwiderte: «Ich glaube, das ist der Kopf, aber fragen Sie nicht nach Details, ich mag gar nicht hinsehen.»
Mit diesen Worten wandte er sich von der Leiche ab und fingierte einen Brechreiz. Anschliessend zückte er ein kariertes Taschentuch und tupfte sich die Stirn trocken, eine Verhaltensweise, die er schon fast krankhaft häufig und ebenso krankhaft intensiv ausübte.
«Ich erkenne hier bei mir die Beckenknochen, einen langen, starken Muskel, vermutlich den Gluteus maximus, auch Gesässmuskel genannt, und zwei Stummel, die wohl einmal die Oberschenkel gewesen sein müssen», meldete sich von der anderen Seite Oberleutnant Brändli zu Wort. Er war ursprünglich Doktor med. dent. gewesen und hatte bereits im Medizinstudium intensiv mit Leichen hantiert. Vor zehn Jahren hatte man ihn aus nicht bekannten Gründen mit einem Berufsverbot belegt, woraufhin er eine neue Karriere bei der Polizei einschlug. Den Fachjargon des Mediziners hatte er aber nicht verlernt. Und die Erfahrungen aus seinem früheren Berufsleben führten dazu, dass er kaum Berührungsängste mit Leichen hatte. Er grüpelete im Gras und studierte das, was er sah, zwar mit gerümpfter Nase und doch penibel genau. Schliesslich spielte er den Ball zurück zum Kollegen aus Zug: «Und was können Sie vorweisen?»
Auch Zgraggen musste nun wohl oder übel einen flüchtigen Blick auf die Leichenteile werfen, die zu seinen Füssen lagen. Es tschuderete ihn. Seine linke Hand fingerte nervös an einem Kruzifix herum.
«Ich vermute, ich habe hier die Arme.»
Zgraggens Mundwinkel gingen in einen Lätsch über. Der Rest des Gesichts machte aber nicht mit, was einen gesamthaft inkongruenten Gesichtsausdruck bewirkte.
«Aber ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher.»
Zgraggen liess das Kruzifix in seinem Hemd verschwinden. Plötzlich runzelte er die Stirn.
«Da ist noch was!»
Von Rotz und Brändli horchten auf.
«Ohalätz!», dämmerte es ihm auf einmal: «… das ist eine Armbanduhr … teures Teil … eine Alpina womöglich. Jetzt ist sie aber flach wie ein Blatt Papier.»
Die Runde war abgeschlossen und für einige Zeit sagte niemand mehr etwas. Es war nicht so, dass die Leiche, die derart weit weg von der üblichen Erscheinungsform von Menschen war, ihnen nahegegangen wäre oder sie gar an ihre eigene Vergänglichkeit erinnert hätte. Aber es war schlichtweg niemandem klar, wie man solch eine verworrene Situation hätte sinnvoll und effektiv entwirren können. Die Grillen zirpten ein lautes Konzert, in den saftig grünen Wiesen surrten Bienen, Wespen und Hummeln und von Zeit zu Zeit erhob sich ein Schwarm Schmetterlinge aus dem hohen Gras. Die Bauern hatten bereits mit Mähen begonnen, deshalb hing ein frühlingshafter Duft in der Luft. Hoch oben über ihren Köpfen zogen die Milane ihre Kreise.
Nach einer mehrminütigen Paralyse begannen die drei Kriminalpolizisten zeitgleich damit, in ihren begrenzten Revieren herumzutigern und nach Argumenten zu suchen, die legitimierten, den Fall an jemanden anderes abzutreten. Der Erste, der die Idee in die Tat umzusetzen versuchte, war Zgraggen.
«Ich habe genug gesehen, der Grind liegt bei Ihnen, Kollege von Rotz, Sie können übernehmen», sprach er in der für ihn typisch quirligen Art und Weise, strich sich zum Abschied durch sein struppiges, blondes Haar und wollte schon in Richtung Zug davontauben. Von Rotz liess sich nicht lumpen.
«Kommt nicht in Frage, bleiben Sie gefälligst stehen, junger Mann!», befahl er. Und wieder hatte er schlagartig das Taschentuch gezückt. Er nahm seine Brille mit den leicht getönten Brillengläsern vom Kopf und tupfte sich die Stirn ab. Anschliessend überreichte er die heisse Kartoffel dem Dritten im Bunde.
«Sagt nicht unser Pfarrer stets, dass die Brust die Heimat der Seele sei? Und ich sehe hier bei mir nirgends eine Brust. Liegt die etwa bei Ihnen, Sepp?»
Der Brändli Joseph, der es überhaupt nicht verputzte, wenn man ihn Sepp nannte – was alle wussten und deshalb umso lieber taten –, winkte vehement ab. Seine markanten Wangenknochen traten hervor, der Grind errötete.
«Nichts da, nichts da!», hielt er fest, trocken wie eine Sanddüne. «Mit Ausnahme des Hinterns und einiger Kleiderfetzen habe ich nichts Substanzielles vorzuweisen.»
Dieses Mal hatte er auf Fachjargon verzichtet. Der Zgraggen Isidor kicherte leise und doch irgendwie aufdringlich.
«Was gibt es da zu lachen?», fuhr ihn Brändli an. Er respektierte den erfahrenen Schwyzer Kriminalpolizisten von Rotz. Vom eben erst frisch ernannten Leiter des Zuger Kriminalkommissariats hingegen liess er sich nichts bieten.
«Man könnte das als Zeichen dafür deuten, dass Sie als Luzerner den Fall übernehmen müssen!», erklärte Zgraggen. Brändli verstand nicht. Er fixierte ihn scharf.
«Na, das Füdle schaut nach Meggen», half ihm Zgraggen auf die Sprünge und kicherte erneut. Brändli teilte Zgraggens Humor nicht. Im Wissen, dass er seinen Kollegen genau dadurch am härtesten treffen konnte, stiess er einige Flüche über das Zuggeleise hinweg aus und er konnte es sich nicht verkneifen, den Flüchen auch den einen oder anderen Tannenzapfen hinterherzuwerfen, wobei einer davon das Ziel mitten an die Stirn traf und für eine Beule sorgte.
«Aua!», schrie Zgraggen entrüstet auf. Er stampfte mit erhobenen Fäusten bis an den Grenzstein, wo ihn der Mut verliess, und fuchtelte mit den Fäusten durch die Luft.
«Meine Herren, meine Herren, bewahren Sie doch die Contenance, seien Sie so gut!», mischte sich von Rotz ein, ebenfalls unmittelbar bei seinem Grenzstein stehend. Seine langen, primatenähnlichen Arme hingen seitlich am Körper herunter, er war leicht in Rücklage, und obwohl er eigentlich schlank gebaut war, schob sich ein kleines Bäuchlein über seine Gurtschnalle. «Das bringt uns auch nicht weiter.»
Die zwei Streithähne chifleten noch ein bisschen, tauschten ein paar letzte Schlämperlige aus, die aber immer uninspirierter wurden wie die Schläge bei einem erschlaffenden Pingpongspiel. Dann verstummten sie. Zgraggen rieb sich die wunde Stirn, Brändli dachte an seinen Doktortitel und regenerierte damit sein Selbstwertgefühl. Von Rotz faltete das Taschentuch. Keiner der drei wollte sich auch nur eine weitere unnötige Sekunde mit dieser Zug-Leiche befassen. Und doch wusste niemand einen Ausweg aus diesem Dilemma.
«Solange sich der Herrgott unser nicht erbarmt und kein Zeichen entsendet, müssen wir uns wohl oder übel alle damit abgeben», seufzte Zgraggen schliesslich und wies mit der Handfläche auf das Gemetzel vor ihnen. Exakt präzise genau in diesem Moment stogleten urplötzlich zwei Gestalten aus dem Unterholz, das rund zwanzig Meter östlich des Zuggeleises anfing und den Anfang des Chiemenwaldes bildete. Eine Gestalt sah kurliger aus als die andere. Nie hätten die Kriminalpolizisten Brändli, Zgraggen und von Rotz vermutet, dass der jüngere und etwas weniger kurlige der beiden Fremden ebenfalls ein Kriminalbeamter war. Und ein vertammi Begabter obendrauf.