Haus der Schuld - Lena Johannson - E-Book

Haus der Schuld E-Book

Lena Johannson

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lena Johannson ist die Expertin für starke Frauenstoffe mit Ostsee-Flair. Ihre Romane "Das Marzipanmädchen", "Die Bernsteinsammlerin" und viele andere zeugen von ihrer Liebe zu dieser Region. Ihre beiden anderen Leidenschaften waren von jeher das Schreiben und das Reisen. Was lag da näher, als zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin zu absolvieren und in die Tourismusbranche zu gehen? Als Reisejournalistin konnte sie beide Vorlieben ideal kombinieren und unter anderem auch Afrika besuchen. Vor einigen Jahren erfüllte sich Lena Johannson einen weiteren Traum und zog an die Ostsee. Dies ist auch die Heimat von Amali, Hauptfigur ihres neuen Romans. Amalis Vorfahren sind vor über 100 Jahren nach Afrika ausgewandert, doch der Grund für diese Emigration scheint von einem Geheimnis umgeben zu sein. Als Amali nach dem Tod ihres Vaters dessen Nachlass ordnet, stößt sie auf ein Unrecht, für das sie unbedingt späte Gerechtigkeit erkämpfen will.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 564

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lena Johannson

Haus der Schuld

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Amali ordnet den Nachlass ihres kürzlich verstorbenen Vaters. Sie hat eine kleine Erbschaft gemacht, die aber nicht reicht, um sich ihren Traum zu erfüllen: ein Hofladen, in dem sie eigene Produkte verkaufen kann.

In den Unterlagen stößt sie auf ein Schreiben, in dem ein Freiherr von Eichenbaum ihrem Ururgroßvater mit Sanktionen droht, wenn dieser ihm nicht seine Kaffeeplantage in Afrika übereignet. Amali ist schockiert: Das ist Erpressung! Amali begibt sich auf Spurensuche und stößt auf ein altes, fast verfallenes Forsthaus unweit der Ostsee, das eng mit ihrer eigenen Familiengeschichte verknüpft ist…

Inhaltsübersicht

WidmungHamburg, Ende März 2012Sansibar, 16. Dezember 1890Hamburg, April 2012Dar es Salaam, 1906Kilossa, 1908Dar es Salaam, 2012Kilossa, Juli 1914Kilossa, 1916Moshi, Herbst 1918Moshi, April 1919Deutschland, Mai 2012Hamburg, Juli 2012Ostholstein, drei Monate späterGlossarSchlussbemerkung
[home]

Für Dr. Uli

 

Von deinem Schicksal habe ich erst jetzt erfahren.

Vor deinem Lebenswerk habe ich allergrößten Respekt.

[home]

Hamburg, Ende März 2012

Amali stieg die knarzenden Holzstufen hinauf zum Dachboden. Sie scheute sich, den Alltag ihres Vaters zu entsorgen. Es war ihr schon schwergefallen, seine Wohnung überhaupt zu betreten, nachdem man ihr mitgeteilt hatte, dass er bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen sei. Drei Wochen waren seitdem vergangen, die Beerdigung hatte sie irgendwie hinter sich gebracht. Jetzt war es an der Zeit, seine vier Wände zu räumen, wenn sie die Mietkosten nicht übernehmen wollte. Und das wollte sie ganz gewiss nicht. Eine Schonfrist für Hinterbliebene gab es nicht. Natürlich nicht. Was hatte der Vermieter mit ihrer Trauer zu tun? Er musste an seine Einnahmen denken. Sie würde mit dem Abstellraum unter dem Dach beginnen. Dort hatte ihr Vater Dinge aufbewahrt, die in seinem täglichen Leben keine Rolle gespielt hatten. Unten in seinem Wohnzimmer mit dem kleinen, längst nicht mehr zeitgemäßen Fernseher und dem scheußlichen schwarzbraunen Sofa oder auch im Schlafzimmer, wo seine Jeans und Pullover lauerten, wollte sie nicht allein sein. So weit war sie noch nicht. Sie würde warten, bis Niki, ihre beste Freundin, kam. Niki und ihr Mann Jan waren auch da gewesen, als sie einen Anzug ihres Vaters für den Bestatter hatte heraussuchen müssen. Nein, ohne die beiden hätte sie das niemals fertiggebracht.

Hier oben würde sie es schaffen, allein zu beginnen. Sie würde ein wenig stöbern, vielleicht sogar ein paar Erinnerungsstücke entdecken, die sie von dem traurigen Anlass und den furchtbaren Ereignissen der letzten Tage ablenken konnten. Bloß nicht an die Einzelheiten denken, die man ihr vom Unfall im Hafen erzählt hatte, bloß nicht das Bild zulassen, das sich immer wieder in ihren Kopf drängte, das sie einfach nicht loswerden konnte. Sie hatte ihren Vater sehen wollen, obwohl alle ihr davon abgeraten hatten. Von dem Kran, in dem er gesessen hatte, war zunächst der Ausleger, dann die Kabine des Kranführers abgerissen. Niemand wusste, wie das hatte passieren können. Bis heute nicht. Die Wucht hatte seinen Kopf durch die Glasscheibe geschmettert. Es war kein angenehmer Anblick, gelinde ausgedrückt. Aber sie musste sich doch von ihm verabschieden. Von ihm und nicht von einer verschlossenen Holzkiste mit einem Berg von Rosen darauf. Die Entscheidung war richtig gewesen. Trotzdem machte ihr der Anblick seither ziemlich zu schaffen. Kaum schloss sie die Augen, war er da. Und manchmal auch zwischendurch aus heiterem Himmel.

Er ist nur sechsundfünfzig Jahre alt geworden, ging es ihr dann jedes Mal durch den Kopf. Viel zu jung. Er hatte noch so viel Pläne. Sie beide hatten Pläne, wollten gemeinsam nach Ostafrika reisen, an den Ort, an dem Großmutter aufgewachsen war. O Gott, er fehlte ihr so schrecklich.

Amali schluckte den dicken Kloß hinunter, der sich schon wieder bildete. Ihr Hals schmerzte vom vielen Weinen und Hinunterschlucken ihres Kummers in den letzten Wochen. Sie trat an die kleine Dachluke am Ende des Gangs, von dem die einzelnen Bodenräume abgingen. Ein paar Algen wuchsen auf der gewölbten Scheibe. Von hier hatte man einen herrlichen Blick über Hamburg. Aus dem Schlafzimmer ihres Vaters konnte man sogar den Michel sehen. Sie blickte in Richtung Elbe. Die Landungsbrücken waren nicht weit, und St. Pauli Fischmarkt war auch ganz nah. Ein guter Grund für ihn, diese Wohnung zu nehmen. Ihr Vater hatte im Hafen gearbeitet. Den konnte er von hier zu Fuß erreichen. Außerdem musste er das Wasser und die Schiffe auch während seiner Freizeit immer in der Nähe haben. Irgendwie hatte er zeitlebens Fernweh gehabt. Sie drehte dem Fenster und der Elbe den Rücken zu und betrachtete Staubkörner, die im Licht, das von draußen hereinkam, tanzten. Man konnte den Staub riechen. Es war ein eigenwilliger Geruch. In Kellern roch es stets muffig und feucht, aber auf Dachböden roch es nach Staub und Vergangenheit.

 

»Ich gehe so schnell wie möglich in Rente, und dann gucken wir uns die Welt an«, hatte er noch bei ihrem letzten Treffen gesagt. Sie waren die Reeperbahn hinuntergebummelt, hatten am Großneumarkt etwas gegessen und sich ihre Träume erzählt – wie so oft. »Bloß keinen Tag länger schuften als nötig.«

»Ich denke, deine Arbeit macht dir Spaß.«

»Klar, aber andere Dinge machen mir auch Spaß.« Seine grauen Augen blitzten. »Vor allem kann ich mir meine Zeit dann einteilen, wie ich es will. Ich brauche nicht mehr früh aufzustehen, habe keinen Spätdienst mehr und keinen Wochenenddienst.«

»Klingt gut.« Sie nickte und strich sich ihre langen braunen Haare hinter die Ohren. »Könnte mir auch gefallen.«

»Du Küken musst erst mal etwas leisten, bevor du dich auf die faule Haut legen kannst.« Er streckte die Hand über den Tisch aus und knuffte liebevoll ihren Arm.

»Nichts lieber als das«, entgegnete sie und seufzte. »Wenn ich endlich meinen eigenen Laden hätte, würde ich freiwillig sieben Tage die Woche arbeiten.«

Er lachte. »Sollte ich es noch erleben, dass du einen Laden eröffnest oder übernimmst, dann werde ich dich an deine Worte erinnern.« Er hob sein Glas. »Prost!«

Sie stieß ihren Weinkelch behutsam gegen seinen und lauschte dem hellen Ton, der schnell im Stimmengewirr unterging.

»Das kannst du ruhig. Obst und Gemüse anbauen, Kräuter hegen und pflegen, Kuchen und Brot backen und alles verkaufen, das wäre ein Traum. Das würde ich nicht als Arbeit empfinden. Aber diese Käsetheke, hinter der ich allmählich versaure, macht mich einfach nur fertig.«

Ihr Vater lehnte sich zurück und schüttelte die rötlich braunen Locken, in denen immer mehr silberne Strähnen schimmerten. »Ich habe sowieso nicht verstanden, warum du den Job angenommen hast. Man studiert doch nicht jahrelang BWL und macht noch ein Jahr das Traineeprogramm Ökolandbau, um dann Käseverkäuferin zu werden.«

»Ich habe die Ausbildung gemacht, um einen Hofladen führen zu können. Oder etwas in dieser Richtung. Das weißt du ganz genau.« Erneut seufzte sie. Es war nicht einfach, um einen Traum zu kämpfen, der manchmal schier unerreichbar schien. »Nur sind solche leitenden Stellen leider nicht gerade großzügig gesät. Und für ein eigenes Geschäft reicht das Geld eben nicht. Oder wolltest du mir dieses Jahr eins zu Weihnachten schenken?«

»Nein, tut mir leid, ich habe schon eine Uhr gekauft. Hätte ich gewusst, dass ich dir mit einem Laden mehr Freude machen kann …«

»Toll, danke.« Sie lachte. »Ich dachte, dass ich in dem Frischemarkt gute Chancen auf eine höhere Position habe. Das haben sie mir jedenfalls beim Vorstellungsgespräch erzählt. Dass sie mich immer wieder vertrösten und ich hinter dieser Käsetheke alt und schrumpelig werde, war nie der Plan.«

»Weiß ich doch. Lass den Kopf mal nicht hängen, Amali, du bist noch nicht schrumpelig. Und irgendwann ergibt sich schon etwas.«

 

Sie riss sich von den Erinnerungen los.

»Ach, Papa«, flüsterte sie. Sie hatten damals beide nicht geahnt, dass er weder seinen Ruhestand noch ihre berufliche Selbständigkeit erleben würde. Auch hätten sie sich wohl kaum vorstellen können, dass es sein Unfall sein würde, der für eine neue Situation sorgte. Noch wusste sie nicht, wie viel sie von ihm erben würde. Für einen Hofladen mit kleiner Bistro-Ecke, wie sie ihn sich erträumte, reichte es ganz sicher nicht, aber es war immerhin ein Anfang. Wenn sie das Geld anlegte, konnte sie in einigen Jahren vielleicht mal eine Gelegenheit beim Schopf packen. Womöglich gab es irgendwo einen Betrieb, der im Dornröschenschlaf lag und nur darauf wartete, von ihr zu neuem Leben erweckt und auf Vordermann gebracht zu werden. Dann würden endlich auch all die Zweifler in ihrem Bekanntenkreis Ruhe geben müssen, die sie nicht ernst nahmen, ihr vorhielten, dass sie nun einmal keine Bäuerin sei. Die hatten doch keine Ahnung. Sie würde schon beweisen, dass man nicht in der Landwirtschaft groß geworden sein musste, sondern auch als spezialisierte Betriebswirtin heutzutage tolle Möglichkeiten hatte. Amali seufzte. Hätte sie die Wahl, sie würde lieber bis ans Ende ihres Lebens Käse verkaufen, wenn sie dafür nur ihren Vater noch hätte.

Sie schloss die Tür zu dem Bodenraum auf, der zu seiner Wohnung gehörte. Die Räume waren eigentlich eher Holzverschläge, auch die Tür war nur ein Rahmen mit mehreren senkrecht laufenden Brettern. Sie streckte den Arm in die Höhe und knipste die runde weiße Deckenlampe an. Wie es aussah, hatte ihr Vater ein Leuchtmittel mit ausgesprochen geringer Wattzahl eingeschraubt. Es wurde kaum heller. Ihr war es recht. Bei schummriger Beleuchtung konnte sie sich eher einreden, das Ganze sei nur ein böser Traum. Sie blickte um sich und stöhnte. Wo sollte sie nur anfangen? Links und rechts von der Tür stapelten sich Kartons bis beinahe unter die Decke. An der Wand gegenüber stand die alte Anrichte, in der früher das Geschirr aufbewahrt wurde, als sie noch zusammen in der kleinen Doppelhaushälfte am Stadtrand gewohnt hatten. Ja, die würde sie sich zuerst vornehmen.

Amali schloss behutsam ihre Hände um eine Spinne, die beschlossen hatte, ausgerechnet vor der Anrichte zu überwintern. Sie trug sie zur Seite und setzte sie vorsichtig auf einem Holzbalken ab. Das Insekt trat augenblicklich die Flucht an, kam bei dieser Kälte aber nur langsam vom Fleck. Okay, nicht rumtrödeln, tadelte sie sich und widmete sich wieder dem staubigen alten Möbel. Sie musste eine Weile mit dem Schlüssel kämpfen, bevor er endlich nachgab und sich im Schloss drehen ließ, das mit lautem Klicken aufsprang. Da waren ein paar Fotoalben. Ihr Vater hatte oft davon gesprochen, sie eines Tages zu digitalisieren, um sie für die Ewigkeit zu bewahren, wie er sich ausgedrückt hatte. Aber im Grunde war ihm dieser neumodische Kram nie wirklich geheuer gewesen, und er hatte die Bilder am liebsten so gemocht, wie sie waren – muffig und ein wenig vergilbt. Sie schlug ein Album auf und blickte in das strahlende Gesicht ihres Vaters, der vor seinem ersten Motorrad stand, einer alten BMW, die er günstig hatte kaufen können. Sie schluckte und legte das Album zur Seite. Vielleicht sollte sie doch erst einen der übereinandergestapelten Kartons durchsehen, dann konnte sie das, was sie mitnehmen wollte, wenigstens irgendwo hineinpacken. Sie hätte Körbe und Taschen mitbringen sollen, ging es ihr durch den Kopf, während sie die Tränen wegblinzelte, die ihr beim Anblick des Fotos in die Augen gestiegen waren. Nur hatte sie daran dummerweise nicht gedacht. Offenbar funktionierte sie noch nicht wieder einwandfrei. Sie zog einen der Kartons zu sich heran und stellte ihn auf den Boden. Seinem Gewicht nach zu urteilen hatte er nicht viel Inhalt. Umso besser. Da waren ein paar Handschuhe, ein Regenschirm, Bügel und einige Leinenbeutel. Typisch Papa, dachte sie. Wenn er einkaufen war, hatte er nie eine Tasche zur Hand und ließ sich immer Plastiktüten geben, wofür sie ihn jedes Mal ausgeschimpft hatte. Und hier oben auf seinem Dachboden lagen Stoffbeutel, die für ein ganzes Leben reichten. Schon wieder musste sie mit den Tränen kämpfen. Wenn er die Dinger schon nie gehabt hatte, wenn er sie brauchte, konnte sie sie jetzt wenigstens nutzen. Sie hängte eine Leinentasche für Müll an einen Nagel in der Bretterwand, in eine andere packte sie alles, was sie demnächst irgendwann mit Niki zum Flohmarkt schleppen würde. Schnell war der erste Karton leer, und sie wendete sich wieder der Anrichte zu. Die Alben stapelte sie ordentlich in die Pappkiste. Die würde sie alle aufbewahren. Als Nächstes zog sie eine Mappe hervor, die sie unter die Lampe hielt und aufschlug. Bilder und Briefe mit ungelenker Kinderhand gemalt oder geschrieben kamen zum Vorschein. Es waren Bilder, die sie für ihren Papa gemacht hatte. Auch die Briefe stammten von ihr. Sie hatte sie ihm zum Geburtstag, zu Weihnachten oder auch mal zwischendurch geschrieben. Ein Blatt nach dem anderen ließ sie durch ihre Finger gleiten. Sie musste lächeln.

»Lieber Papa«, las sie, »heute hap ich mich ser über dich geerkert.« Sie konnte sich ganz genau an den Tag erinnern, als sie das geschrieben hatte. Er hatte ihr versprochen, mit ihr in den Tierpark zu gehen, und sie dann aus heiterem Himmel vertröstet. Ihre Enttäuschung war grenzenlos gewesen, wie es bei einem achtjährigen Kind nun einmal der Fall ist, wenn auf Vorfreude ein tiefes Loch folgt. Erst Jahre später erfuhr sie, dass an diesem Tag ihre Mutter, die sich aus dem Staub gemacht hatte, als Amali ein halbes Jahr alt war, plötzlich wieder in sein Leben getreten war. Ihre Mutter … bei dem Gedanken an sie spürte sie Wut in sich aufsteigen.

Amali wusste nicht viel über sie, nur, dass sie nach der Geburt gemerkt hatte, wie wenig sie sich der Erziehung eines Kindes gewachsen fühlte. Sie empfand sich als zu jung und wollte sich erst selbst verwirklichen, bevor sie eine eigene Familie gründete. Das war ihr reichlich spät eingefallen, dachte Amali bitter.

Sie las weiter: »Ich were sooo gerne in den tirpak gegangen und bin ser traurick. wenn ich einen gans grosen teddi krige, verzeie ich dir. deine Amali.« Nun konnte sie nichts mehr dagegen tun. Tränen kullerten über ihre Wangen. Sie sah ihren Vater vor sich, der ihr einige Tage später einen Teddybären gebracht hatte, der größer gewesen war als sie selbst. Der Bär hatte eine blaue Krawatte getragen und war so flauschig, dass sie ihn nicht mehr loslassen wollte. Selbst ins Bett hatte sie ihn mitgenommen, obwohl für sie beide kaum genug Platz in ihrem Kinderbettchen gewesen war.

Amali schniefte, packte die Mappe in den Karton und holte ein Taschentuch hervor. Sie war allein, und es dauerte noch mindestens zwei Stunden, bevor Niki hier auftauchte. Warum also sollte sie ihren Kummer ständig hinunterschlucken? Sie durfte weinen. Vor nicht einmal einem Monat hatte sie ihren Vater verloren und war jetzt ganz allein auf dieser Welt. Da wird man doch wohl weinen dürfen.

 

Weitere Fotoalben und Ordner mit Zeugnissen ihres Vaters, Versicherungsunterlagen und anderen Dokumenten waren in den Karton gewandert, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt und ihre Arbeit fortgesetzt hatte. Sie würde alles in Ruhe zu Hause durchsehen. Sie seufzte. Es würde noch eine viel zu lange Zeit dauern, bis sie den Nachlass komplett gesichtet und Teile davon entsorgt hatte. Frustriert griff sie nach einer Schachtel aus Korbgeflecht, dem letzten Gegenstand, der noch in der Anrichte lag. Sie löste den Holzknebel aus der Bastschlaufe und öffnete den Deckel. Da waren alte Schwarzweißfotos. Sie betrachtete eines davon aufmerksam. Farbige Kinder waren zu sehen in Matrosenanzügen oder in einfachen Kleidchen. Sie standen auf einer Veranda. Neben ihnen eine erwachsene farbige Frau, die genauso verloren aussah wie die Kleinen. Und dann war da noch eine Weiße mit hochgeschlossenem schwarzem Kleid und strenger Miene. Wer mochte das sein? Ihre Großmutter jedenfalls nicht. Die hätte die Kinder im Arm gehabt oder wenigstens gelächelt. Auch für die Fotos würde sie sich später Zeit nehmen, sie zu Hause ansehen mit dampfendem Tee neben sich und vielleicht etwas Musik. Wenn sie sich jetzt mit jedem Stück, das sie zur Hand nahm, so lange aufhalten wollte, würde sie nie fertig werden. Aber einen Blick musste sie doch noch rasch auf die Papiere werfen, die unter den Fotografien lagen. Es waren Briefe, deren Tinte auf gelblichen Bögen bereits deutlich verblasste. Sie konnte die Schrift nicht sofort entziffern, denn es handelte sich wohl um die längst nicht mehr gebräuchliche deutsche Kurrentschrift, wie sie vermutete, und die Verfasser hatten obendrein jeweils einen sehr eigentümlichen Schwung, mit dem sie die Feder anscheinend zu führen gewohnt waren. Nachdem sie sich eine Weile konzentriert mit den Buchstaben beschäftigt hatte, war sie endlich in der Lage, die Zeilen zu lesen. Ein Brief war an Rutger Paulsen gerichtet. Diesen Namen hatte sie schon gehört, konnte sich aber nicht erinnern, welchen Platz er in der Familiengeschichte einnahm. So lange es auch gedauert hatte, bis sie den Brief vollständig entschlüsselt hatte, so schnell hatte sie beim Lesen doch ein mulmiges Gefühl beschlichen. Der Ton war von Anfang an feindselig. Von Verfehlungen war die Rede und einer Schande für die gesamte deutsche Nation. Und dann das:

 

»Ich bin fest entschlossen, Deine Affäre mit der Negerin und Dein weiteres unmoralisches Tun, für das ich größte Abscheu empfinde, publik zu machen. Davon abzusehen bin ich nur bereit, wenn Du endlich zur Vernunft kommst und mir die Kaffeeplantage überschreibst. Mein Schweigen sollte ein angemessener Preis sein. Durch die Übertragung der Plantage in meine verantwortungsvollen Hände würdest Du einen Rest von Anstand beweisen, so dass ich hoffen dürfte, dass noch nicht alles verloren ist und Du in ferner Zukunft wieder zu Verstande kommen wirst.«

 

Gezeichnet war das Ganze von einem von Eichenbaum. Amali ließ das Blatt sinken. Jetzt fiel es ihr wieder ein. Rutger Paulsen war der Bruder ihrer Urgroßmutter, Sohn von Wilhelmina und Alexander Paulsen, die damals nach Ostafrika ausgewandert waren. Ihr Vater hatte mal mit einem Blitzen in den Augen erzählt, dass Rutger sich in eine Farbige verliebt hatte. Ein Skandal in einer Zeit, in der es immerhin ein Mischehenverbot gegeben hatte. Natürlich, jetzt erinnerte sie sich auch wieder, dass er davon gesprochen hatte, die Affäre habe die Familie einen erheblichen Teil ihres Besitzes gekostet. Amali dachte damals, die Paulsens hätten sich mehr oder weniger freiwillig entschieden, ein Stück Land zu verkaufen, um woanders neu anzufangen. So genau wusste sie gar nicht mehr, was sie sich damals vorgestellt hatte, als ihr Vater ihr die Geschichte erzählte. Eines ganz sicher nicht – Erpressung. Aber genau darum handelte es sich doch wohl. Dieser scheinheilige Freiherr hat ihrem Vorfahren eine Kaffeeplantage durch Erpressung abgeluchst.

Das war ein starkes Stück! Sie schnappte sich einen der Kartons, die sie nach Hause mitnehmen würde, und setzte sich darauf. Hätte dieser Rutger nur mehr Rückgrat gehabt, vielleicht wären die Paulsens dann in Afrika geblieben, und sie könnte heute womöglich Biokaffee anbauen. Wer konnte das wissen? Wenigstens hätte er sich die Plantage gut bezahlen lassen sollen. Das hätte eine ordentliche Summe in die Familienkasse gespült, von der auch ihr Vater vielleicht noch etwas gehabt hätte. Eventuell hätte er nicht ganz so hart arbeiten müssen, dachte sie.

Im nächsten Moment schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Sie hatte einen Brief, mehr nicht. Gut möglich, dass Rutger das Angebot gerade recht gekommen war, um aus der vertrackten Situation zu entfliehen. Wahrscheinlich hatte er gar nicht einfach gekniffen, sondern durchaus Geld verlangt. Sie blätterte die übrigen Papiere durch. Mit etwas Glück ließe sich weiterer Schriftverkehr finden, der ihr mehr über diesen Vorfall erzählte. Ihr wurde warm vor Aufregung. Sie löste ihr selbst gestricktes Schultertuch, das sie sich am Morgen um den Hals gewickelt hatte. Ihre Augen flogen über jeden einzelnen Bogen. Die meisten waren schon sehr vergilbt, einige hatten Stockflecken, hier oder da fehlte eine Ecke. Von Rutger Paulsen oder diesem Eichenbaum waren keine Briefe mehr dabei. Auch nach dem Wort Kaffeeplantage suchte sie vergeblich. Sie wollte ihre Detektivarbeit schon einstellen, als sie auf dem letzten Blatt den Namen Eichenbaum entdeckte. Das Schreiben datierte auf den 12. September 1890, war also deutlich älter als der Brief des Freiherrn. Sie las:

 

»Meine geliebte Wilhelmina!

Vergangene Nacht habe ich die größte Dummheit meines Lebens begangen. Ich habe mich von Freiherr von Eichenbaum einwickeln lassen mit seiner Einladung zur Treibjagd und dem anschließenden Festmahl im Gutsschloss. Wie sonst wäre es zu erklären, dass ich mich bei Zigarre und Kognak auf eine Partie Mauscheln eingelassen habe?

Oh, mein geliebtes Weib, es war für wenige Momente, als gehörte ich zu der feinen Gesellschaft, an deren Rande ich sonst stehe. Wie konnte ich nur vergessen, wo mein rechter Platz ist? Wieso ließ ich mich verleiten, zu einer Gruppe von Menschen zu gehören, in deren Mitte ich mich doch im Grunde nicht wohl fühle? Und zu allem Überfluss: Wie nur konnte ich mich auf ein Spiel einlassen, das ich nicht annähernd beherrsche?

Es ist ein so großes Unglück, meine liebe Wilhelmina, dass ich es Dir kaum zu gestehen wage. Und doch muss ich es tun. Ich habe unser Forsthaus und das kleine Stück Land, das wir bis heute unser Eigen nennen durften, an den Freiherrn verloren. Mit Dir wird er nachsichtig sein, Dir eine Kammer geben und Dich als Magd oder Köchin in Stellung nehmen. Mit mir an Deiner Seite jedoch wird er Dich vom Hof jagen.

Für mich gibt es keinen anderen Ausweg, wenn ich Dich vor dem Ruin und der Schmach retten will, als aus dem Leben zu scheiden. Ich bitte Dich von ganzem Herzen um Vergebung.

Ewig Dein, Alexander«

 

Amali war wie vom Donner gerührt. Sie hielt einen Abschiedsbrief in ihren Händen. Wie verzweifelt musste ihr Ururahn gewesen sein, diese Zeilen zu schreiben. Andererseits konnte das alles doch gar nicht wahr sein! Immerhin waren Wilhelmina und Alexander Paulsen gemeinsam nach Afrika ausgewandert. Hatte er es sich anders überlegt? Aber dann würde man ein solches Schreiben doch wohl vernichten. Sie starrte vor sich hin und dachte nach. Ein Freiherr von Eichenbaum hatte von Rutger Paulsen eine Kaffeeplantage erpresst. Ein anderer – oder war es derselbe? – hatte schon Jahre zuvor Alexander Paulsen um Hab und Gut gebracht und ihn womöglich damit aus seiner Heimat vertrieben. Sie konnte es einfach nicht fassen. Hatten sich die Paulsens denn nie gewehrt?

»Bist du da oben?« Das war Nikis Stimme. Amali sah auf die Uhr. Sie hatte die Zeit total vergessen.

»Ja, ich bin hier.« Schon hörte sie das Knarzen der Holzstufen. »Hier hinten!«

»Du meine Güte, was treibst du denn in dieser Kälte?«, rief Niki schon von weitem. Sie trug einen dicken Mantel, hatte einen Schal um den Hals gewickelt und eine Pudelmütze auf dem Kopf. »Hat der Vermieter nicht gesagt, die Sachen hier oben können ruhig noch ein paar Tage länger stehen bleiben, die Hauptsache, die Wohnung ist besenrein?«

»Hat er«, gab Amali zerknirscht zu. »Aber ich wollte nicht ohne dich da unten anfangen.« Sie hatte ein schlechtes Gewissen.

»Jetzt bin ich ja da. Dann lass uns mal in die Hände spucken, Süße.« Niki hatte einfach ein unerschütterliches Gemüt und grenzenloses Verständnis für ihre Freundin.

»Danke, du bist ein Schatz. Die drei Kartons können wir mit runternehmen. Die packe ich nachher gleich ins Auto.«

»Jan kommt gegen achtzehn Uhr mit dem Transporter. Ich habe ihn überzeugt, dass er heute dringend einen freien Abend braucht. Dann kann er uns mit den schweren Sachen helfen.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich euch beiden danken soll. Ehrlich, ohne euch wüsste ich nicht …«

»Papperlapapp! Wir sind Freunde, oder? Also …« Sie schnappte sich einen Karton und schleppte ihn eine Etage nach unten. An der Wohnungstür stand ein Einkaufskorb mit alten Zeitungen und mehreren Küchenrollen. Daneben lehnten etwa ein Dutzend gefalteter Umzugskartons. Diese Frau dachte aber auch wirklich an alles.

Gemeinsam betraten sie die Wohnung. Amali fröstelte. Ihr war ein wenig unheimlich, so als würde sich im nächsten Moment eine Türklinke bewegen oder ein Zimmer wie von Geisterhand öffnen. Sie wartete geradezu darauf, ein Zeichen ihres verstorbenen Vaters zu erhalten. Um sich abzulenken, erzählte sie Niki von ihrem Dachbodenfund.

»Das musst du dir mal vorstellen. Diese Freiherren haben meine Familie über den Tisch gezogen. Zweimal!«

»Echt? Ist ja heftig.«

»Das ist gar kein Ausdruck. Ich weiß noch nicht, was ich jetzt machen soll, aber ich werde das Ganze auf keinen Fall auf sich beruhen lassen.«

»Sondern? Hast du nicht gesagt, der Abschiedsbrief ist aus dem Jahr 1890? Und die zweite Geschichte ist doch auch schon fast hundert Jahre her, oder?«

»Knapp neunzig.«

»Na, dann ist das natürlich was ganz anderes.« Sie nickte übertrieben. »Jetzt mal im Ernst, Amali, du wirst gar nichts unternehmen. Deine Familie hat immer zur Beute gehört und diese Eichenbaums zu den Jägern. Blöd, aber so ist es nun mal. Da kannst du im Nachhinein nichts dran ändern.«

Amali nahm sämtliche Blumentöpfe von den Fensterbänken. Sehr viele Pflanzen hatte ihr Vater glücklicherweise nicht besessen. Aber die wenigen mussten schnellstens hier raus und aufgepäppelt werden.

»Ich habe ja gesagt, ich weiß noch nicht genau, was ich tun werde. Aber irgendetwas muss ich tun. Das bin ich meinem Vater schuldig«, erwiderte sie gereizt.

»Was hat der denn damit zu tun?« Niki hatte ihren Mantel, Mütze und Schal über den Küchenstuhl gelegt und drehte die Heizung höher. Sie rieb sich die Arme. »Mann, ist das kalt. Wie hast du das da oben bloß ausgehalten? Wo war ich? Ach ja, dein Vater war ein Thale, kein Paulsen. Ihn hat keiner über den Tisch gezogen. Jedenfalls keiner von diesen Freiherren.« Sie unterbrach ihren Redefluss und legte die Stirn in Falten. »Was ist überhaupt ein Freiherr? Klingt nach so einem ollen Mantel-und-Degen-Film.« Sie kicherte, schob die Unterlippe vor und pustete eine wasserstoffblonde Locke aus der Stirn. Niki trug die Haare kurz, aber dennoch fand eigentlich ständig eine naturgelockte Strähne den Weg in ihr Gesicht und störte sie. »Egal, jedenfalls ist das alles lange her und vergessen und vorbei. Basta!«

»Nein!«

»Mann, Amali, das sind olle Kamellen. Mit deinem Papa hat das Ganze nix zu tun und mit dir noch weniger. Hier geht es um Generationen vor euch. Ich bitte dich, du hast mit diesen Leuten nichts zu schaffen, du hast nicht einmal deine Großmutter kennengelernt.«

»Diese Leute? Das sind immerhin meine Wurzeln. Predigst du deinen Kindern nicht andauernd, sie sollen nicht die Augen verdrehen, wenn Jans Eltern von früher erzählen? Sie sollen schön die Ohren spitzen, denn dann erfahren sie etwas über ihre eigene Vergangenheit, über ihre Wurzeln. Sind das ungefähr deine Worte?«

»Das ist ja wohl was anderes«, protestierte Niki und riss die Türen sämtlicher Küchenschränke auf. »Okay, du packst aus und sortierst nach behalten und weg damit. Und ich packe alles ein.«

»Einverstanden.« Beklommen griff sie nach den Frühstücksbrettchen, nach Tellern und Schüsseln.

»Das kann weg?«

»Nein, das will ich alles behalten.« Sie fing einen erschöpften Blick ihrer Freundin auf. »Zumindest erst mal.«

»Ach, Süße, du hast doch so schon die Schränke voll. Wohin willst du denn mit dem ganzen Zeug? Hatten wir nicht ausgemacht, dass ich so etwas mit ins Restaurant nehme?«

»Habt ihr etwa nicht genug Geschirr«, scherzte sie halbherzig.

»Witzig! Unsere Spüler und die Putzfrauen sind echt arme Schweine. Und so viel verdienst du als Servicekraft auch nicht. Nicht einmal bei uns. Die freuen sich über solche Sachen.«

»Aber ich kann doch nicht einfach alles weggeben.« Sie zog ihr Schultertuch fest um sich.

»Besser als wegschmeißen. Waren das nicht deine Worte? Such dir raus, was du zu Hause nicht hast und zwei oder drei Erinnerungsstücke dazu. Das reicht. Sonst musst du in ein paar Jahren von vorne anfangen.«

»Hast recht.« Sie seufzte. »Also weg mit dem, was auf dem Tisch steht.«

»Braves Mädchen.«

Nach einer Weile sagte Amali: »Ich glaube, ich weiß, was ich mache.«

Niki, die gerade über einen Karton gebeugt eine Glasschale in Küchenpapier wickelte, sah irritiert auf.

»Papa hat mir mal erzählt, dass unsere Vorfahren ursprünglich an der Ostsee zu Hause waren. Also bevor sie nach Afrika ausgewandert sind, meine ich. Dann muss das Forsthaus auch irgendwo an der Ostsee gestanden haben. Ich muss herausfinden, wo genau das war, und dann fahre ich da hin.«

Niki sah sie an, als hätte sie komplett den Verstand verloren. »Du bist meine Freundin, und ich verstehe, dass du durcheinander bist, weil dein Vater verunglückt ist. Aber jetzt machst du mir echt Angst. Du willst doch wohl nicht zur Hausbesetzerin werden?«

»Quatsch! Ich will nur mal gucken, ob es das Gut noch gibt. Oder diese von Eichenbaums. Wer weiß, vielleicht steht auch das alte Forsthaus noch. Wäre doch möglich.«

»Unwahrscheinlich, aber möglich«, stimmte Niki zu.

»Nur mal gucken«, wiederholte Amali und sah ihre Freundin eindringlich an. Die brauchte einen Moment. Dann hellte sich ihre fragende Miene auf.

»Das ist mal eine gute Idee, wir fahren zusammen an die Ostsee. Mit etwas Glück liegt der olle Schuppen, sofern er noch nicht zusammengefallen ist, bei Travemünde oder Niendorf. Das wäre schick. Also ich bin echt urlaubsreif. Seit dem Weihnachtsfeier-Wahnsinn ist im Blini noch keine Ruhe eingekehrt. Und dir wird’s auch guttun, mal von deiner Käsetheke und dem Friedhof wegzukommen. Weißt du was, ich suche uns heute Abend im Internet gleich ein schnuckeliges Wellnesshotel aus.«

»Halt, nicht so schnell. Sollte ich nicht erst herausfinden, wo das Gut der von Eichenbaums ist, ob es überhaupt noch existiert?«

»Stimmt.«

»Wenn ich was weiß, gebe ich dir Bescheid. Und dann buche ich uns eine nette kleine Pension.«

»Bloß nicht. Ich komme so selten raus, da will ich es mir gutgehen lassen. Und du brauchst jetzt auch ein Rundum-Verwöhnpaket.«

»Das kann ich mir nur leider nicht leisten. So viel verdient man nicht beim Käseverkauf, wie du weißt.«

»Stimmt. Ich hätte denen ihren Biokäse laktosefrei rechtsdrehend schon lange vor die Füße geschmissen. Aber das ist deine Sache. Leisten kannst du dir das trotzdem. Du hast immerhin ein bisschen was geerbt.«

»Ich weiß nicht einmal, wie viel. Von den Versicherungen habe ich noch keine Antwort, und die Bankvollmacht steht auch noch aus«, sagte Amali leise. »Jedenfalls werde ich das Geld nicht in irgendeinem Wellnesstempel verprassen. Kommt gar nicht in Frage.«

»Du brauchst doch nicht alles auf den Kopf zu hauen.« Niki packte ein wie eine Mumie eingewickeltes Geschirrstück in den Karton, kam auf Amali zu und griff ihre Hände. »Ich sag's nur ungern, aber du siehst schrecklich aus. Dein Vater wäre umgekommen vor Sorge, wenn er dich so gesehen hätte. Er wäre mehr als einverstanden, wenn er wüsste, dass du ein bisschen abschaltest und dich erholst. Gutes Essen, Sauna, Bewegung, ein paar Massagen, und bestimmt gibt’s auch Naturkosmetik. Dafür hätte er sein Geld gerne ausgegeben.«

»Ich weiß nicht …«

»Aber ich!«

 

Die nächsten Tage waren vollgestopft mit Dingen, die Amali noch abzuwickeln hatte. Sie telefonierte mit Banken und Versicherungen. Wie zäh das alles vor sich ging. Morgens erledigte sie Behördengänge, dann ging sie in den Laden. Sie arbeitete schon seit geraumer Zeit wieder, radelte vom Frischemarkt jeden Tag zum Friedhof. Dort stand sie einfach da oder sammelte steif gefrorenes Laub vom Grab. Abends saß sie in ihrer Wohnung in Altona und sichtete sämtliche Ordner, Mappen und Dokumente ihres Vaters. Jedenfalls an guten Tagen. Manchmal war sie so erschöpft und traurig, dass sie nur aus dem Fenster in die von einzelnen Lichtern zerrissene Dunkelheit oder auf das Schachspiel aus weißem und braunem Alabaster starren konnte. Sie hatte Brett und Figuren aus dem Wohnzimmer ihres Vaters so mitgenommen, wie sie beide es bei ihrer letzten gemeinsamen Partie zurückgelassen hatten. Er hatte ihr das Schachspielen beigebracht und oft genug geflucht, weil sie ihn längst in geschickter Strategie und klugem Taktieren übertraf.

An diesem Abend fühlte sie sich ganz gut und wühlte sich durch einen Stapel ziemlich ungeordneter Unterlagen. Es sah so aus, als hätte ihr Vater diese beiseitegelegt, um sie irgendwann später aufzuräumen. Nur war er nie dazu gekommen. Verschiebe nichts auf irgendwann mal, was dir am Herzen liegt, dachte sie. Da waren alte Rechnungen und Quittungen, eine Einladung zum Betriebsausflug, ein Prospekt mit Studienreisen nach Afrika und Asien. Sie lächelte wehmütig. Nein, den brauchte sie nun wirklich nicht aufzuheben. Falls sie je allein oder mit Niki nach Ostafrika reisen sollte, würde sie sich zu gegebener Zeit informieren. Dann war dieser Prospekt ohnehin nicht mehr sehr hilfreich. Sie warf ihn auf den Fußboden, wie alles, was sie später in den Papiercontainer bringen würde. Als das Heft über das Parkett glitt, das dringend einmal abgeschliffen werden musste, rutschten einige Blätter heraus. Sie stand auf und schaute nach, was sie da beinahe übersehen hätte. Das waren Notizen, die jemand mit der Hand jeweils unter ein Datum geschrieben hatte. So etwas wie Tagebucheinträge vielleicht. Sie las etwas von einer Ankunft in Hamburg, von der Arbeit in einem Krankenhaus und der Sehnsucht nach den Plantagen Afrikas. Kein Zweifel, diese Notizen stammten von ihrer Großmutter. Wie oft hatte sie ihren Vater verwünscht, weil er einfach alles aufbewahrte, sich von nichts trennen konnte. Jetzt war sie froh darüber.

Sie schenkte sich eine Tasse Tee ein, zog die Füße unter den Po und begann in Ruhe zu lesen. Viel war es nicht, aber immerhin erfuhr Amali, dass ihre Großmutter mit dem Gedanken gespielt hatte, das alte Forsthaus ihrer Vorfahren in Holstein zu besuchen. Auch dass es zwischen Oldenburg und Neustadt unweit der höchsten Erhebung Schleswig-Holsteins liegen sollte, las sie. Na bitte, sie war also nicht die Einzige in der Familie, die sich dafür interessierte. Ob die alte Dame auch von der Erpressung und dem Betrug gewusst hatte? Das war anzunehmen. Die Briefe mussten in ihrem Besitz gewesen sein, bevor ihr Vater sie bekommen hatte. Mit der Ortsbeschreibung ließ sich bestimmt etwas anfangen. Die Blätter mit den Tagebucheinträgen waren gelocht und an den Löchern eingerissen. Vermutlich waren sie aus einem Hefter gefallen. Mit etwas Glück gab es also noch mehr von diesen Aufzeichnungen. Und selbst wenn nicht, sie wusste jetzt genug, um die genaue Lage von Gut und Forsthaus ausfindig zu machen. Niki würde sich freuen. Es konnte losgehen.

 

Sie fuhren eine schmale Allee entlang. Das Wetter hatte ein Einsehen und schenkte ihnen einen milden Tag, einen Vorboten des Frühlings.

»Ich freue mich schon auf die Sauna heute Abend«, verkündete Niki trotzdem. »Einfach faul sein, zur Ruhe kommen und sich hinterher an den gedeckten Tisch setzen. Ein Traum!«

»Du bist zu beneiden. Mir schlägt das Herz bis zum Hals, so aufgeregt bin ich. Ob das Forsthaus wohl noch steht?«

»Das fragst du zum siebenundneunzigsten Mal, Süße. Keine Ahnung. Immerhin wissen wir, dass das Gutshaus noch steht.«

Der Asphalt ging in Kopfsteinpflaster über. Vor ihnen lag rechter Hand ein kleiner Sandplatz, wie eine Bucht am Ufer der Allee. Niki steuerte darauf zu und hielt an.

»Von hier kann es nicht mehr weit sein. Ich finde, wir gehen zu Fuß weiter und sehen uns ein wenig um.«

»Gute Idee.« Amali fühlte sich innerlich zerrissen. Sie wollte nicht länger warten. Sie wollte endlich das Gut sehen, wollte wissen, ob das Forsthaus noch stand, in dem ihre Vorfahren gelebt, bevor sie Europa verlassen hatten. Gleichzeitig wäre sie am liebsten stundenlang durch die Gegend gefahren und hätte sich vor dem nächsten Schritt gedrückt. Denn eins war klar, wenn sie sich hier alles angesehen hatten, musste sie entscheiden, was zu tun war. Und davon fehlte ihr bisher noch jegliche Vorstellung.

Sie gingen schweigend nebeneinanderher. Amali öffnete ihre Lodenjacke. Wenn man sich ein wenig bewegte, wurde einem tatsächlich richtig warm.

Mit einem Mal pfiff Niki durch die Zähne. »Alle Achtung, da haben wir dann wohl das Gutshaus. Das ist ja ein richtiges Schlösschen. Nett!« Sie hielt direkt auf das barocke Backsteingebäude zu. Die Sprossenfenster waren weiß eingerahmt, und auch die Gebäudeecken zierten große weiße Steine, so dass es aussah, als würde das Dach auf Säulen thronen.

»Hier wohnen keine armen Leute«, murmelte Amali.

»Nee, bestimmt nicht.« Niki lief auf die breite Steintreppe zu, die zum Portal führte.

»Wo willst du denn hin?« Amali blieb unentschlossen auf dem geschwungenen Sandweg stehen.

»Na, hinein. Den Kasten will ich von innen sehen. Dafür sind wir doch schließlich hier. Außerdem gehörst du doch sozusagen zur Familie.«

»So ein Blödsinn. Meine Familie hat nie im Schloss gewohnt.«

»Aber auf dem Grundstück. Das ist fast das Gleiche«, rief sie fröhlich und sprang auch schon die Stufen hinauf.

»Du kannst doch nicht …«, setzte Amali erschrocken an, doch Niki griff bereits nach dem Türklopfer. Sie drehte sich um, zog die Hand zurück und lachte.

»Du müsstest dein Gesicht sehen! Keine Angst, ich falle nicht mit der Tür ins Haus.« Sie sah sich suchend um, dann fiel ihr Blick auf etwas, und sie rief: »Na, das ist ja ein Hammer!«

»Was denn?« Amali kam vorsichtig näher. Ängstlich schaute sie zu den Fenstern, doch es war kein Mensch zu sehen.

»Von Eichenbaum«, las Niki vor. »Die wohnen hier immer noch.«

»Tatsächlich.« Amalis Neugier hatte gesiegt. Sie war auch die Stufen hinaufgelaufen und stand nun ebenfalls vor dem herrschaftlichen Eingang. »Es scheint sich zu lohnen, zu den Jägern zu gehören und nicht zur Beute.«

»Klar, wusstest du das nicht?« Niki sah nach links und nach rechts, als würde sie hoffen, irgendetwas Interessantes zu entdecken. »Und nun?«, fragte sie erwartungsvoll.

»Ich würde sagen, wir halten nach dem Forsthaus Ausschau. Vermutlich ist das genauso mondän. Und ich würde mich nicht wundern, wenn da auch von Eichenbaum auf dem Klingelschild steht«, fügte sie leise hinzu.

»Du glaubst, die haben eine Klingel?« Niki hüpfte die Stufen hinab. »Wie gewöhnlich!«

Sie folgten dem Sandweg, der sich in ein Wäldchen schlängelte.

»Meine Herren, das nenne ich mal ein weitläufiges Gelände«, brachte Niki anerkennend hervor, als sie einige hundert Meter zurückgelegt hatten. »Gehört das alles zum Gut?«

»Keine Ahnung, aber ich nehme es an.«

»Vielleicht hätte ich besser das Auto geholt.« Niki lachte. Dann wurde sie aber gleich ernst und setzte einen Blick auf, den Amali nur zu gut kannte. Ihre beste Freundin dachte ans Geschäft. »Was alleine das Land hier kostet, will ich mir gar nicht vorstellen.« Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Bei der Größe und der Lage … Hier müsste man ein Hotel mit Sterne-Restaurant eröffnen. Hey, das wäre es!« Sie sah sich um und legte in Gedanken vermutlich schon einen Parkplatz an und installierte einen Schriftzug über dem Portal des Gutshauses, das längst hinter den Bäumen verschwunden war. »Und dein altes Forsthaus wird zum Clubhaus für den Golfplatz. Was meinst du?«

»Ich meine, du spinnst. Erstens ist es nicht mein Forsthaus, leider. Zweitens wissen wir noch nicht einmal, ob es existiert. Und drittens … Das ist es!«

»Was?«

»Ich glaube, wir haben es gefunden.« Amalis Herz schlug schneller, als sie zwischen den hohen Linden hindurch ein Dach erblickte. »Gott, ist das schön!«

»Man sieht doch noch gar nichts.« Niki schüttelte den Kopf und stapfte neben ihr her.

Sie hatte recht, außer einem Stückchen Dach und einem Anbau, vielleicht eine Scheune, war noch nichts zu erkennen. Trotzdem hatte Amali sich bereits verliebt. Der Ort hatte Charakter, das alte Haus wirkte mit jedem Schritt, den sie darauf zumachte, geheimnisvoller.

»Von wegen mondän«, lästerte Niki, als sie schließlich ihr Ziel erreicht hatten. Oder besser gesagt, als sie es fast erreicht hatten. Der Eingang lag hinter dichtem Buschwerk verborgen. »Die Hütte ist verlassen, und zwar schon seit Jahren, wenn du mich fragst.«

»Sieht so aus. Mensch, Niki, stell dir das mal vor, hier haben mal meine Ururahnen gelebt. Dieses verwunschene alte Haus ist Teil meiner Geschichte.« Amali seufzte.

»Deiner schon sehr lange vergangenen Geschichte. Mit deiner Zukunft hat diese Bruchbude hoffentlich nichts zu tun. Können wir jetzt gehen?« Niki warf Amali einen flehenden Blick zu, aber sie kannte ihre Freundin besser. »Sag nicht, du willst dich durch die Büsche schlagen, um näher ranzukommen.«

»Du kannst ja hier warten.«

»Ich will nicht hier rumstehen und warten, ich will in die Sauna.«

»Ich beeile mich auch. Vielleicht kann ich durch eins der Fenster gucken.«

»Okay, Süße, schon überredet. Ich bin dabei.« Niki grinste und schlängelte sich auch schon geschmeidig zwischen stacheligem Geäst hindurch.

Die Stufen vor der mit einem Brett vernagelten Haustür waren aus Holz. Überhaupt schien in dem auf einem Natursteinsockel hockenden Forsthaus viel Holz verbaut worden zu sein. Die diagonal verlaufenden tragenden Balken sahen morsch und brüchig aus. Um die Fenster herum gab es kunstvoll gedrechselte Bögen, die einmal rot gestrichen gewesen waren, was kleine Flecken hier und da verrieten. Das meiste war abgeplatzt oder von Sonne und Regen gründlich entfernt worden. Auch an den Ziegelsteinen hatte die Zeit kräftig genagt. Sie wirkten verwittert und spröde. Ein jämmerlicher Anblick. Aber mit ein paar Eimern Farbe könnte man dem Gebäude sicher schnell zu altem Glanz zurückverhelfen. Amali schob einen langen dünnen Ast zur Seite und spähte nach innen.

»Und?« Niki war eine Sekunde später an ihrer Seite und stellte sich auf die Zehenspitzen, um auch einen guten Blick zu haben. Sie legte die Hände zu einem Trichter geformt an die Scheibe. »Ziemlich düster da drinnen.«

»Du bist witzig. Die Fenster sind so dreckig, da kommt kaum noch Licht rein. Aber es sieht toll aus, findest du nicht?«

»Wenn man aufgerissene Böden und morsche Balken mag …«

»Ach Mann, jetzt streng doch mal ein bisschen deine Phantasie an! Gut, den Boden müsste man vermutlich rausreißen und neu machen. Am besten Stein, das ist am praktischsten für einen Laden. Die Balken muss man sich ansehen. Zum Teil müssen sie wahrscheinlich ersetzt werden. Weiße Wände und schöne Regale dazu. Du, das hier könnte ein richtig toller Hofladen werden. Es gibt so viel Platz!« Sie sah es schon vor sich – ein alter Tresen mit einer modernen Kühltheke darauf, in der ihre Tortenkreationen stehen würden. Wo sie jetzt stand, würden Kräuter, Obst und Gemüse in Kisten auf die Käufer warten. Sie lief ein Stück um die Hausecke herum. »Niki, das musst du dir ansehen! Da unten scheint es eine alte Obstwiese zu geben.«

»Wenn deine Ururahnen die Bäume gepflanzt und sich selbst überlassen haben, dann haben die es hinter sich«, gab Niki trocken zurück.

»Blödsinn, die brauchen einen ordentlichen Schnitt, dann tragen die in spätestens zwei Jahren wieder jede Menge. Man müsste natürlich auch noch neu pflanzen.«

»Ja klar. Neu bauen müsste man übrigens auch. Wenn du den Schuppen da sanieren willst, bist du ein Vermögen los. Da ist abreißen und neu hochziehen echt billiger.«

»Das würdest auch nur du fertigbringen, ein so wunderschönes Haus mit Geschichte einfach abzureißen.« Sie sog tief den Duft des Waldes ein. In ein paar Wochen, wenn der Frühling kam, würde es hier herrlich sein. Wie verzweifelt mussten Wilhelmina und Alexander gewesen sein, dass sie diesen Ort verließen. Sie war ganz aufgeregt und lief zum nächsten Fenster, um mehr vom Inneren des Hauses zu sehen. Da war ein merkwürdiges Gefühl in ihr, von dem sie ihrer Freundin lieber nichts erzählte. Die würde sie nur für überdreht halten. Aber es war nun einmal so: Sie fühlte sich zu Hause.

»Hallo? Was suchen Sie denn da?«

Die beiden Frauen fuhren herum. Auf der anderen Seite der Sträucher stand ein Mann. Er mochte um die vierzig sein, war groß und schlank und machte ein ernstes Gesicht.

Niki fand ihre Sprache zuerst wieder. »Wir wollten nur mal gucken. Gehört Ihnen das Haus?«

»Nicht direkt.«

»Was soll das denn heißen?«

»Es gehört … meiner Familie. Und was interessiert Sie so an dem Haus?«

Bevor Niki herausposaunen konnte, warum sie hier waren, meldete sich Amali zu Wort. »Wir machen hier in der Nähe Urlaub und gehen ein bisschen spazieren. Da haben wir das alte Haus entdeckt. Es ist wunderschön. Warum wird es nicht genutzt?«

»Es stand zu lange leer, das hat ihm das Genick gebrochen. Hören Sie, Sie sollten da wegbleiben, es ist gefährlich. Womöglich stürzen Dachpfannen herab und verletzen Sie. Das wäre nicht das erste Mal.«

»Es ist schon jemand verletzt worden?« Niki riss entsetzt die Augen auf. Amali wusste, dass ihr ein Vortrag über Verkehrssicherungspflicht auf der Zunge lag, doch der Fremde war schneller.

»Nein, aber es sind schon Teile vom Dach heruntergefallen. Wenn Sie hier herüberkommen, können Sie es sehen.«

Die beiden folgten seiner Aufforderung, schlugen sich wieder durch das Buschwerk und schauten hinauf zu der Ecke, an der ein nicht gerade kleines Loch klaffte.

»Warum haben Sie das nicht abgedichtet? Da gehört Folie drüber. Wenn das noch länger so offen bleibt, kommt Feuchtigkeit hinein, und dann ist das Haus nicht mehr zu retten.« Amali schüttelte verständnislos den Kopf. Erst anständigen Leuten ihr Hab und Gut abknöpfen und es dann verkommen lassen.

»Verstehen Sie etwas davon?«

»Na, so viel weiß doch wohl jeder.«

»Es lohnt sich nicht. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«

»Steht es denn zum Verkauf?« Niki sah ihn erwartungsvoll an. »Müsste doch für’n Appel und ’n Ei zu haben sein, oder?«

»Dafür finden Sie keinen Käufer, ganz egal, wie niedrig der Preis ist.« Er lächelte. »Außerdem brauchen wir hier keine Nachbarn.«

»Dann wohnen Sie wohl drüben in dem Schloss?«, fragte Niki.

»Im Gutshaus, ja.«

»Aha«, machte sie bedeutungsvoll und warf Amali einen Blick zu, der so auffällig war, dass Amali sie hätte erschlagen können.

»Stimmt etwas nicht, oder wollten Sie sich das Gutshaus auch nur mal angucken?«

»Wir sind daran vorbeigekommen. Ein beeindruckender Barockbau. Sie sind zu beneiden«, antwortete Amali eilig.

»Ja, es ist schön. Es hat Vorteile, es hat aber auch Nachteile, dort zu leben. Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Urlaub«, sagte er, hob die Hand zum Gruß und ging.

 

»Es wäre der perfekte Platz für einen Hofladen«, sprudelte Amali los, als sie den Weg zurück zum Auto gingen.

»Toller Hofladen ohne Hof.«

»Den müsste man natürlich noch anlegen. Gemüsebeete …«

»… und Kräuter, ich weiß. Ehrlich, Amali, du musst dir das aus dem Kopf schlagen. Die wollen keine Nachbarn haben, du hast es doch gehört. Die nehmen dich nicht mit offenen Armen auf, um eine alte Familiensünde in Ordnung zu bringen.«

»Man wird doch wohl träumen dürfen.«

»Solange es dabei bleibt, darfst du.«

»Jetzt mal im Ernst, Niki, das hier ist genau das, wovon ich geträumt habe, als ich die Ausbildung gemacht und meinen Job angenommen habe. Ich habe mir vorgestellt, irgendwann so eine Gelegenheit zu bekommen, so einen perfekten Ort zu finden, um mich selbständig zu machen. Und nun finde ich das alles ausgerechnet hier, wo meine Vorfahren einmal zu Hause waren. Ist doch komisch.«

Sie kamen am Auto an und stiegen ein.

»Komisch finde ich, dass du diese Lage hier perfekt findest. Obwohl … vielleicht hast du recht. Der Anfahrtsweg hierher in die Einöde ist so weit, dass die Leute immer gleich mehr kaufen müssen, damit sie Proviant für die Rückfahrt haben.«

»Du nimmst mich nicht ernst.«

»Das fällt mir auch wirklich schwer, wenn du so viel Unsinn auf einmal von dir gibst.« Niki ließ den Motor aufheulen. »Es gibt keine Gelegenheit, weil die olle Bruchbude nicht zum Verkauf steht. Und selbst wenn, hättest du nicht das Kapital, um daraus wirklich etwas Schönes zu machen. Du hast gesehen, wo Willi und Alexandra gewohnt haben.«

»Wilhelmina und Alexander«, korrigierte Amali und verdrehte die Augen.

»Von mir aus. Jedenfalls hattest du deinen Willen, und nun ist es gut. Jetzt geht’s zurück in unser schnuckeliges Hotel und ab in die Sauna.« Nach einer Weile setzte sie hinzu: »Und für morgen buchen wir uns diesen Partner-Beauty-Raum. Wir lassen uns den ganzen Tag kneten und einölen und quatschen dabei ausgiebig. Wie hört sich das an?«

»Verführerisch, aber du weißt, dass ich nicht so viel Geld ausgeben …«

»Papperlapapp«, fiel Niki ihr ins Wort, »das geht auf meine Rechnung.«

»Kommt gar nicht in Frage. Außerdem möchte ich morgen nach Schleswig fahren«, druckste sie.

»Willst du shoppen? Oder gibt es da irgendetwas zu sehen, von dem ich keine Ahnung habe?«

»Ich dachte, ich gehe mal ins Landesarchiv. Vielleicht finde ich alte Dokumente über die Paulsens«, gab Amali kleinlaut zu.

»Sag mir, dass ich mich verhört habe. Was willst du denn da finden, Amali?«

»Ich weiß nicht. Aber es kann doch kein Zufall sein, dass diese von Eichenbaums den Paulsens zweimal übel mitgespielt haben. Da muss es doch eine Verbindung geben, irgendetwas, das zwischen den beiden Familien steht. Was weiß ich?« Sie hatte selbst keine Ahnung, wonach sie suchte. Aber es war schließlich ganz normal, dass man sich nach dem Tod seines Vaters mit seinen Wurzeln beschäftigte. Oder etwa nicht? Dafür waren sie hierhergekommen. Warum sollte sie ihre Zeit mit Massagen vergeuden?

»Ich sage dir, was die verbunden hat. Die einen waren Blaublüter mit Einfluss, Geld und Macht, die anderen waren von ihnen abhängig. Ende des 19. Jahrhunderts war es wahrscheinlich an der Tagesordnung, dass diejenigen, die weiter unten in der Rangordnung standen, dauernd was auf die Ohren gekriegt haben und um Haus und Hof gebracht wurden. Punkt. Fertig. Das ist alles.«

»Das hat sich auch im 21. Jahrhundert nicht großartig verändert«, brummte Amali. Niki zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Vermutlich hast du recht, aber ich bin trotzdem neugierig. Sei mir bitte nicht böse, okay? Lass du dich so richtig verwöhnen, und dann machen wir uns einen gemütlichen Abend, wenn ich zurück bin.«

»Wie du meinst, Süße. Allerdings muss ich dir fairerweise sagen, dass ich einen von den Masseuren gesehen habe, groß, muskulös, schwarze Haare und tolle Hände. Bist du sicher, dass du dir das entgehen lassen willst?«

Amali lachte. »Ganz sicher.«

 

Als die beiden Freundinnen sich am nächsten Abend zum Essen trafen, musste Amali sich sehr beherrschen, um nicht gleich mit ihren Erkenntnissen herauszuplatzen. Zuerst hatte sie ein wenig im Trüben gefischt, hatte nicht einmal so recht gewusst, wonach sie den Archivar fragen sollte. Doch nachdem sie in den ersten Findbüchern mehrfach auf den Namen von Eichenbaum gestoßen war, hatte sie immer gezielter fragen und sich schließlich Dokumente in den Lesesaal bestellen können. Das Glück hatte ihr außerdem in die Hände gespielt, denn eigentlich sollte man Unterlagen im Vorweg anfordern, und selbst dann gab es oft längere Wartezeiten, wie der Mann ihr in seinem Berufsflüsterton erklärt hatte. An diesem Tag allerdings stand der Transport bestellter Archivalien in den Leseraum noch aus, und Amali konnte ihre Anforderungsliste rasch abgeben, um nur eine halbe Stunde später Gerichtsakten und Besitzurkunden, Zeitungsausschnitte und Kirchenbücher vor sich zu haben. Niki würde Augen machen! Obwohl sie mit den Neuigkeiten kaum an sich halten konnte, fragte sie: »Na, wie war dein schwarzhaariger muskulöser Masseur mit den tollen Händen?« Niki warf ihr einen Blick zu, der bereits alles sagte. »Ich muss mir doch keine Sorgen machen? Wenn du nicht sofort alles beichtest, rufe ich Jan an.« Amali griff nach ihrem Wasserglas, ließ ihre Freundin aber nicht aus den Augen.

»Die Hände waren nicht toll, die waren magisch. Stell dir vor, er heißt Greg und ist Kanadier. Ein niedlicher Typ. Er hat sich umgedreht, als ich mich ausgezogen habe, und hat mir gleich eine kuschelige Decke übergeworfen. Dann hat er meinen Rücken und meine Beine stückchenweise freigelegt und geknetet.« Niki lachte auf. »Das hat an allen Ecken und Enden so geknackt, dass Greg meinte: ›Ick hoffe, ick brecke Sie nickt dürch.‹« Sie lachte wieder vergnügt. »Nach ungefähr einer Stunde sollte ich mich umdrehen«, plauderte sie weiter. »Er hat eine Hand unter meinen Kopf gelegt und den Nacken gestreckt, und mit der anderen hat er meine Schultern massiert. Ich sage dir, ich fühle mich wie neu.«

»Schön, das freut mich für dich. Du hast in den letzten Monaten auch wirklich mehr als genug gearbeitet.«

»Dir hätte eine Greg-Spezialbehandlung auch gutgetan. Aber stattdessen hast du es ja vorgezogen, dich in so einem ollen staubigen Archiv herumzutreiben. Hast du wenigstens einen netten Archivar mit runder Brille und Strickjacke kennengelernt?« Sie formte Daumen und Zeigefinger jeweils zu Kreisen und legte sie um die Augen.

»Nein, aber ich habe etwas herausgefunden, das wird dich vom Stuhl hauen.«

Eine Kellnerin nahm die Bestellung auf.

»Mit diesen scheußlichen aufgeklebten Fingernägeln würde ich die nicht im Service arbeiten lassen«, flüsterte Niki, kaum dass die Kellnerin gegangen war. Sie zog missbilligend die Brauen hoch und schüttelte den Kopf. »Sieht doch wirklich billig aus. Stell dir vor, so ein Plastikding fällt ab und landet auf dem Tisch!« Wieder schüttelte sie vor Abscheu den Kopf. Dann sah sie Amali an und stellte fest, dass die vor Aufregung beinahe platzte. »Also was, meinst du, könnte mich vom Hocker hauen?«

»Hör zu: Über den von Eichenbaum, gegen den Alexander Paulsen beim Mauscheln verloren hat, gibt es jede Menge Akten.«

»Das Spiel heißt wirklich Mauscheln? Witzig.« Die Kellnerin brachte ein Silberkörbchen mit Brot und zwei kleine Schalen mit Butter und Kräuterquark. Niki griff zu. »Und, was waren das für Akten?« Sie strich Butter auf eine Scheibe und biss kräftig hinein.

»Der feine Herr Freiherr hat anscheinend regelmäßig gespielt. Mein Vorfahr war auch nicht der Einzige, den er über den Tisch gezogen hat.«

»Echt? Erzähl!«

»Im Jahr 1891 ist er wegen Zweikampfes mit tödlichen Waffen verurteilt worden.«

»Er war im Knast?«

»Knast, wie ordinär.« Amali schmunzelte. »Nein, so ein Freiherr ist damals mit Festungshaft bestraft worden. Hört sich ganz schön fies an, oder?« Ihre Schadenfreude war ihr ins Gesicht geschrieben.

»Moment mal«, warf Niki kauend ein. »Wieso ist er denn für Zweikampf verknackt worden?«

»Weil es zu der Zeit schon verboten war, sich zu duellieren.«

»Und was hat das mit dem Gemauschel zu tun?«

»Jetzt kommt’s. Aus den Akten ging der Name seines Duell-Gegners hervor. Ich habe mir alles bringen lassen, was es über diesen Mann gab, und habe herausgefunden, dass er den von Eichenbaum zum Duell gefordert hat.«

»Also war der andere der Bösewicht. Warum ist der nicht eingesperrt worden?«

»Falsche Frage. Du solltest lieber fragen, warum er den Freiherrn zum Zweikampf herausgefordert hat.«

»Okay, dir zuliebe, Süße. Eigentlich stehe ich überhaupt nicht auf diese Mantel-und-Degen-Geschichten. Warum hat er ihn herausgefordert?« Es war nicht zu überhören, dass es Niki nicht sonderlich interessierte.

»Er hat behauptet, dass von Eichenbaum betrügt.« Amali machte eine bedeutungsvolle Pause. »Beim Mauscheln!«

»Echt? Das ist heftig.« Niki nahm einen Schluck Wein.

»Kann man wohl sagen. Der Gute hat offenbar regelmäßig gespielt, wie ich schon erwähnte. Und wie es aussieht, hat er dabei ebenso regelmäßig betrogen und sich ein stattliches Vermögen ergaunert. Sein Duell-Gegner wollte ihn deswegen vor Gericht bringen. Er hatte sogar einen Zeugen.«

»Aber? Du sagst, er wollte ihn vor Gericht bringen. Das heißt, er hat es nicht getan. Es gibt also ein Aber. Ist er auch wegen dieses Duells verurteilt worden?«

»Nein, er ist dabei ums Leben gekommen.«

»Ist nicht wahr. Der von Eichenbaum hat ihn umgelegt?«

»Genau. Er ist aber nicht etwa für Mord verurteilt worden, sondern nur wegen dieses Zweikampfes mit tödlichen Waffen. Das ist doch unfassbar, oder?«

»Das ist wirklich ein Ding!« Niki trank wieder einen Schluck Wein. Dann kam das Essen, und sie ließ sich über die Zubereitung des Stangenselleries und der Kartoffeln aus.

Als sie einige Stunden später nach einem Schlaftrunk an der Bar in ihren Betten lagen, fing Niki zu Amalis großem Erstaunen noch einmal mit dem kriminellen Freiherrn an. »Es ist schon bitter, dass so ein Typ mit seiner Mauschel-Masche immer wieder durchgekommen ist. Der hat nicht nur den alten Paulsen um Hab und Gut gebracht, sondern einen anderen sogar ums Leben. Ich weiß nicht, aber an deiner Stelle hätte ich das nicht wissen wollen. Bist du jetzt nicht noch frustrierter?«

Amali dachte einen Augenblick nach. »Nein. Um ehrlich zu sein, ich glaube, ich habe jetzt den nötigen Anhaltspunkt, um mir zurückzuholen, was meiner Familie weggenommen wurde.«

»Was?« Niki richtete sich kerzengerade auf und schaltete ihre Nachttischlampe wieder an. »Jetzt bist du völlig übergeschnappt.«

»Ich will es mindestens versuchen. Das bin ich Papa und meiner Großmutter schuldig. Auch wenn ich die nie kennengelernt habe«, setzte Amali schnell hinzu, bevor Niki diesen Einwand bringen konnte. »Wenn ich beweisen kann, dass dieser Gauner betrogen hat, wenn Glücksspiel vielleicht sogar verboten war, dann ist die Übereignung des Forsthauses und des dazugehörigen Landes womöglich ungültig. Könnte doch sein, dass mir die feinen von Eichenbaums in ihrem schicken Schlösschen Haus und Land dann zurückgeben müssen. Stell dir mal vor, vielleicht müssen sie sogar die Sanierung bezahlen, weil sie schließlich für den schlechten Zustand verantwortlich sind.«

»Du spinnst!« Niki schüttelte den Kopf und knipste das Licht wieder aus.

»Dann spinne ich eben«, flüsterte Amali in die Dunkelheit. »Auf jeden Fall werde ich einen Anwalt fragen, ob es in so einem Fall eine Chance gibt, die Rückgabe einzuklagen. Es kann doch nicht sein, dass immer die Jäger gewinnen. Damit will ich mich einfach nicht abfinden. Wenn das Spinnen ist, gut, dann spinne ich eben.«

[home]

Sansibar, 16. Dezember 1890

Sie sind wahrhaftig schwarz. Sieh dir das an, schwarz am ganzen Körper, soweit sich das sagen lässt.«

»Aber da sind auch sehr viele weiße Menschen, wahrscheinlich zum größten Teil deutsche Landsleute. Du brauchst also keine Angst zu haben.«

»Ich habe keine Angst.« Wilhelmina sah ihren Mann überrascht an. »Ich konnte es mir nur nicht vorstellen.«

Da standen sie nun an Bord von Seiner Majestät Schiff Schwalbe, jenem Schiff, das, wie sie schon am ersten Tag ihrer Reise erfahren hatten, im Mai des Jahres an der Einnahme der Stadt Kilva im Süden Ostafrikas beteiligt gewesen war. Drei Kanonen habe man erbeutet, teilte ihnen ein Reisender mit, der ihres Wissens nichts mit dieser Militäraktion zu schaffen hatte, dessen Brust dennoch vor Stolz schwoll. Die seien der Direktion des Bildungswesens der Marine zur Aufnahme in die Trophäensammlung übergeben worden. Wilhelmina hatte sich gefragt, ob es nicht gescheiter gewesen wäre, die Kanonen zu verwenden, anstatt sie nur zur Schau zu stellen. Doch sie war bloß eine Frau und verstand nichts von diesen Dingen.

»Ich bete zu Gott«, sagte Alexander Paulsen plötzlich leise, »dass wir das Richtige getan haben.«

»Dessen bin ich mir ganz sicher«, gab Wilhelmina ohne jedes Zögern zurück. »Dich selbst zu töten hätte dir einen Platz in der Hölle eingebracht. Dies hier sieht nicht nach der Hölle aus. Es ist wunderschön.« Sie betrachtete die Insel, die ihre vorletzte Station sein würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie Palmen. Den Strand von Travemünde oder Grömitz kannte sie von einigen seltenen Ausflügen. Was sie dort in der Heimat zu sehen bekommen und durchaus hübsch gefunden hatte, war mit dem Anblick, der sich ihr hier bot, in keiner Weise zu vergleichen. Der Sand war so weiß, dass er sie blendete, und auch das Meer glitzerte so kräftig, dass sie eine Hand über ihre Augen legen musste, um sie zu schützen. Das Wasser schillerte in allen erdenklichen Blau- und Türkistönen. Sie konnte nicht fassen, dass es so etwas gab.

Der Dampfer machte neben Segel- und anderen Dampfschiffen fest. An Land standen Männer mit schwarzer Haut und schwarzen Augen, die Turbane auf den Köpfen trugen und lange Gewänder, die bis hinunter zu den offenen Sandalen reichten. Andere hatten Hüte auf den Köpfen, die wie mit Stoff bezogene, falsch herumgedrehte Eimer aussahen. Die weißen Männer trugen eigentümliche runde Helme. Es roch nach Salz und fremden Gewürzen, und es war heiß.

Zu Hause war jetzt Winter, hier strahlte die Sonne vom Himmel, die Luft war feucht. Es fühlte sich an wie beim Waschtag, wenn sie Stunde um Stunde Kleider und Bettwäsche in beinahe kochendes Wasser getaucht, geknetet und schließlich ausgewrungen hatte. Dann war die Luft ähnlich, nur dass sie da in der Küche des Forsthauses, also in einem geschlossenen Raum gestanden hatte, in dem der Dampf aus den Schüsseln aufstieg und sich unter der Decke sammelte, bevor er allmählich durch die Fenster und die Ritzen in den Wänden nach draußen waberte. Hier war sie im Freien, der Schweiß lief ihr von der Stirn und den Rücken hinab. Ob sie sich daran würde gewöhnen können?

»Das sind Daus«, erklärte Alexander und deutete auf kleine Boote mit großen Segeln, die seltsam schief standen. »Die Eingeborenen benutzen sie schon seit Hunderten von Jahren und können damit hoch am Wind segeln.«

Wilhelmina kannte ihren Mann besser als er sich selbst. Sie wusste, dass die Begeisterung, mit der er sprach, nicht echt war. Er war lediglich darauf bedacht, ihr das Gefühl zu geben, sie würden einer guten Zukunft entgegenblicken, woran er selbst jedoch gründlich zweifelte. Dabei benötigte sie weder Trost noch Ermunterung. Noch immer war sie froh, dass sie, nachdem sie seinen Abschiedsbrief auf seinem Kopfkissen entdeckt hatte, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken aus dem Bett gesprungen und in ihrem Nachtkleid aus dem Haus gestürmt war. Sie brauchte nicht zu überlegen, sie wusste genau, wohin er gegangen war. Und sie hatte recht gehabt. Als sie außer Atem den kleinen Weg hinunter zur Wiese lief, auf der seine geliebten Apfelbäume standen, konnte sie ihn schon sehen. Er hatte ein dickes Seil in der Hand.

»Du willst dich also einfach so davonmachen?«, schrie sie ihn an. »Du willst dich aufknüpfen und mich alleine zurücklassen?«

»Aber …« Er musste nach Worten suchen. »Ich habe es dir doch erklärt«, sagte er kleinlaut.

»Schöne Erklärung!«, stieß sie hervor. »Denkst du denn wirklich, eine Stelle als Köchin und ein Zimmer zählen für mich mehr als das Leben meines Mannes?«

»Ich weiß nicht.«